Neue Filme von Jean

Leseerlebnisse
Wer viel liest, muss nicht unbedingt gut lesen – es
käme darauf an, wie einer mit dem Text umgeht. Der
gute Leser (der »wahre Leser« nach Ludwig Hohl) wird
»hängenbleiben« – es wird immer wieder Stellen geben, über die er nicht hinweggehen kann, auch einzelne Sätze, Worte, die ihn erfassen und weiterbeschäftigen. Ich stelle mir vor, dass Jean-Marie Straub so ein
Leser ist. – Ein Filmemacher, der liest: Hat der nicht,
recht besehen, die Möglichkeit, die Texte und Stellen,
die ihm ins Auge fallen, umzusetzen und einen kleineren oder größeren Film daraus zu machen? Bedarf es
dazu einer bestimmten Abgeklärtheit, die sich erst nach
einem langen Filmemacher-Leben einstellt, einer erworbenen Freiheit? Die Lebensreife kann sich jedenfalls mit der Gelassenheit paaren, einfach das umzusetzen (umstandslos, ohne »falsche Vorbereitung«), was
man im Sinn hat.
In Jean-Marie Straubs Fall muss das erklärt werden. Es
geht hier nicht ums Ausschau-Halten nach irgendeiner
Verfilmbarkeit eines literarischen Sujets, sondern um
die Wertigkeit und Wichtigkeit des Texts oder des
Stücks Literatur selbst. Was so ein Text – aus welcher
Vergangenheit auch immer – für die Gegenwart oder
gerade für die Gegenwart zu sagen hat. Also auch darüberhinaus. Da ist die politische Dimension immer mit
eingeschlossen, die polis mitgemeint, nicht im Sinn
einer unmittelbaren Nützlichkeit oder gar Handlungsanweisung, sondern als Zustandsbeschreibung, dem wie
von außen kommenden, deshalb genaueren, Blick. Ob
dieser Text, als Literatur oder als Film, die res publica
heute überhaupt noch erreicht, ist allerdings fraglich –
das Volk scheint sich in der Konsumgesellschaft aufgelöst zu haben. Wie kann ein Film, der kein Konsumgegenstand sein will, der ästhetisch und ideell Widerstand leistet, sein Publikum finden, zu den Menschen
gelangen – den von Günther Anders schon 1960 so genannten »Dauerkonsumenten«? Ein Filmemachen, das
sich dem schnellen Bilderverzehr und der »Technik des
Illusionismus« widersetzt, ist heute in einer ziemlich verzweifelten Lage.
Das Umstandslose – dieses Weitermachen, Durchhaltevermögen trotz allem – ist gerade deshalb umso bemerkenswerter. Ist eine Stelle – ein einleuchtender klei-
Jean-Marie Straub
KOMMuNiSTEN
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nerer oder größerer Textzusammenhang – einmal gefunden, kann sie auch mit relativ geringem technischem Aufwand umgesetzt werden. Straubs Inszenierungsideen können durchaus mit dem unmittelbar Vorhandenen und Erreichbaren auskommen, die nächste
oder weitere Umgebung (gemäß der Vorlage) zu einer
straubschen machen. Die Örtlichkeit kann die eigene
Wohnung sein oder ein Ort draußen, die digitale Technik lässt sich, bei ähnlicher Sorgfalt für Bild und Ton wie
früher, leichter handhaben; als Darsteller, mit denen intensive Proben möglich sind, eignen sich auch Personen aus der eigenen Umgebung. Der Zusammenhang
von ein paar wenigen Leuten ist allerdings hilfreich und
nötig, der Einsatz von Produzenten, auch eines Vertriebs (Barbara Ulrich / Belva Film, Arnaud Dommerc /
Andolfi, Pierre Grise, jhr Films; die Dienste des Studios
in Le Fresnoy). Das Ansehen, das Straub bei einem kleinen Freundeskreis genießt, trägt zu dieser »Bedingung
der Möglichkeit« bei.
Aber was passiert eigentlich bei diesem »ins-Bild-undin-den-Ton-setzen«? Wenn ein Text aus seinem auf Papier fixierten Zustand zu Wort und in eine Umgebung
gebracht wird? Das ist natürlich auch eine Fixierung,
eine neue Anschaulichkeit – ein Vorschlag, wie der Text
wieder Sprache werden, wie er verstanden werden
kann. (Bei Konrad Bänninger lese ich: »Es ist die Sprache wie ein Lebendiges, das in der Schrift begraben ist
und daraus immer wieder erlöst sein will; nur wer die
Schrift so braucht, diese Auferstehung des Wortes erlebt, noch während er die Zeichen setzt, nutzt sie
recht.«) Die Körperlichkeit der Darsteller kommt ins
Spiel: der Text muss durch sie hindurchgehen. Erarbeitet und vorgetragen werden. Das »Vorgesetzte« des
Textes muss zusammengehen – übereinstimmen – mit
der Äußerung ihrer je besonderen Physis (der Art ihres
Daseins, der Klangsubstanz ihrer Stimmen, ihrem
Atem, ihren Gesten): ein körperlich-geistiger, fast wie
bei einem Musikstück herzustellender Ablauf.
