Das grosse Seilziehen um griffige Pestizid

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In kantonalen Umweltlabors wird ermittelt, ab wann ein Gewässer zu stark mit Schadstoffen belastet ist. Das Bundesamt für
Umwelt will diese Grenzwerte dem EU-Niveau anpassen, was dem Bundesamt für Landwirtschaft, dem Bauernverband und der
Chemielobby aber zu weit geht.
Das grosse Seilziehen
um griffige Pestizid-Grenzwerte
Die Schweizer Gewässer sind oft massiv mit Pestiziden belastet, doch
die Kantone können wenig gegen diese Missstände unternehmen.
Dies will der Bundesrat mit einer Verschärfung der GewässerschutzVerordnung ändern, die aber just vom Bundesamt für Landwirtschaft
torpediert wird.
Im Mai 2014 redete der Bundesrat Klartext in Bezug auf die
ren». Daraus folgerte der Bundesrat: «Ohne neue und wir-
Pestizidbelastung der Gewässer durch die Landwirtschaft. In
kungsvolle Massnahmen werden die Gewässer daher weiter-
seiner Antwort auf eine Interpellation von SP-National­rätin
hin stark mit PSM belastet werden.»
und Pro Natura Präsidentin Silva Semadeni hielt er fest, dass
die Vorschriften des ökologischen Leistungsnachweises (ÖLN)
Alarmierende Überschreitungen
«wenig Einfluss» auf eine verringerte Belastung der Gewäs-
In seiner Analyse stützte sich der Bundesrat auf eine Studie der
ser durch sogenannte Pflanzenschutzmittel (PSM) hatte. Auch
ETH-Forschungsanstalt für Wasserversorgung, Abwasserreini-
die zusätzlich ergriffenen Massnahmen seit 2005 konnten «die
gung und Gewässerschutz (Eawag), welche in fünf mittelgro-
Einträge von PSM in die Gewässer nicht signifikant reduzie-
ssen Fliessgewässern «sehr hohe Konzentrationen» an PestiziPro Natura Magazin 5/2015
Christian Flierl
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den gemessen hatte und zusätzlich festhielt, «dass Maximal-
de in den Gewässern «griffige Massnahmen getroffen werden».
konzentrationen in diesen Gewässern um ein Vielfaches höher
lagen und dass Maximalkonzentrationen in kleineren Gewäs-
Nur ein kleines Spektrum wird erfasst…
sern nochmals höher sind».
Ein weiterer Grund für den mangelhaften Vollzug ist das un-
vollständige Monitoring der Pestizidbelastung der Fliess­
Den ökologischen Leistungsnachweis (ÖLN) erfüllen rund
98 Prozent der Schweizer Bauernbetriebe; dieser ist die Be-
gewässer. Laut einem Eawag-Bericht im Magazin «Aqua & Gas»
dingung für die Auszahlung von jährlich rund 2,8 Milliar-
(Nr. 4/2015) werden auch bei den neusten, aufwändigen Messungen der Herbizide «etwa
den Franken Direktzahlungen.
Die darin festgelegten Standards
entsprechen aber nur einer guten landwirtschaftlichen Praxis
und bringen kaum ökologische
Ver­besserungen
Verursacher sind schwierig
aufzuspüren
Doch nicht nur der Öko-Leistungsnachweis hatte bisher wenig Einfluss auf die Pestizidbelastung der
Fliessgewässer, sondern auch die
Gewässerschutz-Verordnung. Diese nimmt die Verursacher von Umweltschäden grundsätzlich in die
Pflicht. Doch in der Praxis gestaltet es sich schwierig, die Verursacher den Belastungen zuzuordnen.
Laut Christian Stamm, Co-Autor
der erwähnten Eawag-Studie, ist
dies in der Regel «nicht möglich,
(…) weil in den meisten Fällen Felder zahlreicher Landwirte beitragen. Zudem werden – ausser bei
akuten Vergiftungsfällen – Überschreitungen erst Monate nach ihrem Auftreten anhand von Laboranalysen aus den Routinemessungen bekannt».
Deshalb ist es laut Stamm «für
die Kantone als Vollzugsbehörde schwierig, konkrete Massnahmen zu ergreifen». Letztere müssten folglich «systemisch sein und
nicht auf einen Einzelfall bezogen».
