Eckenroth EXTRA Blatt zum Jahreswechsel 2015 www.eckenroth-stiftung.de — Autoren sind Künstlerische Zeitzeugen — — Autorennachwuchs im Kindesalter entdecken — — Geschichten erzählen, die das Leben schreibt — — Stoffe erschaffen für Film, Fernsehen und Theater — Die Kirchenglocken der Michaelskirche läuten. Alle werden still, all die Schüler auf dem Schulhof haben sich bei den Händen gefasst und sind still, nur einzelne Schüler kichern noch. Ich stehe einfach nur da, stehe inmitten der großen Schülerschar und blicke auf die Kerzen, die in der Mitte stehen. Dann überkommt es mich plötzlich, dieses Gefühl, ein Gefühl, das ich noch nie zuvor gefühlt hatte — oder vielleicht kann ich mich einfach nicht daran erinnern. Plötzlich, auf einen Schlag, wird mir alles bewusst, all das, was ich die letzte Zeit immer wieder in den Nachrichten gehört und gelesen habe. Mir wird bewusst, dass Menschen das getan haben, dass es Menschen gibt, die dazu fähig sind, das zu tun, dass es Menschen gibt, die alles, was mich ausmacht und worauf ich Wert lege missachten und vernichten wollen, dass es Menschen gibt, die einfach so Leute erschießen, die Kinder töten, die unschuldige Menschen vernichten. Und aus welchem Grund? Warum tut man so etwas? Wie kann man so etwas tun? Es gibt nie genügend Worte, die das beschreiben könnten, die diese Menschen, nein, diese Monster, beschreiben könnten. All das schwirrt durch meinen Kopf, all das denke ich, ich denke so viel auf einmal, dass ich gar nicht weiß, wohin ich all diese Gedanken stecken soll. Ich spüre, wie sich meine Augen mit Tränen füllen, ich will, dass diese Tränen laufen und dass sie all diese schlimmen, traurigen Gedanken mit rausnehmen, dass ich einfach all den Schmerz rausweinen kann. Plötzlich spüre ich, wie jemand mich rüttelt, ich bemerke, dass die Glocken aufgehört haben zu klingeln und dass diese quälenden Gedanken immer noch in mir sind. Langsam drehe ich mich um und laufe neben Patri zurück zur Schule, wir unterhalten uns über die Anschläge, darüber, wie so etwas passieren kann. Ich unterhalte mich mit Patri auch über die Schweigeminute und darüber, wie respektlos manche Schüler sich verhalten haben, aber in meinen Gedanken bin ich ganz wo anders. Als Patri schweigt, vielleicht weil sie mir eine Frage gestellt hat und auf Antwort wartet, nehme ich eine andere Stimme wahr, sie ist direkt hinter mir, die Stimme reißt mich aus meinen Gedanken zurück in die Realität. „Bei der nächsten Schweigeminute mach ich nicht mit, das war echt mega langweilig!“ Habe ich gerade richtig gehört, war es das, was die Stimme gesagt hatte? Die Stimme gehörte einem Achtklässler, der wohl cool gegenüber seinen Freunden erscheinen wollte. „Ja, beim nächsten Terroranschlag bleib ich zu Hause“, erwiderte sein Kumpel. Wie kann man nur so respektlos sein, wie kann man nur so etwas sagen? Für diese Jungs war der Anschlag nur irgendein Geschehen, etwas, das jeden Tag passieren kann, ein Geschehen, über das man viel reden kann, dann aber einen Moment später vergessen hat. Für diese Jungs war es nichts weiter als ein Zeitungsartikel und eine Nachricht. Und was ist es für mich, was hat dieses