Damals war immer Sommer

Ein eigenwilliges Mädchen- und Frauenleben von 1904 bis in die Nachkriegsjahre,
gleichzeitig eine amüsante, detailsichere Schilderung bürgerlichen Lebens, in der die
Erinnerung an die »gute alte Zeit« breiten Raum einnimmt.
»Ein unterhaltsames, an Geschichten und Zeitgeschichten reiches, ein lebenskluges
Buch.« (Donau Kurier)
Helga Leeb
Damals war immer Sommer
Die eigensinnigen Erinnerungen meiner Mutter
Die Autorin
Helga Leeb ist Münchnerin. Nach dem Abitur Besuch der Journalistenschule, im Anschluss
daran freie Mitarbeit bei der Abendzeitung, später Redakteurin und Autorin der
Frauenzeitschrift Brigitte. Helga Leeb ist verheiratet und hat zwei Söhne.
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Genehmigte Lizenzausgabe © 2015 by Weltbild GmbH & Co. KG, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 1987 by bei LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH
Covergestaltung: Atelier Seidel - Verlagsgrafik, Teising
Titelmotiv: © Thinkstockphoto
E-Book-Produktion: Datagroup int. SRL, Timisoara
ISBN 978-3-95569-875-1
Für meine Mutter
PERSONEN
JANA – ein eigensinniges Kind (später ein eigensinniger Backfisch, noch später eine
eigensinnige Frau)
SEPPI – ihre brave Schwester
HARTL – Seppis späterer Ehemann
DR. JULIAN REIST , königlicher Landgerichtsrat zu München, Janas Vater
MÄDL, genannt Mädlmutter – Janas Mutter
RESI (oder Fanny oder Mari) – wechselnde Dienstmädchen
LUISE VON HEYDENABER, genannt »das Löwenweibchen« – Institutsvorsteherin
BETSY – schön und brav, violette Augen, Janas liebste Schulfreundin
EDITHA – Malerstochter, nicht so brav, ebenfalls Janas Freundin
KARL AMADEUS HARTMANN, Komponist
Münchner Künstler, Verehrer von
ALEXANDER FISCHER, Bildhauer
Jana
HANS (Nachname unbekannt), Maler
SASCHA – Cousin dritten Grades, Magier mit Schirm, Prinzenerzieher
MAX – Janas große Liebe (unerfüllt)
MICK – Janas Ehemann
FRANZ – Micks bester Freund
ANKA
PUPPA
Skifreunde vom Lärchenstein (gern und laut singend)
LULU
BODO
LENA SEEBUCHER – Freundin, die im Krieg plötzlich verschwand
MEIERIN – Fruchtbarkeitsgöttin mit großem Herzen (bayerisch)
ONKEL UND TANTE PEISS – ein liebes altes Ehepaar
ANNABELLE VON PINEAUD, genannt »die blaue Dame«, Ölbild – Janas Großmutter
JUNGER PFARRHERR IM GOLDRAHMEN – Micks Urgroßvater
MOHRLE – Janas Tochter, ich
(weitere an diesem Buch beteiligte Personen:
Mohrles Söhne, Mohrles Ehemann)
Der Garten
Als meine Mutter am 12. Dezember 1904 in der Landwehrstraße 8 zur Welt kam, musste
ihr Vater, königlicher Landgerichtsrat zu München, seinen Zwicker abnehmen und ein
paarmal über seine buschigen Augenbrauen streichen. Nicht aus Rührung, sondern um
seine Enttäuschung niederzuringen. Er hatte fest mit einem Sohn gerechnet, der wie er
Julian heißen sollte.
