Warum Bildung bei der Überwindung der Machtverhältnisse nicht

WARUM BILDUNG BEI DER ÜBERWINDUNG
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Warum Bildung bei der Überwindung der
Machtverhältnisse nicht hilft, zu deren
Erhalt aber ganz wesentlich beiträgt
Erich Ribolits
»Das Fehlen eines vorbestimmten Auswegs ist
gewiss kein Argument gegen einen Gedankengang.«
(Horkheimer 1985: 117)
Die Bildungsidee – geboren aus dem Wunsch nach
einer vernünftig geordneten Gesellschaft
Der sich im deutschen Sprachraum um 1800 zunehmend herausbildende
Bildungsbegriff stellt ein Konglomerat aus Konzepten, die in der Vorstellungswelt der Aufklärung entwickelt worden waren, sowie aus bürgerlichen
Hoffnungen dar, die mit der Vision einer »vernünftig« gestalteten gesellschaftlichen Ordnung verbunden waren. Zum einen hatte – wie die umfangreiche
Zahl diesbezüglich damals erschienener Schriften zeigt – im Vorfeld der Entwicklung des Bildungskonzepts die Frage zunehmend Bedeutung gewonnen, wie mit der jeweils heranwachsenden Generation umzugehen sei, damit
diese in systematischer Form in das gesellschaftliche Leben integriert werden
kann. Zum anderen war es das Bestreben des schon lange um eine Aufwertung seiner gesellschaftlichen Stellung bemühten Bürgertums, die für ihren
wirtschaftlichen Erfolg den Ausschlag gebenden und von ihnen zu einem zentralen Beitrag für das gesellschaftliche Gesamtwohl hochstilisierten Kenntnisse und Tugenden bürgerlichen Gewerbefleißes als Kriterium gesellschaftlicher Positionierung zu etablieren (vgl.: Lohmann 2002: 1 f.). Der bürgerliche
Wunsch, die Feudalordnung zu überwinden und dem Adel seine Vormachtstellung abzunehmen, wurde mit einer neuen Vorstellung zur Begründung
der gesellschaftlichen Machtverteilung legitimiert. Statt dem Ableiten der gesellschaftlichen Hierarchie aus religiös begründeten Vorgaben lautete die bürgerliche Vision, dass »vernünftige« – sprich: aus empirisch feststellbaren Fakten abgeleitete – Kriterien die Grundlage derselben abgeben sollen. Konkret
war damit eine Ablösung des Geburtsprinzips durch das Leistungsprinzip gemeint – Ziel war, dass nachvollziehbare und im Sinne des Gemeinwohls interpretierte Leistungen der Gesellschaftsmitglieder ihre Position und Einflussmöglichkeiten in der Gesellschaft bestimmen sollen.
170
ERICH RIBOLITS
Der in ersten Ansätzen von Herder, später von Schlegel, Kant, Schiller,
schließlich von Humboldt, Schleiermacher und anderen geprägte und zunehmend ausdifferenzierte Bildungsbegriff verband die unterschiedlichen Interessen, die seinen Durchbruch begründet hatten, zu einem konsistenten Menschenbild sowie einer Theorie, wie Menschen qua Beschulung dazu gebracht
werden können, eine mit diesem Menschenbild in Einklang stehende Selbstinterpretation zu entwickeln und sich (dadurch) selbst entsprechend zu formen.
Einen wichtigen Einfluss hatten die historisch-politischen Begleitumstände,
unter denen die Bildungstheorie das Licht der Welt erblickte. Es war keineswegs
Zufall, dass der Bildungsbegriff gerade in den deutschsprachigen Ländern Mitteleuropas entwickelt wurde. Das Entstehen des »deutschen Sonderbegriffs Bildung« (Tenorth) war in nicht unbedeutendem Maß Konsequenz der in diesen
Ländern misslungenen Versuche, auf revolutionärem Weg einen Bruch der politischen Verhältnisse zu erzwingen. Im Bildungsbegriff verbinden sich somit
zwei unterschiedliche Zielsetzungen: Zum einen stellt er die pädagogische Inkarnation des Gedankenguts der Aufklärung samt der daraus abgeleiteten Idee
dar, dass der Einfluss von Menschen mit ihrem gesellschaftlichen Nutzen korrelieren soll. Zum anderen spiegelt sich im Bildungsbegriff aber auch der Versuch des Bürgertums wider, seiner Kapitulation im revolutionären Kampf um
politische Emanzipation eine positive Konnotation zu verleihen. Das Idealisieren des Menschen, der – indem er »sich seines Verstandes ohne Leitung eines
anderen bedient« – intellektuelle Autonomie gewinnt und sich damit über den
Status eines blinden Ausgeliefertseins an die jeweiligen Machtverhältnissen erhebt, ist Ausdruck der Hoffnung, auch ohne Revolution eine Umgestaltung der
Gesellschaft im Sinne bürgerlicher Vorstellungen erreichen zu können.
Als Konsequenz daraus, dass das »deutsche Bürgertum« seine Hoffnung auf
eine revolutionäre Umgestaltung der Verhältnisse hatte aufgeben müssen, war
die inhaltliche Ausgestaltung des Bildungsbegriffs von Anfang an durch eine
deutliche Distanz gegenüber gesellschaftspolitischen Visionen gekennzeichnet. Der Bildungsbegriff schloss zwar an Mündigkeitsidealen der Aufklärung
an, koppelte diese aber weitgehend von gesellschaftlich-praktischer Relevanz
ab, indem er sie um ihre politischen Konsequenzen verkürzte – die ursprünglichen Losungen im Kampf für eine veränderte gesellschaftliche Ordnung wurden auf eine Pathosformel reduziert. Zwar lassen sich aus dem Bildungsbegriff
durchaus Momente der Kritik am Feudalsystem herauslesen, er war aber von
vornherein klar gegen ein aktiv-revolutionäres Eingreifen hinsichtlich einer
Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse positioniert. Das ihm innewohnende Ziel war stets eine gesellschaftliche Reform insofern, dass die Menschen reif gemacht werden sollten, Verbesserungen in Bezug auf eine veränderte, nach »vernünftigen« Kriterien gestaltete Gesellschaft voranzutreiben.
WARUM BILDUNG BEI DER ÜBERWINDUNG DER MACHTVERHÄLTNISSE …
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Der Bildungsbegriff bot für das Bürgertum die Möglichkeit, seine urgierte,
in den realen Herrschaftsverhältnissen aber weiterhin nur unzureichend zur
Geltung kommende »Besonderheit« zu reklamieren und zugleich sein Hoffen
auf die »Revolution von oben« (Negt 2012: 93) zu legitimieren.
Letztendlich kam es tatsächlich auch in den Ländern des deutschsprachigen
Mitteleuropas zur Installierung politischer Verhältnisse, die den von bürgerlicher Seite formulierten Ansprüchen einer durch vernünftige Prämissen grundgelegten Gesellschaft entsprachen. Allerdings lässt sich wohl kaum behaupten,
dass die Grundlagen diese Entwicklung in einer fortschreitenden Bildung der
Bevölkerung bestanden. Der nach und nach vor sich gehende politische Wandel in Richtung bürgerlich-demokratischer Gesellschaft wurde – wohl primär
aus strategischen Überlegungen – »von oben herab«, durch die Herrschenden
in die Wege geleitet. Die im Bildungsbegriff zum Ausdruck kommende, in
Deutschland herrschende reformistische Form der Auseinandersetzung mit
dem Gedankengut der Aufklärung hat Hegel, in Abgrenzung zum weitgehend
anderen Umgehen mit demselben im revolutionären Frankreich, selbstkritisch
folgendermaßen charakterisiert: »Die Franzosen […] haben den Sinn der Wirklichkeit, des Handelns, Fertigwerdens, – die Vorstellung geht unmittelbar in
Handlung über. […] Wir haben allerhand Rumor im Kopfe und auf dem Kopfe;
dabei lässt der deutsche Kopf eher seine Schlafmütze ganz ruhig sitzen, und
operiert innerhalb seiner.« (Hegel 1979: 331) Noch deutlicher, aber unmissverständlich befürwortend, charakterisiert Thomas Mann die Tatsache, dass (eingreifende) Politik dem – wie er es ausdrückt – »deutschen Geist« fremd wäre.
Für ihn ist klar, dass Politik die Gefahr von »Verdummung und Verpöbelung«
in sich birgt; dementsprechend verkündet er nicht ohne Stolz: »[D]ie deutsche
Humanität widerstrebt der Politisierung von Grund aus, es fehlt tatsächlich
dem deutschen Bildungsbegriff das politische Element.« (Mann 1960: 111)
In diesem Sinn lässt sich eine politische Aussage dahingehend, dass ein aktiv-widerständiges Eingreifen in die gesellschaftlichen Zustände in irgendeiner
Form befürwortet wird, im Bildungsbegriff nicht finden. Es wäre jedoch grundfalsch, daraus abzuleiten, dass die Idee der Bildung somit hinsichtlich der weiteren Entwicklung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse unbedeutend gewesen wäre beziehungsweise sie nicht auch heute noch eine ganz wesentliche
Basis derselben darstellen würde. Tatsächlich wohnt dem Bildungsbegriff – obwohl er vordergründig weitgehend politisch abstinent daherkommt – eine gesellschaftspolitisch höchst relevante Botschaft inne. Sein politischer Charakter
und seine entsprechende Bedeutung für die Legitimierung der sich in der Folge
etablierenden bürgerlich-demokratischen Ordnung steckt darin, dass er auf Vernunft fokussiert, dabei aber eine spezifische Sichtweise von Vernunft zum Tragen kam und in weiterer Folge ihre Wirkung als Legitimation der gesellschaftli-
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ERICH RIBOLITS
Der in ersten Ansätzen von Herder, später von Schlegel, Kant, Schiller,
schließlich von Humboldt, Schleiermacher und anderen geprägte und zunehmend ausdifferenzierte Bildungsbegriff verband die unterschiedlichen Interessen, die seinen Durchbruch begründet hatten, zu einem konsistenten Menschenbild sowie einer Theorie, wie Menschen qua Beschulung dazu gebracht
werden können, eine mit diesem Menschenbild in Einklang stehende Selbstinterpretation zu entwickeln und sich (dadurch) selbst entsprechend zu formen.
Einen wichtigen Einfluss hatten die historisch-politischen Begleitumstände,
unter denen die Bildungstheorie das Licht der Welt erblickte. Es war keineswegs
Zufall, dass der Bildungsbegriff gerade in den deutschsprachigen Ländern Mitteleuropas entwickelt wurde. Das Entstehen des »deutschen Sonderbegriffs Bildung« (Tenorth) war in nicht unbedeutendem Maß Konsequenz der in diesen
Ländern misslungenen Versuche, auf revolutionärem Weg einen Bruch der politischen Verhältnisse zu erzwingen. Im Bildungsbegriff verbinden sich somit
zwei unterschiedliche Zielsetzungen: Zum einen stellt er die pädagogische Inkarnation des Gedankenguts der Aufklärung samt der daraus abgeleiteten Idee
dar, dass der Einfluss von Menschen mit ihrem gesellschaftlichen Nutzen korrelieren soll. Zum anderen spiegelt sich im Bildungsbegriff aber auch der Versuch des Bürgertums wider, seiner Kapitulation im revolutionären Kampf um
politische Emanzipation eine positive Konnotation zu verleihen. Das Idealisieren des Menschen, der – indem er »sich seines Verstandes ohne Leitung eines
anderen bedient« – intellektuelle Autonomie gewinnt und sich damit über den
Status eines blinden Ausgeliefertseins an die jeweiligen Machtverhältnissen erhebt, ist Ausdruck der Hoffnung, auch ohne Revolution eine Umgestaltung der
Gesellschaft im Sinne bürgerlicher Vorstellungen erreichen zu können.
Als Konsequenz daraus, dass das »deutsche Bürgertum« seine Hoffnung auf
eine revolutionäre Umgestaltung der Verhältnisse hatte aufgeben müssen, war
die inhaltliche Ausgestaltung des Bildungsbegriffs von Anfang an durch eine
deutliche Distanz gegenüber gesellschaftspolitischen Visionen gekennzeichnet. Der Bildungsbegriff schloss zwar an Mündigkeitsidealen der Aufklärung
an, koppelte diese aber weitgehend von gesellschaftlich-praktischer Relevanz
ab, indem er sie um ihre politischen Konsequenzen verkürzte – die ursprünglichen Losungen im Kampf für eine veränderte gesellschaftliche Ordnung wurden auf eine Pathosformel reduziert. Zwar lassen sich aus dem Bildungsbegriff
durchaus Momente der Kritik am Feudalsystem herauslesen, er war aber von
vornherein klar gegen ein aktiv-revolutionäres Eingreifen hinsichtlich einer
Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse positioniert. Das ihm innewohnende Ziel war stets eine gesellschaftliche Reform insofern, dass die Menschen reif gemacht werden sollten, Verbesserungen in Bezug auf eine veränderte, nach »vernünftigen« Kriterien gestaltete Gesellschaft voranzutreiben.
WARUM BILDUNG BEI DER ÜBERWINDUNG DER MACHTVERHÄLTNISSE …
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Der Bildungsbegriff bot für das Bürgertum die Möglichkeit, seine urgierte,
in den realen Herrschaftsverhältnissen aber weiterhin nur unzureichend zur
Geltung kommende »Besonderheit« zu reklamieren und zugleich sein Hoffen
auf die »Revolution von oben« (Negt 2012: 93) zu legitimieren.
