Rede für Salzburg

Rede für Salzburg
Karl-Markus Gauß
15. Jänner 2016
Karl-Markus Gauß
Rede für Salzburg
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Vor 200 Jahren ist Salzburg ohne Zutun seiner Bevölkerung an Österreich
gefallen. Da wir uns alle nicht im historischen Dauermodus befinden, benötigen wir Jubiläen und Jahrestage, um
uns daran zu erinnern, dass unsere Gegenwart die Zukunft von gestern war
und auch wir selbst einmal die Vergangenheit von etwas sein werden, für das
wir im Guten wie Schlechten mitverantwortlich sind. Als mir angeboten
wurde, zum heurigen Anlass eine Rede
zu halten, schossen mir sogleich ein
paar Gründe durch den Kopf, warum
mir diese Aufgabe schwer fallen werde
und ich mich ihr also aus intellektueller
Selbstachtung stellen sollte. Das erste
war: Es gibt historische Geschehnisse,
die man feiern darf und soll, und andere, deren man zu gedenken hat.
Man kann nicht 100 Jahre Ausbruch
des Ersten Weltkriegs feiern, und man
braucht 2016 nicht zum Salzburger Bedenkjahr auszurufen. Es gilt zwar zu
würdigen, was das souveräne Fürsterzbistum über die Jahrhunderte geleistet
hat, aber es besteht dennoch kein Anlass, der staatlichen Souveränität Salzburgs nachzutrauern, es sei denn, man
würde ausgerechnet einem geistlichen
Kleinstaat von gestern zutrauen, mit
den großen Weltproblemen von heute
besser zurande zu kommen. Es steht
also etwas zu feiern an; nur wissen wir
ja, dass es oft schwerer ist, ein echtes
Fest zu feiern, als eine Bedenkveranstaltung voll falscher Töne hinzubekommen, auf der die Geschichte beschworen wird, um das, was von ihr an
unerledigten Konflikten überkommen
ist, verspätet zu entsorgen.
Das zweite, was mir einfiel, war die zeitliche Bedingung unserer Existenz. Was
ist 1916, mitten im Ersten Weltkrieg,
bei der Hundertjahr-Feier gesagt worden und was hätte, mit dem Wissen
von heute, der Festredner damals zu sagen nicht unterlassen dürfen? Wie wird
sich, in die andere Richtung gedacht,
Salzburg in fünfzig Jahren mit diesem
epochalen Ereignis seiner Geschichte
auseinandersetzen? Ja, wie könnte es
2066 um Salzburg als Teil Österreichs
stehen? Das ist eine Frage, die zwei
weitere Fragen impliziert, nämlich was
bis dahin aus Österreich als Teil Europas
und aus Europa als Teil der globalisierten Welt geworden sein wird.
Kann man von einer Generation sagen,
sie habe der, die ihr folgte, die Zukunft
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immerhin nicht schlechter hinterlassen, als sie selbst einst die ihre vorgefunden hat, dann hat sie ihre Sache
nicht rundweg schlecht gemacht. Ja,
das kann man tatsächlich, eine Zukunft
hinterlassen, und man kann sie sogar
in besserem oder schlechterem Zustand hinterlassen. Es wäre daher ein
Nachruhm, den wir zu fürchten haben,
wenn die Salzburgerinnen und Salzburger, die sich 2066 ohne uns zum
Festakt versammeln werden, von uns
als jenen Vorfahren sprechen müssten,
denen das Glück beschieden war, in
besseren Zeiten gelebt zu haben.
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Als der letzte geistliche Herr Salzburgs
aus der Stadt floh, ging in Wirren und
Kriegen, mit Besatzungen und Plünderungen eine Epoche zu Ende. Dreimal
wurde das Land jetzt von französischen
Truppen besetzt, auf eine erste österreichische Ära folgten sechs Jahre, in
denen Salzburg unter bayrische Herrschaft gestellt war; sechs Jahre, von
denen ich kürzlich aus einer Sendung
im deutschen Fernsehen erfuhr, sie
hätten nicht weniger als sechshundert
Jahre gedauert. Bis 1816 wäre Salzburg ununterbrochen sechs Jahrhunderte lang ein Teil Bayerns gewesen,
zwei Jahrhunderte gehöre es nun zu
Österreich, deswegen hegten viele
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Salzburger noch heute eine heftige Abneigung gegen Wien, während sie sich
einen sentimentalen Hang zu München bewahrt hätten: Solches erfuhr
die bildungshungrige deutsche Fernsehnation, was uns nicht zu ärgern,
nicht einmal zu wundern braucht.