Kurz darauf trat er gefasst ans Bett seiner Frau. Sie war ein dunkelhaariges, zierliches
Geschöpf von nur 1,56 Meter Größe, hielt ein Kind mit auffallend fordernden, schwarzen
Augen im Arm und sah ihrem Mann ein wenig beschämt und wie um Entschuldigung
bittend entgegen. Er küsste sie auf die Stirn und sagte: »Na dann, Mädl, jetzt ist es halt
wieder ein Mädl geworden.«
Worauf seine Frau, die bis an ihr Lebensende von aller Welt »Mädl« genannt wurde, weil
sie mit vier älteren Brüdern aufgewachsen war, seine Hand drückte und vorschlug:
»Wenn es schon kein Julian geworden ist, könnten wir sie doch Juliana nennen.«
So kam es, dass meine Mutter, die unbedingt ein Bub hätte werden sollen und sich – wie
sich bald erwies – auch so gebärdete, mit dem ungewöhnlich fremdartig klingenden
Namen »Jana« gerufen wurde, während ihre drei Jahre ältere Schwester Josephine, ein
stilles, scheues Kind, das viel krank war und leicht weinte, auf den guten Münchner
Bubennamen »Seppi« hörte.
Als Jana zwei Jahre alt war und jedermann erkennen konnte, dass sie ein ausnehmend
temperamentvolles Kind war, bemalte die »Mädlmutter« für ihren Mann, Dr. Julian Reist,
einen Pfeifenkopf aus Porzellan mit dem Bild der jüngeren Tochter. Als Vorlage diente ihr
eine Fotografie, die Julian selbst angefertigt hatte. Sie zeigte Jana in knielangen
Wollunterhosen mit wirrem Haar und trotzig vorgeschobener Unterlippe. Darunter schrieb
Janas Mutter einen Vers, den Julian in einem Anfall von ungewohnt guter Laune über
seine Tochter verfasst hatte. Er lautete: »A Bua wia a Madl, des war mir grad gnua. Da is
mir scho liaber, ’s Madl wia a Bua.«
Diese Pfeife liegt noch heute in der Vitrine meiner 82-jährigen Mutter zwischen sechs
schräg gestellten Tellern und einem Tintenfass mit Federschale, die mit Frühlingsblumen
und tanzenden Amoretten bemalt sind.
Sie hat mir diese zerbrechlichen Kostbarkeiten als Kind oft gezeigt und dazu Geschichten
aus ihrer Jugend in München erzählt. »Ich war ein wildes, böses Kind, das immer
schlimme Sachen anstellte. Und ich wurde ziemlich oft deswegen verhauen«, sagte sie
dann. »Aber ich war trotzdem glücklich. Damals waren Kinder noch nicht so sensibel, dass
sie wegen ein paar Klapsen hintendrauf gleich Schaden an ihrer Seele genommen
hätten.«
Der Garten, in dem Jana aufwuchs, war sehr groß und voller verborgener Ecken und
Winkel, die alle ihre feste Bestimmung hatten. Das vermittelte dem Kind den Eindruck
von Freiheit und Ordnung zugleich.
Zur Straße hin neigte sich eine dichte Reihe von Fliederbüschen, die in allen Rosa- und
Lilatönen blühten, über einen Eisenzaun mit scharfen Spitzen. Zwischen Büschen und
Gitter war ein schattiger Zwischenraum entstanden, eine Art Geheimgang. Hier stand das
Kind oft, die Stirn an die Gitterstäbe gepresst, und beobachtete die Dorfkinder, die nicht
zum Spielen in den Garten kommen durften. Dorfkinder erkannte man daran, dass sie
barfuß liefen, Rotznasen hatten und Flicken auf den Hosen, die an Trägern bis unter die
Arme hinaufgezurrt waren. »Anständige Kinder« trugen Rüschenunterhosen aus Leinen
oder Baumwollstoff, deren gekrauster Spitzenrand unter dem Saum des Kleides
hervorsah. Ferner wollene Strümpfe, die bis knapp übers Knie reichten und mittels eines
Gummibands an einem Leiberl befestigt waren. Dieses Leiberl wurde am Rücken oder
über der Brust geknöpft. Da es für jeden Strumpf nur ein Gummiband gab, saß er nicht
besonders stramm, sondern ringelte sich in allerlei kratzigen Falten über dem Stiefelrand.