Geschehen mit mir zu tun? Warum habe ich Angst, wenn Paris doch weit entfernt ist und der deutsche Geheimdienst so gut ist? Warum bin ich traurig, obwohl ich keinen von den Opfern kannte und warum bin ich dann so unglaublich wütend auf die Terroristen, wenn ich doch nur ein Bild von ihnen im Internet gesehen habe? Wieso berührt es mich so sehr, dass ich abends nicht einschlafen kann? Ist es nicht etwas, das oft passiert, ist es nicht etwas, das in Syrien den ganzen Tag geschieht? Ich glaube, ich bin so traurig, weil es doch alles Menschen waren, Menschen wie ich und wie meine Freunde, Menschen, die unschuldig waren, die nichts getan haben, als so zu leben, wie sie es wollen. Es hätte jeden treffen können, jeden, das ist etwas, das viele sagen, aber eigentlich hat es jeden schon getroffen, es hat alle getroffen, egal, wo wir herkommen oder wie wir leben, wir sind alle Menschen. Es hat mich auch getroffen, das weiß ich jetzt. © Charlotte Nolte, 12 Jahre, Stipendiatin Nachwuchspreis Grüner Lorbeer® 2015 Zur Aufgabe: 14 Tage Übung ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Zarah Weiss Nefeli Kavouras Materielle und physische Not zu lindern ist vorrangig — Geistige Not zu hindern ist gleichrangig. Weihnachten. Ein kleines Mädchen sitzt am Fenster und weint. Heute ist Weihnachten und ihre Eltern haben ihr verboten, zuzuschauen, wie die Engel die Geschenke bringen. Dabei will sie doch gar keine Geschenke. Sie will nur endlich einmal einen Engel sehen. Traurig schaut sie nach draußen in den Schnee. Ihr Atem beschlägt das Fenster. Enttäuscht malt sie einen Engel auf die Scheibe. Plötzlich weht der Wind ein paar Schneeflocken zum Engel auf der angelaufenen Scheibe, sie formen Augen, Mund und Nase. Der Engel zwinkert dem Mädchen kurz zu und schwindet dann wieder. Erstaunt und überglücklich läuft das Mädchen zu seinen Geschenken. Aber sein größter Wunsch hatte sich bereits erfüllt. © ein Eckenrother Schreibkind, 13 Jahre Die Fenster sind geschmückt. Mit vielen bunten Lichtern und schönen Bildern. Der Geruch von gebackenen Zimtwaffeln, Lebkuchen und Plätzchen liegt in der Luft. Tief in meinem Herzen spüre ich, es ist Weihnachten. Der Weihnachtsmann und seine Rentiere sind bereits unterwegs, um die Geschenke zu bringen. Ich werfe meine Decke zur Seite und stürme aus meinem Bett. Schnell laufe ich ans Fenster und tatsächlich: es schneit. Alles sieht so aus, als wäre es mit Puderzucker bedeckt. Jetzt ist alles perfekt. © Jessica Gronert, 15 Jahre, Stipendiatin Nachwuchspreis Grüner Lorbeer® 2013 Zur Aufgabe: Schreibe eine Weihnachtsgeschichte, die auf eine Postkarte passt _____________________________________________________________________________ Liebe Eckenroth Freunde, August Autoren heißt der Arbeitstitel für das erste, im Nachwuchsprogramm erwachsen gewordene Autoren Team. Im August 2014 starteten sie ihre Arbeit in Eckenroth. Im Jahre 2004 kam Zarah Weiss als Preisträgerin von Nachwuchspreis Grüner Lorbeer® in die Förderung für Hochleistungsschreiber. Seitdem schöpft sie aus der Fülle des eigenen Lebens und verfasst Texte, die Zeugnis geben von der Welt, in der wir leben. Über die Dinge des