Schließlich leben wir in Zeiten einer
historischen General-Amnesie, in der
etliche europäische Staaten, die periodisch Hunderttausende ihrer Bürger in
die Flucht zwangen, in Panik geraten,
wenn sie einmal in ihrer Geschichte
nicht Menschen vertreiben, sondern
selber ein paar Tausend Vertriebener
aufnehmen sollen; und in Zeiten, in
denen überhaupt die größte Konfusion
darüber herrscht, was die Europäer in
der fundamentalen europäischen Krise
von heute eigentlich damit meinen,
wenn sie von Europa sprechen und die
europäischen Werte beschwören.
Als die Großmächte zu Beginn des 19.
Jahrhunderts mitten in einer fundamentalen europäischen Krise – fast
scheint mir, die Krise selbst wäre der
natürliche Zustand Europas, in dem
es auf seine besten Ideen kommt und
seine gefährlichsten Pläne wälzt -, als
die Großmächte damals wieder einmal
um verschiedene Territorien schacherten, waren für Salzburg drei Optionen
denkbar. Die erste hätte bedeutet,
dass Salzburg nicht nur die sechs Jahre
ab 1810, sondern über 1816 hinaus ein
Teil Bayerns geblieben und mit Stadt
und Land dem bayrischen Staat eingegliedert worden wäre, vielleicht bis
1918 oder gar bis heute.
Vergessen wir nicht, eine der ersten
Amtshandlungen, die die bayrische Regierung 1810 verfügte, war die Schließung der Salzburger Universität! In den
zwanzig, dreißig Jahren vorher waren
zahlreiche bayrische Professoren, Studenten, Schriftsteller nach Salzburg geflüchtet, weil sie hier Schriften publizieren und lesen konnten, die in Bayern
strikt verboten waren. Ausgerechnet in
seinen letzten Jahren hatte das Fürst­
erzbistum, in dem das geistige und religiöse Leben jahrhundertelang streng reglementiert und die Bevölkerung unter
andauernder Observanz gehalten wurde, nämlich eine zwar staatsfromme,
aber eben doch auf Vernunft setzende
Aufklärung zugelassen, die anderswo
und gerade in Bayern methodisch unterdrückt wurde.
Ich bin davon überzeugt, dass der
bayrische Zentralismus Salzburg, ökonomisch wie kulturell, kaum Möglichkeiten einer eigenständigen Entfaltung
gewährt hätte. Wäre Salzburg tatsächlich dauerhaft bayrisch geworden, würde man, was die geistige Strahlkraft
und das kulturelle Ansehen betrifft,
von der Stadt Salzburg heute vermutlich als von einem anmutigen Landshut
des Südens oder einem Rosenheim an
der Salzach sprechen und meinen, damit ihre Bedeutung gebührend herausgestrichen zu haben.
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Die zweite Option, von der uns die Historiker erklären, es hätte ohnedies
kaum Aussicht bestanden, dass sie je
Realität werde, hätte aus dem religiösen einen säkularen Kleinstaat gemacht. Ich bin ein bekennender Freund
der kleinen Nationen und kleinsten
Nationalitäten, deren renitente Kraft,
sich ihre eigene Sprache und Kultur,
ihre Traditionen und Eigenheiten zu bewahren ich aufrichtig bewundere und
oft genug gerühmt habe. Innerhalb der
Europäischen Union, in der die Nationalstaaten einen Teil ihrer Befugnisse
abzutreten haben, hat die Idee von
einem kleinteiligen Europa der Regio­
nen in den letzten Jahrzehnten einige
Wirkung entfaltet. Der Charme und das
schöne Versprechen eines Europas der
Regionen besteht aber gerade darin,
dass verschiedene Regionen über die
alten Grenzen der nationalen Staaten
hinaus miteinander in einen Austausch
treten, der ökonomisch sinnvoll und
kulturell bereichernd sein und nationale
Ressentiments als nutzlos gewordenes
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ideologisches Zubehör beiseite räumen
könne. Der Reiz, der von diesem Regio­
nalismus ausgeht, besteht hingegen
nicht darin, dass die einzelnen Regionen
lauter neue kleine Staaten bilden, die
aus den alten Nationalstaaten gewissermaßen herausgesprengt werden und
nun für sich dieselben Befugnisse fordern, die jene für sich beanspruchten,
und dieselbe nationalistische Engstirnigkeit fördern, an der Europa gerade jetzt
so heftig laboriert.