Jana hasste die meist handgestrickten, langen Strümpfe, und weil sie ein rotbackiges, vor
Gesundheit strotzendes Kind war, erlaubte ihr die Mutter oft schon im März, kurze Socken
zu tragen, was den Vorteil hatte, dass Jana sich nicht mehr bei jedem Sturz Löcher in die
Strümpfe riss, sondern nur noch die Knie aufschürfte.
Seppi, ihre Schwester, durfte so gut wie nie Sockerl anziehen. Sie erkältete sich leicht und
galt als schwächliches, zartes Kind, ein Kind, das zu allem Überfluss keine Milch trinken
durfte, weil es davon einen juckenden roten Hautausschlag bekam.
Das Haus, das zu dem Garten gehörte, lag in Riesenfeld. Das war eine Villensiedlung am
Rand des Dorfes Milbertshofen nördlich von München, in der vor allem höhere Beamte
und Künstler wohnten. Seit ein paar Jahren fuhr anstelle der Pferdebahn eine elektrisch
betriebene Tram, die Linie 17, von Milbertshofen durch die Schleißheimerstraße bis zum
Stachus, an dem prachtvoll und mächtig hingebreitet der Justizpalast lag, die
Wirkungsstätte von Dr. Julian Reist.
Eine Fahrt mit der Elektrischen kostete zehn Pfennig. Wenn man dem Schaffner ein
Fünferl Trinkgeld gab, legte er die Hand an seine Schirmmütze und salutierte in
militärischer Haltung.
Man befand sich mitten im Wilhelminischen Zeitalter. Frankreich und England galten als
Erbfeinde, und in Bayern herrschte seit dem geheimnisumwitterten Tod von König Ludwig
II. im Starnberger See der Prinzregent, ein freundlicher alter Herr mit langem Bart und
einer unglücklichen Vorliebe für schlecht geschnittene, zu lange Hosen, die höchst
unkönigliche Falten warfen. Auch in absolut königstreuen Familien des gehobenen
Bürgertums wie etwa der des späteren Landgerichtsdirektors Julian Reist erzählte man
sich schmunzelnd die eine oder andere Anekdote über den Prinzregenten, etwa die: Als
der hochbetagte Herr, der im Sommer am liebsten in der grün bestickten kurzen
Ledernen mit den dazugehörigen Wadlstrümpfen einherging, auf einem Jagdausflug in
seinem geliebten bayerischen Oberland ein paar Hirsche erlegt hatte, die ihm von allen
Seiten zugetrieben worden waren, konnte niemand mehr übersehen, dass das
sogenannte Hosentürl des Prinzregenten, der Latz an seiner Ledernen, offen stand.
Worauf der älteste Jäger in der Runde, ein oberbayerischer Bauer, der wusste, was er
seinem Königshaus schuldig war, die Situation rettete, indem er in die Runde rief: »Jetzt,
wo seine Majestät die Hirschen g’schossen hat, gibt’s für an jeden was zum Essen und
Trinken, und zuvor machen mir alle unsere Hosentürl zu.«
Jana ist dem Prinzregenten nur ein Mal im Leben begegnet. Sie war damals drei oder vier
Jahre alt und von ihrer Mutter – was selten genug geschah – in die Stadt mitgenommen
worden. Vor der Feldherrnhalle, die Jana wegen der vielen Treppen und der zwei
steinernen Löwen in Erinnerung blieb, versank ihre Mutter plötzlich in einen tiefen
Hofknicks. »Das war unser Prinzregent, Kind«, sagte sie ganz ergriffen, als sie sich wieder
aufgerichtet und ihren Rock zurechtgeschüttelt hatte. »Hast ihn gesehen?«
Jana hatte ihn nicht gesehen. Die Droschken mit den Pferden davor, die auf dem
Odeonsplatz auf Kundschaft warteten, die alte Frau, die aus ihrer schwarzen Schürze
heraus den eifrig hin und her wackelnden Tauben Futter hinstreute, die Blumenfrau vor
der Theatinerkirche, vor allem aber ein knatterndes Automobil, das von der Ludwigstraße
kommend in scharfer Kurve in Richtung Residenz einbog, waren viel interessanter als der
alte Mann mit den Ziehharmonikahosen, dem die Mutter lange nachsah.