Letztendlich kam es tatsächlich auch in den Ländern des deutschsprachigen
Mitteleuropas zur Installierung politischer Verhältnisse, die den von bürgerlicher Seite formulierten Ansprüchen einer durch vernünftige Prämissen grundgelegten Gesellschaft entsprachen. Allerdings lässt sich wohl kaum behaupten,
dass die Grundlagen diese Entwicklung in einer fortschreitenden Bildung der
Bevölkerung bestanden. Der nach und nach vor sich gehende politische Wandel in Richtung bürgerlich-demokratischer Gesellschaft wurde – wohl primär
aus strategischen Überlegungen – »von oben herab«, durch die Herrschenden
in die Wege geleitet. Die im Bildungsbegriff zum Ausdruck kommende, in
Deutschland herrschende reformistische Form der Auseinandersetzung mit
dem Gedankengut der Aufklärung hat Hegel, in Abgrenzung zum weitgehend
anderen Umgehen mit demselben im revolutionären Frankreich, selbstkritisch
folgendermaßen charakterisiert: »Die Franzosen […] haben den Sinn der Wirklichkeit, des Handelns, Fertigwerdens, – die Vorstellung geht unmittelbar in
Handlung über. […] Wir haben allerhand Rumor im Kopfe und auf dem Kopfe;
dabei lässt der deutsche Kopf eher seine Schlafmütze ganz ruhig sitzen, und
operiert innerhalb seiner.« (Hegel 1979: 331) Noch deutlicher, aber unmissverständlich befürwortend, charakterisiert Thomas Mann die Tatsache, dass (eingreifende) Politik dem – wie er es ausdrückt – »deutschen Geist« fremd wäre.
Für ihn ist klar, dass Politik die Gefahr von »Verdummung und Verpöbelung«
in sich birgt; dementsprechend verkündet er nicht ohne Stolz: »[D]ie deutsche
Humanität widerstrebt der Politisierung von Grund aus, es fehlt tatsächlich
dem deutschen Bildungsbegriff das politische Element.« (Mann 1960: 111)
In diesem Sinn lässt sich eine politische Aussage dahingehend, dass ein aktiv-widerständiges Eingreifen in die gesellschaftlichen Zustände in irgendeiner
Form befürwortet wird, im Bildungsbegriff nicht finden. Es wäre jedoch grundfalsch, daraus abzuleiten, dass die Idee der Bildung somit hinsichtlich der weiteren Entwicklung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse unbedeutend gewesen wäre beziehungsweise sie nicht auch heute noch eine ganz wesentliche
Basis derselben darstellen würde. Tatsächlich wohnt dem Bildungsbegriff – obwohl er vordergründig weitgehend politisch abstinent daherkommt – eine gesellschaftspolitisch höchst relevante Botschaft inne. Sein politischer Charakter
und seine entsprechende Bedeutung für die Legitimierung der sich in der Folge
etablierenden bürgerlich-demokratischen Ordnung steckt darin, dass er auf Vernunft fokussiert, dabei aber eine spezifische Sichtweise von Vernunft zum Tragen kam und in weiterer Folge ihre Wirkung als Legitimation der gesellschaftli-
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ERICH RIBOLITS
chen Zustände entfalten konnte. Wie schon angesprochen, war der Wunsch des
Bürgertums, die in der feudalen Gesellschaft gegebene Begrenzung ihrer Macht
zu überwinden und den Adel in seiner Vormachtstellung abzulösen, durch die
Idee legitimiert, dass anstatt religiös begründeter Vorgaben die konkreten, als
nützlich idealisierten Leistungen von Menschen über ihre gesellschaftlichen
Einflussmöglichkeiten bestimmen sollen. Während also vordem die soziale
Hierarchie durch ein auf Glaubensüberzeugungen beruhendes Prinzip legitimiert worden war, bezog sich das Bürgertum mit der Bildungsidee auf die in
der Aufklärung zunehmend bedeutsam gewordene Vorstellung, dass Vernunft
das Prinzip gesellschaftlicher Regulierung sein soll. Allerdings wurde Vernunft
im Zuge der Fokussierung durch die Bildungstheorie und des Übergangs zur
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung in eine Form gebracht, mit
der die ursprüngliche Bedeutung dieses Begriffs eine seine Ausrichtung grundlegend verändernde Einengung erfuhr – eine Bedeutungsveränderung, die bis
heute im immer wieder aufs Neue thematisierten (vorgeblichen) Gegensatz von
Bildung und Ausbildung fortlebt (siehe dazu: Ribolits 2011: 49 ff.).
Die Reduktion der Vernunft auf ein Verfahren
Der Antagonismus von Glaube und Vernunft und die damit verbundenen
Kontroversen haben eine lange Geschichte. Die Opposition zu dem am Glauben orientierten Leben stellte aber ursprünglich ein anderes und vor allem viel
weitreichenderes Konzept von Vernunft dar, als jenes, das im bürgerlich-kapitalistischen System letztendlich die Oberhand gewann. Schon im Vorfeld
der Moderne hatte sich über mehrere Jahrhunderte ein Wandel im abendländischen Denken angebahnt, in dessen Verlauf sich die Vorstellung, was Vernunft sei, von einem der Wirklichkeit innewohnenden Prinzip zunehmend zu
einem subjektiven Vermögen des Geistes wandelte. Diese schlussendlich zum
Durchbruch gelangte Vernunftwahrnehmung haben Vertreter der Frankfurter Schule in Abgrenzung zur vordem dominierenden »objektiven Vernunft«
als »subjektive« oder »instrumentelle Vernunft« bezeichnet. Sie charakterisierten damit die zwischenzeitlich als nahezu unhinterfragbare Wahrheit erscheinende Interpretation von Vernunft als eine bloße Funktion des Denkmechanismus, »als die Fähigkeit, Wahrscheinlichkeiten zu berechnen und dadurch
einem gegebenen Zweck die richtigen Mittel zuzuordnen« (Horkheimer 2007:
18). Im Sinne einer derartigen Interpretation geht es nicht um das Hinterfragen
menschlichen Handelns hinsichtlich seiner Übereinstimmung mit vernünftig wahrgenommenen Prinzipien, sondern bloß um eine vom Standpunkt des
Subjekts vorgenommene Überprüfung der Angemessenheit der Zweck-Mit-
WARUM BILDUNG BEI DER ÜBERWINDUNG DER MACHTVERHÄLTNISSE …
173
tel-Relationen des Handelns. Wenn Ziele überhaupt thematisiert werden, bestehen diese im Rahmen instrumenteller Vernunft darin, »dass sie den Interessen des Subjekts, seiner wirtschaftlichen und vitalen Selbsterhaltung
dienlich seien, wenn nicht des isolierten Individuums, so doch der Gruppe,
mit der es sich identifiziert« (Horkheimer 1951: 6). Vernunft wird als Werkzeug begriffen, mit dem die Welt als Gegenstand technischer Manipulation in
den Fokus genommen wird und aufgrund von dessen Funktionsweise die Natur – einschließlich der des Menschen selbst – subjektiven Zwecken und Interessen unterworfen erscheint. Diese Sichtweise von Vernunft steht in schroffem Gegensatz zur vorherigen, in der das »Dasein der Vernunft als eine Kraft
nicht nur im individuellen Bewusstsein, sondern auch in der objektiven Welt
– in den Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen sozialen Klassen,
in gesellschaftlichen Institutionen, in der Natur und ihren Manifestationen«
(Horkheimer 2007: 17) wahrgenommen worden war.
Der auf Vernunft setzende Gegenspieler der Religion, die Philosophie, »[begriff] sich selbst als Abbild des vernünftigen Wesens der Welt, gleichsam als
Sprache oder Echo des ewigen Wesens der Dinge. Das Vernehmen der Wahrheit durch den Menschen war eins mit der Manifestation der Wahrheit selbst,
und die Fähigkeit zu solchem Vernehmen schloss alle Operationen des Denkens ein.« (Horkheimer 1951: 5) Die Annahme einer objektiv waltenden Vernunft war die Grundlage für das Bemühen der Philosophen, eine allumfassende, fundamentale Struktur des Seins beziehungsweise eine Hierarchie alles
Seienden zu suchen und daraus einen Entwurf der menschlichen Bestimmung
abzuleiten. Indem der Mensch als ein integrales Element der Natur begriffen
wurde, galt die Lebensführung eines Menschen als gut, wenn sie vom Bemühen um Harmonie mit der allem Sein eingeschriebenen Vernunft getragen
war. Da dem Sein ein objektiver Sinn zugeschrieben wurde, es somit als Repräsentation der Vernunft als solche wahrgenommen wurde, postulierte man,
dass sich »gutes Leben« darin beweise, dass es mit dieser immanenten Vernunft im Einklang steht. Man ging davon aus, dass es dem Menschen möglich
sei, die »Vernunft des Seins« über seine Sinne zu »vernehmen«, und folgerte:
»Die Regeln der Tugend folgen aus der Erkenntnis dessen, was ist.« (Ebd.: 7)
Vernunft im Sinne einer abstrakten Funktion des Denkmechanismus wurde
dabei keineswegs abgelehnt; man »betrachtete sie als partiellen Ausdruck einer
umfassenden Vernünftigkeit, von der Kriterien für alle Dinge und Lebewesen
abgeleitet wurden. Der Nachdruck lag mehr auf den Zwecken als auf den Mitteln. Das höchste Bestreben dieser Art von Denken war es, die objektive Ordnung des ›Vernünftigen‹, wie die Philosophie sie begriff, mit dem menschlichen Dasein einschließlich des Selbstinteresses und der Selbsterhaltung zu
versöhnen.« (Horkheimer 2007: 17 f.)
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chen Zustände entfalten konnte. Wie schon angesprochen, war der Wunsch des
Bürgertums, die in der feudalen Gesellschaft gegebene Begrenzung ihrer Macht
zu überwinden und den Adel in seiner Vormachtstellung abzulösen, durch die
Idee legitimiert, dass anstatt religiös begründeter Vorgaben die konkreten, als
nützlich idealisierten Leistungen von Menschen über ihre gesellschaftlichen
Einflussmöglichkeiten bestimmen sollen. Während also vordem die soziale
Hierarchie durch ein auf Glaubensüberzeugungen beruhendes Prinzip legitimiert worden war, bezog sich das Bürgertum mit der Bildungsidee auf die in
der Aufklärung zunehmend bedeutsam gewordene Vorstellung, dass Vernunft
das Prinzip gesellschaftlicher Regulierung sein soll. Allerdings wurde Vernunft
im Zuge der Fokussierung durch die Bildungstheorie und des Übergangs zur
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung in eine Form gebracht, mit
der die ursprüngliche Bedeutung dieses Begriffs eine seine Ausrichtung grundlegend verändernde Einengung erfuhr – eine Bedeutungsveränderung, die bis
heute im immer wieder aufs Neue thematisierten (vorgeblichen) Gegensatz von
Bildung und Ausbildung fortlebt (siehe dazu: Ribolits 2011: 49 ff.).
Die Reduktion der Vernunft auf ein Verfahren
Der Antagonismus von Glaube und Vernunft und die damit verbundenen
Kontroversen haben eine lange Geschichte. Die Opposition zu dem am Glauben orientierten Leben stellte aber ursprünglich ein anderes und vor allem viel
weitreichenderes Konzept von Vernunft dar, als jenes, das im bürgerlich-kapitalistischen System letztendlich die Oberhand gewann. Schon im Vorfeld
der Moderne hatte sich über mehrere Jahrhunderte ein Wandel im abendländischen Denken angebahnt, in dessen Verlauf sich die Vorstellung, was Vernunft sei, von einem der Wirklichkeit innewohnenden Prinzip zunehmend zu
einem subjektiven Vermögen des Geistes wandelte. Diese schlussendlich zum
Durchbruch gelangte Vernunftwahrnehmung haben Vertreter der Frankfurter Schule in Abgrenzung zur vordem dominierenden »objektiven Vernunft«
als »subjektive« oder »instrumentelle Vernunft« bezeichnet. Sie charakterisierten damit die zwischenzeitlich als nahezu unhinterfragbare Wahrheit erscheinende Interpretation von Vernunft als eine bloße Funktion des Denkmechanismus, »als die Fähigkeit, Wahrscheinlichkeiten zu berechnen und dadurch
einem gegebenen Zweck die richtigen Mittel zuzuordnen« (Horkheimer 2007:
18). Im Sinne einer derartigen Interpretation geht es nicht um das Hinterfragen
menschlichen Handelns hinsichtlich seiner Übereinstimmung mit vernünftig wahrgenommenen Prinzipien, sondern bloß um eine vom Standpunkt des
Subjekts vorgenommene Überprüfung der Angemessenheit der Zweck-Mit-
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tel-Relationen des Handelns. Wenn Ziele überhaupt thematisiert werden, bestehen diese im Rahmen instrumenteller Vernunft darin, »dass sie den Interessen des Subjekts, seiner wirtschaftlichen und vitalen Selbsterhaltung
dienlich seien, wenn nicht des isolierten Individuums, so doch der Gruppe,
mit der es sich identifiziert« (Horkheimer 1951: 6). Vernunft wird als Werkzeug begriffen, mit dem die Welt als Gegenstand technischer Manipulation in
den Fokus genommen wird und aufgrund von dessen Funktionsweise die Natur – einschließlich der des Menschen selbst – subjektiven Zwecken und Interessen unterworfen erscheint. Diese Sichtweise von Vernunft steht in schroffem Gegensatz zur vorherigen, in der das »Dasein der Vernunft als eine Kraft
nicht nur im individuellen Bewusstsein, sondern auch in der objektiven Welt
– in den Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen sozialen Klassen,
in gesellschaftlichen Institutionen, in der Natur und ihren Manifestationen«
(Horkheimer 2007: 17) wahrgenommen worden war.