In einem Kleinstaat Salzburg, zwischen
einem größeren Bayern und einem
viel größeren Österreich gelegen, wäre diese Engstirnigkeit zweifellos entschieden vorangetrieben und zu einer
Art von Staatstugend erklärt worden.
Gegen die tatsächliche oder auch nur
befürchtete Irredenta der Unzufriedenen, die sich an Bayern oder Österreich orientiert hätten und an deren
Loyalität zu zweifeln war, wäre die
Staatsmacht geradezu gezwungen gewesen, auf politische Zensur und polizeiliche Überwachung zu setzen.
Ich habe meinen katalanischen Freunden die Treue gehalten, so lange es
ihnen darum ging, innerhalb eines zentralistischen Spanien regionale Rechte,
ja eine weitgehende Autonomie einzufordern. Ich kann aber keinen sozialen
Fortschritt, keine kulturelle Befreiung
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darin erblicken, wenn auch sie nun,
da diese Rechte weitgehend anerkannt
sind, lieber ihren eigenen Staat haben
möchten, der gewissermaßen reichsunmittelbar der Europäischen Union
angehören solle. Überall in Europa, wo
Regionen heute nicht die vernünftige,
nachbarschaftliche Zusammenarbeit
über nationale Grenzen hinaus, sondern mehr oder weniger rabiat ihre
Eigenstaatlichkeit anstreben, ist keine
Sehnsucht nach Freiheit mehr die treibende Kraft, sondern ein trivialer ökonomischer Egoismus. Wenig könnte
einem Europa, dem es doch gerade an
Solidarität mangelt, mehr schaden als
die trotzig aufstampfende Kleinstaaterei, die immer noch kleinere Entitäten
hervorbringen würde, die ihre guten
Geschäfte, wie das die Lega Nord, der
Vlaams Block oder die korsischen Separatisten anstreben, lieber gleich direkt mit Brüssel tätigen möchten.
Ein souveräner Kleinstaat Salzburg, wie
hätte er, der auf Abschottung seines
beträchtlich verkleinerten Territoriums
hätte setzen müssen, nach 1816 wirtschaftlich, politisch, kulturell reüssieren können! Nein, es ist gut, dass es
mit dieser Souveränität Salzburgs nicht
geklappt hat. Es bleibt also bei dem,
was wir heuer zu feiern haben, bei der
Zugehörigkeit zu Österreich.
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Dieses Österreich war freilich 1816 und
das ganze 19. Jahrhundert herauf kein
demokratischer Staat in unserem Sinne
und hat zumal seinen jüngeren Provinzen
und Kronländern lange jene Rechte verweigert, die diese benötigten, um nicht
abgekoppelte Peripherie zu bleiben. Der
Niedergang Salzburgs in den ersten Jahrzehnten nach der Eingliederung in den
habsburgischen Staat muss entsetzlich
gewesen sein, die Not der Bevölkerung
herzergreifend, sodass es nichts gab, was
einen österreichischen Patriotismus der
Salzburger hätte wecken können.
Es ist nicht meine Aufgabe, hier nachzuzeichnen, wie sich die staatsrechtliche Stellung Salzburgs innerhalb der
Monarchie nach und nach verbesserte.
Aber ich möchte darauf kommen, was
Salzburg, das anfangs so wenig Grund
zu österreichischer Begeisterung hatte,
gewonnen hat, indem es zum österreichischen Kronland wurde; also Teil
eines Staates, der damals einer der
größten und mächtigsten und, wenn
mir das für diese Sache ungewöhnliche
Wort erlaubt ist, auch einer der interessantesten seiner Zeit war.
Wie immer man die Donaumonarchie
bewerten mag – sie war tatsächlich
ein Reich vieler Völker, in dem viele
Sprachen gesprochen wurden und ein
beständiger Austausch zwischen den
verschiedenen Nationen und Nationalitäten, Religions-, Sprach- und Volksgruppen stattfand. Diese nationale
Vielgestalt war eben nicht bloß eine
staatsverordnete Ideologie, sondern
vielmehr der historische Alltag in der
österreichischen, später der österreichisch-ungarischen Monarchie.
