Interview mit Robert Pfaller, Professor für
Philosophie und Kulturwissenschaften an
der Kunstuniversität Linz
Andreas Huber
„Wir können nicht mehr geniessen“, konstatieren Sie lapidar. Wie
passt dieses Urteil zur oft beklagten Fun- und GIückssucht unserer
Zeit?
Was wir für unseren Spass ausgeben, sind in der Regel groteske
Zerrbilder des Glücks. Auf der anderen Seite sind immer mehr Leute
damit beschäftigt, sich selbst nach
leistungsmedizinischen
Gesichtspunkten zu optimieren. Diese beiden Seiten kennzeichnen in meinen
Augen eine zutiefst asketische Gesellschaft: Die wenigsten sind heute
in der Lage, sich selbst eine kleine
Freude zu gönnen. Und noch weniger gönnen sie sie den anderen. Eine
der Ursachen für diese in den letzten
20 Jahren eingetretene Entwicklung
sehe ich in dem Umstand, dass wir
Glück neuerdings als etwas Privates
begreifen und nicht mehr als etwas,
das einerseits eine Art soziale Verpflichtung darstellt und andererseits
eben darum auch solidarisch geteilt
werden kann.
Sie kritisieren, dass wir zu „servilen Sachbearbeitern“ des Lebens
verkommen seien und uns dabei
wie altkluge Kinder verhalten.
Wir opfern ständig alles irgendeiner
lebenserhaltenden Priorität. Entweder der Sicherheit oder der Gesundheit oder der Kosteneffizienz. Freilich brauchen wir das alles in einem
gewissen Mass, um zu leben. Aber
wir leben nicht, um gesund, sicher
oder kosteneffizient zu sein. Altkluge
Kinder zeichnen sich dadurch aus,
dass sie ständig erwachsen und
vernünftig sein wollen. Wirkliche Vernunft und Erwachsensein hingegen
besteht darin, auf vernünftige Weise
vernünftig und auf erwachsene Weise erwachsen zu sein. Nur so kann
man sich mal die eine oder andere
kindliche Freude zugestehen und die
eine oder andere lustvolle Verrücktheit – wie zum Beispiel eine Verliebtheit, ein Hobby, eine rauschende
Party oder auch nur einen Moment
stiller Musse. Wenn wir solche Momente aus vermeintlichen Vernunftgründen ausschliessen, ruinieren wir
uns das Leben – sicher das Allerunvernünftigste. Wenn wir ständig nur
der Erhaltung des Lebens dienen,
bleiben wir servil – und lassen uns
dann leider auch politisch eine ganze Menge gefallen. Nur wenn wir uns
– und dem Leben – ab und zu die
Frage stellen, wofür es sich zu leben
lohnt, bewegen wir uns souverän auf
Augenhöhe mit unserem Leben. Das
ist eine Voraussetzung für politische
Freiheit.
Warum ist Geniessen ein Politikum?
Das Entscheidende ist nicht der
Genuss, sondern die Fähigkeit zum
Genuss – ähnlich wie in der Frage
der Ausbeutung das Entscheidende nicht die Arbeit, sondern die
Arbeitskraft ist. Immer wenn Menschen sich gewehrt haben, stellten
sie letztlich die Frage, wo das gute
Leben bleibt. So lässt Bertolt Brecht
die Pariser Kommunarden zu ihren
Feinden sagen: „In Erwägung, dass
ihr uns dann eben / mit Gewehren
und Kanonen droht / haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Le-
ben / mehr zu fürchten als den Tod.“
Die Fähigkeit, diese Frage nach dem
guten Leben zu formulieren – und
sie über die Frage nach der Erhaltung des Lebens zu stellen –, ist die
Grundlage sowohl der Genuss- als
auch der Politikfähigkeit der Menschen.
Eine entscheidende Rolle in Ihrem Denken spielt das von lhnen
entwickelte Theoriemodell der lnterpassivität oder des delegierten
Genusses: ein Verhalten, das seine Freude daraus bezieht, eigenen
Genuss an fremde Instanzen zu
delegieren, ob andere Menschen,
Maschinen oder Marken. Warum
flüchten viele vor dem Genuss?