Der auf Vernunft setzende Gegenspieler der Religion, die Philosophie, »[begriff] sich selbst als Abbild des vernünftigen Wesens der Welt, gleichsam als
Sprache oder Echo des ewigen Wesens der Dinge. Das Vernehmen der Wahrheit durch den Menschen war eins mit der Manifestation der Wahrheit selbst,
und die Fähigkeit zu solchem Vernehmen schloss alle Operationen des Denkens ein.« (Horkheimer 1951: 5) Die Annahme einer objektiv waltenden Vernunft war die Grundlage für das Bemühen der Philosophen, eine allumfassende, fundamentale Struktur des Seins beziehungsweise eine Hierarchie alles
Seienden zu suchen und daraus einen Entwurf der menschlichen Bestimmung
abzuleiten. Indem der Mensch als ein integrales Element der Natur begriffen
wurde, galt die Lebensführung eines Menschen als gut, wenn sie vom Bemühen um Harmonie mit der allem Sein eingeschriebenen Vernunft getragen
war. Da dem Sein ein objektiver Sinn zugeschrieben wurde, es somit als Repräsentation der Vernunft als solche wahrgenommen wurde, postulierte man,
dass sich »gutes Leben« darin beweise, dass es mit dieser immanenten Vernunft im Einklang steht. Man ging davon aus, dass es dem Menschen möglich
sei, die »Vernunft des Seins« über seine Sinne zu »vernehmen«, und folgerte:
»Die Regeln der Tugend folgen aus der Erkenntnis dessen, was ist.« (Ebd.: 7)
Vernunft im Sinne einer abstrakten Funktion des Denkmechanismus wurde
dabei keineswegs abgelehnt; man »betrachtete sie als partiellen Ausdruck einer
umfassenden Vernünftigkeit, von der Kriterien für alle Dinge und Lebewesen
abgeleitet wurden. Der Nachdruck lag mehr auf den Zwecken als auf den Mitteln. Das höchste Bestreben dieser Art von Denken war es, die objektive Ordnung des ›Vernünftigen‹, wie die Philosophie sie begriff, mit dem menschlichen Dasein einschließlich des Selbstinteresses und der Selbsterhaltung zu
versöhnen.« (Horkheimer 2007: 17 f.)
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ERICH RIBOLITS
Mit dem Ansatz, die in allem Sein zur Geltung kommende Vernunft zu »vernehmen« und daraus die Konzeption des guten Lebens abzuleiten, stand die
Philosophie logischerweise in klarer Opposition zur Religion. Diese geht ja
davon aus, dass es dem Menschen nicht möglich sei, das von ihr als Plan Gottes begriffene Sein zu durchschauen, und dass somit einzig Gott dem Menschen den rechten Weg offenbaren kann. Aber auch wenn die Philosophie
nicht auf göttliche Offenbarung, sondern auf das Begreifen der allem Sein zugeschriebenen Vernunft setzte, ging es ihr in letzter Konsequenz genauso wie
der Religion darum, die höchste Wahrheit zu bestimmen und darzustellen.
Der Anspruch der Philosophen der Aufklärung, den Glauben durch Vernunft
zu ersetzen, zielte demgemäß keineswegs darauf ab, die objektive Wahrheit
außer Kraft zu setzen, es ging ihnen darum, diese auf eine rationale Grundlage
zu stellen. Tatsächlich kam es als schlussendliche »Lösung« des Konflikts aber
zum Außerkraftsetzen sowohl des religiösen als auch des philosophischen
Wahrheitsanspruchs, was ein nachhaltiges Aushöhlen beider Weltbilder nach
sich zog. »[D]ie aktive Kontroverse von Religion und Philosophie [endete]
in einer Sackgasse, weil beide als getrennte Kulturbereiche betrachtet wurden. Die Menschen haben sich allmählich mit dem Gedanken versöhnt, dass
beide ihr eigenes Leben führen innerhalb der Wände ihrer kulturellen Zelle
und einander tolerieren. Die Neutralisierung der Religion, die jetzt auf den
Status eines Kulturguts unter anderen reduziert ist, widersprach ihrem ›totalen‹ Anspruch, dass sie die objektive Wahrheit verkörpere, und schwächte
ihn zugleich ab. Obgleich die Religion, oberflächlich betrachtet, weiterhin geachtet wurde, ebnete ihre Neutralisierung den Weg, sie als Medium geistiger
Objektivität auszuschalten und letztlich den Begriff einer solchen Objektivität abzuschalten […]. Die Philosophen der Aufklärung griffen die Religion im
Namen der Vernunft an; letzten Endes war das, was sie zur Strecke brachten,
nicht die Kirche, sondern die Metaphysik und der objektive Begriff der Vernunft selbst, die Quelle der Macht ihrer eigenen Anstrengungen. […] Vernunft
hat sich selbst als ein Medium ethischer, moralischer und religiöser Einsicht liquidiert.« (Ebd.: 30 f.)
Instrumentelle Vernunft – der Fetisch, der die
aktuellen Machtverhältnisse begründet
Was wir heute als Religion bezeichnen, sind Überreste jenes abstrakten Prinzips, das die Machtverhältnisse in vormodernen Gesellschaften legitimierte
und gegen das die an objektiver Vernunft orientierte Philosophie der Aufklärung angetreten war. Im Gegensatz zu heute stellten Religion und Glaube in
WARUM BILDUNG BEI DER ÜBERWINDUNG DER MACHTVERHÄLTNISSE …
175
der Vormoderne allerdings Grundlage und Begrenzung aller Diskurse und Interaktionen und nicht bloß eine gesellschaftliche Sphäre dar, die neben anderen wie zum Beispiel der Ökonomie, dem Recht, der Familie oder der Politik
existiert. Der Glaube war das Gemeinsame und Verbindende aller gesellschaftlichen Sphären – jedes Verhalten musste sich vor dem Glauben rechtfertigen.
Menschen beurteilten ihr Handeln nicht in Bezug auf ein mehr oder weniger
effektives Einwirken auf Natur und Mitmenschen, vielmehr galt ihnen jedwedes Tun als Ausdruck religiöser Lebensführung. Religion war nicht ideologischer Überbau, sondern – als Ausdruck damals geltender Wahrheit – nicht
hinterfragbarer Ausgangspunkt und Begrenzung aller Argumentation. Sie war
Ausdruck des geltenden »Fetischsystems«, das den Zusammenhang in einer
Gesellschaft herstellt, indem es die gesellschaftlichen Machtverhältnisse legitimiert, also regelt, was Menschen einander antun dürfen. Alles Tun erlangte
erst aus seiner Relation zum Fetischsystem Religion die ihm zukommende gesellschaftliche Bedeutung. Daraus folgt, dass im Zuge des zunehmenden Bedeutungsverlustes der Religion, in Form ihrer Departementalisierung zu einer
Sphäre neben anderen, ein neues Fetischsystem zur Legitimation der veränderten Machtverhältnisse erforderlich wurde. Es bedurfte eines neuen metaphysischen Prinzips, das den Menschen als etwas Objektives, fraglose Plausibilität
Einforderndes erscheint und ihnen eine spezifische Natur- und Gesellschaftsbeziehung abverlangt. Dieses sich parallel zum Verdrängen der Religion aus
dem gesellschaftlichen Zentrum herausbildende und im bürgerlich-kapitalistischen System schließlich endgültig zum Durchbruch kommende neue Fetischsystem lässt sich im »Selbst(erhaltungs)interesse« dingfest machen. Die
jedem gesellschaftlichen System vorgelagerte Frage nach dem guten Leben
wurde abgelöst von der Frage nach dem adäquaten Überleben innerhalb des
gesellschaftlichen Systems. Die aus diesem Anspruch abgeleiteten Wahrheiten und Regeln sind es, vor denen sich jedes Tun und Lassen seit Beginn der
bürgerlichen Moderne in zunehmendem Maß rechtfertigen muss.
Das Werkzeug, mit dem das Selbstinteresse zur Geltung gebracht wird, ist
die um ihren objektiven Gehalt gebrachte, bloß noch funktional begriffene
Vernunft. »[D]ie etablierte bürgerliche Ordnung [hat] die Vernunft vollends
funktionalisiert. Sie ist zur zwecklosen Zweckmäßigkeit geworden, die eben
deshalb sich in alle Zwecke einspannen lässt. Sie ist der Plan an sich betrachtet.« (Adorno/Horkheimer 2000: 111) Die Vernunft, ursprünglich angetreten
als Mittel zum Hinterfragen des Fetischsystems Religion, wurde als Konsequenz ihrer Instrumentalisierung damit letztendlich selbst zum Fetisch – zu einer objektiven Macht, die vom Menschen unabhängig zu gelten scheint. »[D]as
Versprechen der Aufklärung, durch Ausübung der Vernunft die Freiheit zu gewinnen, [hat] sich in eine Herrschaft ebendieser Vernunft verkehrt […], die
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Mit dem Ansatz, die in allem Sein zur Geltung kommende Vernunft zu »vernehmen« und daraus die Konzeption des guten Lebens abzuleiten, stand die
Philosophie logischerweise in klarer Opposition zur Religion. Diese geht ja
davon aus, dass es dem Menschen nicht möglich sei, das von ihr als Plan Gottes begriffene Sein zu durchschauen, und dass somit einzig Gott dem Menschen den rechten Weg offenbaren kann. Aber auch wenn die Philosophie
nicht auf göttliche Offenbarung, sondern auf das Begreifen der allem Sein zugeschriebenen Vernunft setzte, ging es ihr in letzter Konsequenz genauso wie
der Religion darum, die höchste Wahrheit zu bestimmen und darzustellen.
Der Anspruch der Philosophen der Aufklärung, den Glauben durch Vernunft
zu ersetzen, zielte demgemäß keineswegs darauf ab, die objektive Wahrheit
außer Kraft zu setzen, es ging ihnen darum, diese auf eine rationale Grundlage
zu stellen. Tatsächlich kam es als schlussendliche »Lösung« des Konflikts aber
zum Außerkraftsetzen sowohl des religiösen als auch des philosophischen
Wahrheitsanspruchs, was ein nachhaltiges Aushöhlen beider Weltbilder nach
sich zog. »[D]ie aktive Kontroverse von Religion und Philosophie [endete]
in einer Sackgasse, weil beide als getrennte Kulturbereiche betrachtet wurden. Die Menschen haben sich allmählich mit dem Gedanken versöhnt, dass
beide ihr eigenes Leben führen innerhalb der Wände ihrer kulturellen Zelle
und einander tolerieren. Die Neutralisierung der Religion, die jetzt auf den
Status eines Kulturguts unter anderen reduziert ist, widersprach ihrem ›totalen‹ Anspruch, dass sie die objektive Wahrheit verkörpere, und schwächte
ihn zugleich ab. Obgleich die Religion, oberflächlich betrachtet, weiterhin geachtet wurde, ebnete ihre Neutralisierung den Weg, sie als Medium geistiger
Objektivität auszuschalten und letztlich den Begriff einer solchen Objektivität abzuschalten […]. Die Philosophen der Aufklärung griffen die Religion im
Namen der Vernunft an; letzten Endes war das, was sie zur Strecke brachten,
nicht die Kirche, sondern die Metaphysik und der objektive Begriff der Vernunft selbst, die Quelle der Macht ihrer eigenen Anstrengungen. […] Vernunft
hat sich selbst als ein Medium ethischer, moralischer und religiöser Einsicht liquidiert.« (Ebd.: 30 f.)
Instrumentelle Vernunft – der Fetisch, der die
aktuellen Machtverhältnisse begründet
Was wir heute als Religion bezeichnen, sind Überreste jenes abstrakten Prinzips, das die Machtverhältnisse in vormodernen Gesellschaften legitimierte
und gegen das die an objektiver Vernunft orientierte Philosophie der Aufklärung angetreten war. Im Gegensatz zu heute stellten Religion und Glaube in
WARUM BILDUNG BEI DER ÜBERWINDUNG DER MACHTVERHÄLTNISSE …
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der Vormoderne allerdings Grundlage und Begrenzung aller Diskurse und Interaktionen und nicht bloß eine gesellschaftliche Sphäre dar, die neben anderen wie zum Beispiel der Ökonomie, dem Recht, der Familie oder der Politik
existiert. Der Glaube war das Gemeinsame und Verbindende aller gesellschaftlichen Sphären – jedes Verhalten musste sich vor dem Glauben rechtfertigen.
Menschen beurteilten ihr Handeln nicht in Bezug auf ein mehr oder weniger
effektives Einwirken auf Natur und Mitmenschen, vielmehr galt ihnen jedwedes Tun als Ausdruck religiöser Lebensführung. Religion war nicht ideologischer Überbau, sondern – als Ausdruck damals geltender Wahrheit – nicht
hinterfragbarer Ausgangspunkt und Begrenzung aller Argumentation. Sie war
Ausdruck des geltenden »Fetischsystems«, das den Zusammenhang in einer
Gesellschaft herstellt, indem es die gesellschaftlichen Machtverhältnisse legitimiert, also regelt, was Menschen einander antun dürfen. Alles Tun erlangte
erst aus seiner Relation zum Fetischsystem Religion die ihm zukommende gesellschaftliche Bedeutung. Daraus folgt, dass im Zuge des zunehmenden Bedeutungsverlustes der Religion, in Form ihrer Departementalisierung zu einer
Sphäre neben anderen, ein neues Fetischsystem zur Legitimation der veränderten Machtverhältnisse erforderlich wurde. Es bedurfte eines neuen metaphysischen Prinzips, das den Menschen als etwas Objektives, fraglose Plausibilität
Einforderndes erscheint und ihnen eine spezifische Natur- und Gesellschaftsbeziehung abverlangt. Dieses sich parallel zum Verdrängen der Religion aus
dem gesellschaftlichen Zentrum herausbildende und im bürgerlich-kapitalistischen System schließlich endgültig zum Durchbruch kommende neue Fetischsystem lässt sich im »Selbst(erhaltungs)interesse« dingfest machen. Die
jedem gesellschaftlichen System vorgelagerte Frage nach dem guten Leben
wurde abgelöst von der Frage nach dem adäquaten Überleben innerhalb des
gesellschaftlichen Systems. Die aus diesem Anspruch abgeleiteten Wahrheiten und Regeln sind es, vor denen sich jedes Tun und Lassen seit Beginn der
bürgerlichen Moderne in zunehmendem Maß rechtfertigen muss.