Indem sich Österreich Salzburg einverleibte, fand sich Salzburg in einem
Staat wieder, der seine wirtschaftliche
Kraft, seine weltweit ausstrahlende Bedeutung gerade aus seiner nationalen
Vielfalt bezog, aus der fortwährenden
Anziehung und Abstoßung von Zentrum
und Peripherie, aus dieser beständigen
Zuwanderung begabter Kinder, die der
Not ihrer Provinzen entrinnen wollten,
und aus der Abwanderung anderer, die
ihr Glück gerade in den neuen Provinzen suchen wollten. Das heißt aber
nichts anderes, als dass in der Monarchie in großem Maßstab etwas praktiziert wurde, was im kleinen Erzbistum
Salzburg über die Jahrhunderte fast
durchgehend staatliche Praxis war.
Ich brauche all die Architekten und Baumeister, die Domkapellmeister und Komponisten, die Ärzte, Naturforscher und
Gelehrten gar nicht namentlich aufzurufen, die seit der frühen Neuzeit aus
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allen Richtungen nach Salzburg strömten, aus Schwaben und Württemberg,
aus dem Friaul, aus dem damals Krain
genannten Slowenien oder aus Mähren
und vor allem natürlich aus Welschtirol und Italien. Sie wurden gerufen, von
Herrschern, die Wert auf ökonomischen
und fiskalischen Gewinn, aber auch auf
repräsentativen Glanz legten, und sie haben jenes prächtige Bild Salzburgs mitgeformt, das heute in aller Welt bekannt ist.
Salzburg hat immer gewonnen, wenn es
sich der Welt öffnete, ja diese nach Salzburg holte, und Salzburg hat sich immer
dann selbst schweren Schaden zugefügt,
wenn es auf die Aus- und Abschließung
setzte; so hat die schon zu ihrer Zeit
als europäischer Skandal empfundene
Austreibung der Protestanten unter dem
unseligen Erzbischof Firmian nicht nur
großes Leid über Abertausende Menschen gebracht, sondern den Gebieten,
aus denen sie vertrieben wurden, auch
einen langanhaltenden Niedergang beschert. Ich bin davon überzeugt: Um das
Erbe des europäischen Salzburg antreten
und erneuern zu können, musste unser
Land zu einem bestimmten Zeitpunkt paradoxerweise seine Souveränität verlieren und österreichisch werden.
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Ich mache einen großen Sprung: 1945
zogen Abertausende Menschen durch
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ein vom Zweiten Weltkrieg und von
der nationalsozialistischen Herrschaft
schwer gezeichnetes Salzburg, und
viele von ihnen sind geblieben. Geblieben sind nicht die Juden, von denen
der erste schon im Gefolge des Bischofs Arn an der Wende des 8. zum 9.
Jahrhundert nach Salzburg gekommen
sein soll und deren kleine Gemeinden
immer wieder durch Pogrome ausgelöscht wurden. Von den Juden, die
1938 der ihnen zugedachten Vernichtung ins rettende Exil zu entrinnen
vermochten, sind nur wenige nach
Salzburg zurückgekehrt, und sie wurden übrigens offiziell auch nicht dazu eingeladen oder aufgefordert. Und
von den Tausenden Überlebenden der
Konzentrationslager, die es als „displaced persons“ nach Salzburg verschlug, sind ohnedies die allermeisten
rasch weitergezogen.
Andere sind geblieben. Als erste waren noch während des Krieges jene
Südtiroler ins Land gekommen, die
sich als sogenannte Optanten für die
Aussiedelung aus ihre Heimat entschieden hatten, wobei sich ihnen
keineswegs jene freie Entscheidung
bot, die im Wort Option als Bedeutung mitschwingt. 1945 trafen die
Elendszüge der sogenannten Volksdeutschen ein, namentlich der Sudeten- und Karpatendeutschen, der
Schlesier, Donau­
schwaben und Siebenbürger Sachsen. Es hätte der Wiederaufbau des Landes ohne sie, die als
heimatlose Hungerleider kamen und
keineswegs bei allen willkommen waren, so schnell nicht gelingen können,
wie das geschehen ist. Weil ich vorher
nur von den großen Künstlern und
Gelehrten aus der Fremde gesprochen
habe, welche die Erzbischöfe in ihrem
Hofstaat um sich scharten, möchte
ich ausdrücklich hervorheben, dass es
sich nun um eine gewissermaßen namenlose Zuwanderung handelte, die
Abertausende nach Salzburg brachte,
die zuhause alles verloren hatten und
oft nur zufällig, nicht wegen einer besonderen Vorliebe hierher gelangten
und sich doch mit Fleiß und Zähigkeit
daran machten, sich gerade in diesem
Land ihren Platz in der Gesellschaft zu
erarbeiten.