München – das war für Jana viele Jahre lang eine fremde, große Stadt, in die der Vater
jeden Morgen mit seiner sprichwörtlich preußischen Pünktlichkeit verschwand. Mittags, oft
auch erst gegen Abend kehrte er würdevoll, wie er gegangen war, zurück und nahm
wieder seinen Platz in Janas geordneter, überschaubarer Welt ein. Sie bestand aus dem
großen, viereckigen Haus hinter dem Eisenzaun und dem weitläufigen, mäßig gepflegten
Garten, in dem es immer Sommer war. Hinterm Haus standen zu beiden Seiten eines
Kieswegs zwei Kastanienbäume. Unter dem weiß blühenden gruppierten sich grün
lackierte Gartenmöbel. Hier nahmen die Eltern an den langen lauen Sommerabenden
ihren kalten Abendimbiss ein: Leberkäs, Radi, Wurstsalat aus Lyoner – in Bayern
seltsamerweise bis heute »Leoni« genannt – und ähnlich kalorienreiche Erzeugnisse des
einheimischen Metzgerhandwerks. Häufig kamen befreundete Ehepaare, meist Kollegen
von Julian Reist, zu Besuch, die gemächlich eine halbe Stunde von Schwabing nach
Milbertshofen gebummelt waren, ihr Abendessen in einem Korb mitbrachten und »die
gute Landluft« genossen.
Unter dem rot blühenden Kastanienbaum gab es einen fest im Boden verankerten
Holztisch mit zwei Bänken. Hier spielten Jana und Seppi, meist umgeben von einem
halben Dutzend Kindern, »anständigen Kindern« natürlich, die Mädchen in Hängekleidern
mit besticktem Koller, die Knaben in Leinenjacken mit weißem Kragen. Sie sangen:
»Pitsche, patsche Peter, hinterm Ofen steht er, hinterm Ofen loant er, wenn man
oschaugt, woant er.« Oder auch: »Rira-rutsch, wir fahren mit der Kutsch. Die Kutsche hat
ein Loch, wir fahren aber doch. Wir fahren mit der Chaise zu der Tante Rese. Tante Rese
ist nicht da, fahr’n mir zu der Omama. Omama ist auch nicht da, kehr ma wieder um!
Tschingdarassabum.«
Diese schönen alten Münchner Kinderreime wurden eines Tages jäh unterbrochen durch
einen Vers von unerhörter Ordinärheit, einen Vers, wie ihn nur ein böses Straßenkind
einschleppen konnte, dem Jana heimlich Einlass gewährt hatte. Es war ein Bub, älter als
die andern, mit kurz geschorenen Strohhaaren und abstehenden roten Ohren. Der Vers,
den er den ergriffen lauschenden »anständigen Kindern« vorsagte, lautete: »Wenn der Aff
zum Scheißen geht, dann geht er hinters Haus. Und wenn er kein Papier nicht hat, dann
macht er’s mit der Faust.«
Die Faszination dieser Zeilen war so überwältigend, dass die Kinder sie immer wieder im
Chor krähten, immer lauter, immer noch einmal, allen voran Jana, die vor Begeisterung
auf dem Tisch stand und im Takt dazutrampelte. Als schließlich das Reistsche
Dienstmädchen Resi (vielleicht hieß sie auch Fanny oder Mari), vom Lärm angezogen,
über den Kiesweg eilte und drohte, die Mädlmutter herbeizuholen, war der Übeltäter, mit
dem natürlichen Instinkt eines Dorfkinds ausgestattet, längst verschwunden. Da sagte die
Resi (oder Fanny oder Mari): »Das war bestimmt wieder die böse Jana. Pfui, schäm dich.«
Worauf Jana trotzig mit dem Fuß aufstampfte, den Schnauzer Schnapp am Halsband
hinter sich herzog und sich auf einer alten Schulbank unter den Jasminsträuchern
verkroch. Dort saß sie mit klopfendem Herzen und wiederholte halblaut in Schnapps
gespitzte Ohren: »Und wenn er kein Papier nicht hat, dann macht er’s mit der Faust.« Sie
war schon immer ein Kind, das auf seiner Meinung beharrte ...
