Vertragsfreiheit und dispositives und zwingendes Vertragsrecht § 2 § 2

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§ 2 Vertragsfreiheit und dispositives und zwingendes Vertragsrecht
u Fall 2: Das Gasversorgungsunternehmen V verwendet in seinen AGB eine Preiserhöhungsklausel, wonach der Versorger auch während der laufenden Vertragsbeziehung die
Gaspreise an die geänderten Bezugskosten des Versorgers anpassen durfte. Bezugsgröße
sollten dabei die an den internationalen Märkten notierten Ölpreise sein. Der Bundesgerichtshof erklärte diese Klausel gemäß § 307 Abs. 1 BGB für unwirksam. V meint, dieses Urteil verletze ihn in seinem Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit, das die Vertragsfreiheit einschließe, und legt beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde ein.
Hat die Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg?1 t
I. Vertragsfreiheit
1
Die Vorschriften aus dem Allgemeinen Teil des BGB und dem Allgemeinen Teil des
Schuldrechts, die man zu Beginn der juristischen Ausbildung kennen lernt, erschließen
sich wegen ihrer Abstraktheit nur schwer. Sie werden anschaulicher, wenn man sie in
Verbindung mit den Vorschriften über die vertraglichen Schuldverhältnisse anzuwenden hat und diese an das Allgemeine Schuldrecht „andockt“. Beim Durcharbeiten dieses Buches wird manche Norm aus den Allgemeinen Teilen des BGB, die beim ersten
Betrachten vielleicht etwas nebulös erschien, in ihrer praktischen Bedeutung und Anwendung an Kontur gewinnen.
2
Auch im Allgemeinen Teil des BGB finden wir kein geschlossenes Kapitel über das Vertragsrecht. Dies liegt daran, dass für das BGB die oberste Kategorie das Rechtsgeschäft
und nicht der Vertrag ist. Der Vertrag ist lediglich eine besondere Erscheinungsform
von Rechtsgeschäften, basierend auf der Übereinstimmung von zwei Willenserklärungen (§§ 145 ff. BGB). Diese Systematik, das Rechtsgeschäft an die Spitze zu stellen und
den Vertrag nur als Unterfall des Rechtsgeschäfts zu behandeln, wiederholt sich im
Allgemeinen Teil des Schuldrechts. Dort sind erst ab § 305 BGB Regelungen enthalten,
die einen Vertrag voraussetzen, während dies bei den §§ 241 bis 304 BGB nicht der
Fall ist, obwohl auch diese Vorschriften häufig auf Verträge anzuwenden sind.
3
Das gesamte Vertragsrecht basiert auf dem Prinzip der Vertragsfreiheit. Dies erschien
den Vätern des BGB so selbstverständlich, dass sie es nicht ausdrücklich im BGB normiert haben. Niemand ist gezwungen, einen Vertrag abzuschließen (Abschlussfreiheit),
und, wenn er einen Vertrag abschließt, ist er jedenfalls im Prinzip nicht gezwungen,
ihm einen bestimmten Inhalt zu geben (Inhaltsfreiheit).
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Vertragsfreiheit soll auch für Vertragsgerechtigkeit sorgen. Sie erfüllt damit eine ähnliche Funktion wie für die Ökonomen der Markt. Wenn Angebot und Nachfrage in
einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen, kommt es zu angemessenen Ergebnissen. Der Grundsatz der Vertragsfreiheit geht von der Prämisse aus, dass die Betroffenen am besten wissen, was für sie richtig ist, und ihre Geschäfte danach gestalten
können. Die Vertragsfreiheit bietet nach einem berühmten Wort Schmidt-Rimplers eine
Richtigkeitsgewähr für das Ergebnis.2 Damit „Vertragsfreiheit“ funktioniert, ist allerdings entscheidend, dass beide Seiten die gleichen Chancen haben, ihre Interessen im
Vertrag durchzusetzen. Wenn nur die eine Seite vom Vertragsschluss abhängig ist oder
eine Seite die Vertragsbedingungen einseitig diktieren kann, kann der Gedanke der Ver1 Nach BVerfG NJW 2011, 1339. Die zugrunde liegende BGH-Entscheidung ist in BGHZ 182, 59, veröffentlicht.