helfssiedlung für Donauschwaben, und
erst 1956 gelang es ihnen, aus einer
Baracke mit zwei Zimmern für die sechsköpfige Familie in eine richtige Wohnung
in der Stadt zu übersiedeln. Es war also
damals, als ja auch die Einheimischen
und Alteingesessenen nicht viel hatten,
nicht gerade leicht, sich als Vertriebene
zu behaupten, aber dennoch ist mit deren vieltausendfacher Eingliederung ein
Erfolgskapitel in der Salzburger Landesgeschichte geschrieben worden. Natürlich tragen aber heute nicht nur Menschen, deren Vorfahren aus der Batschka, der Dobrudscha, der Zips, dem Vinschgau oder aus Bessarabien stammen,
das ihre zum Gedeihen unseres Landes
bei, nein, aus Salzburg sind auch zahllose
Zuwanderer nicht mehr wegzudenken,
die aus so exotischen Ländern wie Ober­
österreich oder der Steiermark zu uns
gekommen sind.
Meine Damen und Herren, ich bin selbst
das Kind solcher Vertriebener, die ihre Heimat zwischen Donau und Theiß
hatten verlassen müssen und 1945 mit
nicht mehr als ein paar Koffern, deprimierenden Erinnerungen und der Hoffnung auf einen Neuanfang in Salzburg
eintrafen. Neun Jahre später kam ich in
Salzburg zur Welt, als der erste gebürtige Österreicher meiner Familie, aber
auch damals lebten meine Eltern und
Geschwister immer noch in einer Be-
Die Arbeitsmigranten seit den sechziger Jahren, die Flüchtlinge des jugoslawischen Zerfallskrieges sind zwar
noch nicht im gleichen Maß als jene
Salzburger anerkannt, die sehr viele
von ihnen inzwischen geworden sind.
Aber in Wahrheit weiß jeder von uns,
dass von der Hotellerie in den Schigebieten zu den Krankenhäusern in den
Städten, von der Industrie mit ihrer
Schichtarbeit bis zu den Tankstellen,
die auch nächtens geöffnet halten, in
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unserem Land nichts ginge ohne sie;
ohne sie, die heute gerade dabei sind,
nach der beruflichen und sozialen auch
ihre politische Integration zu vollenden
und Mandatare in allen Parteien zu
stellen, die gerade so weltoffen oder
borniert wie ihre Kollegen sind, deren
Vorfahren nicht vom Balkan oder aus
Anatolien stammen, sondern aus dem
Lungau oder dem Mühlviertel.
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Seitdem ich in ein Alter gekommen bin,
in dem auch mich manchmal Medien
zu diesem und jenem Thema befragen,
wird mir gegen Ende des Interviews,
egal worum es ging, fast immer die
Frage gestellt: Warum leben Sie immer
noch in Salzburg? In der Frage klingt
ein leiser Verdacht auf: Ob ich, auch
wenn ich gerade über europäische Zusammenhänge befragt wurde, nicht
womöglich doch ein Hinterwäldler geblieben bin, der selbstzufrieden über
seinen inneren Gamsbart streicht. Ich
habe diese Frage aus zwei Gründen
stets für ungebührlich dumm gehalten:
Zum einen, weil sie fast 250 Jahre nach
Erfindung der Eisenbahn und dreißig
nach Einführung des Worldwideweb
immer noch von einem unüberwindbaren Gegensatz von Provinz und Metropole ausgeht; dabei sind selbst die
entlegenen Regionen doch verkehrs-
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technisch und erst recht ideologisch
längst an die neuesten Entwicklungen
in aller Welt angeschlossen, während
umgekehrt die Metropolen gerade
die interessante Tendenz zeigen, in
hunderterlei Dörfer zu zerfallen. Zum
zweiten aber, weil es mir von gedankenloser Menschenverachtung zeugt,
wenn jemand etwas Verfängliches darin erblickt, dass Menschen dort bleiben, wo sie aufgewachsen sind und
ihre Familie, ihre Freunde und auch
die wachsende Zahl ihrer Toten haben;
und das ausgerechnet heute, in einer
Ära, in der Abermillionen Menschen
auf der Flucht sind, die, von hier nach
dort getrieben, nichts anderes ersehnen, als nur irgendwo einen Flecken zu
finden, auf dem sie mit den ihren bleiben können, ohne Mord, Verfolgung,
Elend fürchten zu müssen.