Dafür aber sei in den Kantonen der
«politische Druck zu gering», zumal «einfache Lösungen nicht zur
Hand sind». Aus diesem Grund sei
es sehr wichtig, dass im Rahmen
des zukünftigen Aktionsplans des
Bundes zur Reduktion der PestiziPro Natura Magazin 5/2015
Stark belastete Gewässer:
Bafu schlägt Alarm
Vor allem in kleinen und mittleren Fliess­
gewässern im Schweizer Mittelland würden Konzentrationen gemessen, bei denen eine Beeinträchtigung von Wasserlebewesen nicht mehr
ausgeschlossen werden könne. Dies hält eine
Situations­analyse des Bafu zu Mikroverunreinigungen in Fliessgewässern unmissverständlich
fest. Laut der im September erschienenen Analyse führen die «oft hoch dynamischen Einträge»
vor allem in kleinen Fliessgewässern häufig zu
Überschreitungen der ökotoxikologisch hergeleiteten Qualitätskriterien. Dadurch werde die Biodiversität in den Schweizer Fliessgewässern beeinflusst.
Als wichtigste Quelle der Mikroverunreinigungen nennt der Bericht die Landwirtschaft. Von
dort gelangt eine Vielzahl verschiedener Stoffe
wie Pestizide, Biozide, Tierarzneimittel, natürliche Hormone, Schwermetalle und natürliche Toxine in die Gewässer. Davon seien die Pestizide
die für Wasserlebewesen kritischste Stoffgruppe
– und auch jene, bei der die Grenzwerte am häufigsten überschritten werden. In den kleinen
Gewässern des Mittellands, Juras und der Tal­
ebenen liegt der Anteil der potenziell belasteten
Fliessstrecken bei über 80 Prozent.
Solange aber die Interpration der Gewässer­
untersuchungen
weiterhin
«landnutzungs­
basiert» erfolge, müssten solch kritische Situationen auf weiten Strecken des Schweizer
Fliessgewässernetzes weiterhin erwartet werden,
warnt das Bafu deutlich. Stattdessen schlägt das
Bafu «insbesondere wirkungsvolle Massnahmen
im Bereich Landwirtschaft» vor, um die Gewässerbelastung deutlich zu reduzieren. Dazu gehören primär Stoffverbote oder Anwendungseinschränkungen. raw
www.bafu.admin.ch/publikationen > Mikroverunreinigungen
(suchen)
die Hälfte der detektierten
Substanzen und knapp die
Hälfte des Risikos verpasst».
Zudem umfassen typische
bisherige kantonale Monitoringprogramme bei Fungiziden aufgrund des Aufwands
«nur fünf Substanzen». Deshalb erstaune es nicht, dass
«die Fungizidbelastung stark
unterschätzt» werde. Und
auch die Insektizide seien
für die Gewässer «viel wichtiger, als bisher durch Monitoringprogramme bestätigt werden konnte». Es sei
daher nötig, «in Zukunft je
nach Landnutzung mehr Insektizide routinemässig zu
analysieren».
…mit einem veralteten
Einheitswert
Ein Hauptgrund für den
mangelhaften Vollzug des
Gewässerschutzes sind die
fehlenden stoffspezifischen
Pestizid-Grenzwerte.
Er-
staunlicherweise fehlen in
der aktuell gültigen Gewässerschutz-Verordnung
Grenzwerte für die einzelnen Pestizid-Wirkstoffe gemäss ihrer unterschiedlichen Giftigkeit. Stattdessen ist nur ein einheitlicher
Grenzwert von 0,1 Mikrogramm pro Liter (μg/l) für
alle Pestizide verankert, ungeachtet deren unterschiedlichen Giftigkeit für die
Wasser-Lebewesen.
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Deshalb will der Bundesrat im Rahmen der laufenden Re-
vision der Gewässerschutz-Verordnung diesen unpraktikablen
Einheitsgrenzwert durch Grenzwerte für die einzelnen Pestizide ersetzen. Diese sogenannten «ökotoxikologischen Qualitätskriterien» (EQS) wurden vom Oekotoxzentrums der Eawag
auf der Grundlage internationaler Forschung entwickelt.
Strengere Grenzwerte für Gewässer
In der EU gelten strikt getrennte Grenzwerte einerseits für die
Pestizid-Zulassung und andererseits für die Beurteilung der
Gewässerqualität. Für die Zulassung sind es die weniger strengen RAC-Grenzwerte (Regulatory Acceptable Concentrations)
und für die Beurteilung der Gewässerqualität die strengeren
EQS-Grenzwerte.