2 Schmidt-Rimpler AcP 147 (1941) 130, 149.
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§ 2 Vertragsfreiheit und dispositives und zwingendes Vertragsrecht
tragsfreiheit nicht uneingeschränkt Geltung beanspruchen, und der Gesetzgeber muss
korrigierend eingreifen. Die Regeln über die vertraglichen Schuldverhältnisse sind ein
Spiegelbild genau dieses Spannungsverhältnisses zwischen formaler Vertragsfreiheit
(i.S. von Abschluss- und Inhaltsfreiheit) und gesetzgeberischer Intervention bei „Ungleichgewichtslagen“.3
Die Vertragsfreiheit beschreibt nicht nur ein wichtiges Grundprinzip des BGB, sie ist
auch Bestandteil eines Grundrechts. Das Bundesverfassungsgericht geht in ständiger
Rechtsprechung davon aus, dass die Vertragsfreiheit einen Ausfluss der allgemeinen
Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG darstellt.4 Dabei ist das Verfassungsgericht
nicht bei einem formalen Verständnis von Vertragsfreiheit stehen geblieben, wie sie
dem BGB bei seinem Inkrafttreten zu Grunde lag, sondern hat vor allem in dem Bürgschaftsurteil aus dem Jahre 1993 ein von ihm sogenanntes materiales Verständnis von
Vertragsfreiheit geprägt.5 Gesetzgeber und Rechtsprechung sind danach verfassungsrechtlich verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Bürger von der Vertragsfreiheit Gebrauch machen können. Es ergibt sich eine Pflicht zur Inhaltskontrolle von Verträgen,
die einen der Vertragspartner ungewöhnlich stark belasten und das Ergebnis strukturell ungleicher Verhandlungsstärke sind. Zu diesem Zweck muss die Rechtsprechung
die Generalklauseln des BGB, die §§ 138 und 242, anwenden, um regulierend einzugreifen, wenn der Gesetzgeber nicht von sich aus tätig wird. Vor allem der Begriff der
strukturellen Ungleichheit wurde in der Literatur kritisiert.6 Das Bundesverfassungsgericht hielt aber der Sache nach an der Bürgschafts-Rechtsprechung fest, wobei es
nunmehr verlangt, dass der Gesetzgeber eingreifen müsse, wenn die Selbstbestimmung
sich in Fremdbestimmung zu verkehren drohe.7 In einer neueren Entscheidung formuliert es, dass die Bedingungen der Selbstbestimmung des Einzelnen tatsächlich gegeben
sein müssen.8 Dem ist zuzustimmen.9
5
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bezieht sich aber nur auf die Inhaltsfreiheit. Die Abschlussfreiheit verhindert, dass jemand gezwungen ist, einen Vertrag einzugehen, den er nicht will. Einschränkungen der Abschlussfreiheit gibt es im
Privatrecht grundsätzlich nicht. Auch das Allgemeine Gleichstellungsgesetz, das Diskriminierungen in bestimmten Bereichen, vor allem im Arbeitsrecht, verhindern soll,
führt nicht dazu. Diskriminierungen führen nur zu Schadensersatzansprüchen. Einen
Kontrahierungszwang gab es früher in Bereichen, in denen Unternehmen ein gesetzliches Monopol hatten, vor allem bei leitungsgebundenen Leistungen. Im Zuge der Einführung von Wettbewerb auch in diesen Gebieten durch EU-Recht werden gesetzliche
Kontrahierungszwänge jedoch immer seltener.10 Faktisch können Kontrahierungszwänge jedoch z.B. aus dem Diskriminierungsverbot des § 20 GWB folgen.11
6
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Dazu Hönn; vgl. auch Busche 104 f.; Singer 14 ff.; Tamm 165 ff.
BVerfGE 8, 328; 70, 123; 72, 170.
BVerfGE 89, 214, 232.
Drexl 275 ff.; grundlegend ablehnend Zöllner AcP 196 (1996) 1.
BVerfG VersR 2006, 961.
BVerfG NJW 2011, 1339.
Zustimmend auch MünchKomm-Busche Vor § 145 Rn. 6; Singer JZ 1995, 1133, 1138; Tamm 173 f.
Im Verkehrsbereich gibt es ihn noch, § 22 PersbefG; im Energieversorgungssektor besteht nur noch eine
Grundversorgungspflicht, § 36 EnWG.
11 Münch-Komm-Busche Vor § 145 Rn. 18; Lübbert, in: Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, 2. Aufl. 2008,
§§ 24–31.