Lebens schreiben in und für Eckenroth auch Henrik Hörmann seit 2007, Nefeli Kavouras und Marie Radkiewicz seit 2010. Die Texte wuchsen altersgerecht mit. Die jungen Autoren schauen dem Leben „ins Herz und aufs Maul“, sie loten aus, hinterfragen, schreiben voller Mitgefühl, schonungslos und ohne Umschweife. Die Eckenroth Stiftung gelangte mit ihnen in die erwartete zweite Pionierphase. Die erste Pionierarbeit, Autoren im Kindesalter zu entdecken, trägt mit diesen jungen Menschen die erwünschten Früchte. Im nächsten Eckenroth Blatt, gleich im neuen Jahr, präsentiert Ihnen die Stiftung ausführlich das erste Eckenrother Autoren Team. Freuen Sie sich darauf! Henrik Hörmann Marie Radkiewicz Kinder und Jugendliche geraten angesichts der Barbarei in diesen Tagen in geistige und seelische Not. Von den Schrecknissen erfahren sie über ihre Smartphones oft schneller als die Eltern. Die Kinder haben Angst, der Terror könnte sie erreichen, in ihrer Stadt oder auf einer Bahnfahrt. Wie Sie wissen, schreiben in Eckenroth Kinder ab 10 Jahren mutig, ohne zu verdrängen und auszublenden von ihren Gedanken und Gefühlen. Sie schreiben Texte, die über die eigene Befindlichkeit hinaus, Gültigkeit auch für andere besitzen. Sie drücken das aus, was andere sprachlos und hilflos macht. Die Kinder und Jugendlichen schreiben in Eckenroth vom eigenen Erleben und Leben. So lautet der Auftrag in Eckenroth. Unmittelbar. Wahrhaftig. Ohne Umschweife. Dem Leben „ins Herz und aufs Maul“ schauen. Dieses Herz erscheint in diesen Tagen tief getroffen, das Maul, blutig geschlagen. Die tröstenden, ermutigenden Stimmen der jungen Leute von Eckenroth für eine große Schar Kinder, Jugendliche und Eltern zugänglich zu machen, ist unser Anliegen. Und es ist auch das Anliegen der Eckenroth Stiftung, ihre Arbeit finanziell auf Dauer sichern zu können. In meiner ehrenamtlichen Tätigkeit für Nachwuchspreis Grüner Lorbeer®, die ich seit 1998 ausübe, erlebe ich als Schreibtrainer Kinder, die das Leben aktiv gestalten wollen und sie nehmen die Schrecken der Welt als Ansporn, sich nicht hindern zu lassen. Und so erlaube ich mir, liebe Freunde von Eckenroth, Ihnen in diesem Jahr, die zusätzliche Bitte vorzutragen, die Arbeit der Eckenroth Stiftung zum Ausklang des Jahres noch einmal zu unterstützen. Möge Ihre weihnachtliche Großzügigkeit den Schreib-Talenten der Eckenroth Stiftung vergönnt sein. Lassen Sie uns, weil es an Weihnachten Tradition hat, Frieden wünschen. Frieden! In der Gewissheit, dass wir am Bewusstsein dazu das ganze Jahr über arbeiten. Im Namen der Eckenroth Stiftung grüßt Sie hoffnungsvoll Eckenroth EXTRA Blatt zum Jahreswechsel 2015, Seite 2 www.eckenroth-stiftung.de ICH LESE DIE ZEITUNG. In Gedanken versunken merke ich nicht, wie mein jüngerer Bruder Ich Sitze in diesem Schreib-Raum. Alles ist neu für mich. Ein paar Mädchen Hanno hinter mich tritt. „Nele, was ist das für ein Bild?“, möchte er wissen und deutet auf ein großes Bild neben der Schlagzeile „Neue Attentate in Paris – Was hat der IS damit zu tun?