Die RAC-Grenzwerte gelten in der Schweiz bereits für die
Pestizid-Zulassung. Jetzt will der Bundesrat entsprechend der
EU die EQS-Grenzwerte für die Beurteilung der Gewässer in
der Gewässerschutz-Verordnung festschreiben. Beide Grenzwerte stützen sich grundsätzlich auf dieselben wissenschaftlichen Grundlagen. Der Unterschied liegt darin, dass die RACGrenzwerte eine vorübergehende Schädigung der Wasserlebewesen in Kauf nehmen, wenn diese sich innert einer gewissen
Zeit wieder erholen. Die EQS-Grenzwerte hingegen akzeptieren keine Beeinträchtigung der Organismen in den Gewässern.
Seilziehen zwischen Bundesämtern
Zur Zeit ist hinter den Kulissen ein Seilziehen um die Festle-
Die Verlautbarung des BLW trifft auf Kritik der Eawag und des
gung der neuen Grenzwerte im Gang. Auf der einen Seite for-
Bafu. Auf Nachfrage stellt Eawag-Mitarbeiter Stamm fest: «Das
dern das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW), der Schweize-
BLW stützt sich bei seiner Analyse auf die sogenannten RAC-
rische Bauernverband (SBV) und die Pestizidindustrie unter
Werte, wir ziehen (wie das Bafu) für die Gewässerbewertung
der Federführung von «Scienceindustries» die weniger stren-
die Environmental Quality Standards (EQS) heran.» Die RAC-
gen RAC-Grenzwerte. Auf der anderen Seite treten der Bundes-
Grenzwerte für Pestizide, wie sie das BLW verwende, seien
rat, das Bundesamt für Umwelt (Bafu) und die Kantone für die
«in der Regel deutlich höher als die EQS-Werte.» Im Gegensatz
EQS-Grenzwerte ein.
zu den EQS-Grenzwerten liessen sie «höhere Pestizidkonzen-
Da ist es wohl kein Zufall, dass BLW in seinem Newslet-
trationen zu, wenn sich die Lebewesen innert einer gewissen
ter vom letzten März einen gezielten Schuss vor den Bug der
Zeit wieder erholen».
EQS-Befürworter setzte und eine grosszügige Entwarnung be-
Auch Christian Leu, Chef der Sektion Wasserqualität beim
züglich der Pestizid-Belastung in den Schweizer Gewässern
Bafu, teilt die Folgerungen der BLW-Verlautbarung vom März
publizierte: «Die derzeitige Auswertung zeigt, dass die gerin-
2015 nicht und hält auf Nachfrage fest: «Die Beurteilung der
ge Anzahl an Überschreitungen der RAC-Werte (0.075 % al-
Wasserqualität mit RAC-Werten lehnen wir im Bereich des
ler Messungen) ein gutes Zeichen für die Situation der Ober-
Gewässerschutzes ab. Diese Werte dienen der Zulassung von
flächengewässer ist.» Damit dehnte das Bundesamt für Land-
Pflanzenschutzmitteln. Für die Beurteilung der Wasser­qualität
wirtschaft die RAC-Grenzwerte eigenmächtig auf die Beurtei-
gemäss Gewässerschutzverordnung sind sie aber nicht relevant,
lung der Gewässerqualität aus und gab damit implizit seine
da sie nicht gesetzlich verbindlich sind.»
Forderung für die Revision der Gewässerschutz-Verordnung
bekannt. Die Pestizidlobby quittierte die gute Nachricht aus
Spitzenbelastungen werden nicht erfasst
dem BLW dankbar auf der Internetseite www.pflanzenschüt-
Zudem ist die genannte Auswertung des BLW so angesetzt,
zer.ch: «Wiederholte Messungen staatlicher Stellen belegen,
dass sie das Pestizidproblem stark verwässern. Laut Stamm
dass diese Grenzwerte nur in den seltensten Fällen überschrit-
«stellt die Analyse (des BLW, Anm. der Redaktion) zwar fest,
ten werden.»
dass Überschreitungen hauptsächlich in kleinen Gewässern
Pro Natura Magazin 5/2015
Christian Flierl
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BLW, Pestizidlobby und SBV
lobbyieren für Lockerung
festgestellt wurden, unterschlägt aber bei der Interpretation,
dass beim Monitoring diese kleinen Gewässer massiv unterrepräsentiert sind. Denn für sie liegen nur rund 9 Prozent der
Anzahl Messungen wie für grosse Flüsse vor». Tatsächlich aber
machen Kleingewässer 75 Prozent des Schweizer Gewässernetzes aus.