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Teil A: Einleitung
II. Zwingendes Vertragsrecht
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Dem Verhältnis von formaler und materialer Vertragsfreiheit entsprechen die Begriffe
des dispositiven und des zwingenden Vertragsrechts. Grundsätzlich sind die Bestimmungen über vertragliche Schuldverhältnisse im BGB dispositiv, d.h. die Parteien können etwas anderes vereinbaren. Die Bedeutung der dispositiven Vertragsvorschriften
erschöpft sich darin, Probleme aufzufangen, die die Parteien bei Vertragsschluss nicht
gesehen und in Folge dessen nicht geregelt haben. Auch können die dispositiven Vorschriften zur Anwendung kommen, wenn die Parteien wegen der wirtschaftlichen Geringfügigkeit des Vertrages keine ausführlichen Regelungen geschlossen und sich nur
über die essentialia negotii geeinigt haben.12 Das dispositive Vertragsrecht bildet gewissermaßen eine „Reserverechtsordnung“, die nur ergänzend zu den vorrangigen Vereinbarungen der Vertragsparteien zur Anwendung gelangt.
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Die Bedeutung des dispositiven Vertragsrechts im Verhältnis zu zwingendem Vertragsrecht ist seit Inkrafttreten des BGB immer stärker zurückgegangen. Dies hängt auch
mit dem oben beschriebenen Funktionswandel der Vertragsfreiheit zusammen. Der Gesetzgeber sah sich damit konfrontiert, dass die Vertragsfreiheit jedenfalls in der Form
der Inhaltsfreiheit zu einer einseitigen Bevorzugung des stärkeren Vertragspartners führen kann und steuert mit zwingendem Vertragsrecht gegen.13 Der Mechanismus der
Vertragsfreiheit ist vor allem dann gestört, wenn die eine Vertragspartei mithilfe des
Vertragsschlusses Grundbedürfnisse des menschlichen Lebens erfüllen will und muss.
Der Mensch braucht etwas zu essen, in Folge dessen muss er Kaufverträge abschließen.
Er benötigt ein Dach über dem Kopf, in Folge dessen muss er Mietverträge abschließen, und schließlich muss er sich das Geld für diese Ausgaben durch einen Arbeitsvertrag beschaffen. Diese drei mit der Versorgung menschlicher Grundbedürfnisse zusammenhängenden Rechtsgebiete bilden den Kern des Vertragsrechts, in dem sich immer
mehr zwingende Vorgaben entwickeln. So hat der Gesetzgeber seit dem Ersten Weltkrieg zwingende mietvertragliche Vorschriften neben dem BGB geschaffen, die in zwei
Schüben 1975 und durch die Mietrechtsreform von 2001 ins BGB überführt wurden.
Das Arbeitsvertragsrecht, das auch heute noch im Grundsatz als Dienstvertrag gemäß
§ 611 BGB zu qualifizieren ist, wurde – mit nicht unwichtigen Resten – aus dem BGB
in viele Einzelgesetze ausgelagert. Die Vertragsfreiheit, die im Verhältnis des einzelnen
Arbeitnehmers zum Arbeitgeber kaum zu realisieren wäre, wird jenseits der gesetzlichen Vorgaben, die einen Mindestschutz gewährleisten, gleichsam auf höherer Ebene
durch kollektives Verhandeln der Parteien, die durch ihre Verbände vertreten werden,
wieder hergestellt. Den formalen Rahmen dafür bietet das Tarifvertragsgesetz (TVG).
Unterstützt wird die Vertragsparität durch die Tarifautonomie und das Streikrecht der
Arbeitnehmer, die in Art. 9 GG gewährleistet sind. Andere wesentliche Elemente des
Arbeitsvertrags, insbesondere der Kündigungsschutz, sind in weiten Teilen außerhalb
des BGB, etwa im KSchG, geregelt. Im BGB befinden sich nur die §§ 622, 626 (unten
§ 25 Rn. 30, 32).
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Im Kaufvertrag begann das zwingende Recht mit der Prüfung Allgemeiner Geschäftsbedingungen durch die Rechtsprechung, die diese Kontrolle auf § 242 BGB stützte. Die
Rechtsprechung wurde im Jahre 1976 in das AGB-Gesetz und dieses durch die Schuldrechtsreform von 2001 in die §§ 305 ff. BGB überführt. Durch die AGB-Kontrolle
12 Zur Einigung über die essentialia negotii als Voraussetzung für das Zustandekommen eines Vertrags Faust
§ 3 Rn. 3 sowie unten § 6 I.
13 Zur Materialisierung des Vertragsrechts MünchKomm-Busche vor § 145 Rn. 5 ff; Tamm 165 ff.
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§ 2 Vertragsfreiheit und dispositives und zwingendes Vertragsrecht
wird die Dispositivität des Vertragsrechts auch dort zurückgedrängt, wo sie formal
noch gilt, denn § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB sieht vor, dass sich die AGB-Kontrolle an den
wesentlichen Grundgedanken des dispositiven Rechts zu orientieren hat.
