Therapiezieländerung, Sterben zulassen und Palliative Care am

THERAPIEZIELÄNDERUNG,
STERBEN ZULASSEN UND
PALLIATIVE CARE
AM LEBENSENDE
Was wir dürfen, sollten, nicht dürfen:
rechtsethische Orientierungshilfen
Priv.-Doz. Dr. Jürgen Wallner, MBA
Working Paper, Stand 24. Jänner 2016
© 2016 J. Wallner | www.ethix.at | Bei diesem Dokument handelt es sich um ein Working Paper, welches Vorträgen des Autors zu Grunde liegt. Quellenangabe: Wallner J. Therapiezieländerung, Sterben zu lassen und Palliative
Care am Lebensende im Krankenhaus [letztes Update 2016 Jan 24], abrufbar unter
http://www.ethix.at/deutsch/publikationen-vortraege/.
Wallner: Therapiezieländerung, Sterben zulassen und Palliative Care
Working Paper, Stand 24.01.2016
2
Inhalt
1 Einleitung: von Recht und Ethik bei klinischen Entscheidungen am
Lebensende ........................................................................................... 4
1.1 Recht und Lebensende ................................................................................. 4
1.2 Rechtsethik am Lebensende ........................................................................ 5
1.3 Klinische Ethik am Lebensende.................................................................. 6
2 Die rechtsethischen Säulen jeder Therapieentscheidung:
Indikation und Patientenwille ............................................................. 6
2.1 Indikation ...................................................................................................... 7
2.1.1 Definition .......................................................................................... 7
2.1.2 Interpretation.................................................................................... 8
2.1.3 Zwischenfazit .................................................................................... 9
2.1.4 Ziele der Medizin am Lebensende ............................................... 10
2.1.5 Therapiezieländerung .................................................................... 11
2.2 Patientenwille .............................................................................................. 11
2.2.1 Patientenwille als Abwehrrecht .................................................... 12
2.2.2 Aktueller, antizipierter, stellvertretener, mutmaßlicher,
natürlicher Patientenwille ............................................................. 13
2.2.3 Zwischenfazit .................................................................................. 17
2.3 Zusammenspiel von Indikation und Patientenwille.............................. 18
3 Rechtsethische Probleme und deren Bewältigung im klinischen
Alltag.................................................................................................... 18
3.1 Wann sind lebenserhaltende Maßnahmen „nicht (mehr) indiziert“? 19
3.1.1 Die Problemstellung ...................................................................... 19
3.1.2 Bewältigung im Rahmen der klinischen Ethik........................... 21
3.1.3 Exkurs: „Töten“ im Sinn des österreichischen Strafrechts ....... 24
3.2 Wann sind lebenserhaltende Maßnahmen aufgrund des
Patientenwillens nicht weiter fortzusetzen?............................................ 26
3.2.1 Die Problemstellung ...................................................................... 26
3.2.2 Bewältigung im Rahmen der klinischen Ethik........................... 27
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3
4 Schlussfolgerungen ............................................................................ 30
4.1 Drei substanzielle Schlussfolgerungen .................................................... 30
4.2 Drei prozedurale Schlussfolgerungen ...................................................... 31
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1
4
Einleitung: von Recht und Ethik bei
klinischen Entscheidungen am Lebensende
Klinische Entscheidungen am Lebensende konfrontieren uns mit zahlreichen Herausforderungen. Manche davon betreffen Fragen aus dem
Bereich von Ethik und Recht. Es sind Situationen, mit denen ich persönlich regelmäßig zu tun habe – in meiner Funktion als klinischer
Ethiker in einem Akutkrankenhaus. Ich versuche dann, den Beteiligten
rechtsethische Orientierungshilfen zu geben. Und ich möchte im Folgenden einige wichtige Erkenntnisse daraus vorstellen.
1.1
Recht und Lebensende
Die Rechtsordnung ist gleichsam der kleinste gemeinsame Nenner unseres Zusammenlebens. Durch rechtliche Normen wird uns vermittelt,
– was wir tun müssen (Gebote),
– was wir nicht tun dürfen (Verbote),
– und wo wir uns so oder anders verhalten dürfen (Freiräume).
Bei medizinrechtlichen Normen geht es meist um hoch bewertete
Rechtsgüter: jene von Leib und Leben. Hier kann ein Staat den Umgang
nicht bloß den zivilrechtlichen Abmachungen seiner Bürgerinnen und
Bürger überlassen. Wir erwarten uns von einem anständigen Staat, dass
er Leib und Leben gleichsam offizieller schützt. Ein Rechtsstaat wie Österreich tut dies vor allem auf zweifache Weise:
 Erstens, indem er grundlegende Menschenrechte verbürgt. Im
Medizinrecht sind dies insbesondere das Recht auf Leben1 sowie das
1
Verankert insb. in Art. 2 EMRK.
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Recht auf Privatleben2, welches heute als umfassendes Recht auf Selbstbestimmung verstanden wird.
 Zweitens konkretisiert der Rechtsstaat diesen Schutz von Leib
und Leben in jenem Rechtsbereich, der gleichsam der strengste und in
gewisser Weise archaischste ist: im Strafrecht.3
Derartige rechtliche Normen fußen auf ethischen Beurteilungen.
1.2
Rechtsethik am Lebensende
Die Ethik hat in diesem Zusammenhang die Aufgabe, Normen – also
Gebote, Verbote und Freiräume – in ihrer argumentativen Begründung
kritisch zu hinterfragen. Wenngleich wir eine geltende Rechtsordnung
haben, so ist dieser rechtsethische Diskurs nicht abgeschlossen. Er begleitet die Rechtssetzung und den Rechtsvollzug ständig. Wir können
dies in parlamentarischen Debatten beobachten – etwa in jener der Enquete-Kommission „Würde am Ende des Lebens“.4 Wir können diesen
rechtsethischen Diskurs auch in zahlreichen Gerichtsverfahren beobachten – sei es in Österreich5, sei es vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.6
2
Verankert insb. in Art. 8 EMRK.
3
Bruckmüller & Schumann (2010), Heilbehandlung.
4
Enquete-Kommission "Würde am Ende des Lebens" Abschlussbericht, 491 BlgNR
25. GP.
5
Etwa OGH 7.7.2008, SZ 2008/2094, 6 Ob 286/07p. EF-Z 2008/141 (Jud), RdM
2008/119, Zak 2008/571 (Kletecka), iFamZ 2008/178, JBl 2009, 100 (Bernat), JBl
2009, 129 (Schütz); OGH 8.10.2012, 9 Ob 68/11g. RdM 2013/74, EF-Z 2013/3, Zak
2012/762, iFamZ 2013/14, EvBl 2013/60, MedR 2014, 387.
6
Etwa ECtHR 29.4.2002, No. 2346/02, Pretty v. The United Kingdom; ECtHR
5.6.2015, 46.043/14..