“ Es zeigt eines der attackierten Cafés. Einschusslöcher in den Scheiben. Blutspuren auf dem Boden. Nun bin ich doch froh, dass Hanno noch nicht lesen kann. Doch wer behauptet, man solle Jüngeren verschweigen, was in dieser Welt tagtäglich geschieht, liegt meiner Meinung nach falsch. Auch sie haben ein Recht darauf, es zu erfahren. Trotzdem antworte ich nicht, weiß nicht, wie ich es ihm beibringen soll, wie ich all das Schlimme in Worte fassen soll. „Peng!“, macht Hanno da und formt mit den Händen eine Pistole, „Die haben geschossen, stimmt`s? Das sieht man doch!“ Ich setze mich auf. „Hanno, darüber macht man keine Späße!“ „Wieso nicht?“ Er sieht mich mit großen blauen Augen an. Unschuldig. Unwissend. Ich hole tief Luft. „Gestern Abend ist etwas Schlimmes passiert…nein, etwas sehr Schlimmes!“ „Was denn? Was denn?“, fragt er wissbegierig. Jetzt, da ich ihm etwas erzähle, fühlt er sich wieder erwachsen. „Dafür musst du als erstes wissen, was der Islamische Staat ist. Das ist eine Gruppe von Menschen, die alles versuchen, damit sie bekommen, was sie wollen!“ „Wie im Kindergarten!“, stellt er fest und lacht. Ich nicke, weiß keine Antwort. Weiß nicht, wie ich fortfahren soll. Wie soll ich ein Kind wissen lassen, was für unmenschliche, schreckliche Dinge geschehen, ohne ihm zu sehr Angst zu machen? Hanno ist sieben. Darf ich ihn überhaupt schon damit konfrontieren? Es betrifft uns alle, doch wenn er tatsächlich versteht, was ich meine? Zerstöre ich dann nicht in gewisser Weise sein Weltbild? Er lebt immer noch in dem Glauben, die Welt sei friedlich, die Guten siegen, die Bösen verlieren. „Diese Gruppe hat in Paris viele Menschen getötet. Normale Menschen. Unschuldige!“, erkläre ich stockend. „Paris?“, hakt er sofort nach, „Wo ist das?“ „Eine Stadt in Frankreich. Die Hauptstadt.“ „Das ist aber nah dran!“, findet er. Und Recht hat er. „Deshalb haben viele Leute jetzt auch Angst, dass so etwas bei uns passieren könnte!“ Er blickt mich an. „Bei uns? In Deutschland?“, fragt er dann. Fassungslos. Entgeistert. „Ja. Diese Gruppe will Angst verbreiten und in Paris haben sie damit angefangen. Es wurde sogar ein Fußballspiel abgesagt.“ Er runzelt die Stirn. „Warum wollen die, dass wir Angst haben?“ Ja,…warum? „Sie finden, dass wir falsch leben. Sie denken, alle müssten sein wie sie!“ „Und wie leben sie?“ „Sie haben sehr strenge Regeln und alle müssen sich daran halten!“ „Wie in der Schule?“, will er sichtlich interessiert wissen. Ich seufze. „Nein. Viel strenger.“ „Kommen diese Leute auch zu uns?“ Ich zögere. Soll ich es ihm erzählen? Muss er das wissen? Soll ich lieber schweigen? Ich weiß nicht, ob er Angst haben wird. „Vielleicht“, umschreibe ich das Thema vorsichtig, doch er ist nicht zufrieden. „Vielleicht?“ „Paris hat auch ihre Heimat attackiert. Als Warnung. Als Drohung. Deutschland hat das nicht getan. Doch vielleicht kommen sie auch zu uns!“ Er überlegt. Zu lange. Ich ahne, was jetzt kommen wird. „Werden wir dann sterben?“ Er fragt direkt. Kinder fragen immer direkt. „Deutschland tut viel dagegen. Überall gibt es Leute, die aufpassen, damit so etwas nicht passiert. Es ist…unwahrscheinlich.“ „Wir haben ja aber auch nichts getan!“ „Hanno, du musst diese Leute nicht verstehen. Auch große Politiker wissen nicht, warum die das tun. Ich weiß es nicht. Niemand versteht sie!