Durch die Europäisierung des Zivilrechts wurde in weiteren Rechtsgebieten für Verbraucherverträge zwingendes Recht geschaffen (unten § 3 Rn. 6–16). Der deutsche Gesetzgeber setzte die vertragsrechtlichen Richtlinien der EG zunächst in Nebengesetzen
zum BGB um, z.B. dem Haustürwiderrufsgesetz (HWiG), dem Verbraucherkreditgesetz
(VerbrKrG), dem Fernabsatzgesetz (FernAbsG). Durch die Schuldrechtsreform des Jahres 2001 wurden diese Gesetze ins BGB überführt, so dass nunmehr die Rechtslage im
Vertragsrecht weitgehend durch das BGB wiedergegeben wird. Ob es wegen der immer
schwieriger ins BGB zu integrierenden Richtlinien der EU dabei bleiben sollte, war Gegenstand der Verhandlungen des 69. Deutschen Juristentages 2012 in München. Eine
Mehrheit der Teilnehmer sprach sich entgegen den Empfehlungen des Gutachters14 dafür aus. Seitdem sind weitere wichtige EU-Richtlinien wie die Verbraucherrechterichtlinie15 und die Wohnimmobilienkreditrichtlinie16 im BGB umgesetzt worden.
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Während unbestritten das Wohnungsmietrecht und das Arbeitsrecht selbstständige
Rechtsgebiete geworden sind, die den Schutz der schwächeren Vertragspartei mit Mitteln des zwingenden Vertragsrechts zum Gegenstand haben, so dass man sie auch als
Sonderprivatrecht bezeichnet, ist dies für das Verbraucherschutzrecht nach wie vor
umstritten. Einige halten die Analyse einer „strukturellen“ Ungleichgewichtslage für
falsch und wollen in Fällen situativer Schutzbedürftigkeit mit Mitteln des allgemeinen
Rechts helfen.17 Richtigerweise ist jedoch davon auszugehen, dass sich auch das Verbraucherschutzrecht zu einem eigenständigen Rechtsgebiet und einem Rechtsprinzip
entwickelt hat.18
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Der zwingende Charakter von Vertragsrecht gilt nunmehr doppelt: Einerseits wird er
ausdrücklich für bestimmte Bereiche angeordnet, die sich meist auf Verbraucherverträge beziehen und auf unionsrechtliche Rechtsakte zurückgehen. Andererseits gilt für das
verbleibende dispositive Vertragsrecht weiterhin die Einschränkung der Dispositivität
durch die AGB-Kontrolle, welche von der Rechtsprechung intensiv gehandhabt wird.
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u Lösungshinweise zu Fall 2: Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde nicht angenommen und einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG, der die Vertragsfreiheit beinhaltet, durch die angegriffene Entscheidung des BGH verneint. Der Kernsatz des
Beschlusses lautet: „Der zum Ausdruck gebrachte übereinstimmende Wille der Vertragsparteien (…) lässt auf einen durch den Vertrag hergestellten sachgerechten Interessenausgleich
schließen, den der Staat grundsätzlich zu respektieren hat. Ausnahmen hat das Bundesverfassungsgericht anerkannt, wenn aufgrund erheblicher ungleicher Verhandlungspositionen einer
der Vertragspartner ein solches Gewicht hat, dass er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann. Dann ist es Aufgabe des Rechts, auf die Wahrung der Grundrechtspositionen
der beteiligten Parteien hinzuwirken, um zu verhindern, dass sich für einen Vertragsteil die
Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung verkehrt.“ Die Beanstandung der Preisanpassungsklausel durch den Bundesgerichtshof bewegt sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts im verfassungsrechtlich zulässigen Rahmen. t
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Micklitz A 117 (These 1.).
Weiler, § 18 Rn. 1 ff.
Dazu unten § 15 Rn. 11a.
Canaris AcP 200 (2000) 273.
Tamm 938 ff.; Tonner/Tamm WiVerw 2004, 89.
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§2
Teil A: Einleitung
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen
> Wie hängen Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit zusammen?
> Was versteht das Bundesverfassungsgericht unter materialer Vertragsfreiheit?
> Warum und in welchen Bereichen ist zwingendes Vertragsrecht entstanden?
> Welche Rolle spielt dabei der europäische Gesetzgeber?
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