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1.3
6
Klinische Ethik am Lebensende
Neben diesem grundsätzlichen rechtsethischen Diskurs hat die Ethik
im Kontext von klinischen Entscheidungen am Lebensende aber noch
eine weitere Aufgabe:
Nachdem rechtliche Normen immer allgemein gehalten sind, müssen sich die Rechtsanwender – etwa die klinisch Tätigen – immer wieder damit auseinandersetzen, was rechtliche Sollensanforderungen in
einer konkreten Situation – bei der medizinischen Behandlung eines
individuellen Patienten – verlangen. Dies erfordert von den Rechtsandwendern ethisches Reflexionsvermögen, denn es geht hierbei um Bewertungsfragen.
Eine solche ethische Reflexion ist auch dort nötig, wo das Recht uns
einen Freiraum eröffnet, so oder auch anders zu handeln – oder eine
Bandbreite an Handlungsmöglichkeiten rechtlich erlaubt ist. In diesen
Situationen ist ethisches Reflexionsvermögen nötig, um einen für alle
Betroffenen möglichst gut verständlichen und vertretbaren Weg zu finden.
Was bedeuten diese Überlegungen zu Recht und Ethik in der Medizin nun für klinische Entscheidungen am Lebensende?
2
Die rechtsethischen Säulen jeder
Therapieentscheidung: Indikation und
Patientenwille
Jede Therapieentscheidung (dazu zählen im weiteren Sinn auch Entscheidungen über Diagnostik und Rehabilitation), auch jene am Lebensende, ruht rechtsethisch auf zwei Säulen: auf der Indikation und
dem Patientenwillen.
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7
Dieser Grundsatz ist herrschende Lehre, also unumstritten.7 Wie es
Grundsätze so an sich haben, ergeben sich die Probleme erst in deren
Konkretisierung.
2.1
Indikation
Die Indikation ist ein rechtsethisch legitimatorischer Schlüsselbegriff.
Die Indikation legitimiert nämlich das ärztliche Handeln. Durch sie
wird ein Eingriff in die körperlich-psychische Integrität eines Menschen, der eigentlich eine Körperverletzung darstellt, zu einer „Heilbehandlung“.8
Die Indikation ist also ein mächtiges rechtsethisches Argument.
Umso erstaunlicher ist es, dass das positive Recht praktisch nichts zum
Indikationsbegriff sagt. Das Recht überlässt die Bestimmung des Indikationsbegriffs der Medizin.9
2.1.1
Definition
Die Medizin tut sich mit dem Indikationsbegriff aber selbst gar nicht so
leicht. Zwar wird er im klinischen Alltag laufend verwendet, aber nicht
umsonst gibt es gerade in den letzten Jahren intensive Diskussionen
7
Bruckmüller & Schumann (2010), Heilbehandlung.
8
Sternberg-Lieben (2009), Strafbarkeit.
9
So verweist der BGH in diesem Zusammenhang selbst in seiner wegweisenden
Entscheidung zu Fragen am Lebensende relativ offen auf das ärztliche Urteil: „Die
medizinische Indikation, verstanden als das fachliche Urteil über den Wert oder
Unwert einer medizinischen Behandlungsmethode in ihrer Anwendung auf den
konkreten Fall […], begrenzt […] den Inhalt des ärztlichen Heilauftrags“, BGH
17.3.2003, BGHZ 154, 205, XII ZB 2/03. NJW 2003, 1588; NStZ 2003, 477 (23).
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8
darüber, was eigentlich mit „Indikation“ gemeint sei und wie man sie
gut begründen könne.10
Eine formale Definition des Begriffs „Indikation“ kann wie folgt
lauten:
Indikation ist die evidenzbasierte Beurteilung und Abwägung der
Vorteile (Nutzen, Benefit) und Nachteile (Risiko, Belastung, Schaden) einer medizinischen Maßnahme (Diagnostik, Therapie, Rehabilitation) in Hinblick auf ein bestimmtes Therapieziel.
2.1.2
Interpretation
In dieser Definition stecken mehrere interpretationsbedürftige Begriffe,
auf die hier aus Zeitgründen nicht im Einzelnen eingegangen werden
kann. Wesentlich erscheint jedoch Folgendes:
 Erstens ist die Indikation nicht bloß etwas „Objektiv-Wahres“,
sondern eine Beurteilung und Abwägung, die manchmal intersubjektiv eindeutig ausfallen mag, andere Male aber zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Beurteilenden und Abwägenden – etwa im Behandlungsteam oder zwischen Arzt und Patient bzw. Angehörigen –
führen kann.
 Zweitens ist die Indikation immer nur in Hinblick auf ein bestimmtes Therapieziel aussagekräftig. Das Indizierte soll ja dabei helfen, das Therapieziel zu erreichen. Wo aber kein Therapieziel vereinbart wurde, oder wo es Uneinigkeit über das Therapieziel gibt, dort
10
Anschütz (1982), Indikation; Raspe (1995), Indikation; Gahl (2005), Indikation;
Neitzke (2008), Indikation; Möller (2010), Indikation; Dietl & Böhm (2012),
Indikation; Neitzke (2014), Indikation; Dörries & Lipp (2015), Medizinische
Indikation.
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muss jede medizinische Maßnahme letztlich gleich „indiziert“ oder
„nicht indiziert“ erscheinen.
 Und drittens ist die Indikationsstellung zwar nicht ohne ärztliche
Expertise zu bewerkstelligen; insofern kann ein Patient nicht selbst entscheiden, was indiziert oder nicht indiziert sei. Aber: Die Indikationsstellung ist nicht ohne Einbindung des Patienten zu bewerkstelligen.
Dies ergibt sich bereits aus der Bestimmung des Therapieziels: es muss
ja das Ziel des Patienten sein, welches er erreichen möchte. Die Einbindung des Patienten ist darüber hinaus für die Beurteilung und Abwägung der Vor- und Nachteile einer medizinischen Maßnahme nötig.
Denn wer, wenn nicht der Betroffene, sollte beurteilen, welche Risiken,
Belastungen und Schäden er bereit ist, in Kauf zu nehmen, um ein bestimmtes Therapieziel zu erreichen? – Das Zusammenwirken von ärztlicher Expertise und Partizipation des Patienten ist der Grundgedanke
des Shared Decision-Making, welches gleichsam als „Goldstandard“
des ethisch fundierten klinischen Entscheidungsprozesses gilt.11
2.1.3
Zwischenfazit
Kurzum: Die Indikationsstellung ist ein komplexer dialogischer Prozess zwischen Arzt und Patient. Dieser Prozess ist im klinischen Alltag
in vielen Fällen relativ unproblematisch, weil beide Seiten tatsächlich
von einem gleichen Therapieziel und gleichen Beurteilungen von Vorund Nachteilen der Behandlung ausgehen.
Gerade wenn es um schwerwiegende, chronische, progrediente Erkrankungen, infauste Prognosen und Situationen am Lebensende geht,
ist der Prozess zur Therapiezielfindung und Indikationsstellung aber
11
Wallner (2010), Organisation; Hartog (2013), Shared Decision-Making.