“ „Ist diese Gruppe dann böse?“ Ich sehe ihn an. „Ja…vielleicht ist sie das.“ sitzen auch hier mit mir, an verschiedenen Tischen. Ich glaube, die meisten sind so aufgeregt und gespannt, auf das was kommen wird, wie ich. Ich zittere leicht und meine Hände suchen irgendetwas, das sie tun können. Eine Beschäftigung. Wir werden alle eine Aufgabe bekommen. Jetzt. Jetzt gleich. Und jeder wird Nachdenkzeit bekommen. Und dann. Dann werden alle schreiben. Das Schreiben, woran sie denken. Das schreiben, was ihnen einfällt. Schreiben, das was sie, Schreiben, das was wir tun. Es ist jetzt ganz still. Ich höre kein Geräusch. Jeder sitzt da, seinen Stift vor sich, das Blatt vor sich. Und dann kommt auch schon die Aufgabe. "Die Aufgabe lautet: Gestern." © Nele Kattemeyer, 13 Jahre, Stipendiatin Nachwuchspreis Grüner Lorbeer® 2015 Zur Aufgabe: Wie würdest Du mit einem Kind sprechen, das Dich nach den Attentaten von Paris fragt? IN DEN VERGANGENEN VIERZEHN TAGEN ist ein Ereignis passiert, das ich nicht vergessen werde. Ich war sehr traurig darüber. Ich habe eine Großtante. Teta. Vor ungefähr vier Wochen kam sie in ein Krankenhaus, weil sie gestürzt ist. Es war nichts Großes. Sie ist einfach nur in ihrer Wohnung gestolpert. Vor zwei Wochen haben wir sie besucht, meine Eltern, meine Schwester und ich. Als wir zu ihr kamen lag sie in ihrem Bett. Sie ist fast 90. Eigentlich ist es gewöhnlich so, dass sie gleich aufsteht und uns begrüßt. Aber sie stand nicht auf. Sie lag einfach da und starrte an die Decke. Sie war am Leben, natürlich, aber sie hatte diese Trauer in den Augen. Sie lag einfach nur da. Mein Blick fiel sofort auf die Fensterbank, auf der viele Blumen und andere Geschenke standen. Jetzt begrüßte sie uns mit schwacher Stimme. Ganz leise, dass kaum jemand es hörte. Wie gesagt, war es ein einfacher Sturz, aber dadurch wurde sie so schwach. Sie aß nichts mehr, sie trank nur noch wenig und aus dem Bett stand sie auch nur selten auf. Mein Vater setzte sich zu ihr ans Bett: „Na, Colettchen?“ Das machte sie noch trauriger: ,,Sie haben gesagt, dass ich aus meiner Wohnung ausziehen muss.“ Sofort dachte ich an ihre kleine, schnuckelige Wohnung in der Würzburger Innenstadt, mit der großen Sammlung an kleinen Elefanten aus Stein und Holz aus aller Welt. „Ich glaube es ist besser so.“, bemerkte mein Onkel, der auch mitgekommen war: ,,Was ist, wenn du wieder stürzt? Wer kommt dann und ruft den Sanka?“ ,,Aber ich möchte nicht in ein Altersheim.“, sagte Großtante Teta nachdenklich. Vielleicht könntet ihr jetzt annehmen, dass sie dement ist. Das trifft aber ganz und gar nicht zu, weil sie nur Probleme mit ihrem Fuß hat. Sie ist geistig noch fitter als manche 70-jährige. Und ihren Humor hat sie nie verloren. Das mit dem linken Bein machte ihr aber immer mehr zu schaffen. Damals, als sie 16 war, ist sie mit ihrem Bein in eine Mistgabel gefallen. Sie ist danach gleich zum Arzt. Der Arzt aber hat ihr ganzes Knie verstümmelt. Klar, wollten sie ihn anzeigen, aber der Arzt hat zu Hitler gehört. Sie konnten ihn nicht anzeigen, denn sonst stände die ganze Armee von Hitler vor der Tür. – Bis