Typisch für eine genussfeindliche
Kultur ist, dass sie enormen Genussstress erzeugt: Wir müssen nicht nur
irgendwohin in Urlaub fahren oder in
einem nahen Teich schwimmen, sondern es muss schon ein exotisches
Inselparadies sein. Nicht nur ein
bisschen Bewegung, sondern bitte
eine Extremsportart. Nicht nur eine
kleine Siesta, sondern gleich ein Powernap. Diese stressende Wirkung
scheint mir auch von vielen aktuellen
Glücksratgebern auszugehen. Ständig sollen die Leute noch irgendeine
individuelle Zusatzleistung erbringen, um noch mehr Glück einzuheimsen. Dieser Genussstress aber
führt, wie der Soziologe Alain Ehrenberg gezeigt hat, in die Depression.
Den Leuten wird heute der Genuss
nicht mehr verboten, wodurch er immerhin noch als heimlich Gewolltes
übrigbliebe. Vielmehr sollen sie ihn
selbst wollen und ihn sich nehmen,
wodurch sich für sie aber die Frage
stellt, ob sie es fertigbringen, ihn zu
wollen. Das Gewollte nicht wollen zu
können – das wäre die Formel für die
aktuell vorherrschende, zeittypische
Pathologie der Depression. Demgegenüber ist Interpassivität als delegierter Genuss eine listige Strategie
des Stressabbaus: Ich tue so, als
wollte ich beim Fernsehen lachen,
lasse aber das Dosengelächter lachen. Oder ich tue so, als würde ich
ab und zu aufs Land fahren wollen,
fahre aber nur einen Geländewagen – eben darum meist ohne Vierradantrieb – in der Stadt. Es wird
einem Augenschein Genüge getan,
und dahinter verbleibt dem Subjekt
ein wohltuender Spielraum der Latenz, in dem es sich nicht der Frage
stellen muss, ob es die Dinge auch
„wirklich“ will. Freilich führt der aktuelle Genussstress auch dazu, dass
Leute sich ständig mit ihren Waren
Lebensgefühle einkaufen, zu denen
ihnen kein entsprechendes Leben
möglich ist: Ihre Kochbücher vertreten das Kochen, zu dem sie keine
Zeit haben; ihre Turnschuhe sind an
ihrer Stelle sportlich oder sogar konsumkritisch – im Sinne des No-Logo;
ihre Bücher an ihrer Stelle müssig;
ihre Äpfel an ihrer Stelle gesund.
Das nennt man „Kulturkapitalismus“.
Wenn Leute allerdings nicht bemerken, dass sie schon im Moment des
Erwerbs eines solchen Stellvertreters glücklich wären, dann entstehen
auf diesem Weg auch schnell Gefühle defizitären Lebens – das wäre die
unglückliche, neurotische Variante
der Interpassivität.
Welchen Stellenwert haben psychologische Glücks- und Genusskonzepte für Sie?
Als ich 2002 mein Buch Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur veröffentlichte,
konnte ich noch von „Glücksvergessenheit“ sprechen. Über diese
Frage herrschte damals in Philosophie, Psychologie oder Kulturwissenschaft ein auffälliges Schweigen.
Danach passierte eine Art Dammbruch, und seither werden wir von
einer Flut von Glückshelferliteratur
überschwemmt. Allerdings scheint
mir dieses plötzliche Interesse dem
Glück der meisten auch nicht gerade
förderlich. Die meisten Ratgeber tun
so, als sei es von individuellen Anstrengungen abhängig, ob man zu
Glück gelangt. Statt die Leute neben
ihrem Jobstress, ihrem Kommunika-
tionsstress, ihrem Nachhaltigkeitsstress auch noch mit ihrem Glück zu
stressen, sollte man ihnen vielleicht
mehr Möglichkeiten geben, sich von
all diesem Stress auch mal abzukoppeln. Dazu gibt es in vielen Kulturen
sogenannte „Unterbrechungsriten“
– die man in unserer Kultur aber vor
allem aus Besorgnis um Gesundheit, Sicherheit oder Effizienz gerade
massiv liquidiert. Glücksfähigkeit ist
darum eben in letzter Instanz eine
gesellschaftliche Ressource und
eine politische Frage. Eine Politik,
die privatisiert und die Menschen
entsolidarisiert, macht sie glücksunfähig. Eine Politik, die sie solidarisiert, erhöht die Glücksfähigkeit.