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10
nicht mehr so selbstverständlich. Das hat meines Erachtens vor allem damit zu tun, dass die Ziele der Medizin – die „das Indizierte“ vermitteln
– heute nicht mehr so selbstverständlich sind wie früher.
2.1.4
Ziele der Medizin am Lebensende
Das wird besonders am Lebensende erkennbar: Im medizinethischen
Diskurs ist seit längerem deutlich geworden, dass die Lebenserhaltung
„um jeden Preis“ kein Ziel der Medizin sein könne.12 Diese Beurteilung
ergab sich aber erst vor dem Hintergrund der immer weiter zunehmenden medizinisch-technischen Möglichkeiten zur Lebenserhaltung.
Seit etwa den 1970er-Jahren taucht daher verstärkt die Frage auf,
was denn nun eigentlich indiziert sei, wenn ein Mensch mittels medizinisch-technischer Möglichkeiten physisch am Leben erhalten werden
kann,
– die Zeitspanne der Lebenserhaltung aber lediglich einige Tage oder
Wochen betragen wird, bis die nächste lebensbedrohliche Krise auftaucht;
– oder die Zeitspanne der Lebenserhaltung mit einer Lebensqualität
einhergeht, die für viele Menschen fragwürdig erscheint?
12
Bundesärztekammer [DE] (2011), Grundsätze Sterbebegleitung; Council of Europe
(2014), Leitfaden Lebensende; Intensivmedizinische Gesellschaften Österreichs
(2004), Konsensuspapier Lebensende; Janssens, Burchardi, et al. (2012), DIVI
Positionspapier Therapiezieländerung und Therapiebegrenzung.
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2.1.5
11
Therapiezieländerung
In solchen Situationen ist in der Medizinethik meist von einer „Therapiezieländerung“ die Rede.13 Damit soll ausgedrückt werden, dass sich
ein vielleicht vormals kuratives Ziel – auf Wiederherstellung der Gesundheit und Rehabilitation – in ein nunmehr vornehmlich palliatives
Ziel gewandelt hat.
Dieses neue Therapieziel kann wiederum verschiedene Ausprägungen haben: Es kann um eine bestmögliche Verlangsamung der letztlich
unaufhaltsamen Verschlechterung des Gesundheitszustands bis zum
Tod gehen. Es kann aber auch um ein bewusstes Zulassen des Sterbeprozesses gehen, ohne ihn durch medizinische Interventionen zu verlangsamen.
In jedem Fall ist ein solches Therapieziel mit einer effektiven Linderung beschwerender Symptome wie Schmerz, Atemnot, Übelkeit,
Krämpfen, Angst etc. verbunden (obwohl diese palliative Komponente
eigentlich Teil jedes Therapieziels sein muss).
2.2
Patientenwille
Der Patientenwille stellt die zweite legitimatorische Säule jeder Therapieentscheidung dar. Eine medizinische Maßnahme ist demnach
rechtsethisch legitimiert, wenn sie indiziert und vom Patientenwillen
gedeckt ist.
13
Bleyer & Pawlik (2015), Palliatives Therapieziel Intensivmedizin; Jox & Ney (2014),
Therapiezieländerung; Riessen, Bantlin, et al. (2013), Therapiezieländerungen;
Multidisziplinäre Arbeitsgruppe (ARGE) Ethik in Anästhesie und
Intensivmedizin der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie,
Friesenecker, et al. (2013), Therapiezieländerungen auf der Intensivstation.
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2.2.1
12
Patientenwille als Abwehrrecht
Der Respekt vor dem Patientenwillen ist – neben dem Recht auf Partizipation an der Entscheidungsfindung – als Abwehrrecht konzipiert:
Demnach hat der Patient das Recht, jede medizinische Maßnahme abzulehnen – selbst wenn diese aus ärztlicher Sicht vital indiziert ist:14
– Die Ablehnung kann Maßnahmen betreffen, mit denen noch nicht
begonnen wurde; in diesem Fall muss auf sie verzichtet werden
(„withholding“).
– Die Ablehnung kann auch Maßnahmen betreffen, mit denen bereits
begonnen wurde; in diesem Fall müssen sie wieder beendet werden
(„withdrawing“).
Aus dem Prinzip des Respekts vor dem Patientenwillen als Abwehrrecht ergibt sich, dass ein Patient auch verlangen darf, ihn sterben zu
lassen, indem auf lebenserhaltende medizinische Maßnahmen verzichtet wird oder sie beendet werden. Nicht hingegen kann ein Patient verlangen, ihn zu töten oder ihm bei der Selbsttötung zu helfen.
Für manche Menschen mag es wenig Unterschied machen, ob jemand stirbt, indem ich seinen Respirator auf seinen Wunsch hin abschalte; oder er stirbt, indem ich ihm auf seinen Wunsch hin ein tödliches Medikament verabreiche. Ungeachtet der diffizilen ethischen Diskussion hierzu, ist der Unterschied aus rechtlicher Sicht klar und fundamental:
– Beim einen Mal – dem Abschalten des Respirators auf Wunsch des
Patienten hin – handle ich grundsätzlich straffrei.
14
Bruckmüller & Schumann (2010), Heilbehandlung.
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13
– Beim anderen Mal – der Verabreichung eines tödlichen Medikaments auf Wunsch des Patienten hin – erfülle ich den Tatbestand
der Tötung auf Verlangen.
Die grundsätzliche Straffreiheit des Abschaltens des Respirators auf
Wunsch des Patienten hin ist durch die Grenzen meiner Garantenpflicht begründet: Die Garantenpflicht verlangt von einem behandelnden Arzt, so lange mit seiner medizinischen Expertise Schaden von Leib
und Leben des Patienten abzuhalten, bis einer von zwei Fällen eintritt:
– Entweder, die Schadensabwehr ist medizinisch nicht mehr möglich
(hierbei fiele die Indikation zum Weitermachen weg);
– oder die Schadensabwehr wird vom Patienten untersagt.
Der Patientenwille begrenzt also die Garantenpflicht des Arztes. Dabei
kommt der Charakter des Abwehrrechts noch einmal gut zum Ausdruck: Der Patient darf die ärztlich angebotene Hilfe abwehren. Bei der
Tötung auf Verlangen würde er die ärztliche nicht angebotene Handlung (nämlich die Verabreichung des tödlichen Medikaments) hingegen einfordern. Dies ist jedoch etwas anderes als das vom Grundrecht
auf Selbstbestimmung begründete Abwehrrecht des Patientenwillens.
2.2.2
Aktueller, antizipierter, stellvertretener, mutmaßlicher,
natürlicher Patientenwille
So klar und im Wesentlichen unumstritten die Grundsätze des Respekts
vor dem Patientenwillen als Abwehrrecht sind, so schwierig wird oft die
Konkretisierung der Grundsätze im klinischen Alltag.15
15
Barth & Ganner (2010), Handbuch Sachwalterrecht; Traar, Pesendorfer, et al.
(2015), Sachwalterschaft und Patientenverfügung.