Solche Vertriebene und Getriebene
sind in den letzten Monaten viele
durch Salzburg gekommen, nicht nur
von amtlich befugter Seite betreut,
sondern auch von einer enormen
Schar von Freiwilligen unterstützt, von
religiösen und konfessionslosen Menschen, von Studentinnen und Pensionisten, auf dem Land und in der Stadt,
kurz: von so vielen, auf die man als
Salzburger Grund hat, stolz zu sein.
Auch von denen, die jetzt aus Syrien
oder dem Irak aufgebrochen sind, wer-
den uns nicht alle gen Deutschland
verlassen, sondern viele in Österreich
und auch in Salzburg bleiben oder zu
bleiben trachten. Was diese Tatsache
betrifft, halte ich beides für befremdlich, die Euphorie und die Panik. Es ist
eine wohlmeinende Selbsttäuschung
anzunehmen, dass sich die meisten
Neuankömmlinge umfassend talentiert
und hoch motiviert binnen kurzem in
die österreichische Gesellschaft eingefügt haben werden, zu ihrem und zu
unserem Nutzen. Und es ist ein böswilliger Versuch der Täuschung, die
Flüchtlinge rhetorisch zu einer fremden Masse Mensch zusammenzuballen, die weder willens noch fähig wäre,
sich jemals mit den zivilisatorischen
Werten zu identifizieren, die ja auch
bei uns erst nach langen Auseinandersetzungen allgemein akzeptiert wurden und die wir übrigens keineswegs
preisgeben oder zur individuellen Disposition stellen dürfen.
Wie Salzburg 2066 aussehen wird?
Man braucht kein Prophet zu sein, um
zu sagen: Es wird, was die Herkunft
der hier lebenden Menschen betrifft,
bunter sein als heute. Bunter heißt
nicht von vorneherein schon: besser.
Aber auch nicht einfach: schlechter.
Was daraus wird, hängt von uns selber
ab, denn die Geschichte geht ihren
Weg nicht nach ehernen Gesetzmä-
ßigkeiten und sie hat kein vorgegebenes Ziel. Was daraus wird, hängt von
uns ab, von unserer Bereitschaft, die
vielbeschworenen europäischen Werte nicht nur bei den Asylsuchenden
amtlich abprüfen zu lassen, sondern
auch selbst in unserem Alltag glaubhaft zu leben. Aber auch von unserem
unaufgeregten Selbstbewusstsein wird
es abhängen, das uns befähigt, nicht
in jeder uns ungewohnten Sitte gleich
eine Gefahr für unsere angestammte
Kultur zu erblicken; das uns aber auch
ermächtigt, dort nicht gleichgültig und
abgestumpft zu bleiben, wo es gilt, für
unsere sozialen und zivilisatorischen
Normen ohne Wenn und Aber einzustehen, uns also nicht als desinteressierte oder resignierte, sondern für
die eigene Sache engagierte Bürger zu
erweisen. Die Toleranz gebietet vieles,
aber nicht, der Intoleranz den Weg frei
zu geben.
Selbstkritik ist die edelste Form, ja,
der Urkern jedweder Kritik. Die Europäische Union bedarf gerade jetzt der
Selbstkritik von uns Europäern, aber
wir sollten die Kritik nicht als geistlose
und politisch gefährliche Übung der
permanenten Selbst-Übertrumpfung
betreiben. Es steht uns nicht schlecht
an, im Dauerlamento gegen Politik und
Bürokratie zu bedenken, dass es gerade diese für alles gescholtene Euro-
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päische Union ist, in die Millionen von
Verfolgten und Darbenden gelangen
wollen, und dass sie dafür sogar bereit
sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen.