Sie verstehen vor allem gesundheitspolitische Kampagnen gegen
Alkohol, Tabak oder Übergewicht
als billige Ablenkungsmanöver.
Aber warum: Die vermeintlichen
Genüsse Saufen und Rauchen
machen uns doch kaputt? Was
spricht gegen das staatlich-politisch geförderte gesunde Leben?
Die immer häufigeren kleinlichen
Verbote kommen von einer entscheidungsunwilligen, bürokratischen Politik. Sie kümmert sich nicht um ihre
wirklichen, grossen Aufgaben – etwa
den Schutz der Gesellschaft vor der
Aggressivität der Finanzmärkte, vor
der Erosion des Sozialsystems, vor
der Vergiftung der Umwelt. Stattdessen schikaniert sie die Individuen
und hetzt sie gegeneinander auf.
Kranksein ist heute nicht mehr ein
Unglück, das Solidarität verdient. Es
ist vielmehr ein Vergehen an der Allgemeinheit. Die Gesundheit ist nicht
mehr für die Menschen da, sondern
die Menschen schulden sie dem
Staat. Das ist sehr ungesund, sowohl
für die Einzelnen als auch für das gesellschaftliche Klima. Denken Sie an
die Universitäten: Ein erschreckend
hoher Prozentsatz der Studierenden
nimmt Drogen wie Ritalin, weil sie
anders nicht mit dem Prüfungsstress
umgehen können. Ernst zu nehmende Gesundheitsminister würden
aber in der Bolognareform ein Problem erkennen und nicht in dem Umstand, dass man in einzelnen Bars in
Europa noch rauchen oder auch vor
18 Uhr schon Alkohol trinken darf.
Ein Staat, der unsere Würde achtet, würde uns nicht unentwegt vor
irgendetwas warnen und uns ständig etwas verbieten, sondern uns
ab und zu signalisieren: „Ihr seid er-
wachsen; ihr könnt das ertragen; ihr
sterbt nicht sofort – und ausserdem
sterbt ihr irgendwann sowieso. Also
kümmert euch lieber darum, dass
ihr vorher etwas habt, das man ein
Leben nennen kann.“ Wir brauchen
keine neuen Drogen, sondern nur etwas mehr von der Fähigkeit zurück,
mit den – übrigens oft recht kleinen –
Dingen des Lebens froh zu sein.
Geben Sie uns spontan eine Liste
dieser aussterbenden kleinen guten Lebensmomente an die Hand?
Von seiner Arbeit leben können; einer friedlichen Zukunft sorglos entgegenblicken; in Ruhe ein Buch
lesen; einer Dame in den Mantel
helfen; einen Brief schreiben; flirten;
Zeit haben; sarkastisch spotten; mit
Studierenden an der Universität konzentriert ein theoretisches Problem
erörtern – ohne Rücksicht auf Zeugnisse oder Punkte; bei einer Firma
anrufen und – ohne endlos in der
Warteschleife verharren zu müssen
– mit einer Person sprechen können,
die das Problem mit einem Gerät
dieser Firma beheben kann; in der
Arbeit nur eine Sache zu einer Zeit
machen und nicht ständig zugleich
in mehrere Bildschirme und Fenster
schauen müssen; und ganz allgemein: sich eine kleine Freude gönnen.
Literaturangabe
Huber, A. (2015). Interview mit Robert Pfaller. Psychologie Heute, 7,
26-27.
INHABERIN GLÜCKSSCHMIEDE GMBH
Als Arbeits- und Organisationspsychologin sowie als Klinische
Psychologin M. Sc. verfüge ich
über wissenschaftlich fundiertes Know-how im Bereich der
Psychologie. Sowohl als Leiterin
Produkte/Entwicklung wie auch
als Mitglied der Geschäftsleitung beim Coachingzentrum Olten setze ich mich ständig
mit dem Themenschwerpunkt Resilienz auseinander – Forschungen zu diesem Thema
interessieren mich sehr: Welche Ressourcen
Menschen in schwierigen Situationen aktivieren können, überrascht und berührt mich
immer wieder. Daher sehe ich meine Aufgabe darin, Menschen in herausfordernden
Lebenssituationen als Coach (dipl. Coach
SCA / CAS Coaching) und Psychotherapeutin
(Fachpsychologin für Psychotherapie FSP)
zu begleiten.
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