Die Mädlmutter hatte von all dem nichts gehört. Sie lag in der Hängematte, die ganz
hinten im Garten zwischen zwei Linden aufgespannt war, und hielt ihren Mittagsschlaf. Zu
einer dritten Linde hin war eine Turnstange befestigt. Daran hingen eine Schaukel und
Ringe. Turnen war damals, im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts, als Quell der
Gesundheit entdeckt worden, und fortschrittliche Eltern sorgten dafür, dass ihre Kinder
Turngeräte besaßen.
Wenn Jana heute zurückdenkt, sieht, nein spürt sie sich auf der Schaukel in die duftende
Krone der Linde hinauffliegen, fühlt das leichte Kribbeln unterm Leiberl, wenn die
Schaukel vom höchsten Punkt nach hinten zurückschwingt, hört den sanften Ruf der
Mädlmutter aus der Hängematte weit unten: »Janni, Wildfang, nicht so hoch, du wirst
wieder runterfallen!«, empfindet heiß und intensiv, wie das ist: fliegen, frei sein, immer
weiter, immer höher, bis ans Ende der Welt. Sie ahnte nicht, dass es fünfzig Jahre und
zwei Kriege lang dauern sollte, bis sie endlich flog – in einer DC 9 nach Mexiko City für
1950 D-Mark hin und zurück mit Halbpension. Die Besichtigung der Pyramiden
eingeschlossen.
Eine andere Erinnerung. Auf der Wiese steht der hochrädrige Puppenwagen der
Schwester. Drei Puppen schauen ausdruckslos aus bestickten Kissen und Decken, sitzen
nach Seppis Geschmack steif und ordentlich nebeneinander. In der Mitte thront eine
große Gliederpuppe, deren Ellenbogen und Knie, Hände und Füße sich mittels eines
Kugelgelenks nach allen Richtungen bewegen lassen. Sie hat einen bemalten
Porzellankopf mit blauen Glasaugen, über denen sich, wenn man die Puppe auf den
Rücken legt, lang bewimperte Lider schließen. Und sie besitzt – Höhepunkt aller Seligkeit
– eine Perücke aus echtem Haar, gefertigt aus ausgegangenen Haaren der Mädlmutter,
die man nach Belieben waschen, kämmen, flechten und zu Löckchen drehen kann.
Jana beneidet ihre Schwester glühend um diese Puppe, wünscht sich beharrlich
Weihnacht für Weihnacht eine Puppe genau wie die und wird doch immer noch für zu
klein und wild gehalten, als dass man ihr ein so kostbares Spielzeug anvertrauen könnte.
Jetzt steht der Puppenwagen verlassen in der Sonne. Jana schaut aufmerksam hinein,
muss sich auf die Zehen stellen, um mit dem Kinn den Wagenrand zu erreichen. Plötzlich
reißt sie alle Puppen heraus, wirft sie ins Gras und setzt stattdessen zwei zahme
Zwerghühner in die Kissen, deckt die verschreckten Viecher fest zu und marschiert mit
dem Puppenwagen los.