Selbstverliebt mit den eigenen Schwächen hadernd, laufen viele Europäer
Gefahr, Europa zu unterschätzen und
gewissermaßen aus einem Mangel an
Weltkenntnis verächtlich abzuwerten
oder gar preiszugeben; wie die Österreicher, geradezu besessen von der
Vorstellung, dass die Dinge nur immer
schlechter und schlechter werden in
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ihrem Land, blind werden für all die
sozialen Errungenschaften, die unsere
Vorfahren erkämpft haben und die es
zu verteidigen oder besser noch: auszubauen gälte.
Warum ich immer noch in Salzburg
lebe, wurde ich gefragt. Weil dieses
Land, so reich an Widersprüchen, ein
guter Ort ist, um hier zu leben, und es
wert ist, dass man ihm, zugeneigt auch
in der Kritik und selbst in der Empörung, verbunden bleibe.
Dr. h. c. Karl-Markus Gauß
Biografie
1954 in Salzburg geboren, Studium der
Germanistik und Geschichte, lebt als
Schriftsteller und Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und Kritik“ in Salzburg.
Verfasste über zwanzig Bücher, die bisher in 17 Sprachen übersetzt und mit
regionalen, nationalen und internationalen Literaturpreisen ausgezeichnet
wurden.
Mitglied der Deutschen Akademie für
Sprache und Dichtung und Ehrendoktor der Universität Salzburg seit 2007.
Bücher (Auswahl)
■■Das europäische Alphabet. Zsolnay-
Verlag 1997
■■Die sterbenden Europäer. Unter-
wegs zu den Sepharden von Sarajevo, Gottscheer Deutschen, Arbereshe, Sorben und Aromunen.
Zsolnay 2001
■■Mit mir, ohne mich. Ein Journal.
Zsolnay 2002
■■Die Hundesser von Svinia.
Zsolnay 2004
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■■Die versprengten Deutschen. Unter-
wegs in Litauen, durch die Zips und
am Schwarzen Meer. Zsolnay 2005
■■Im Wald der Metropolen.
Zsolnay 2010
■■Das Erste, was ich sah.
Zsolnay 2013
■■Der Alltag der Welt. Zsolnay 2015
Die seit 2000 erschienenen Bücher lassen sich mehrheitlich zwei Werkreihen
einfügen: den Journalen (bisher fünf
Bände) und den literarischen Reisereportagen (bisher ebenfalls fünf Bände).
■■Lob der Sprache, Glück des Schrei-
bens. Otto Müller-Verlag 2014
Preise und Auszeichnungen (Auswahl)
■■Österreichischer Staatspreis für Kul-
■■Mitteleuropa-Preis des Instituts für
■■Prix Charles Veillon (Zürich) für den
■■Danubius.
turpublizistik 1994
besten europäischen Essayband
(Das Europäische Alphabet) 1997
■■Preis der Salzburger Wirtschaft 1998
Mitteleuropa 2007
preis 2009
Donauland-Sachbuch-
■■Großer Kunstpreis des Landes Salz-
burg für Literatur 2009
■■Ehrenpreis des österreichischen
■■Heinrich-Merckpreis der Deutschen
■■René Marcic-Preis der Salzburger
■■Internationaler Preis des Salzburger
Buchhandels für Toleranz in Denken
und Handeln 2001
Landesregierung 2004
■■Vilenica-Preis für Mitteleuropäische
Literatur 2005
■■Manès Sperber-Preis für Essayistik
2006
12
Akademie für Sprache und Dichtung
2010
Kulturfonds für Kunst und Kultur
2013
■■Großer österreichischer Kunstpreis
für Literatur. 2013
Impressum
Eine Einrichtung von
Medieninhaber: Salzburg 20.16 GmbH | Herausgeber:
Geschäftsführer Friedrich Urban | Bearbeitung und Produktionskoordination: Salzburg 20.16 GmbH | Gestaltung und
Grafik: Grafik Land Salzburg | Druck: Hausdruckerei Land
Salzburg | Salzburg 20.16 GmbH Waagplatz 1.a, Stiege I,
2. OG bzw. Landes-Medienzentrum Postfach 527, 5010 Salzburg | Erschienen Jänner 2016
Logo: Salzburg 20.16 GmbH, Design: Linie 3 GmbH | Lebenslauf mit freundlicher Genehmigung von Karl-Markus Gauß |
Foto: Landes-Medienzentrum
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