Aus der BLW-Auswertung folgt deshalb das verharmlosen-
de Resultat, dass nur 0,075 Prozent aller Messungen die RACWerte überschritten haben. Zudem werde nicht berücksichtigt,
dass die meisten Monitoring-Strategien nicht in der Lage sind,
«kurzfristig auftretende Spitzenkonzentrationen zu erfassen».
Deshalb unterschätze diese Analyse «systematisch die tatsächliche Belastung, wie sie in kleinen Gewässern landwirtschaftlich genutzter Einzugsgebiete auftreten können».
Der Bundesrat sollte im Herbst über die Änderungen in der
Gewässerschutzverordnung entscheiden. Dann wird sich zeigen, welchem Bundesamt er mehr Gehör verschafft.
KURT MARTI arbeitet als freier Journalist.
Dieser Beitrag ist der letzte einer dreiteiligen Serie über Pestizide
in der Schweiz. Die anderen Beiträge und zahlreiche weitere Fakten
finden sich auf:
www.pronatura.ch/pestizide
Pro Natura Magazin 5/2015
Konfrontiert mit dem Vorwurf, unverbindliche Grenzwerte im Gewässerschutz durchsetzen zu wollen, erklärt BLW-Mitarbeiterin
Katja Knauer, Fachbereich Nachhaltiger Pflanzenschutz: «Die
einzelnen RAC-Werte sind nicht in der Gewässerschutz-Verordnung festgehalten, sondern in der Gewässerschutz-Verordnung
wurde nur die Anforderung an Pestizide festgelegt: Vorbehalten
bleiben andere Werte auf Grund von Einzelstoffbeurteilungen im
Rahmen des Zulassungsverfahrens.» Damit habe der Bundesrat «nur die Anforderung an Pestizide festgelegt». Die einzelnen
RAC-Grenzwerte hingegen ergeben sich laut Knauer «aus den
ökotoxikologischen Gutachten, die von Experten bei Agroscope
im Rahmen der Zulassung erstellt werden».
Damit bestätigt Knauer zwar die Feststellung von Bafu-Mitarbeiter Leu, dass die RAC-Werte nicht gesetzlich verbindlich
für die Beurteilung der Gewässerqualität festgelegt sind. Doch
das soll sich jetzt offenbar ändern: BLW-Expertin Knauer schlägt
auf Anfrage vor: «Will man in der Schweiz in der Zukunft auch
die Anforderungen der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie
einführen, aber auch die Kohärenz mit geltendem Bundesrecht
(Pflanzenschutzmittel-Verordnung PSMV) erhalten, dann wäre
es denkbar, dass zwei Geltungsbereiche für Anforderungen an
die Oberflächengewässerqualität eingeführt werden; der RACWert könnte für die kleinen Gewässer als Massstab gelten (nach
PSMV), während die EQS-Werte für die grösseren Gewässer als
Vergleichsgrösse herangezogen werden.» Damit kämen die weniger strengen RAC-Werte ausgerechnet für die stark belasteten
kleinen Gewässer zum Einsatz und die strengeren EQS-Werte für
die wenig belasteten grösseren Gewässer.
Mit diesem Verwässerungs-Vorschlag liegt das BLW exakt auf
der Linie der Pestizidindustrie. In der Vernehmlassungsantwort
von Scienceindustries zur Gewässerschutz-Verordnung steht
fast wortgleich zu den Aussagen von BLW-Mitarbeiterin Knauer:
«Für die Beurteilung von grösseren Gewässern werden die EQSWerte und für die Beurteilung von kleineren Fliessgewässern (…)
die RAC-Werte beigezogen.» Falls dieser Vorschlag umgesetzt
würde, hätte die Schweiz deutlich weniger strenge Anforderungen an die Wasserqualität als die EU.
Während also der Bundesrat in seinem Verordnungs-Entwurf
klare Verhältnisse schaffen wollte und den Satz «Vorbehalten
bleiben andere Werte auf Grund von Einzelstoffbeurteilungen
im Rahmen des Zulassungsverfahrens» gestrichen hatte, treten
die Pestizidlobby und der Bauernverband explizit gegen diese
Streichung ein. km