Es geht Straub um das, was in einem Text steckt – wie
ein Text auf das Leben, die Fragen und Probleme, die
es aufwirft, reagiert, welche Erhellung in ihm enthalten
ist. (Also fernab des Literaturbetriebs, der es mit »Resultaten« zu tun hat, nicht mit »Vorgängen« – das Literarische vorzieht, Texte konsekriert und verdammt.) Die
Entdeckung und Indienstnahme eines Textes berührt
für ihn immer ein vitales Interesse – was auch heißt,
dass dieser Text auf möglichst einfache und direkte
Weise, die Textgestalt des Autors respektierend, weitergegeben werden soll. Vielleicht liegt am Grund dieser
»unten« ansetzenden Haltung das, was André Bazin
1951 – anhand von LE JOURNAL D’UN CURÉ DE CAM-
PAGNE – über die Stilistik von Bresson festgestellt hat:
Bresson verhalte sich dem Roman von Bernanos gegenüber dokumentarisch und könne gerade darum,
weil er das Kino »opfere«, die Vorlage intakt halten und
eine neue Dimension hinzugewinnen.
Wenn die Auseinandersetzung, das Gespräch mit
einem Text im Vordergrund steht, ist auch klar, weshalb
Huillet & Straub jeweils Schriftsteller des Landes, in
dem sie lebten, gewählt haben. Für Deutschland also
Böll, Bruckner, Brecht, Schönberg, Engels, Kafka,
Hölderlin; für Italien Fortini, Pavese, Vittorini; für Frankreich Corneille, Mallarmé, Duras, Cézanne, Gasquet,
Barrès. Nach Danièle Huillets Tod (2006) kommen
hinzu: Rousseau, Dante, Montaigne, Bernanos, Malraux, was nicht heißt, dass nicht einige der bereits Genannten (Pavese, Corneille, Brecht, Kafka) mit neuen
Sujets darunter wären oder nicht auch ein Zeitschriftenartikel Ausgangspunkt sein könnte (für LA GUERRE
D’ALGÉRIE!).
In einen Film mit dem Titel KOMMUNISTEN gehört
natürlich auch ein Kapitel über den frühen Widerstand
gegen den Nationalsozialismus – das hat Straub bei
André Malraux gefunden: »Le temps du mépris«
(1935). Darin ist der Bericht über die Haft und Konzentrationslager-Erfahrung von Willi Bredel mitverarbeitet
(die beiden haben sich beim Schriftstellerkongress
L’aquarium et la nation (Das Aquarium und die Nation) | Frankreich 2015 | R+B: Jean-Marie Straub,
nach »Les noyers de l’Altenburg« von André Malraux |
K: Christophe Clavert | Mit Aimé Agnel | 34 min | OmU |
Der Dispositiv wird nochmals vereinfacht und fundamental: eine subtile Untersuchung der Grundlagen unserer Wahrnehmung und unserer Vorstellung der Welt.
– Lothringen! | Frankreich 1994 | R+B: Danièle Huillet
& Jean-Marie Straub, nach »Colette Baudoche« von
Maurice Barrès | K: Christophe Pollock | D: Emmanuelle
Straub | 22 min | OmU – Un héritier (Ein Erbe) | Südkorea 2011 | R+B: Jean-Marie Straub, nach »Au service de l’Allemagne« von Maurice Barrès | K: Renato
Berta | D: Joseph Rottner, Jubarite Semaran, Barbara
Ulrich | 21 min | OmU – À propos de Venise – Geschichtsunterricht (Über Venedig) | Schweiz 2013 |
R+B: Jean-Marie Straub, nach »La mort de Venise« von
Maurice Barrès | K: Christophe Clavert | Mit Barbara Ulrich | 23 min | OmU – Straubs Auseinandersetzungen
mit dem reaktionären Maurice Barrès. Wissen und Gewissheiten, die sich entfestigen, nationale Gefühle, die
in den wilden Nationalismen ihre Wahrheit reklamieren.