heute ist das Knie trotz vieler Operationen immer noch steif und niemals wird es geheilt sein. Oft hat Teta uns diese Geschichte erzählt. Und diesmal fügte sie noch hinzu, dass das mit der Mistgabel nur war, weil sie an diesem Tag schnell noch einen Kuchen backen sollte und die Eier noch schnell aus dem Hühnerstall holen wollte. – Das war es aber nicht, was mich an diesem Tag so sehr berührte. Berührt hatte mich, dass sie so traurig war. Sie stand kein einziges Mal auf. Sie war nicht mehr die Alte, wie sie alle kannten. Auch juckten sie die Handoberflächen ihrer Hände. Und ihre ganze linke Seite, von Kopf bis Fuß, war blau. Fast schwarz. Wahrscheinlich wegen irgendeiner falschen Steuerung ihres Blutes. Sie musste ein wenig weinen. Auch wenn es nicht viel war, ich hatte sie noch nie weinen sehen. Eigentlich ist Teta eine Frau, die so schnell nichts aus den Socken haut. Aber ich versteh sie sehr gut, auch wenn ich mich nicht wirklich in ihre Situation hineinversetzen kann, weil niemand sich in irgendwen hineinversetzen kann. Ich war sehr traurig, als ich sie so liegen sah. Als alle sich verabschiedeten, liefen wir aus dem Zimmer und zum Aufzug. Unterwegs sah ich noch eine Frau, die auch im Altersheim lebte. Sie war ganz verwirrt und schien völlig abwesend. Nachdem ich sie sah, hatte ich noch stärker das Gefühl, dass meine Großtante niemals in ein Altersheim gehören würde. Abends weinte ich auch. Niemals hätte ich erwartet, dass durch diesen kleinen Sturz sich alles verändert. Und dass sie aus ihrer Wohnung ziehen muss. In ein Altersheim. Sie passt nicht in ein Altersheim. Sofort fangen meine Gedanken an zu rasen. Was war gestern? Was ist genau damit gemeint? Wo bleibst du, Geistesblitz? Ich fahre mir durch die Haare. Komm schon, dir wird doch wohl etwas einfallen. Vielleicht kann man es auch im weiteren Sinn nehmen. Ja genau. Vielleicht ein Streit, bei dem ich mir wünsche, er wäre nicht gewesen. Eine Situation. Wobei? Ist das überhaupt so gut? Wie viel Zeit haben wir noch? Meinem Atem muss das Zittern anzuhören sein und von meinem Herzschlag will ich gar nicht reden. Ich sehe mich um. Alles ist so ruhig. Stopp! Denk weiter nach! Dann sollen wir schreiben, alles auf einmal, in einem Rutsch. Ich bekomme meinen Stift zuerst nicht auf, so aufgeregt bin ich. Wenn jemand mit Druck umgehen kann, dann auf jeden Fall nicht ich. Halt! Nicht negativ denken! Und außerdem: Soll ich nicht schon längst schreiben? Meine Konzentration ist schon lange spazieren gegangen, aber ich sollte vielleicht trotzdem versuchen, etwas hinzubekommen. Endlich setze ich meinen Stift auf das Papier. Meine ersten Wörter sind noch schwerfällig und langsam, aber dann schreibe ich immer schneller und flüssiger. Ich beginne zu begreifen, was es mit dem Rutsch auf sich hat und verstehe, warum ich davor nachgedacht habe. Und als ich gerade mal eine Seite geschrieben habe ist es auch schon vorbei mit dem Schreiben. Zumindest fürs erste. Jetzt kommt die Vorleserunde. Ich freue mich die Texte der anderen hören zu dürfen, andererseits hoffe ich aber auch, dass mein Text gut ist. Wie die anderen, sollte ich ihn mir nicht noch einmal