Erfahrungen in und mit der Kirche Zum ersten Jahrestag des Todes von Herbert Vorgrimler Von Gunild Brunert Am 12. September jährt sich zum ersten Mal der Todestag von Herbert Vorgrimler, am 19. September zum ersten Mal der Jahrestag seiner Beerdigung. Was bei anderen als Gelegenheit angelegt ist, dem Verstorbenen, wie man so sagt, die letzte Ehre zu erweisen, in einem geschützten Raum Abschied zu nehmen und Trost und Hoffnung zu erfahren, ist bei Herbert Vorgrimler (ausgerechnet bei ihm!) zur öffentlichen Demontage entgleist, und zwar deshalb, weil ihm selbsternannte Sittenwächter eine „Liebesbeziehung“ (Originalton) vorgeworfen haben. Und das ist in gewissen kirchlichen Kreisen augenscheinlich eine Chiffre für das Offenbarwerden der Hölle. Ich war jedenfalls fassungslos, und mit mir waren es viele andere, als an diesem 19. September sein Sterben mit allen liturgischen und nicht-liturgischen Mitteln als Heimkehr des verlorenen Sohnes / Sünders zum Vater stilisiert wurde. Und das von einem Priester, der sich zudem noch als Freund bezeichnet hat und der auch nicht davor zurückgeschreckt ist, das bizarre Schauspiel bei dem sogenannten Sechswochenamt im November noch einmal zu wiederholen. Das alles war unfassbar grotesk, aber Herbert Vorgrimler steht mir zu nahe, als dass ich es damals hätte witzig finden können, wie es andere inzwischen konnten. Ich konnte nur fassungslos und unendlich traurig zusehen. Erst heute, mit dem Abstand eines Jahres, erkenne ich, immer noch fassungslos, aber jetzt eher wütend als traurig, mit wie viel offenkundiger Panik die Kirche bisweilen (oder oft?) auf Liebe reagiert und mit welch schonungsloser Aggressivität sie sie zu bekämpfen bereit ist. Der „Pfarrer und Freund“ jedenfalls hat mit diesen beiden Auftritten eine Schlammlavine losgetreten, die vielleicht wirklich, wie am 4. März im Münsteraner Dom geschehen, am treffendsten mit den Worten von Jer 18 und Ps 31 umschrieben werden kann. Der Psalmbeter ist ihr mit unerschütterlichem Gottvertrauen entgegengetreten, und auch Herbert Vorgrimler ist in diesem Gottvertrauen gestorben. (Ich kann das beurteilen, denn anders als der „Pfarrer und Freund“ habe ich ihn auf dem Weg zum Sterben begleitet, und zwar liebend.) Er wäre nicht entfernt auf den Gedanken gekommen, dass es gerade Erfahrungen von Liebe sein könnten, die dieses Gottvertrauen (es geht an der Schwelle des Todes ja nicht um Kirchenvertrauen) in Frage stellen sollten. Andere sind auf diesen Gedanken aber offensichtlich sehr wohl gekommen. Ich habe seit der Beerdigung von Herbert Vorgrimler genau das Zerrbild von Kirche erlebt, das er in seinem ganzen theologischen Wirken immer zu überwinden versucht hat: eine bedrückend enge, selbstverliebte und bigotte Kirche. Mehr noch: Eine Kirche, die einen Menschen, der so viel für sie und für die Theologie getan hat, im Moment seines Todes auf eine „Liebesbeziehung“ reduziert, die sie (mit welchem Recht eigentlich?) als Sünde diskreditiert, eine solche Kirche ist eine grausame Kirche! Und wenn auch nur am Rande, so möchte ich doch wenigstens erwähnen, dass auch der Umgang mit mir bisweilen grausame, zumindest skurrile Züge angenommen hat. Denn anders als Herbert Vorgrimler lebe ich noch und musste den ganzen Irrsinn, der da plötzlich über mich hereingebrochen ist, aus einer sehr irdischen Perspektive heraus ertragen. Ich kann Herbert Vorgrimler nur wünschen, gehe eigentlich aber auch zuversichtlich davon aus, dass sich das unter den Bedingungen der Ewigkeit anders und besser anfühlt. Wie dem auch sei, irgendwann werde vielleicht auch ich über die ein oder andere Erfahrung der letzten Monate lachen können. Und das Erste, worüber ich dann lachen werde, ist der Nachruf eines (mir bekannten) weiteren priesterlichen, diesmal ordenspriesterlichen Freundes, der so verkrampft ist und gleichzeitig so viel Sehnsucht nach Offenheit (und sei es auch nur die Offenheit in einem absurden Theater) erkennen lässt, dass es schon fast rührend wirkt. Das wird das Erste sein, worüber ich lachen werde, denn es steht ganz weit oben auf der Liste dessen, was Herbert Vorgrimler, hätte er es noch erlebt, zu der entgeisterten Frage getrieben hätte: „Was ist der Nährboden für so viel Heuchelei?