»Die heute sichtbaren und hörbaren Geschichtsspuren
und die vom Kino aufgerufenen – nicht direkt darzustellenden – archaischen Schwingungen.« (Frieda Grafe)
Europa 2005 – 27 Octobre | Frankreich 2006 |
10 min | OmU – Joachim Gatti | Frankreich 2009 |
2 min | OmU – La mort de Venise (Der Tod von Venedig) | Italien 2013 | 2 min | OmeU – La guerre d’Algérie! (Der Algerienkrieg!) | Frankreich 2014 | 2 min |
OmU – Vier ciné-tracts von Jean-Marie Straub: kurze
Interventionen der Anklage und der Trauer. – Dolando |
Italien 2002 | R+B: Danièle Huillet & Jean-Marie
Straub, nach Torquato Tasso | K: Renato Berta | Mit Dolando Bernardini | 8 min | OmU | Ein Geschenk an
Schauspieler und Crew, zum Abschluss der Dreharbeiten von UMILIATI. – Renato | Schweiz 2015 |
R+B: Jean-Marie Straub | K: Renato Berta | 8 min |
OmU | Dank und Gruß an Renato Berta, zum 70. Geburtstag. – Geschichtsunterricht | BRD 1972 | R+B:
Danièle Huillet & Jean-Marie Straub, nach »Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar« von Bertolt Brecht | K:
Renato Berta | D: Gottfried Bold, Johann Unterpertinger,
Henri Ludwigg, Carl Vaillant, Benedikt Zulauf | 88 min |
»Ein Bankier, ein Bauer, ein Anwalt, ein Dichter und eine
Stadt stellen sich einem jungen Mann vor. Der Film handelt von Handel und Demokratie, das heißt schließlich
vom Imperialismus. Und übrigens ist das der erste
echte, richtige Straubfilm.« (Jean-Marie Straub)
▶ Freitag, 18. Dezember 2015, 18.30 Uhr | Zu Gast:
Barbara Ulrich
▶ Mittwoch, 16. Dezember 2015, 18.30 Uhr | Zu Gast:
Barbara Ulrich
A Corner in Wheat | USA 1909 | R+B: D.W. Griffith | K:
G.W. Bitzer | D: James Kirkwood, Linda Arvidson, Frank
Powell | 16 min | OF – Kommunisten | Schweiz 2014
| R+B: Jean-Marie Straub, nach »Le temps du mépris«
von André Malraux | K: Christophe Clavert | D: Arnaud
Dommerc, Jubarite Semaran, Gilles Pandel, Barbara Ulrich | 70 min | OmU – »Der vermutlich kommunistischste Film überhaupt ist A CORNER IN WHEAT von
D. W. Griffith, der im Verdacht steht, alles Mögliche,
aber gewiss nicht, ein Kommunist gewesen zu sein. –
Als ob er jeweils den ›kommunistischen Moment‹ herauspräparieren wollte, hat Jean-Marie Straub Szenen
aus fünf seiner mit Danièle Huillet gedrehten Werke
aufgegriffen und mit einer neuen Szene (nach Malraux)
kombiniert. Schon immer ließen sich reiche Beziehungen der einzelnen Straubfilme untereinander, aber
auch solche auf die Filmgeschichte herstellen. Doch
das selbstreferenzielle Verfahren, das Straub hier anwendet, ist neu für ihn. Es ist ein Rückblick, es ist, wie
Straub selbst sagt, ein ›Testament‹, jedenfalls im wörtlichen Sinn: ein Zeugnis.« (Stefan Ripplinger)
▶ Samstag, 19. Dezember 2015, 18.30 Uhr | Zu Gast:
Barbara Ulrich
Jean-Marie Straub
1934 in Moskau getroffen), der dann in Romanform als
»Die Prüfung« 1934 im Malik-Verlag in London erschienen ist. L’AQUARIUM ET LA NATION beruht ebenfalls
auf Malraux (»Les noyers de l’Altenburg«, 1948).
Straub setzt hier den letzten Abschnitt in diesem Panorama über Stadien der menschlichen Evolution so
wörtlich um, dass man frappiert ist: »Es ist nicht leicht
für einen Fisch, sein eigenes Aquarium zu sehen …
Die Nation zuerst, nicht?« Er führt drastisch vor, wie
limitiert die Vorstellungskraft des Menschen und die
»besondere Evidenz« des eigenen Lebens sein kann
und ist.
Jean-Marie Straub lässt sich sehr wohl als passeur
(wie ihn Serge Daney gefasst hat) beschreiben: Er hat
übergesetzt (über den Strom, über Landesgrenzen),
Texte zugänglich gemacht, die ohne seine Filme im öffentlichen Bewusstsein gar nicht mehr existieren würden. Deshalb ist seine Rede von der »Gabe« oder dem
»Geschenk« (an das jeweilige Land) auch völlig berechtigt: Er hat mit OTHON Corneille an Frankreich zurückgegeben, mit SICILIA! Vittorini an Italien, mit EMPEDOKLES und SCHWARZE SÜNDE Hölderlin an Deutschland
– die nicht mehr Gelesenen in neuer Form wieder zugänglich gemacht.
Johannes Beringer
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