Das Werkzeug, mit dem das Selbstinteresse zur Geltung gebracht wird, ist
die um ihren objektiven Gehalt gebrachte, bloß noch funktional begriffene
Vernunft. »[D]ie etablierte bürgerliche Ordnung [hat] die Vernunft vollends
funktionalisiert. Sie ist zur zwecklosen Zweckmäßigkeit geworden, die eben
deshalb sich in alle Zwecke einspannen lässt. Sie ist der Plan an sich betrachtet.« (Adorno/Horkheimer 2000: 111) Die Vernunft, ursprünglich angetreten
als Mittel zum Hinterfragen des Fetischsystems Religion, wurde als Konsequenz ihrer Instrumentalisierung damit letztendlich selbst zum Fetisch – zu einer objektiven Macht, die vom Menschen unabhängig zu gelten scheint. »[D]as
Versprechen der Aufklärung, durch Ausübung der Vernunft die Freiheit zu gewinnen, [hat] sich in eine Herrschaft ebendieser Vernunft verkehrt […], die
176
ERICH RIBOLITS
immer mehr den Platz der Freiheit usurpiert« (Foucault 1996: 81). Diese Fetischierung der Vernunft hat weitreichende Konsequenzen: »Gerechtigkeit,
Gleichheit, Glück, Toleranz, alle die Begriffe, die […] in den vorhergehenden
Jahrhunderten der Vernunft innewohnen oder von ihr sanktioniert sein sollten, haben ihre geistigen Wurzeln verloren. Sie sind noch Ziele und Zweck,
aber es gibt keine rationale Instanz, die befugt wäre, ihnen einen Wert zuzusprechen und sie mit einer objektiven Realität zusammenzubringen. […] Wer
kann sagen, dass irgendeines dieser Ideale enger auf Wahrheit bezogen ist als
sein Gegenteil? Nach der Philosophie des durchschnittlichen modernen Intellektuellen gibt es nur eine Autorität, nämlich die Wissenschaft, begriffen als
Klassifikation von Tatsachen und Berechnung von Wahrscheinlichkeiten. Die
Feststellung, dass Gerechtigkeit und Freiheit an sich besser sind als Ungerechtigkeit und Unterdrückung, ist wissenschaftlich nicht verifizierbar und nutzlos. […] Je mehr der Begriff der Vernunft an Kraft einbüßt, desto mehr gibt er
sich her zu ideologischer Manipulation und zur Propagierung selbst der dreistesten Lügen.« (Horkheimer 2007: 36 f.) Die Reduzierung der Vernunft auf
ein subjektives Vermögen raubt dem Menschen das Bewusstsein, Element eines Ganzen zu sein, und wirft ihn völlig auf sich selbst zurück, er wird zu einer isolierten, auf Eigennutz fokussierten Monade und das gesamte Universum zum entsprechenden Mittel. »Als Endresultat des Prozesses haben wir auf
der einen Seite das Selbst, das abstrakte Ich, jeder Substanz entleert bis auf seinen Versuch, alles im Himmel und auf Erden in ein Mittel seiner Erhaltung zu
verwandeln; und auf der anderen Seite haben wir eine leere, zu bloßem Material degradierte Natur, bloßer Stoff, der zu beherrschen ist, ohne jeden anderen Zweck als eben den seiner Beherrschung.« (Ebd.: 114) Indem Vernunft
von einer Theorie zu einem Instrument geworden ist, ist sie für eine Überprüfung der hinter den Prämissen des Lebens stehenden Zwecke ungeeignet, als
(vernünftiges) Orientierungskriterium des rechten Lebens bleibt dem Menschen bloß noch die Frage, welches Verhalten ihm zum Vorteil gereicht und
welches nicht.
Aus diesem Fokus lassen sich Natur und Mitmenschen aber nur als potenzielle Gefahrenquellen wahrnehmen, die es argwöhnisch zu beobachten und
in Schach zu halten gilt, da sie die jeweils eigenen Selbsterhaltungsmöglichkeiten beschneiden könnten. Die Folge ist ein Gesellschaftssystem, in dem jeder »dem gesamten Rest der Welt« als Gegner gegenübersteht – anderen Menschen, der Natur, letztendlich auch sich selbst in Form der je eigenen Natur.
Die instrumentelle Vernunft erzwingt den Fokus von Ausbeutung und Konkurrenz – im Umkehrschluss gilt die von diesen Prämissen gespeiste Haltung
als logischer Ausdruck von Vernunft. Da Vernunft bloß operative Bedeutung
hat, ist sie zum Machtinstrument im allgemeinen Konkurrenzkampf degene-
WARUM BILDUNG BEI DER ÜBERWINDUNG DER MACHTVERHÄLTNISSE …
177
riert und artikuliert sich als Strategie und Cleverness. Nicht zufällig wird heutzutage fallweise durchaus auch von Kriminellen, betrügerischen Geschäftsleuten oder populistischen Politikern, verschiedentlich auch von Diktatoren
behauptet, dass sie außerordentlich intelligent wären. Gemeint wird damit
das besondere Geschick – genau genommen: die besondere Skrupellosigkeit
–, die sie bei der Durchsetzung der jeweils eigenen Interessen zeigen. Was bewundernd als Ausdruck besonderer Vernunft interpretiert wird, ist letztendlich nichts anderes als Rücksichtslosigkeit und Kaltblütigkeit beim Durchsetzen der jeweiligen Eigeninteressen durch strategisch-geschicktes Vorgehen
gegenüber (Interessens-)Gegnern.
Die Vorstellung, Ziele aus anderen Gründen als solchen des eigenen Vorteils zu verfolgen, ist der instrumentellen Vernunft nicht zugänglich – dies gilt
auch dann, wenn sie sich über den Standpunkt der individuellen Nützlichkeit
erhebt und ihren Fokus beispielsweise auch auf die Familie oder andere über
gemeinsame Interessen definierte Gruppen ausdehnt. Wer heutzutage unter dem Titel Vernunft ein Verhalten einfordert, das nicht mit dem Verfolgen
individueller oder gruppenspezifischer Interessen legitimiert werden kann,
gilt als hoffnungslos antiquiert – als vernünftig gilt Verhalten einzig, wenn es
sich über Aufwand-Erfolgsrelationen argumentieren lässt, also berechenbar
und letzten Endes in Gelddimensionen darstellbar ist. Als Konsequenz daraus wird auch jemand, der nicht aus Berechnung, sondern auf Basis von Motiven agiert, die sich einem Erfassen in Kosten-Nutzen-Dimensionen entziehen, und der nicht andauernd seinen persönlichen Vorteil verfolgt, umgehend
als dumm oder zumindest weltfremd abqualifiziert und nicht selten zynisch
als »Gutmensch« apostrophiert. Die instrumentelle Vernunft unterwirft das
Leben dem Primat des Nutzens, dem Utilitarismus. Die Frage, ob und in welchem Umfang sich das Verfolgen eines Ziels rentiert, also Gewinn abwirft, ist
die alles entscheidende Frage des bürgerlich-kapitalistischen Weltbilds. Letztendlich muss sich alles menschliche Tun dieser Zielsetzung unterordnen und
wird damit zu mehr oder weniger nützlicher Arbeit. Diese wird in diesem Sinn
auch nicht mehr als »Notdurft des Daseins« (Pieber) und demütig zu akzeptierende Strafe eines Gottes wahrgenommen, sondern als logische Konsequenz
vernunftorientierten Daseins.
Das heißt selbstverständlich nicht, dass alles Handeln von Menschen grundsätzlich durch kalkulatorische Überlegungen gesteuert ist. Menschen lassen
sich nicht (völlig) auf den Status von Rechenmaschinen degradieren und machen selbstverständlich, »ihrer Natur entsprechend«, auch Dinge aus Liebe,
Freundschaft, (Lebens-)Lust oder anderen Gründen, aus denen ihnen kein
Vorteil im Sinne einer Durchsetzung ihrer Interessen erwächst. Da eine Bezugnahme auf eine inhaltlich und nicht bloß formal begriffene Vernunft dabei
176
ERICH RIBOLITS
immer mehr den Platz der Freiheit usurpiert« (Foucault 1996: 81). Diese Fetischierung der Vernunft hat weitreichende Konsequenzen: »Gerechtigkeit,
Gleichheit, Glück, Toleranz, alle die Begriffe, die […] in den vorhergehenden
Jahrhunderten der Vernunft innewohnen oder von ihr sanktioniert sein sollten, haben ihre geistigen Wurzeln verloren. Sie sind noch Ziele und Zweck,
aber es gibt keine rationale Instanz, die befugt wäre, ihnen einen Wert zuzusprechen und sie mit einer objektiven Realität zusammenzubringen. […] Wer
kann sagen, dass irgendeines dieser Ideale enger auf Wahrheit bezogen ist als
sein Gegenteil? Nach der Philosophie des durchschnittlichen modernen Intellektuellen gibt es nur eine Autorität, nämlich die Wissenschaft, begriffen als
Klassifikation von Tatsachen und Berechnung von Wahrscheinlichkeiten. Die
Feststellung, dass Gerechtigkeit und Freiheit an sich besser sind als Ungerechtigkeit und Unterdrückung, ist wissenschaftlich nicht verifizierbar und nutzlos. […] Je mehr der Begriff der Vernunft an Kraft einbüßt, desto mehr gibt er
sich her zu ideologischer Manipulation und zur Propagierung selbst der dreistesten Lügen.« (Horkheimer 2007: 36 f.) Die Reduzierung der Vernunft auf
ein subjektives Vermögen raubt dem Menschen das Bewusstsein, Element eines Ganzen zu sein, und wirft ihn völlig auf sich selbst zurück, er wird zu einer isolierten, auf Eigennutz fokussierten Monade und das gesamte Universum zum entsprechenden Mittel. »Als Endresultat des Prozesses haben wir auf
der einen Seite das Selbst, das abstrakte Ich, jeder Substanz entleert bis auf seinen Versuch, alles im Himmel und auf Erden in ein Mittel seiner Erhaltung zu
verwandeln; und auf der anderen Seite haben wir eine leere, zu bloßem Material degradierte Natur, bloßer Stoff, der zu beherrschen ist, ohne jeden anderen Zweck als eben den seiner Beherrschung.« (Ebd.: 114) Indem Vernunft
von einer Theorie zu einem Instrument geworden ist, ist sie für eine Überprüfung der hinter den Prämissen des Lebens stehenden Zwecke ungeeignet, als
(vernünftiges) Orientierungskriterium des rechten Lebens bleibt dem Menschen bloß noch die Frage, welches Verhalten ihm zum Vorteil gereicht und
welches nicht.
Aus diesem Fokus lassen sich Natur und Mitmenschen aber nur als potenzielle Gefahrenquellen wahrnehmen, die es argwöhnisch zu beobachten und
in Schach zu halten gilt, da sie die jeweils eigenen Selbsterhaltungsmöglichkeiten beschneiden könnten. Die Folge ist ein Gesellschaftssystem, in dem jeder »dem gesamten Rest der Welt« als Gegner gegenübersteht – anderen Menschen, der Natur, letztendlich auch sich selbst in Form der je eigenen Natur.
Die instrumentelle Vernunft erzwingt den Fokus von Ausbeutung und Konkurrenz – im Umkehrschluss gilt die von diesen Prämissen gespeiste Haltung
als logischer Ausdruck von Vernunft. Da Vernunft bloß operative Bedeutung
hat, ist sie zum Machtinstrument im allgemeinen Konkurrenzkampf degene-
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riert und artikuliert sich als Strategie und Cleverness. Nicht zufällig wird heutzutage fallweise durchaus auch von Kriminellen, betrügerischen Geschäftsleuten oder populistischen Politikern, verschiedentlich auch von Diktatoren
behauptet, dass sie außerordentlich intelligent wären. Gemeint wird damit
das besondere Geschick – genau genommen: die besondere Skrupellosigkeit
–, die sie bei der Durchsetzung der jeweils eigenen Interessen zeigen. Was bewundernd als Ausdruck besonderer Vernunft interpretiert wird, ist letztendlich nichts anderes als Rücksichtslosigkeit und Kaltblütigkeit beim Durchsetzen der jeweiligen Eigeninteressen durch strategisch-geschicktes Vorgehen
gegenüber (Interessens-)Gegnern.
Die Vorstellung, Ziele aus anderen Gründen als solchen des eigenen Vorteils zu verfolgen, ist der instrumentellen Vernunft nicht zugänglich – dies gilt
auch dann, wenn sie sich über den Standpunkt der individuellen Nützlichkeit
erhebt und ihren Fokus beispielsweise auch auf die Familie oder andere über
gemeinsame Interessen definierte Gruppen ausdehnt. Wer heutzutage unter dem Titel Vernunft ein Verhalten einfordert, das nicht mit dem Verfolgen
individueller oder gruppenspezifischer Interessen legitimiert werden kann,
gilt als hoffnungslos antiquiert – als vernünftig gilt Verhalten einzig, wenn es
sich über Aufwand-Erfolgsrelationen argumentieren lässt, also berechenbar
und letzten Endes in Gelddimensionen darstellbar ist. Als Konsequenz daraus wird auch jemand, der nicht aus Berechnung, sondern auf Basis von Motiven agiert, die sich einem Erfassen in Kosten-Nutzen-Dimensionen entziehen, und der nicht andauernd seinen persönlichen Vorteil verfolgt, umgehend
als dumm oder zumindest weltfremd abqualifiziert und nicht selten zynisch
als »Gutmensch« apostrophiert. Die instrumentelle Vernunft unterwirft das
Leben dem Primat des Nutzens, dem Utilitarismus. Die Frage, ob und in welchem Umfang sich das Verfolgen eines Ziels rentiert, also Gewinn abwirft, ist
die alles entscheidende Frage des bürgerlich-kapitalistischen Weltbilds. Letztendlich muss sich alles menschliche Tun dieser Zielsetzung unterordnen und
wird damit zu mehr oder weniger nützlicher Arbeit. Diese wird in diesem Sinn
auch nicht mehr als »Notdurft des Daseins« (Pieber) und demütig zu akzeptierende Strafe eines Gottes wahrgenommen, sondern als logische Konsequenz
vernunftorientierten Daseins.