durchlesen und bin wahrscheinlich genauso gespannt, wie die anderen es sind ihren eigenen Text zu hören, ohne ihn korrigiert zu haben oder ähnliches. Naja, denke ich mir, es wird schon schief gehen! © Elena Hofmann, 12 Jahre, Stipendiatin Nachwuchspreis Grüner Lorbeer® 2015 Zur Aufgabe: Ich bin in Eckenroth und stelle mich dem Aufnahmetest ICH SITZE IN ECKENROTH und schreibe. Ich schreibe „hier“, obwohl ich „gestern erst“ die E-Mail von meiner Lehrerin bekommen habe, in der stand, dass ich doch mal bei diesem Wettbewerb mitmachen soll. In solchen Fällen gefällt es mir, dass die Zeit so schnell vergeht. Doch manchmal, manchmal wünsche ich mich noch zurück in die Vergangenheit. Ich wünsche mich zurück in die Zeit, als ich noch in den Kindergarten ging und meine größte Sorge war, dass ich beim Versteckspiel zählen muss. Damals habe ich mir gewünscht, älter zu sein. Aber jetzt. Jetzt, wo ich älter, erwachsener bin, jetzt wünsche ich mich zurück. Früher fand ich es toll, „erwachsen“ zu spielen. Und jetzt? Jetzt habe ich Angst davor, dass ich erwachsen werde. Ich habe Angst, kein Kind mehr zu sein. © Charlotte Nolte, 12 Jahre, Stipendiatin Nachwuchspreis Grüner Lorbeer® 2015 Warming Up, Thema: Zeit; fünf Minuten Nachdenken, fünf Minuten schreiben _____________________________________________________________________________ Jetzt erst recht! Die Barbarei in der Welt spornt uns an, unseren Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten. Helfen Sie uns mit Ihrer Spende, unseren Beitrag heute und dauerhaft leisten zu können. Eckenroth Stiftung, Spendenkonto: IBAN DE80 6207 0024 0044 4430 00 BIC DEUTDEDB620 Deutsche Bank Die Eckenroth Stiftung lebt von Spenden, sie ist als gemeinnützig anerkannt und stellt Ihnen eine Bestätigung Ihrer Spende zur Vorlage beim Finanzamt aus __________________________ Well known people can give a voice to good things to get well known © Linda Kolb, 13 Jahre, Schreibkurs, Nachwuchspreis Grüner Lorbeer® 2015 Zur Aufgabe: 14 Tage Übung ________________________________________________________________________________ Unser Buch des Jahres 2014: „Paris—ein Fest fürs Leben“ von Ernest Hemingway Unser Buch des Jahres 2015 „Warum erwachsen werden?“ von Susan Neiman „Weihnachten ist im Dezember“ Lesehinweis: www.advent-ist-im-dezember.de „Chanukka auch!“ Lesehinweis: de.chabad.org __________________________________________________________________ Impressum: Eckenroth EXTRA Blatt , zum Jahreswechsel 2015; verantwortlich: Madeleine Lienhard, Marie-Christin Kunz; TEXTE: ERSTE ENTWÜRFE vom ersten regulären Schreib-Training in Eckenroth, Förderstufe Basis im November 2015; Weihnachtstexte aus 2013 und 2015 ; Fotos der vier Autoren, Marie-Christin Kunz; Druck: Fickinger Design & Druck, 55452 Guldental Nachwuchspreis Grüner Lorbeer® eingetragene Marke Nr. 307 227 03 eckenroth stiftung, gemeinnützige Stiftung seit 1993, Soonwaldstraße 4-5a, 55444 Eckenroth, Telefon: 06724 - 603 24 07, Telefax: 06724 - 603 24 09, [email protected], www.eckenroth-stiftung.de, Spendenkonto: IBAN DE80 6207 0024 0044 4430 00; BIC DEUTDEDB620 Deutsche Bank
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