Nächste Erinnerung: großes Geschrei, leise vor sich hin wimmernde Seppi, heftig
gestikulierende Resi (oder Fanny oder Mari), unglückliche Mädlmutter, die mit einem
Lineal vom Schreibtisch des Vaters hinter Jana hereilt und versucht, ihr ein paar
hintendrauf zu geben. Dazwischen laut bellend der Hund Schnapp und hysterisch
aufstiebende Zwerghühner. Dann: Jana brüllt, weint, plärrt, was das Zeug hält. Die paar
Klapse hat sie nicht gespürt, aber sie will brüllen, will trotzig sein. Die Mädlmutter und
Resi zerren sie ins Klo. Jana trommelt mit Fäusten an die Tür, stampft mit den Stiefeln
dagegen. Sie ist vielleicht drei Jahre alt. Dreijährige Kinder können unglaublich laut
brüllen. Es klingelt an der Haustür. Eine Nachbarin erkundigt sich, ob ein Unglück
geschehen sei. Die Mädlmutter errötet, beschwichtigt – nein, es ist nichts passiert, nur
die Jana ist halt wieder einmal bös gewesen–, öffnet das Klo. Jana stapft schweißnass,
schwer atmend und hochbefriedigt an Mutter und Nachbarin vorbei.
»Ja, ja, a Madl wia a Bua«, nickt die Nachbarin verständnisvoll und zitiert damit, ohne es
zu wissen, den von ihr heimlich bewunderten Dr. Julian Reist.
Die Zwerghühner bewohnten ein Gehege gleich hinterm Waschhaus unter einem
Goldregenstrauch. Sie liefen tagsüber frei im Garten herum und waren einer Mode der
Zeit entsprechend als Zierde gedacht. Am schönsten war der Hahn mit seinem
goldglänzenden Gefieder. Er wurde »kleiner Heinrich« genannt nach einem Vetter der
Mädlmutter, einem besonders klein geratenen Studienrat namens Heinrich. »Kleiner
Heinrich« hieß er in der Verwandtschaft, um ihn von einem anderen Verwandten namens
Heinrich zu unterscheiden, der besonders groß und mager war und demzufolge als
»langer Heinrich« bezeichnet wurde.
Jana liebt den »kleinen Heinrich«, den Hahn, ist stolz, dass er sich von ihr streicheln lässt,
trägt ihn herum, zeigt ihn den Nachbarskindern, den »anständigen«. Eines Tages hüpft er
ihr aus dem Arm, flattert übers Gras, eine Henne gackert auf, wilde Flucht, gespreizte
Federn, der Hahn siegt. Jana rennt ins Haus, reißt die Tür zum Salon auf, der nur für
Besucher da ist und für die Kinder streng verboten, und ruft: »Mama, Mama, der kleine
Heinrich sitzt auf einer Henne und bringt sie um.«
Der »kleine Heinrich« saß aber gar nicht auf einer Henne, sondern in diesem Fall ziemlich
steif auf der grün bezogenen Chaiselongue und trank mit der Mädlmutter, die er ebenso
standhaft wie hoffnungslos verehrte, Tee. Er verabschiedete sich dann rasch und sehr
förmlich.
»Jana, Jana, was mach ich nur mit dir? Hätt’st halt doch ein Bub werden sollen«, seufzte
die Mädlmutter nicht ohne eine gewisse Erleichterung und zog den Kopf ihrer jüngeren
Tochter an sich. Jana vergrub ihr Gesicht in den Falten des knöchellangen Kleides, sog
den leichten Veilchenduft ein und spürte durch den Stoff die Korsettstäbe, die die Taille
der Mädlmutter erbarmungslos umschlossen.
Nach dem Abendessen verkündete der Vater der versammelten Familie: »Wie ich höre, ist
der kleine Heinrich beleidigt. Deshalb nennen wir den kleinen Heinrich ab sofort
Goldfuchs, verstanden?«
Jana begriff nicht, warum alle losprusteten und sich zuletzt die Lachtränen aus den Augen
wischten. Sie ging beleidigt fort, weil ihr wieder einmal niemand erklärte, was los war.
Der Name »Goldfuchs« setzte sich übrigens erst durch, als der »kleine Heinrich« – der
Hahn – das Zeitliche gesegnet hatte und in ausgestopftem Zustand auf dem Schreibtisch
von Dr. Julian Reist im Wohnzimmer stand. Gelegentlich wurde sein goldglänzendes
Gefieder von einer Resi (oder Fanny oder Mari) sorgsam mit einem Staubwedel gereinigt.