Das heißt selbstverständlich nicht, dass alles Handeln von Menschen grundsätzlich durch kalkulatorische Überlegungen gesteuert ist. Menschen lassen
sich nicht (völlig) auf den Status von Rechenmaschinen degradieren und machen selbstverständlich, »ihrer Natur entsprechend«, auch Dinge aus Liebe,
Freundschaft, (Lebens-)Lust oder anderen Gründen, aus denen ihnen kein
Vorteil im Sinne einer Durchsetzung ihrer Interessen erwächst. Da eine Bezugnahme auf eine inhaltlich und nicht bloß formal begriffene Vernunft dabei
178
ERICH RIBOLITS
heute allerdings nicht denk- und argumentierbar ist, werden derart motivierte
Handlungen zwar als »typisch menschlich« gewissermaßen »entschuldigt«,
unterliegen in letzter Konsequenz aber stets dem Verdikt der Unvernunft. Es
sei eben notgedrungen erforderlich, mit derartigen »unberechenbaren« Verhaltensweisen klarzukommen, da es für Menschen offenbar nicht ausreichend
möglich ist, sich Nützlichkeitskalkülen zu unterwerfen. Konsequenz daraus
ist, dass Individuen ihren solcherart in die Ecke der »Unvernunft« gedrängten menschlichen Regungen nur »distanziert« und mit dem Gefühl begegnen können, dabei einer in ihnen wirkenden »sinnlosen Natur« ausgeliefert zu
sein. Da für derartige »Impulse der Menschlichkeit« keine Entsprechung in den
gegebenen Machtverhältnissen und der korrelierenden Selbstinterpretation
der Subjekte gegeben ist, müssen sie ihnen als etwas Unverständlich-Fremdes und ihr mühsam auf Vernunft getrimmtes Weltbild Bedrohendes erscheinen. Der ihnen auferlegte Fokus des Nutzens führt dazu, dass sich Individuen
somit selbst fremd gegenüberstehen, sie sind sich selbst nur als Objekte im allumfassenden Prozess der Verwertung von allem und jedem begreifbar und
treiben diesen dabei immer weiter.
Indem Vernunft eine Gleichsetzung mit Kalkulation erfährt, geht ihr auch
jede perspektivische Dimension verloren. Das Denken dient bloß noch dem
Überlebenskampf und wandelt sich von einem Hilfsmittel des Hinterfragens
und Überwindens der Machtverhältnisse dazu, innerhalb derselben und deren
Erfolgskriterien entsprechend möglichst gut über die Runden zu kommen. Als
vernünftig wird ein Mensch bezeichnet, der in der Lage ist, das zu erkennen
und anzustreben, was ihm im Sinne gesellschaftlicher Erfolgsvorgaben nützt,
indem es ihm im allgemeinen Konkurrenzkampf eine bessere Position verschafft. Alle Dinge, Natur und Menschen werden zum Mittel, um dem einzigen Zweck zu dienen, der im Fokus instrumenteller Vernunft Sinn ergibt, dem
Durchsetzen der jeweils eigenen Interessen. Instrumentelle Vernunft stellt somit die Grundlage der blind an Konkurrenz ausgerichteten Gesellschaft samt
ihrer durch nichts gehemmten Ausbeutung von Mensch und Natur dar, sie ist
der Kern ökonomischer Rationalität. Vor allem aber ist sie die Basis des »guten Rufs«, den die Konkurrenz einschließlich der mit ihr zwingend verbundenen Konsequenz genießt, dass der je eigene Erfolg immer nur um den Preis
des Reduzierens der Lebensmöglichkeiten anderer möglich ist. Dem Vernunftnimbus der Konkurrenz entsprechend wird diese ja selbst von den euphemistisch als »Verlierer« im Kampf jeder gegen jeden Bezeichneten kaum je in Frage
gestellt, beklagt wird bestenfalls ihre »ungerechte« Verwirklichung. Gefordert
werden nicht dem aktuellen Stand der Produktivkräfte entsprechende optimale
Lebensbedingungen für alle, sondern bloß eine »Gleichheit der Chancen« beim
Run um die ungleichen Überlebensmöglichkeiten (vgl.: Ribolits 2013: 63 ff.).
WARUM BILDUNG BEI DER ÜBERWINDUNG DER MACHTVERHÄLTNISSE …
179
Die Unterordnung alles Seienden unter einen abstrakt-logischen Formalismus raubt der Vernunft völlig ihre Potenz zur kritischen Reflexion der Prämissen der gegebenen Gesellschaftsformation. Reflexion würde ja eine Bezugsgröße außerhalb des Gegebenen voraussetzen – ohne eine derartige, quasi
objektive »Reflexionsfläche« mündet jeder Reflexionsansatz in bloßer »Nabelschau«. Erst eine Bezugsgröße außerhalb des Referenzsystems ermöglicht das
Gewinnen einer Sichtweise, die das durch den Status quo Vorgegebene transzendiert. Genau diese objektive Dimension wurde der Vernunft im Zuge ihrer
Instrumentalisierung aber genommen. Auf Basis instrumenteller Vernunft ist
demgemäß das Entwickeln einer utopischen Perspektive nicht möglich. Aus
ihr kann keine Hoffnung auf eine Welt jenseits der aktuellen Erscheinungsformen der Macht erwachsen, wodurch sie sich letztendlich als Hauptinstrument des Tradierens der gegebenen Ausbeutungsverhältnisse erweist. Da die
instrumentelle Vernunft keine Perspektive zu eröffnen imstande ist, aus deren Fokus sich ein Leben entwerfen ließe, das über die im Status quo gefangenen Möglichkeiten hinausgeht, kann in den gegebenen Machtverhältnissen
angelegtes »Unrecht« von ihr gar nicht als solches erkannt werden. Sie steht
den Verhältnissen quasi neutral – oder vielmehr: blind – gegenüber. Auf diese
Art stützt sie diese, verleiht ihnen dabei aber den Nimbus der Vernünftigkeit.
Jeder Ansatz, der über die bestehenden Verhältnisse hinausweist, indem andere Menschen nicht als Konkurrenten und die Natur nicht bloß als Ressource
wahrgenommen werden, landet automatisch in der Ecke der Unvernunft – ein
vernünftiger Ausweg aus den gegebenen Verhältnissen ist somit verbaut!
Die geltende Vernunft bekämpft nicht Macht,
sondern nur deren »Entarten« zu Herrschaft
Als Konsequenz der bisherigen Ausführungen gilt es die Hoffnung zu begraben, dass Bildung kraft des ihr immanenten Appells, »sich seines Verstandes
ohne die Anleitung durch andere zu bedienen«, Grundlage dafür sein kann,
die in den gesellschaftlichen Umständen zum Ausdruck kommende Macht
tatsächlich in Frage zu stellen und sich von ihr zu emanzipieren. Dem Vertrauen auf die Möglichkeit einer Selbstbefreiung durch Bildung liegt die Vorstellung eines Subjekts zugrunde, das »von allem Anfang an« gegeben ist und
dem Individuum grundsätzliche Handlungsmacht verleiht, die sich in Eigenschaften wie Wille, Freiheit und Intentionalität zeigt. Dieser Prämisse gemäß
nimmt das Subjekt quasi die Position ein, die unter den Verhältnissen der vormodernen Metaphysik Gott zugestanden worden war (vgl.: Klein 2005: 5).
Nur wenn von einem derartigen a priori gegebenen Subjekt ausgegangen wird,
178
ERICH RIBOLITS
heute allerdings nicht denk- und argumentierbar ist, werden derart motivierte
Handlungen zwar als »typisch menschlich« gewissermaßen »entschuldigt«,
unterliegen in letzter Konsequenz aber stets dem Verdikt der Unvernunft. Es
sei eben notgedrungen erforderlich, mit derartigen »unberechenbaren« Verhaltensweisen klarzukommen, da es für Menschen offenbar nicht ausreichend
möglich ist, sich Nützlichkeitskalkülen zu unterwerfen. Konsequenz daraus
ist, dass Individuen ihren solcherart in die Ecke der »Unvernunft« gedrängten menschlichen Regungen nur »distanziert« und mit dem Gefühl begegnen können, dabei einer in ihnen wirkenden »sinnlosen Natur« ausgeliefert zu
sein. Da für derartige »Impulse der Menschlichkeit« keine Entsprechung in den
gegebenen Machtverhältnissen und der korrelierenden Selbstinterpretation
der Subjekte gegeben ist, müssen sie ihnen als etwas Unverständlich-Fremdes und ihr mühsam auf Vernunft getrimmtes Weltbild Bedrohendes erscheinen. Der ihnen auferlegte Fokus des Nutzens führt dazu, dass sich Individuen
somit selbst fremd gegenüberstehen, sie sind sich selbst nur als Objekte im allumfassenden Prozess der Verwertung von allem und jedem begreifbar und
treiben diesen dabei immer weiter.
Indem Vernunft eine Gleichsetzung mit Kalkulation erfährt, geht ihr auch
jede perspektivische Dimension verloren. Das Denken dient bloß noch dem
Überlebenskampf und wandelt sich von einem Hilfsmittel des Hinterfragens
und Überwindens der Machtverhältnisse dazu, innerhalb derselben und deren
Erfolgskriterien entsprechend möglichst gut über die Runden zu kommen. Als
vernünftig wird ein Mensch bezeichnet, der in der Lage ist, das zu erkennen
und anzustreben, was ihm im Sinne gesellschaftlicher Erfolgsvorgaben nützt,
indem es ihm im allgemeinen Konkurrenzkampf eine bessere Position verschafft. Alle Dinge, Natur und Menschen werden zum Mittel, um dem einzigen Zweck zu dienen, der im Fokus instrumenteller Vernunft Sinn ergibt, dem
Durchsetzen der jeweils eigenen Interessen. Instrumentelle Vernunft stellt somit die Grundlage der blind an Konkurrenz ausgerichteten Gesellschaft samt
ihrer durch nichts gehemmten Ausbeutung von Mensch und Natur dar, sie ist
der Kern ökonomischer Rationalität. Vor allem aber ist sie die Basis des »guten Rufs«, den die Konkurrenz einschließlich der mit ihr zwingend verbundenen Konsequenz genießt, dass der je eigene Erfolg immer nur um den Preis
des Reduzierens der Lebensmöglichkeiten anderer möglich ist. Dem Vernunftnimbus der Konkurrenz entsprechend wird diese ja selbst von den euphemistisch als »Verlierer« im Kampf jeder gegen jeden Bezeichneten kaum je in Frage
gestellt, beklagt wird bestenfalls ihre »ungerechte« Verwirklichung. Gefordert
werden nicht dem aktuellen Stand der Produktivkräfte entsprechende optimale
Lebensbedingungen für alle, sondern bloß eine »Gleichheit der Chancen« beim
Run um die ungleichen Überlebensmöglichkeiten (vgl.: Ribolits 2013: 63 ff.).
WARUM BILDUNG BEI DER ÜBERWINDUNG DER MACHTVERHÄLTNISSE …
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Die Unterordnung alles Seienden unter einen abstrakt-logischen Formalismus raubt der Vernunft völlig ihre Potenz zur kritischen Reflexion der Prämissen der gegebenen Gesellschaftsformation. Reflexion würde ja eine Bezugsgröße außerhalb des Gegebenen voraussetzen – ohne eine derartige, quasi
objektive »Reflexionsfläche« mündet jeder Reflexionsansatz in bloßer »Nabelschau«. Erst eine Bezugsgröße außerhalb des Referenzsystems ermöglicht das
Gewinnen einer Sichtweise, die das durch den Status quo Vorgegebene transzendiert. Genau diese objektive Dimension wurde der Vernunft im Zuge ihrer
Instrumentalisierung aber genommen. Auf Basis instrumenteller Vernunft ist
demgemäß das Entwickeln einer utopischen Perspektive nicht möglich. Aus
ihr kann keine Hoffnung auf eine Welt jenseits der aktuellen Erscheinungsformen der Macht erwachsen, wodurch sie sich letztendlich als Hauptinstrument des Tradierens der gegebenen Ausbeutungsverhältnisse erweist. Da die
instrumentelle Vernunft keine Perspektive zu eröffnen imstande ist, aus deren Fokus sich ein Leben entwerfen ließe, das über die im Status quo gefangenen Möglichkeiten hinausgeht, kann in den gegebenen Machtverhältnissen
angelegtes »Unrecht« von ihr gar nicht als solches erkannt werden. Sie steht
den Verhältnissen quasi neutral – oder vielmehr: blind – gegenüber. Auf diese
Art stützt sie diese, verleiht ihnen dabei aber den Nimbus der Vernünftigkeit.
Jeder Ansatz, der über die bestehenden Verhältnisse hinausweist, indem andere Menschen nicht als Konkurrenten und die Natur nicht bloß als Ressource
wahrgenommen werden, landet automatisch in der Ecke der Unvernunft – ein
vernünftiger Ausweg aus den gegebenen Verhältnissen ist somit verbaut!