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14
Im Idealfall hat man es mit dem aktuellen Willen eines einsichtsund urteilsfähigen Patienten zu tun, der nach einem gemeinsamen Entscheidungsfindungsprozess mit dem Arzt zu einer Entscheidung
kommt, die er dann konsistent durchhält. Dieser Idealfall ist möglich,
aber nicht die Regel.
Der Patientenwille kann sich auch durch eine antizipierte Willensbekundung ausdrücken. Das bekannteste Rechtsinstrument hierfür ist
die Patientenverfügung. Es ist unumstritten, dass mittels einer Patientenverfügung auch lebenserhaltende Maßnahmen bindend abgelehnt
werden können – inklusive der medizinisch applizierten Ernährung
etwa mittels PEG-Sonde. Doch es hängt sehr stark von der Qualität der
Patientenverfügung ab, wie weit sie für eine konkrete klinische Situation Aussagekraft besitzt. Allgemeine Formulierungen wie zum Beispiel
„keine Intensivtherapie“ oder gar „kein Pflegefall“ sind nur sehr begrenzt oder überhaupt nicht hilfreich. Klar ist allerdings, dass eine entsprechend klar formulierte Patientenverfügung die Legitimation für ein
Sterben-zulassen durch Verzicht auf oder Beendigung von lebenserhaltenden Maßnahmen sein kann.
Der Patientenwille kann sich auch durch einen rechtlich legitimierten Stellvertreter ausdrücken:
 In Frage kommt hier zunächst einmal eine vom Patienten zuvor
selbst beauftragte Person. Wenn es um schwerwiegende medizinische
Entscheidungen geht – insbesondere solche des Sterben-zulassens – so
muss dieser Person über eine Vorsorgevollmacht verfügen, die bei
Notar, Rechtsanwalt oder Gericht errichtet wurde. Dann aber spricht
der Vorsorgebevollmächtigte mit derselben Autorität wie der Patient
selbst und kann auch den Verzicht auf bzw. die Beendigung von lebenserhaltenden Maßnahmen verlangen.
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15
 Wenn es keinen Vorsorgebevollmächtigten gibt, so werden in
der klinischen Praxis oftmals die Angehörigen in die Entscheidungsfindung eingebunden. Rechtlich gesehen bewegt man sich hierbei auf dünnem Eis. Zwar gibt es die rechtliche Vertretungsbefugnis nächster Angehöriger; doch diese umfasst lediglich einfache medizinische Maßnahmen (z.B. nicht die Einwilligung in eine PEG-Sonde und schon gar
nicht die Entscheidung über lebenserhaltende Maßnahmen). Insofern
können „bloße“ Angehörige – d.h. solche, ohne zusätzlichen rechtlichen Stellvertretungstitel – nicht über lebenserhaltende Maßnahmen
entscheiden.
 In diesen Fällen – wenn keine verbindliche Patientenverfügung
oder keine Vorsorgevollmacht vorhanden ist – muss für einen nicht
selbst entscheidungsfähigen Patienten ein Sachwalter bestellt werden.
Der Sachwalter ist das letzte Sicherheitsnetz für die Vertretung des Patienten. Wenn es um Entscheidungen über lebenserhaltende Maßnahmen geht (also schwerwiegende medizinische Behandlungen), so ist der
Sachwalter in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Wenn es dabei
um den Verzicht auf oder die Beendigung von lebenserhaltenden Maßnahmen geht – weil diese nicht (mehr) medizinisch indiziert sind oder
es substanzielle Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Patient mit ihnen
nicht (mehr) einverstanden wäre – so muss ein Einvernehmen zwischen Arzt und Sachwalter hergestellt werden. Wenn einer von den beiden – Arzt oder Sachwalter – dem Sterben-zulassen nicht zustimmt, so
sind die lebenserhaltenden Maßnahmen fortzusetzen.
Wenn sich ein Patient nicht selbst oder über eine Patientenverfügung zu seinem Willen geäußert hat, so spricht man gemeinhin vom
„mutmaßlichen Patientenwillen“. Nachdem Gespräche über das Lebensende in unserer Gesellschaft und in unseren Familien nach wie vor
eher selten sind und die Rechtsinstrumente von Patientenverfügung
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16
und Vorsorgevollmacht dementsprechend auch noch eher die Ausnahme bilden, ist bei Entscheidungen am Lebensende der mutmaßliche
Patientenwille oftmals der einzige Anhaltspunkt für die Entscheidungsfindung.
Es ist verständlich, dass das Recht einen hohen Sorgfaltsmaßstab anlegt, wenn es um „Mutmaßungen“ über Leben und Tod geht. Insofern
sind Entscheidungen über lebenserhaltende Maßnahmen nur dann gut
begründet, wenn sich der mutmaßliche Patientenwille genügend substantiieren lässt. Das bedeutet, dass die Äußerungen, die ein Patient früher über Krankheit, Leben und Tod getätigt hat,
– erstens möglichst konkret und klar sowie
– zweitens möglichst allgemein bekannt sein sollten.
Letztlich geht es hierbei um eine Plausibilitätsprüfung, die im Behandlungsteam mit nahestehenden Personen des Patienten durchgeführt
werden muss. Auch hier gilt: Pauschale Äußerungen wie „ein Pflegefall
wollte er nie werden“, erfüllen für sich allein nicht den Sorgfaltsmaßstab, der für Entscheidungen über lebenserhaltende Maßnahmen einzuhalten wäre.
Nicht selten wird man daher zu dem Schluss kommen, dass man
nichts Substantielles über den Patientenwillen in Hinblick auf lebenserhaltende Maßnahmen weiß. In diesen Situationen verbleibt dann noch
ein Anhaltspunkt für den Patientenwillen: konkludente Verhaltensweisen des nicht mehr einsichts- und urteilsfähigen Patienten im Hier und
Jetzt. In der klinischen Ethik wird in diesem Zusammenhang auch vom
„natürlichen Patientenwillen“ gesprochen.16 Gemeint ist damit, dass
sich Menschen durch ihre Leiblichkeit ausdrücken, wenn sie es kognitiv
16
Hofmann (2013), Leibliche Ausdrucksformen.
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und verbal nicht mehr anders können. Mimik, Gestik, Körperspannung, Bewegungen können Ausdrucksweisen dieses natürlichen Patientenwillens sein.
Ob sie eine – vom Recht anerkannte – konkludente Willensbekundung darstellen, ist freilich noch schwieriger zu beurteilen als früher
Äußerungen im Sinn des mutmaßlichen Patientenwillens. Letztlich
kann es aber Fälle geben, wo eine kontinuierliche und nicht bloß auf
vegetative Reflexe zurückgehende Abwehr des Patienten gegenüber medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Maßnahmen zu dem
Schluss führen müssen, dass die gegenwärtige Behandlung nicht (mehr)
vom Patientenwillen gedeckt ist. (Zudem macht eine derartige fehlende
Compliance die meisten Therapieziele und -ansätze ziemlich aussichtslos, sodass auch die Indikation wegbricht.)