“ Um so dankbarer bin ich, dass ich ihm dann erzählen könnte: „Herbert, ich habe auch eine andere Kirche erlebt. Ich habe auch erlebt, wie ein früherer Weggefährte und Kollege von Dir die Kirche nachdrücklich dazu aufgefordert hat, diese Heuchelei (und ich ergänze: in der sie sich so behaglich suhlt!) zu überwinden. Ich habe erlebt, wie mir bei dem Versuch geholfen wurde, das Zerrbild von Dir als einem zerknitterten Sünder zu korrigieren. Ich habe ganz viel Sympathie für Dich und auch persönlich viel Zuspruch und Ermutigung erlebt. Ich habe auch die Kirche erlebt, von der Du immer geträumt hast: eine Kirche, in der die Liebe Gottes aufleuchtet.“ Im Umgang mit dem Tod von Herbert Vorgrimler hat sich gezeigt, wie schwierig es wird, wenn so viele unterschiedliche Menschen mit so unterschiedlichen Interessen die Deutungshoheit über das Leben eines Verstorbenen für sich beanspruchen. Herbert Vorgrimler ist all diesen Deutungen jetzt schutzlos ausgeliefert und kann sich nicht mehr zu ihnen äußern. Deshalb ist es gut, dass er sich bereits früher geäußert hat, und zwar im Jahr 1996 unter dem Titel „Eine Wohnung habe ich euch bereitet. Das endgültige Haus – der Himmel“, veröffentlicht in dem kleinen Band „Gottesgedanken – Menschenwege“ (Wiederabdruck in „Auf dem Weg zum göttlichen Geheimnis, Kevelaer 2000). Im Zusammenhang mit eschatologischen Fragestellungen und im Rückgriff auf die biblischen Verheißungen, dass wir einmal „Gott schauen werden, wie er ist“, wirft er die Frage auf, was wir jetzt schon von Gott wissen können, weil wir es möglicherweise in unserem Leben erlebt haben. In seiner Antwort auf diese Frage bündeln sich, und zwar ohne etwas verharmlosen zu wollen, auch Herbert Vorgrimlers Hoffnungen auf eine Kirche, die über sich hinaus auf die Liebe dessen verweist, der sie trägt und dessentwegen sie ist. Die Antwort sei deshalb im Wortlaut zitiert, nicht nur als Rückblick, sondern auch als Ausblick: „Die Verheißungen gehen davon aus, dass wir da oder dort eine unbegreifliche Liebe erfahren haben, eine schweigend-trostvolle Annahme unseres Ich, eine vergebende Nähe, die wir nicht anders denn als Erfahrungen Gottes und seines innersten Wesens, das Liebe ist, deuten können. Und wenn einem Menschen niemals etwas Unbegreifliches und Unerklärliches an einer Liebe aufgeleuchtet wäre, bliebe immer noch Jesus als unübersehbares, reales Zeichen für den Preis, den Gott für seine Liebe zur Menschheit zu zahlen bereit ist.“ (a.a.O. 125) An dieser Stelle wollte ich ursprünglich für einen anderen Adressatenkreis an Papst Franziskus und die Kirche appellieren, in dem in Kürze beginnenden Jahr der Barmherzigkeit barmherziger und mutiger aufzutreten als im Umgang mit dem Tod von Herbert Vorgrimler. Aber dann wurde in der vergangenen Woche die Ankündigung des Papstes bekannt, allen Priestern während des bevorstehenden Heiligen Jahres zu erlauben, Frauen und ihre Partner, wenn sie sie dazu gedrängt hätten, von der Sünde der Abtreibung loszusprechen. Ob dieser von einigen, nicht von allen, als Akt der Barmherzigkeit beworbene Entschluss tatsächlich in einem kausalen Zusammenhang mit dem bevorstehenden ersten Jahrestag von Herbert Vorgrimler steht, sei dahin gestellt, aber in seiner zeitlichen Ansetzung musste er zumindest so gedeutet werden und ist so gedeutet worden. Und da war klar, dass mein Appell in dieser Form nicht mehr möglich war, weil er falsch verstanden würde. In dem Moment wurde mir aber auch klar, dass selbst Barmherzigkeit noch grausam sein kann, wenn / falls sie aus Kalkül eingesetzt wird, um eigene Interessen zu wahren. Und so sehe ich mich jetzt also mit der bizarren Notwendigkeit konfrontiert, öffentlich klarstellen zu müssen, dass weder Herbert Vorgrimler noch ich dieser Form der Barmherzigkeit bedürfen oder sie irgendwann in der Vergangenheit erfahren haben. Ich stelle das aus Liebe richtig, erlaube mir aber, auch das als absurdes Theater zu empfinden. Es scheint für viele in der Kirche immer noch außerordentlich schwer zu sein, den Begriff „Liebe“ nicht automatisch mit dem Begriff „Sünde“ zu verbinden. In einer so langen und tiefen Freundschaft gibt es andere Erfahrungen, die man einander vergeben muss und kann, Erfahrungen, die im Moment schmerzen, aber im Lauf der Zeit versöhnt werden können. Deshalb stelle ich jetzt noch einmal fest: Herbert Vorgrimler ist seinen „Weg zum göttlichen Geheimnis“ bis zum Schluss und ununterbrochen in der Kirche gegangen. Und auch ich gehe ihn in der Kirche, auch ununterbrochen. Und ich staune oft über die Erfahrungen, die man da machen kann.
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