Die geltende Vernunft bekämpft nicht Macht,
sondern nur deren »Entarten« zu Herrschaft
Als Konsequenz der bisherigen Ausführungen gilt es die Hoffnung zu begraben, dass Bildung kraft des ihr immanenten Appells, »sich seines Verstandes
ohne die Anleitung durch andere zu bedienen«, Grundlage dafür sein kann,
die in den gesellschaftlichen Umständen zum Ausdruck kommende Macht
tatsächlich in Frage zu stellen und sich von ihr zu emanzipieren. Dem Vertrauen auf die Möglichkeit einer Selbstbefreiung durch Bildung liegt die Vorstellung eines Subjekts zugrunde, das »von allem Anfang an« gegeben ist und
dem Individuum grundsätzliche Handlungsmacht verleiht, die sich in Eigenschaften wie Wille, Freiheit und Intentionalität zeigt. Dieser Prämisse gemäß
nimmt das Subjekt quasi die Position ein, die unter den Verhältnissen der vormodernen Metaphysik Gott zugestanden worden war (vgl.: Klein 2005: 5).
Nur wenn von einem derartigen a priori gegebenen Subjekt ausgegangen wird,
180
ERICH RIBOLITS
kann angenommen werden, dass dieses sich mit jedwedem Inhalt, der sich
ihm darbietet, »kritisch« auseinandersetzen kann und es somit ein potenzieller Gegenspieler der Macht ist. Und nur diese Annahme begründet somit auch
die Hoffnung, dass eine »Stärkung« des Subjekts – mittels der Hilfe zu einem
vollkommeneren Gebrauch seines Verstandes – seine Souveränität gegenüber
der Macht zu steigern imstande ist. Das Subjekt kann dann zwar durch die aktuell jeweils herrschende Vernunft zu falschen Schlüssen verführt werden, es
ist aber in der Lage, sich selbst auf die Schliche zu kommen und eine derartige
Fehlleitung zu erkennen. Nur wenn das Subjekt solcherart als eine Größe interpretiert wird, die im Kern unabhängig von den gesellschaftlichen Umständen gegeben ist, kann davon ausgegangen werden, dass das Subjekt in letzter
Konsequenz der Macht gegenüber stets souverän bleibt. Es kann dann zwar
Opfer von Zugriffen der Macht werden, da allerdings seine Fähigkeit, die seine
Souveränität untergrabenden Wirkungen der Macht zu erkennen, niemals
völlig außer Kraft gesetzt werden kann, kann es per Vernunftappell animiert
werden, sich aus den Fallstricken der Macht (wieder) zu befreien.
Tatsächlich hat die Vorstellung des per se gegebenen, autonomen Subjekts,
das sich dem Status quo per Verstand kritisch gegenüberstellen kann, allerdings schon mit Sigmund Freud und seiner Erkenntnis nachhaltig an Glaubwürdigkeit verloren, dass »[d]as Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus«
(Freud 1970: 7) und sowohl Wahrnehmung als auch Verhalten von Faktoren
beeinflusst werden, die dem Verstand nur äußerst bedingt zugänglich sind.
Endgültig aufgegeben werden muss die Annahme des von vornherein gegebenen Subjekts, das durch Sozialisationsprozesse zwar mehr oder weniger deformiert werden kann, die ihm innewohnende Fähigkeit zur Emanzipation dabei aber niemals vollständig verliert, jedoch im Gefolge der Forschungen von
Michel Foucault. Dessen Forschungen kulminieren in der Erkenntnis, dass es
»kein souveränes und konstitutives Subjekt gibt, keine universelle Form des
Subjekts, die man überall wiederfinden könnte« (Foucault 1994: 137), sondern
eine Abfolge unterschiedlicher, mit den jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen korrelierender Subjektformen. In diesem Sinn müssen wir
das Subjekt nicht als ein autarkes Gegenüber der Macht, sondern – ganz im
Gegenteil – als ein Korrelat derselben begreifen. »Macht arbeitet durch, nicht
gegen Subjektivität« (Rose 2000: 9), oder, mit anderen Worten: Das Subjekt
ist nichts anderes als der individuelle Ausdruck der Macht. Und – wie Butler
in Weiterentwicklung der Erkenntnisse von Foucault postuliert – es entsteht
erst, indem ein Individuum zu diskursiven Prozessen fähig wird und diese sein
Unterwerfen unter die herrschende Vernunft erforderlich machen. Somit lassen sich die gegebenen Machtverhältnisse aber durch ein »Vernünftiger-Werden« von Menschen nicht aushebeln. Die instrumentelle Vernunft muss als
WARUM BILDUNG BEI DER ÜBERWINDUNG DER MACHTVERHÄLTNISSE …
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genau jenes abstrakte Handlungsprinzip identifiziert werden, dem sich Individuen unterwerfen müssen, um die Subjektform anzunehmen, die ihr Überleben unter den gegebenen Machtverhältnissen möglich macht.
Das Mittel, um Individuen in machtgemäße Subjekte zu verwandeln, ist die
Sprache. Indem es für Menschen als soziale Wesen unabdingbar ist, mit anderen Menschen zu interagieren, sind sie gezwungen zu kommunizieren –
»die Sprache entsteht, wie das Bewusstsein, erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit anderen Menschen« (Marx/Engels 1990: 27). Das heißt,
Menschen müssen sich sprachlicher Strukturen und Begriffe bedienen, die
als vernünftig gelten. Aussagen können nur als sinnvoll interpretiert werden,
wenn sie »intelligibel« sind, sich also innerhalb jenes Raumes bewegen, der
durch die herrschende Vernunft abgesteckt ist. »Die Macht bringt vermittels
ihres Mediums, der Sprache, das Feld der Intelligibilität hervor und beherrscht
es, indem sie den Diskurs in bestimmten, genau regulierten Schranken hält.
[…] Das, was uns verständlich, begreifbar, nachvollziehbar erscheint; was sich
nach den Maßstäben der abendländischen ratio richtet, d.h. in einem binären
Rahmen eingeordnet werden kann und eine eindeutige Identität aufweist; was
den Kategorien der Logik, den Regeln der Grammatik gehorcht – all das fällt
in das Gebiet des Intelligiblen […].« (Ludewig 2002: 189) Die Sprache (inklusive ihrer nonverbalen Anteile und Substitutionen) schafft Intelligibilität – die
Möglichkeit, Zusammenhänge unabhängig von sinnlicher Wahrnehmung intellektuell zu erfassen. Das heißt zugleich auch, dass sie produziert, was in einer bestimmten historisch-gesellschaftlichen Situation und der ihr entsprechenden Vernunft überhaupt verstanden werden kann. Was nicht oder nur
eingeschränkt (aus-)gesagt werden kann, ist nicht intelligibel und verfällt der
Bedeutungslosigkeit. In diesem Sinn sind Vernunft und Wahrheit als Instrumente des Infragestellens der Macht ungeeignet, tatsächlich stellen sie, als die
Basis jedes als sinnvoll akzeptierten Diskurses, genau das Medium dar, mittels
dessen sich die Machtverhältnisse zum Ausdruck bringen.
Nur wer dem geltenden Fetisch huldigt, indem er sich den Machtverhältnissen in Form vernünftiger Diskurse unterwirft, erringt einen Platz am Spieltisch der Macht – nur ihm wird der Status eines souveränen Subjekts zugestanden. Sobald ein Heranwachsender jene Frühphase menschlicher Entwicklung
hinter sich lässt, in der er noch nicht zwischen sich selbst und seiner Umgebung, zwischen leblosen Objekten und lebendigen Menschen differenziert,
und er das Bewusstsein ausbildet, ein eigenständiges Ich zu sein, ergibt sich
für ihn die Notwendigkeit, in die diskursive Welt einzutreten und zu anderen
Menschen Beziehungen aufzunehmen. Er ist gezwungen, sich an der allgemein
verständlichen, der herrschenden Vernunft unterworfenen Kommunikation zu beteiligen, was nichts anderes bedeutet, als dass er sich der Machtver-
180
ERICH RIBOLITS
kann angenommen werden, dass dieses sich mit jedwedem Inhalt, der sich
ihm darbietet, »kritisch« auseinandersetzen kann und es somit ein potenzieller Gegenspieler der Macht ist. Und nur diese Annahme begründet somit auch
die Hoffnung, dass eine »Stärkung« des Subjekts – mittels der Hilfe zu einem
vollkommeneren Gebrauch seines Verstandes – seine Souveränität gegenüber
der Macht zu steigern imstande ist. Das Subjekt kann dann zwar durch die aktuell jeweils herrschende Vernunft zu falschen Schlüssen verführt werden, es
ist aber in der Lage, sich selbst auf die Schliche zu kommen und eine derartige
Fehlleitung zu erkennen. Nur wenn das Subjekt solcherart als eine Größe interpretiert wird, die im Kern unabhängig von den gesellschaftlichen Umständen gegeben ist, kann davon ausgegangen werden, dass das Subjekt in letzter
Konsequenz der Macht gegenüber stets souverän bleibt. Es kann dann zwar
Opfer von Zugriffen der Macht werden, da allerdings seine Fähigkeit, die seine
Souveränität untergrabenden Wirkungen der Macht zu erkennen, niemals
völlig außer Kraft gesetzt werden kann, kann es per Vernunftappell animiert
werden, sich aus den Fallstricken der Macht (wieder) zu befreien.
Tatsächlich hat die Vorstellung des per se gegebenen, autonomen Subjekts,
das sich dem Status quo per Verstand kritisch gegenüberstellen kann, allerdings schon mit Sigmund Freud und seiner Erkenntnis nachhaltig an Glaubwürdigkeit verloren, dass »[d]as Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus«
(Freud 1970: 7) und sowohl Wahrnehmung als auch Verhalten von Faktoren
beeinflusst werden, die dem Verstand nur äußerst bedingt zugänglich sind.
Endgültig aufgegeben werden muss die Annahme des von vornherein gegebenen Subjekts, das durch Sozialisationsprozesse zwar mehr oder weniger deformiert werden kann, die ihm innewohnende Fähigkeit zur Emanzipation dabei aber niemals vollständig verliert, jedoch im Gefolge der Forschungen von
Michel Foucault. Dessen Forschungen kulminieren in der Erkenntnis, dass es
»kein souveränes und konstitutives Subjekt gibt, keine universelle Form des
Subjekts, die man überall wiederfinden könnte« (Foucault 1994: 137), sondern
eine Abfolge unterschiedlicher, mit den jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen korrelierender Subjektformen. In diesem Sinn müssen wir
das Subjekt nicht als ein autarkes Gegenüber der Macht, sondern – ganz im
Gegenteil – als ein Korrelat derselben begreifen. »Macht arbeitet durch, nicht
gegen Subjektivität« (Rose 2000: 9), oder, mit anderen Worten: Das Subjekt
ist nichts anderes als der individuelle Ausdruck der Macht. Und – wie Butler
in Weiterentwicklung der Erkenntnisse von Foucault postuliert – es entsteht
erst, indem ein Individuum zu diskursiven Prozessen fähig wird und diese sein
Unterwerfen unter die herrschende Vernunft erforderlich machen. Somit lassen sich die gegebenen Machtverhältnisse aber durch ein »Vernünftiger-Werden« von Menschen nicht aushebeln. Die instrumentelle Vernunft muss als
WARUM BILDUNG BEI DER ÜBERWINDUNG DER MACHTVERHÄLTNISSE …
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genau jenes abstrakte Handlungsprinzip identifiziert werden, dem sich Individuen unterwerfen müssen, um die Subjektform anzunehmen, die ihr Überleben unter den gegebenen Machtverhältnissen möglich macht.
Das Mittel, um Individuen in machtgemäße Subjekte zu verwandeln, ist die
Sprache. Indem es für Menschen als soziale Wesen unabdingbar ist, mit anderen Menschen zu interagieren, sind sie gezwungen zu kommunizieren –
»die Sprache entsteht, wie das Bewusstsein, erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit anderen Menschen« (Marx/Engels 1990: 27). Das heißt,
Menschen müssen sich sprachlicher Strukturen und Begriffe bedienen, die
als vernünftig gelten. Aussagen können nur als sinnvoll interpretiert werden,
wenn sie »intelligibel« sind, sich also innerhalb jenes Raumes bewegen, der
durch die herrschende Vernunft abgesteckt ist. »Die Macht bringt vermittels
ihres Mediums, der Sprache, das Feld der Intelligibilität hervor und beherrscht
es, indem sie den Diskurs in bestimmten, genau regulierten Schranken hält.
[…] Das, was uns verständlich, begreifbar, nachvollziehbar erscheint; was sich
nach den Maßstäben der abendländischen ratio richtet, d.h. in einem binären
Rahmen eingeordnet werden kann und eine eindeutige Identität aufweist; was
den Kategorien der Logik, den Regeln der Grammatik gehorcht – all das fällt
in das Gebiet des Intelligiblen […].« (Ludewig 2002: 189) Die Sprache (inklusive ihrer nonverbalen Anteile und Substitutionen) schafft Intelligibilität – die
Möglichkeit, Zusammenhänge unabhängig von sinnlicher Wahrnehmung intellektuell zu erfassen. Das heißt zugleich auch, dass sie produziert, was in einer bestimmten historisch-gesellschaftlichen Situation und der ihr entsprechenden Vernunft überhaupt verstanden werden kann. Was nicht oder nur
eingeschränkt (aus-)gesagt werden kann, ist nicht intelligibel und verfällt der
Bedeutungslosigkeit. In diesem Sinn sind Vernunft und Wahrheit als Instrumente des Infragestellens der Macht ungeeignet, tatsächlich stellen sie, als die
Basis jedes als sinnvoll akzeptierten Diskurses, genau das Medium dar, mittels
dessen sich die Machtverhältnisse zum Ausdruck bringen.