2.2.3
Zwischenfazit
Der Patientenwille ist ein starkes legitimatorisches Instrument, um auf
lebenserhaltende Maßnahmen zu verzichten oder sie zu beenden. Der
Patient hat das Recht, lebenserhaltenden Maßnahmen zu widersprechen – aktuell, über eine Patientenverfügung oder über einen rechtlichen Stellvertreter.
Probleme treten dort auf, wo der Patientenwille nicht oder nicht klar
genug bekannt ist, wo Meinungsverschiedenheiten über den mutmaßlichen Patientenwillen existieren oder wo ein Patient nicht durch einen
rechtlich legitimierten Stellvertreter vertreten wird.
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2.3
18
Zusammenspiel von Indikation und Patientenwille
Damit ergibt sich folgendes rechtsethisch relevantes Zusammenspiel
von Indikation und Patientenwille in Hinblick auf Entscheidungen am
Lebensende:
 Lebenserhaltende Maßnahmen müssen medizinisch indiziert
und vom Patientenwillen gedeckt sein, damit sie legitim sind.
 Fällt die Indikation für lebenserhaltende Maßnahmen weg –
weil zum Beispiel ein mit dem Patienten vereinbartes kuratives Therapieziel aufgrund der Schwere der Erkrankung nicht mehr erreichbar ist
–, so darf auf die lebenserhaltenden Maßnahmen verzichtet werden oder dürfen sie beendet werden.
 Ergibt sich, dass lebenserhaltende Maßnahmen (selbst wenn sie
weiterhin medizinisch indiziert sind) nicht (mehr) vom Patientenwillen gedeckt sind, so muss auf die lebenserhaltenden Maßnahmen verzichten oder müssen sie beendet werden.
3
Rechtsethische Probleme und deren
Bewältigung im klinischen Alltag
Aus den bisherigen Überlegungen zu Indikation (inklusive Therapieziel) und Patientenwille ergeben sich für den klinischen Alltag beträchtliche rechtsethische Probleme. Dass diese nicht regelmäßig zu
(straf-)rechtlichen Konflikten und Gerichtsverfahren führen, liegt im
Wesentlichen daran, dass sich die Entscheidungsfindung in einem Rahmen bewegt, den Juristen „soziale Adäquanz“ nennen.17 Damit ist in
17
Bruckmüller & Schumann (2010), Heilbehandlung.
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Working Paper, Stand 24.01.2016
19
etwa gemeint, dass unsere Rechtsgemeinschaft Verhaltensweisen toleriert, auch wenn sie rechtlich-formal eigentlich strenger beurteilt werden könnten.
Probleme und Konflikte ergeben sich immer dann, wenn die soziale
Adäquanz brüchig wird – wenn also Verhaltensweisen nicht unwidersprochen bleiben. Und strafrechtlich genügt hierfür bereits der Widerspruch einer einzigen Person, die eine Anzeige erstattet.
Wie kann es nun im klinischen Alltag gelingen, diese rechtsethischen Probleme zu bewältigen? Das soll im Folgenden anhand der zwei
Säulen der Therapieentscheidung – Indikation und Patientenwille –
veranschaulicht werden.
3.1
Wann sind lebenserhaltende Maßnahmen „nicht
(mehr) indiziert“?
3.1.1
Die Problemstellung
Rechtsethisch gilt der Grundsatz: Medizinische Maßnahmen, die nicht
(mehr) indiziert sind, müssen nicht durchgeführt werden; und sogar
verstärkt: medizinische Maßnahmen, die kontraindiziert sind, dürfen
nicht durchgeführt werden. Dies gilt auch für lebenserhaltende Maßnahmen. Doch wann sind lebenserhaltende Maßnahmen nicht mehr
indiziert? Wann ist also ein sogenannter „einseitiger Behandlungsabbruch“ (wie dieser Ansatz missverständlich genannt wird) denkbar?
Das Recht lässt hier der medizinischen Expertise einen Beurteilungsspielraum. Schließlich können ja nur Ärzte bewerten, welches
Therapieziel mit welchen Maßnahmen inklusive deren Vor- und Nachteile erreicht werden kann.
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20
 Insofern ist relativ unstrittig, dass aussichtslose Maßnahmen –
also Maßnahmen, die nach fachlichem Urteil nicht wirksam sein werden – nicht indiziert sind und deshalb nicht durchgeführt werden müssen.
 Schwieriger wird es bei Indikationen, deren Verhältnismäßigkeit zweifelhaft erscheint. Hierbei handelt es sich um Maßnahmen, die
zwar nicht aussichtslos im Sinn von unwirksam sein werden, aber deren
Risiken, Belastungen und Schäden im Vergleich zum Nutzen unverhältnismäßig erscheinen.
Wenn es um Leib und Leben geht, muss das Recht allerdings hier
einen strengen Prüfmaßstab ansetzen. Denn nach wie vor gilt auch das
Grundrecht auf Leben, welches es dem Staat verbietet, leichtfertige Aufwandsargumente gegen den Lebensschutz zu akzeptieren. Insofern ist
zum Beispiel die Prognose einer dauerhaften Abhängigkeit von Pflege
in allen Aktivitäten des täglichen Lebens für sich allein genommen kein
rechtsethisch legitimes Argument, um die Indikation für eine lebenserhaltende Maßnahme in Frage zu stellen.
 Noch schwieriger sind jene Situationen, in denen die Sinnhaftigkeit des Therapieziels „Lebenserhaltung“ und der damit verbundenen Indikationen in Abrede gestellt wird. Zu denken ist etwa an Patienten in einem apallischen Syndrom. Der Begriff „Sinnhaftigkeit“ ist noch
weitaus vager als der Begriff „Verhältnismäßigkeit“ und bietet ein Einfallstor für subjektive Bewertungen von Außenstehenden.
Deshalb kann die Rechtsordnung auch Indikationsstellungen, die
mit bloßer „Sinnhaftigkeit“ argumentieren, wenn es um lebenserhaltende Maßnahmen geht, nicht akzeptieren. Dementsprechend kennt
unsere Rechtsordnung keine Bewertung des Lebens eines Menschen
von außen, welche nach Sinnhaftigkeit von Lebensdauer oder Lebensqualität geht. Für das Recht, zumal für das Strafrecht, ist im Zweifelsfall
auch das bloß vegetative Leben eines Menschen schützenswert – so lange
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und so weit, als entweder eine medizinische Weiterbehandlung unwirksam oder unverhältnismäßig wird oder der Patient selbst zu erkennen
gibt, dass er mit der Behandlung nicht (mehr) einverstanden ist.
3.1.2
Bewältigung im Rahmen der klinischen Ethik
Insofern ist es alles andere als trivial, den rechts- und medizinethisch
wohl begründeten Grundsatz zu konkretisieren, wonach es nicht Ziel
der Medizin ist, eine Lebenserhaltung „um jeden Preis“ zu verfolgen.