Nur wer dem geltenden Fetisch huldigt, indem er sich den Machtverhältnissen in Form vernünftiger Diskurse unterwirft, erringt einen Platz am Spieltisch der Macht – nur ihm wird der Status eines souveränen Subjekts zugestanden. Sobald ein Heranwachsender jene Frühphase menschlicher Entwicklung
hinter sich lässt, in der er noch nicht zwischen sich selbst und seiner Umgebung, zwischen leblosen Objekten und lebendigen Menschen differenziert,
und er das Bewusstsein ausbildet, ein eigenständiges Ich zu sein, ergibt sich
für ihn die Notwendigkeit, in die diskursive Welt einzutreten und zu anderen
Menschen Beziehungen aufzunehmen. Er ist gezwungen, sich an der allgemein
verständlichen, der herrschenden Vernunft unterworfenen Kommunikation zu beteiligen, was nichts anderes bedeutet, als dass er sich der Machtver-
182
ERICH RIBOLITS
hältnisse »bedienen« muss. Durch seinen Eintritt in die Welt des vernünftigen Diskurses unterwirft sich das Individuum den herrschenden Regeln der
»Machtspiele« und konstituiert sich damit als Subjekt – als den gesellschaftlichen Machtverhältnissen unterworfen. »Das Erwachen des Subjekts wird erkauft durch die Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen.«
(Adorno/Horkheimer 2000: 21) Wenn das unmittelbar sinnliche Erleben des
Eins-Seins mit der Welt verblasst und die Notwendigkeit diskursiv herzustellender Verhältnisse an seine Stelle tritt, hat der Prozess der Subjektivierung
begonnen. Das Subjekt kommt zur Geltung, indem alles »was ihm äußerlich
ist«, zum Objekt degradiert wird. »›Ich bin ich‹ heißt, dass der Rest der Wirklichkeit als ›Nicht-ich‹ bestimmt ist. Er befindet sich irgendwo da ›draußen‹,
jenseits von mir, er ist nichts, das mir und meiner Individualität zugehören
würde, sondern etwas, zu dem ich [kraft meiner, zum »freien Willen« mythologisierten Verhaftung mit der instrumentellen Vernunft – E.R.] erst noch hingelangen muss […].« (Klein 2005: 14) Die als »freier Wille« verklärte Identifikation des bürgerlichen Subjekts mit Vernunft ist jenes Konstrukt, das es von
der unmittelbar-sinnlichen Verbindung mit der Welt abschneidet und ihm an
Stelle dessen ein instrumentelles Verhältnis zu dieser auferlegt. Ein souveränes Subjekt zu sein meint somit konkret, alle und alles als Objekte der Handhabung wahrzunehmen. In diesem Sinn bedeutet zu interagieren, sich als Subjekt durch Teilnahme an den gegenseitig ausgeübten Manipulationsversuchen
zu beweisen – auf diese Art werden die Machtverhältnisse kontinuierlich per
vernünftiger Interaktion tradiert. In diesem Sinn gilt: »Macht ist […] nichts,
was man identifizieren könnte, nicht etwas, das von außen dem Objekt der
Macht auferlegt würde, sondern sie realisiert sich in der Subjektivität selbst.«
(Messerschmidt 2012: 289) Sowie: »In einer Gesellschaft leben heißt jedenfalls
so leben, dass man gegenseitig auf sein Handeln einwirken kann. Eine Gesellschaft ›ohne Machtverhältnisse‹ kann nur eine Abstraktion sein.« (Foucault in
Dreyfus/Rabinow 1994: 257) »Zwischen jedem Punkt eines gesellschaftlichen
Körpers, zwischen einem Mann und einer Frau, in einer Familie, zwischen einem Lehrer und seinem Schüler, zwischen dem, der weiß, und dem, der nicht
weiß, verlaufen Machtbeziehungen […], sie sind der bewegliche und konkrete
Boden, in dem sich die Macht verankert hat, die Bedingungen der Möglichkeit,
damit sie funktionieren kann.« (Foucault 1978: 110)
Der Bildungsbemühungen stets innewohnende Appell, sich seines Verstandes (selbständig) zu bedienen und in anwachsendem Maß »zur Vernunft zu
kommen«, stellt somit nichts anderes als die Aufforderung dar, in die Sphäre
gemeinsamer, intersubjektiver Verständigung einzutreten und auf diese Art
jene Subjektform auszubilden, der unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen Anerkennung zukommt. Nur was kommuniziert werden kann,
WARUM BILDUNG BEI DER ÜBERWINDUNG DER MACHTVERHÄLTNISSE …
183
kann in den Dimensionen der Vernunft begriffen werden – »die Sprache selbst
ist das Vehikel des Denkens« (Wittgenstein 2003: 164). Das intelligible Feld, in
dem es sich zu bewegen gilt, um als Subjekt (an)erkannt zu werden, ist ein abgeschlossener Bereich, ein durch die Regeln des Diskurses definierter endlicher Raum des Verständlichen. Die diskursiv produzierte Intelligibilität vermittelt gesellschaftliche Bedeutsamkeit, wodurch das sinnvoll Sprechbare
zum Denk- und Lebbaren wird sowie die Regeln des Sprachspiels zur Ordnung des realen Lebens werden (vgl. Ludewig 2002: 190). Die Grenze wird
durch die sprachlich vermittelte Intelligibilität gezogen – oder, wie es Wittgenstein (1963: 111) formuliert hat: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die
Grenzen meiner Welt«. Die per Vernunft gezogenen Grenzen der Sprache stellen die Grenzen des Subjekts dar. Der Status eines (vollwertigen) Subjekts der
bürgerlichen Gesellschaft wird nur innerhalb des intelligiblen Bereichs verliehen, außerhalb herrscht bloße Kreatürlichkeit. Die Sprache zieht innerhalb der
Gesamtheit menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten eine Grenze; diese trennt
allerdings nicht gleichartige Bereiche, ähnlich einer Grenze zwischen benachbarten Ländern, sondern grundverschiedene Sphären, die miteinander nichts
gemeinsam haben. Die durch die Sprache repräsentierte Welt ist in sich geschlossen und lückenlos, die außerhalb liegende Sphäre ist der sprachlich verhafteten Vernunft nicht zugänglich – nichts, worüber man reden kann, liegt
außerhalb (vgl. Bierwisch 2008: 19); Intelligibilität existiert nur innerhalb empirisch erfassbarer Verhältnisse. »Sprache ist [somit] kein neutrales Werkzeug,
das Individuen nur benutzen, um sich auszudrücken und zu verständigen.
Vielmehr kann Sprache auch als eine soziale Voraussetzung für das individuelle Wahrnehmen, Denken und Kommunizieren charakterisiert werden. Soziales Handeln ist so betrachtet ein Handeln mit den Mitteln, [die] eine jeweilige Sprache zu Verfügung stellt […].« (Kotthoff 2006: 164)
Die herrschende Vernunft schafft zum einen überhaupt erst ein spezifisches
Verständnis davon, was ein Subjekt ist, und bringt es damit in einer bestimmten Ausprägung zur Geltung, und zum anderen tradieren die Subjekte kraft ihres Bewusstseins, »autonome Vernunftwesen« zu sein, die gegebenen Machtstrukturen. Die Identifizierung des Subjekts mit Vernunft bedeutet, dass
Menschen ihrer eigenen Sinnlichkeit fremd gegenüberstehen, auch sie ist ihnen nur mehr als Objekt des instrumentellen Gebrauchs begreifbar. Im Subjekt
konkretisiert sich die Verschränkung von Macht und (dem Vernunftpostulat
entsprechendem) Wissen – jenseits des »Macht-Wissen-Dispositivs« (Foucault) existiert so etwas wie ein Subjekt überhaupt nicht. Indem das Subjekt
über »Selbstreflexivität« – im Sinne eines permanenten Hinterfragens der je eigenen Gedanken, Sehnsüchte, Ängste, Wünsche und des eigenen Verhaltens
im Namen der geltenden Vernunft – definiert wird, stellt es letztendlich nur
182
ERICH RIBOLITS
hältnisse »bedienen« muss. Durch seinen Eintritt in die Welt des vernünftigen Diskurses unterwirft sich das Individuum den herrschenden Regeln der
»Machtspiele« und konstituiert sich damit als Subjekt – als den gesellschaftlichen Machtverhältnissen unterworfen. »Das Erwachen des Subjekts wird erkauft durch die Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen.«
(Adorno/Horkheimer 2000: 21) Wenn das unmittelbar sinnliche Erleben des
Eins-Seins mit der Welt verblasst und die Notwendigkeit diskursiv herzustellender Verhältnisse an seine Stelle tritt, hat der Prozess der Subjektivierung
begonnen. Das Subjekt kommt zur Geltung, indem alles »was ihm äußerlich
ist«, zum Objekt degradiert wird. »›Ich bin ich‹ heißt, dass der Rest der Wirklichkeit als ›Nicht-ich‹ bestimmt ist. Er befindet sich irgendwo da ›draußen‹,
jenseits von mir, er ist nichts, das mir und meiner Individualität zugehören
würde, sondern etwas, zu dem ich [kraft meiner, zum »freien Willen« mythologisierten Verhaftung mit der instrumentellen Vernunft – E.R.] erst noch hingelangen muss […].« (Klein 2005: 14) Die als »freier Wille« verklärte Identifikation des bürgerlichen Subjekts mit Vernunft ist jenes Konstrukt, das es von
der unmittelbar-sinnlichen Verbindung mit der Welt abschneidet und ihm an
Stelle dessen ein instrumentelles Verhältnis zu dieser auferlegt. Ein souveränes Subjekt zu sein meint somit konkret, alle und alles als Objekte der Handhabung wahrzunehmen. In diesem Sinn bedeutet zu interagieren, sich als Subjekt durch Teilnahme an den gegenseitig ausgeübten Manipulationsversuchen
zu beweisen – auf diese Art werden die Machtverhältnisse kontinuierlich per
vernünftiger Interaktion tradiert. In diesem Sinn gilt: »Macht ist […] nichts,
was man identifizieren könnte, nicht etwas, das von außen dem Objekt der
Macht auferlegt würde, sondern sie realisiert sich in der Subjektivität selbst.«
(Messerschmidt 2012: 289) Sowie: »In einer Gesellschaft leben heißt jedenfalls
so leben, dass man gegenseitig auf sein Handeln einwirken kann. Eine Gesellschaft ›ohne Machtverhältnisse‹ kann nur eine Abstraktion sein.« (Foucault in
Dreyfus/Rabinow 1994: 257) »Zwischen jedem Punkt eines gesellschaftlichen
Körpers, zwischen einem Mann und einer Frau, in einer Familie, zwischen einem Lehrer und seinem Schüler, zwischen dem, der weiß, und dem, der nicht
weiß, verlaufen Machtbeziehungen […], sie sind der bewegliche und konkrete
Boden, in dem sich die Macht verankert hat, die Bedingungen der Möglichkeit,
damit sie funktionieren kann.« (Foucault 1978: 110)
Der Bildungsbemühungen stets innewohnende Appell, sich seines Verstandes (selbständig) zu bedienen und in anwachsendem Maß »zur Vernunft zu
kommen«, stellt somit nichts anderes als die Aufforderung dar, in die Sphäre
gemeinsamer, intersubjektiver Verständigung einzutreten und auf diese Art
jene Subjektform auszubilden, der unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen Anerkennung zukommt. Nur was kommuniziert werden kann,
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kann in den Dimensionen der Vernunft begriffen werden – »die Sprache selbst
ist das Vehikel des Denkens« (Wittgenstein 2003: 164). Das intelligible Feld, in
dem es sich zu bewegen gilt, um als Subjekt (an)erkannt zu werden, ist ein abgeschlossener Bereich, ein durch die Regeln des Diskurses definierter endlicher Raum des Verständlichen. Die diskursiv produzierte Intelligibilität vermittelt gesellschaftliche Bedeutsamkeit, wodurch das sinnvoll Sprechbare
zum Denk- und Lebbaren wird sowie die Regeln des Sprachspiels zur Ordnung des realen Lebens werden (vgl. Ludewig 2002: 190). Die Grenze wird
durch die sprachlich vermittelte Intelligibilität gezogen – oder, wie es Wittgenstein (1963: 111) formuliert hat: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die
Grenzen meiner Welt«. Die per Vernunft gezogenen Grenzen der Sprache stellen die Grenzen des Subjekts dar. Der Status eines (vollwertigen) Subjekts der
bürgerlichen Gesellschaft wird nur innerhalb des intelligiblen Bereichs verliehen, außerhalb herrscht bloße Kreatürlichkeit. Die Sprache zieht innerhalb der
Gesamtheit menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten eine Grenze; diese trennt
allerdings nicht gleichartige Bereiche, ähnlich einer Grenze zwischen benachbarten Ländern, sondern grundverschiedene Sphären, die miteinander nichts
gemeinsam haben. Die durch die Sprache repräsentierte Welt ist in sich geschlossen und lückenlos, die außerhalb liegende Sphäre ist der sprachlich verhafteten Vernunft nicht zugänglich – nichts, worüber man reden kann, liegt
außerhalb (vgl. Bierwisch 2008: 19); Intelligibilität existiert nur innerhalb empirisch erfassbarer Verhältnisse. »Sprache ist [somit] kein neutrales Werkzeug,
das Individuen nur benutzen, um sich auszudrücken und zu verständigen.