Dies mag für Situationen, in denen sich ein Patient in der unmittelbaren Sterbephase befindet, noch selbstverständlich erscheinen; in Situationen von chronisch-kritischer Krankheit aber ist es eine ethische Herausforderung, plausibel zu machen, dass sich ein Mensch „nun“ an seinem Lebensende befindet und daher lebenserhaltende Maßnahmen
nicht mehr indiziert sind.
Die Plausibilität muss dabei gegenüber der ärztlichen Scientific
Community standhalten, denn in Streitfragen sind es medizinische
Gutachten, die darüber Auskunft geben, ob eine Verhaltensweise den
Standards der medizinischen Wissenschaften entsprochen hat.
Für die klinische Praxis ergeben sich daraus folgende Konsequenzen:
 Die Bestimmung des Therapieziels „Sterben-zulassen“ (mitunter
auch „Allow Natural Death“ genannt) sollte nur im Konsens im Behandlungsteam getroffen werden. Zum Behandlungsteam sind nicht
nur die Ärzte, sondern auch die Angehörigen der anderen Gesundheitsberufe zu zählen. Ihre Wahrnehmung und Erfahrung kann gerade für
die Bestimmung des Therapieziels „Sterben-zulassen“ sehr bedeutsam
sein.
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 Die Therapiezielbestimmung und die daraus abgeleiteten Indikationsstellungen für einzelne medizinische Maßnahmen sollten nachvollziehbar in der Krankengeschichte dokumentiert und im Behandlungsteam kommuniziert werden.
Bei der Bestimmung des Therapieziels „Sterben-zulassen“ sind folgende Aspekte zu erörtern:
 Inwieweit befindet sich der Patient an seinem Lebensende? –
Dies ist anhand nachvollziehbarer Kriterien aus der bisherigen Lebensund Krankengeschichte des Patienten zu plausibilisieren.
 Inwieweit sind lebenserhaltende Maßnahmen aussichtslos (im
Sinn von unwirksam)? – Dies ist nicht bloß pauschal, sondern anhand
der laufenden oder in Frage kommenden Maßnahmen einzeln zu erörtern.
 Inwieweit sind lebenserhaltende Maßnahmen unverhältnismäßig? – Dies ist nicht bloß pauschal, sondern anhand der laufenden oder
in Frage kommenden Maßnahmen einzeln zu erörtern.
Bei all diesen Fragen sind nicht nur fachmedizinische Argumente
isoliert zu erwägen, sondern diese auch mit dem Patientenwillen in Beziehung zu setzen.
Kommt man zu der Beurteilung, dass das Therapieziel „Sterben-zulassen“ gut begründet ist, so ergeben sich daraus weitere Fragen für den
Umgang mit lebenserhaltenden Maßnahmen:
 Es kann Situationen geben, in denen bestehende lebenserhaltende Maßnahmen fortgesetzt werden, diese aber nicht weiter eskaliert
werden sollen, wenn eine neuerliche oder zusätzliche gesundheitliche
Krise eintritt („Do-Not-Escalate“-Strategie). Das vielleicht bekannteste Beispiel hierfür ist der Verzicht auf Reanimationsversuche im Fall
eines Herz-Kreislauf-Stillstands („Do-Not-Resuscitate“, DNR).
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Diese Vorgehensweise wird üblicherweise gewählt, wenn lebenserhaltende Maßnahmen nicht klar aussichtslos oder grob unverhältnismäßig sind bzw. wenn der Patientenwille nicht klar gegen die Fortsetzung der lebenserhaltenden Maßnahmen spricht. Es ist nachvollziehbar
zu bestimmen, wie mit den einzelnen lebenserhaltenden Maßnahmen
umgegangen werden soll (z.B. Verzicht auf Reanimationsversuche;
Fortsetzung, aber keine Steigerung der Katecholamine).
 Es kann andere Situationen geben, in denen bestehende lebenserhaltende Maßnahmen reduziert oder gänzlich beendet werden. Ein
Beispiel hierfür ist die Reduktion oder Beendigung der maschinellen
Beatmung.
Diese Vorgehensweise wird üblicherweise dann gewählt, wenn die
Fortsetzung der lebenserhaltenden Maßnahmen klar aussichtslos oder
unverhältnismäßig wäre bzw. wenn sich klare Argumente aus dem Patientenwillen ergeben, die eine Fortsetzung ablehnen. Es ist nachvollziehbar zu bestimmen, wie mit den einzelnen lebenserhaltenden Maßnahmen umgegangen werden soll (z.B. keine Erneuerung der Hämofiltration; Beendigung der maschinellen Beatmung).
Hinsichtlich der Intention verfolgen beide Vorgehensweisen ein
„Zulassen“ des Sterbens. Beide Vorgehensweisen sind daher unter
denselben Prüfmaßstäben von Indikation und Patientenwille zu rechtfertigen und insoweit gleichwertig.
Bei beiden Vorgehensweisen kann es dazu kommen, dass der Patient
trotz Nichteskalierens oder trotz Reduzierens bzw. Beendens der medizinischen Maßnahmen weiterlebt. In diesen Situationen wäre es rechtlich nicht zulässig, das Therapieziel „Sterben-zulassen“ im Sinn von
„Sterben-garantieren“ zu verstehen und den Patienten zu töten.
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3.1.3
24
Exkurs: „Töten“ im Sinn des österreichischen Strafrechts
An dieser Stelle ist ein kurzer Exkurs zum Begriff „Töten“ im Sinn des
österreichischen Strafrechts nötig. Das Strafrecht kennt mehrere Tötungsdelikte, darunter folgende:
 Mord (§ 75 StGB): Den Tatbestand eines Mordes erfüllt laut österreichischem Strafrecht jemand, wenn er einen anderen Menschen tötet.
– Entgegen landläufiger Meinung ist hierfür kein niederes Motiv
nötig, sondern einfach der Kausalzusammenhang von Handlung
des Täters und Tod des Opfers.
– Ein Mord kann durch Tun und Unterlassen begangen werden;
durch Unterlassen dann, wenn man eigentlich eine Garantenpflicht zur Lebenserhaltung hätte.
– Um den Mord-Tatbestand zu erfüllen, muss der Täter vorsätzlich
gehandelt haben. Dazu genügt es aber, dass er die Folgen seiner
Handlung ernstlich für möglich hält und sich mit ihnen abfindet.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum sich ein Arzt,
der zum Beispiel die lebenserhaltende Maßnahme einer maschinellen
Beatmung ohne Verlangen des Patienten beendet und der Patient daraufhin stirbt, mit einem Mordvorwurf durch Unterlassen konfrontiert
sieht. Selbst wenn der Tod des Patienten nicht sein Wunsch ist, muss er
es bei vitaler Indikation der Beatmung ernstlich für möglich gehalten
haben, dass der Patient bei Beendigung der Beatmung stirbt. Strafrechtlich relevant ist in diesem Zusammenhang, ob die Beendigung der Beatmung tatsächlich kausal für den Todeseintritt war (oder nicht andere,
gleichsam naturgegebene Erkrankungen dazu geführt haben).
 Fahrlässige Tötung (§ 80 StGB): Den Tatbestand der fahrlässigen Tötung erfüllt laut österreichischem Strafrecht jemand, wenn er
den Tod eines anderen fahrlässig herbeiführt.
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– Auch hierbei kommt es auf den Kausalzusammenhang an.
– „Fahrlässig“ handelt, wer die gebotene Sorgfalt außer Acht lässt.
In diesem Fall rechnet der Täter zwar nicht ernstlich mit dem
Tod des Opfers und findet sich damit ab, er handelt aber so sorgfaltswidrig, dass der Tod wahrscheinlich ist.
– Die fahrlässige Handlung kann in einem Tun oder (bei Garantenstellung) in einem Unterlassen liegen.
– Dieser Tatbestand wird regelmäßig dort schlagend, wo eine medizinische Behandlung nicht lege artis durchgeführt wird und
dadurch der Tod des Patienten verursacht wird.
Vor diesem Hintergrund ist auch die Frage zu beurteilen, ob eine
Therapiezieländerung hin zu „Sterben-zulassen“ medizinisch lege artis
durchgeführt wurde. Dazu zählt nicht zuletzt die fachgerechte palliative
Therapie wie z.B. die effektive medikamentöse Schmerz- und Atemnotlinderung. Diese ist rechtsethisch und medizinisch nicht nur erlaubt,
sondern sogar geboten; sie muss aber wie alle anderen medizinischen
Maßnahmen entsprechend den Standards und der gebotenen Sorgfalt
der medizinischen Wissenschaften durchgeführt werden. Maßstäbe
hierfür sind fachmedizinische und rechtsethische Empfehlungen und
Leitlinien.18
18
Alt-Epping, Nauck, et al. (2015), Problem Palliative Sedierung; Schildmann &
Schildmann (2014), Palliative sedation therapy; Riedel (2014), Ethik-Policy
Palliative Sedierung; Sterckx, Raus, et al. (2013), Continuous Sedation at the End of
Life; Alt-Epping, Sitte, et al. (2010), EAPC Leitlinie Sedierung.
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3.2
Wann sind lebenserhaltende Maßnahmen
aufgrund des Patientenwillens nicht weiter
fortzusetzen?
3.2.1
Die Problemstellung
26
Rechtsethisch gilt der Grundsatz: Medizinische Maßnahmen dürfen
nicht durchgeführt werden, wenn der Patient ihnen widerspricht. Dies
gilt auch für lebenserhaltende Maßnahmen:
– Sie dürfen nicht begonnen werden, wenn der Patient sie ablehnt.
– Wurden sie zunächst mit Einverständnis des Patienten begonnen
und lehnt er sie in der Folge ab, so sind sie zu beenden. Gleiches gilt,
wenn die lebenserhaltenden Maßnahmen im guten Glauben ohne
Einverständnis des Patienten begonnen wurden und sich später herausstellt, dass er damit nicht einverstanden gewesen wäre (z.B. wenn
nach einer notfallmedizinischen Versorgung eine entsprechende
Patientenverfügung auftaucht).
Doch wann widerspricht ein Patient lebenserhaltenden Maßnahmen?
Dies kann in konkreten Fällen mitunter nicht so klar sein:
 Selbst bei kommunikationsfähigen Patienten kann ihre Einsichtsund Urteilsfähigkeit schwanken, sodass vielleicht fraglich ist, ob sie die
Tragweite ihrer Ablehnung hinreichend überblicken.
 Aus Patientenverfügungen geht nicht immer klar hervor, welche
medizinischen Maßnahmen der Betroffene unter welchen Bedingungen ablehnt.
 Eine Gratwanderung wird eine Entscheidung auf Basis des mutmaßlichen Patientenwillens. Wie ist er zu plausibilisieren, wenn es um
lebenserhaltende Maßnahmen geht?
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 Zur gänzlichen Herausforderung wird eine Entscheidungsfindung, wenn sie ohne substanzielle verbale Äußerungen des Patienten
allein oder vornehmlich aufgrund von Äußerungen des natürlichen Patientenwillens getroffen werden sollen. Wann sind abwehrende Verhaltensweisen des nicht einsichts- und urteilsfähigen Patienten als „konkludente“ Ablehnung der medizinischen (oder pflegerischen) Interventionen zu werten?
3.2.2
Bewältigung im Rahmen der klinischen Ethik
Die Ergründung des Patientenwillens gehört zu den integralen Aufgaben der ärztlichen Behandlung. Die Entwicklung eines Therapieziels
und die Abwägung von Vor- und Nachteilen konkreten Behandlungsmaßnahmen im Rahmen der Indikationsstellung können nur im Zusammenspiel von Arzt und Patient erfolgen. Insofern sollte die Bewältigung der Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem Patientenwillen
ergeben, Teil der üblichen professionellen klinischen Praxis sein.
 Was den aktuellen Patientenwillen angeht, so braucht es in der
Regel seine Zeit, bis Patienten mit chronisch-progredienten Erkrankungen wie zum Beispiel Krebs, Herzinsuffizienz oder ALS zu einer für
sie gut begründeten Entscheidung kommen und diese dann durchhalten. Die Zeit davor ist oft gekennzeichnet von Nicht-wahrhaben-Wollen, Angst und Ambivalenz gegenüber maximalmedizinischen lebenserhaltenden Maßnahmen.
In diesen Fällen ist es ärztliche Aufgabe, diese Patienten über den
Krankheitsprozess hinweg auch in ihrer Entscheidungsfindung zu unterstützen. Die dabei gewonnenen Schlussfolgerungen sollten in der
Krankengeschichte dekursiert werden.
 Analoges kann im Übrigen auch für Vorsorgebevollmächtigte
des Patienten gelten: Auch sie drücken den Willen des Patienten aktuell
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aus, aber auch sie können in ihrer Entscheidungsfindung angesichts der
Tragweite der Entscheidung ambivalent sein. Insofern werden auch
Vorsorgebevollmächtigte in vielen Fällen eine ärztliche Unterstützung
für ihre Entscheidungsfindung benötigen (z.B. in Hinblick auf die Prognose oder die Vor- und Nachteile konkreter Behandlungsmaßnahmen).
 Was den in einer Patientenverfügung antizipierten Willen betrifft, so ist es angezeigt, das darin Ausgedrückte gemeinsam zu interpretieren. Solange ein Patient noch selbst kommunikationsfähig ist,
sollte eine allfällig vorhandene Patientenverfügung mit ihm besprochen
werden. Wenn dies nicht mehr möglich ist, empfiehlt sich die gemeinsame Erörterung im Behandlungsteam und mit den Angehörigen (inklusive etwaiger medizinischer und pflegerischer Betreuungspersonen)
bzw. mit dem rechtlichen Stellvertreter des Patienten (Vorsorgebevollmächtigter oder Sachwalter). Aus einer Patientenverfügung gewonnene
Argumente für eine Entscheidung über lebenserhaltende Maßnahmen
sind nachvollziehbar zu dokumentieren.
 Wenn keine aktuellen oder in einer Patientenverfügung antizipierten Willensbekundungen des Patienten bekannt sind, sollte der
mutmaßliche Patientenwille nach gewissen Sorgfaltsmaßstäben – wie
sie in der Literatur und Judikatur beschrieben sind19 – erkundet werden.
Die dabei gewonnenen Erkenntnisse sind nachvollziehbar in der Krankengeschichte zu dokumentieren.
Problematisch sind Situationen, in denen der mutmaßliche Patientenwille bloß in einem Vier-Augen-Gespräch zwischen einem behandelnden Arzt und einem Angehörigen des Patienten definiert wird.
Zum einen leidet die Nachvollziehbarkeit des Gesprächs unter dem
Vier-Augen-Setting; zum anderen ist oftmals nicht geklärt, in welchem
19
Schaider, Borasio, et al. (2015), Mutmaßlicher Patientenwille; BGH 17.09.2014, XII
ZB 202/13.
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Angehörigenverhältnis der Gesprächspartner des Arztes tatsächlich
zum Patienten steht, und inwieweit auch andere Personen – unter Umständen widersprüchliche – Auskünfte zum mutmaßlichen Patientenwillen geben können.
 Um die Gratwanderung bei der Ergründung des mutmaßlichen
Patientenwillens im Zuge von Entscheidungen über lebenserhaltende
Maßnahmen besser abzusichern, empfiehlt sich, für eine ordnungsgemäße rechtliche Stellvertretung des Patienten zu sorgen.
Dies betrifft alle Fälle, in denen Patienten nicht mehr selbst entscheidungsfähig sind, keine für die Entscheidung verbindliche Patientenverfügung errichtet haben und niemanden hierfür als Vorsorgebevollmächtigten eingesetzt haben. In diesen Fällen ist bei Gericht die Bestellung eines Sachwalters anzuregen. Dieses Vorgehen stellt freilich nur
unter formalen Gesichtspunkten mehr Sicherheit her, denn an der inhaltlichen Schwierigkeit, den mutmaßlichen Patientenwillen zu ergründen, ändert sich damit nichts. Dennoch ist ein solches Vorgehen dringend angezeigt, wenn die bisherigen Aussagen zum mutmaßlichen Patientenwillen unklar oder gar widersprüchlich sind.
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4
30
Schlussfolgerungen
Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten können folgende zusammenfassende Schlussfolgerungen für klinische Entscheidungen im Zusammenhang mit Therapiezieländerungen in Richtung „Sterben-zulassen“ und damit verbundene palliative Behandlungen gezogen werden:
4.1
Drei substanzielle Schlussfolgerungen
1. Der Verzicht auf und die Beendigung von lebenserhaltenden
Maßnahmen sind geboten, wenn sie gegen den Patientenwillen wären.
Der Patientenwille ist für alle Beteiligten nachvollziehbar zu plausibilisieren. Dies geschieht am besten im gemeinsamen Gespräch des Behandlungsteams mit dem Patienten; in der gemeinsamen Erörterung
einer Patientenverfügung; oder in der strukturierten Ergründung des
mutmaßlichen Patientenwillens.
2. Auch im Falle des Verzichts auf oder der Beendigung von lebenserhaltenden Maßnahmen ist eine suffiziente palliative Versorgung indiziert. Diese umfasst insbesondere die effektive Linderung von
Schmerzen, Atemnot, Übelkeit, Krämpfen, Angst. Dabei eingesetzte
Maßnahmen sind – wie jede medizinische Behandlung – entsprechend
den Standards der medizinischen Wissenschaft (d.h. hier vor allem anhand der Empfehlungen und Leitlinien der Fachgesellschaften für Palliative Care) umzusetzen. Dazu zählt auch die hierfür nötige nachvollziehbare Dokumentation.
3. Grundsätzlich ist es legitim, lebenserhaltende Maßnahmen auch
ohne entsprechenden Widerspruch des Patienten zu beenden, wenn sie
nicht mehr medizinisch indiziert sind. Die einseitige Änderung des
Therapieziels hin zu „Sterben-zulassen“ und die damit verbundenen
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Indikationsstellungen für lebenserhaltende Maßnahmen muss rechtsethisch gut begründet sein. Insbesondere muss aus der Begründung
hervorgehen, inwieweit eine Fortsetzung der lebenserhaltenden Maßnahmen aussichtslos (d.h. unwirksam) oder angesichts der damit verbundenen Belastungen für den Patienten unverhältnismäßig – insgesamt also nicht mehr indiziert – wären. Diese Begründung muss intersubjektiv plausibel sein, d.h. für alle Beteiligten im Behandlungsteam, für die Angehörigen des Patienten und – potentiell – für die medizinische Scientific Community. Zur Plausibilisierung im weiteren
Sinn zählt auch die nachvollziehbare Dokumentation einer solchen Entscheidung.
4.2
Drei prozedurale Schlussfolgerungen
1. Da sowohl Entscheidungen über lebenserhaltende Maßnah-
men, die sich auf den Patientenwillen stützen, als auch solche, die auf
der Indikation beruhen, stets mit guten Gründen hinterfragt werden
können, kommt es letztlich nicht bloß auf das „beste, schlagende“ Argument an – denn ein solch absolut zwingendes Argument wird es oftmals nicht geben –, sondern ganz wesentlich auf die Qualität des Entscheidungsfindungsprozesses. Diesem wird im pragmatisch ausgerichteten klinischen Alltag aber oft zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
2. Ein guter Entscheidungsfindungsprozess erhöht das Vertrauen
– auch der Rechtsgemeinschaft –, dass in Situationen, in denen es nicht
nur „richtig oder falsch“, „schwarz oder weiß“ gibt, sorgfältig und gewissenhaft vorgegangen wird. Die einsame Entscheidung des Arztes im
Nachtdienst ist damit immer leichter der Kritik ausgesetzt, als der gemeinsam durchgestandene Entscheidungsfindungsprozess im Team.
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32
Insofern sollten Entscheidungen über die Einstellung lebenserhaltender
Maßnahmen nicht ohne Not alleine getroffen werden.
3. Nicht nur die materiellen Argumente, sondern auch die prozeduralen Schritte der Entscheidung sollten Standards entsprechen, die
es mittlerweile für Entscheidungen am Lebensende gibt. Sowohl Fachgesellschaften, als auch nationale und internationale Ethikgremien haben sie publiziert. Etliche Krankenhausträger haben Strukturen der klinischen Ethikberatung entwickelt, die dabei helfen, diese Entscheidungsfindungsstandards bestmöglich einzuhalten.
Letztlich ist ein gewissenhafter, strukturierter, fairer und für alle Beteiligten nachvollziehbarer Entscheidungsfindungsprozess der wichtigste Ansatzpunkt, um jene soziale Adäquanz herzustellen, bei der unsere Rechtsgemeinschaft anerkennt, dass eine Lebensverlängerung „um
jeden Preis“ tatsächlich kein Ziel der Medizin sein kann, ohne damit
den Lebensschutz unkritisch über Bord zu werfen.
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