Vielmehr kann Sprache auch als eine soziale Voraussetzung für das individuelle Wahrnehmen, Denken und Kommunizieren charakterisiert werden. Soziales Handeln ist so betrachtet ein Handeln mit den Mitteln, [die] eine jeweilige Sprache zu Verfügung stellt […].« (Kotthoff 2006: 164)
Die herrschende Vernunft schafft zum einen überhaupt erst ein spezifisches
Verständnis davon, was ein Subjekt ist, und bringt es damit in einer bestimmten Ausprägung zur Geltung, und zum anderen tradieren die Subjekte kraft ihres Bewusstseins, »autonome Vernunftwesen« zu sein, die gegebenen Machtstrukturen. Die Identifizierung des Subjekts mit Vernunft bedeutet, dass
Menschen ihrer eigenen Sinnlichkeit fremd gegenüberstehen, auch sie ist ihnen nur mehr als Objekt des instrumentellen Gebrauchs begreifbar. Im Subjekt
konkretisiert sich die Verschränkung von Macht und (dem Vernunftpostulat
entsprechendem) Wissen – jenseits des »Macht-Wissen-Dispositivs« (Foucault) existiert so etwas wie ein Subjekt überhaupt nicht. Indem das Subjekt
über »Selbstreflexivität« – im Sinne eines permanenten Hinterfragens der je eigenen Gedanken, Sehnsüchte, Ängste, Wünsche und des eigenen Verhaltens
im Namen der geltenden Vernunft – definiert wird, stellt es letztendlich nur
184
ERICH RIBOLITS
ein Synonym für das Selbstanlegen jener »Fesseln« dar, die verhindern, dass
die Prämissen der Macht unterlaufen werden (vgl. Ribolits 213: 123 f.). Das von
der (emanzipatorischen) Pädagogik idealisierte, autonome, selbstreflexive und
vernünftige Subjekt muss tatsächlich als »Durchgangspunkt von Machtbeziehungen« (Masschelein 2003: 126) begriffen werden und ganz und gar nicht als
ein unbeeinflusst von diesen agierendes Gegenüber. Es ist somit absolut unangebracht, das emanzipierte Subjekt als jene souveräne Instanz zu idealisieren, die kraft kritisch-rationaler Reflexion die Macht in ihrem Bestand zu gefährden imstande ist.
Indem das Subjekt kein kritisches Gegenüber, sondern – im Gegenteil – konkreter Ausdruck der Machtverhältnisse ist, ist es logischerweise außerstande,
diese in Frage zu stellen. Daraus folgt, dass die der Gesellschaft inhärente und
sich per herrschender Vernunft zum Ausdruck bringende Macht weitgehend
unentdeckt wirken kann – als Problem wird sie in der Regel erst wahrgenommen, wenn sie sich zu Herrschaft verdichtet. Im Sinne von Foucault handelt es
sich dabei quasi um eine Blockade der wechselweise von allen ausgeübten Einflussnahmen auf das Verhalten anderer. Diese Vielheit der Machtspiele wird
gestört, indem sich die Macht an einer Stelle des Gesellschaftskörpers festsetzt, sie quasi aus einer flottierenden in eine feste Form übergeht. Herrschaft
operiert mit den jeweils gegebenen Machtverhältnissen, verschafft sich aber
die Möglichkeit, diese mehr als andere einzusetzen – sie stellt gewissermaßen ein Aus-dem-Ruder-Laufen der zwischen den Gesellschaftsmitgliedern
ablaufenden Machtspiele dar. Während Macht eine im Sinne der zwischenmenschlichen Dynamik durchaus produktive Größe darstellt und letztendlich
nichts anderes als die Form ist, wie sich Subjekte zur Geltung bringen, wird
Herrschaft nur von wenigen ausgeübt und stellt ein Synonym für (über längere Zeit gegebene) Repression dar. Herrschaft entsteht, indem einzelne Subjekte oder Subjektgruppen die Regeln der Machtspiele optimal für sich ausnützen, sie sich quasi als besonders intelligibel erweisen und es ihnen gelingt,
ihre Interessen als gesellschaftliche Allgemeininteressen festzuschreiben und
auf diese Art langfristig abzusichern. Dies wird von den der Herrschaft Ausgelieferten in der Regel als »ungerecht« empfunden und es wird ein (Wieder-)
Herstellen der symmetrischen Möglichkeiten gefordert, die je eigenen Interessen per Macht durchsetzen zu können. Nicht die Machtverhältnisse als solche
werden in Frage gestellt, sondern bloß die Tatsache, dass nicht für alle gleiche
Möglichkeiten der Machtausübung gegeben sind.
Solange allerdings bloß Herrschaft – die quasi geronnene Macht – bekämpft
wird, ist es letztendlich gar nicht möglich, die in den Machtverhältnissen gegebene Voraussetzung derselben wahrzunehmen. Das Subjekt kann seinen
Kampf um Befreiung ja nur mit »Waffen« führen, die innerhalb des intelligib-
WARUM BILDUNG BEI DER ÜBERWINDUNG DER MACHTVERHÄLTNISSE …
185
len Kosmos sinnvoll sind, und es kann auch nur Ziele anstreben, die in dieser
Sphäre Sinn machen. Sowohl die Vorstellung, was Freiheit konkret bedeutet,
als auch der Weg zur Freiheit sind durch die Machtverhältnisse in Gestalt der
aktuell waltenden Vernunft begrenzt. Das Subjekt, als die konkrete Verwirklichungsform der Macht, wäre zu einem Transzendieren der Machtverhältnisse
ja nur in der Lage, wenn es sich selbst negieren könnte. Per (instrumenteller)
Vernunft kann die (instrumentelle) Vernunft aber nicht ausgehebelt werden
– das Subjekt ist der Machtkritik nicht fähig. Wann immer mit den dem Subjekt zur Verfügung stehenden Mitteln der geltenden Vernunft eine Kritik der
Machtverhältnisse angegangen wird, verkürzt sich diese umgehend zu bloßer Herrschaftskritik. Jeder Kampf gegen Herrschaft ist somit immer nur ein
Kampf innerhalb der gegebenen Machtverhältnisse und keiner, der sich gegen
diese selbst richtet. Letztendlich ist ein derartiger Kampf zu nichts anderem
in der Lage, als zu bewirken, dass sich die Macht an einer anderen Stelle des
Gesellschaftskörpers verfestigt – also bloß ein modifiziertes System der Herrschaft entsteht. Indem ihm nur die Vernunft als Instrument der Suche zur Verfügung steht, ist dem Subjekt das Finden eines Weges zu Ansätzen eines richtigen Lebens im falschen (vgl.: Adorno 1951: 18) tatsächlich verbaut – selbst
Theorie- und Wissenschaftsansätze, die an Befreiung, Solidarität und Emanzipation orientierte sind, müssen sich in diesem Sinn in letzter Konsequenz als
durch die gegebenen Machtverhältnisse korrumpiert erweisen. Der Kampf gegen Herrschaft tastet die Machtverhältnisse nicht nur nicht an, sondern festigt
sie in ihrem Bestand letztendlich sogar noch.
Tatsächliche Emanzipation von der Macht durch Bildung?
Seiner am Anfang dieses Textes skizzierten Entstehungsgeschichte entsprechend, wohnt dem Bildungsbegriff seit seinem Entstehen das Versprechen einer »Selbstbefreiung« des Menschen inne. Bildung verspricht die Befähigung,
durch die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Zwängen, Normen und Werten fähig zu werden, ein eigenverantwortliches, an einem selbst
erkannten Sinn ausgerichtetes Leben führen zu können. Entstanden als Konsequenz des Unvermögens, die feudalen gesellschaftlichen Verhältnisse auf
revolutionärem Weg zu überwinden, wurde Bildung als Kraft der Befreiung
idealisiert, allerdings nicht mit politisch-revolutionärer Stoßrichtung, sondern im Sinne bloßer Geisteskultur. Ihre emanzipatorische Potenz wurde außergesellschaftlich verortet und Freiheit in die Dimension eines Privatbesitzes gerückt. Selbstbefreiung wurde zu einer von der gesellschaftlichen Realität
und den spezifischen Existenzbedingungen von Subjekten unabhängig gege-
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ERICH RIBOLITS
ein Synonym für das Selbstanlegen jener »Fesseln« dar, die verhindern, dass
die Prämissen der Macht unterlaufen werden (vgl. Ribolits 213: 123 f.). Das von
der (emanzipatorischen) Pädagogik idealisierte, autonome, selbstreflexive und
vernünftige Subjekt muss tatsächlich als »Durchgangspunkt von Machtbeziehungen« (Masschelein 2003: 126) begriffen werden und ganz und gar nicht als
ein unbeeinflusst von diesen agierendes Gegenüber. Es ist somit absolut unangebracht, das emanzipierte Subjekt als jene souveräne Instanz zu idealisieren, die kraft kritisch-rationaler Reflexion die Macht in ihrem Bestand zu gefährden imstande ist.
Indem das Subjekt kein kritisches Gegenüber, sondern – im Gegenteil – konkreter Ausdruck der Machtverhältnisse ist, ist es logischerweise außerstande,
diese in Frage zu stellen. Daraus folgt, dass die der Gesellschaft inhärente und
sich per herrschender Vernunft zum Ausdruck bringende Macht weitgehend
unentdeckt wirken kann – als Problem wird sie in der Regel erst wahrgenommen, wenn sie sich zu Herrschaft verdichtet. Im Sinne von Foucault handelt es
sich dabei quasi um eine Blockade der wechselweise von allen ausgeübten Einflussnahmen auf das Verhalten anderer. Diese Vielheit der Machtspiele wird
gestört, indem sich die Macht an einer Stelle des Gesellschaftskörpers festsetzt, sie quasi aus einer flottierenden in eine feste Form übergeht. Herrschaft
operiert mit den jeweils gegebenen Machtverhältnissen, verschafft sich aber
die Möglichkeit, diese mehr als andere einzusetzen – sie stellt gewissermaßen ein Aus-dem-Ruder-Laufen der zwischen den Gesellschaftsmitgliedern
ablaufenden Machtspiele dar. Während Macht eine im Sinne der zwischenmenschlichen Dynamik durchaus produktive Größe darstellt und letztendlich
nichts anderes als die Form ist, wie sich Subjekte zur Geltung bringen, wird
Herrschaft nur von wenigen ausgeübt und stellt ein Synonym für (über längere Zeit gegebene) Repression dar. Herrschaft entsteht, indem einzelne Subjekte oder Subjektgruppen die Regeln der Machtspiele optimal für sich ausnützen, sie sich quasi als besonders intelligibel erweisen und es ihnen gelingt,
ihre Interessen als gesellschaftliche Allgemeininteressen festzuschreiben und
auf diese Art langfristig abzusichern. Dies wird von den der Herrschaft Ausgelieferten in der Regel als »ungerecht« empfunden und es wird ein (Wieder-)
Herstellen der symmetrischen Möglichkeiten gefordert, die je eigenen Interessen per Macht durchsetzen zu können. Nicht die Machtverhältnisse als solche
werden in Frage gestellt, sondern bloß die Tatsache, dass nicht für alle gleiche
Möglichkeiten der Machtausübung gegeben sind.
Solange allerdings bloß Herrschaft – die quasi geronnene Macht – bekämpft
wird, ist es letztendlich gar nicht möglich, die in den Machtverhältnissen gegebene Voraussetzung derselben wahrzunehmen. Das Subjekt kann seinen
Kampf um Befreiung ja nur mit »Waffen« führen, die innerhalb des intelligib-
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len Kosmos sinnvoll sind, und es kann auch nur Ziele anstreben, die in dieser
Sphäre Sinn machen. Sowohl die Vorstellung, was Freiheit konkret bedeutet,
als auch der Weg zur Freiheit sind durch die Machtverhältnisse in Gestalt der
aktuell waltenden Vernunft begrenzt. Das Subjekt, als die konkrete Verwirklichungsform der Macht, wäre zu einem Transzendieren der Machtverhältnisse
ja nur in der Lage, wenn es sich selbst negieren könnte. Per (instrumenteller)
Vernunft kann die (instrumentelle) Vernunft aber nicht ausgehebelt werden
– das Subjekt ist der Machtkritik nicht fähig. Wann immer mit den dem Subjekt zur Verfügung stehenden Mitteln der geltenden Vernunft eine Kritik der
Machtverhältnisse angegangen wird, verkürzt sich diese umgehend zu bloßer Herrschaftskritik. Jeder Kampf gegen Herrschaft ist somit immer nur ein
Kampf innerhalb der gegebenen Machtverhältnisse und keiner, der sich gegen
diese selbst richtet. Letztendlich ist ein derartiger Kampf zu nichts anderem
in der Lage, als zu bewirken, dass sich die Macht an einer anderen Stelle des
Gesellschaftskörpers verfestigt – also bloß ein modifiziertes System der Herrschaft entsteht. Indem ihm nur die Vernunft als Instrument der Suche zur Verfügung steht, ist dem Subjekt das Finden eines Weges zu Ansätzen eines richtigen Lebens im falschen (vgl.: Adorno 1951: 18) tatsächlich verbaut – selbst
Theorie- und Wissenschaftsansätze, die an Befreiung, Solidarität und Emanzipation orientierte sind, müssen sich in diesem Sinn in letzter Konsequenz als
durch die gegebenen Machtverhältnisse korrumpiert erweisen. Der Kampf gegen Herrschaft tastet die Machtverhältnisse nicht nur nicht an, sondern festigt
sie in ihrem Bestand letztendlich sogar noch.
Tatsächliche Emanzipation von der Macht durch Bildung?
Seiner am Anfang dieses Textes skizzierten Entstehungsgeschichte entsprechend, wohnt dem Bildungsbegriff seit seinem Entstehen das Versprechen einer »Selbstbefreiung« des Menschen inne. Bildung verspricht die Befähigung,
durch die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Zwängen, Normen und Werten fähig zu werden, ein eigenverantwortliches, an einem selbst
erkannten Sinn ausgerichtetes Leben führen zu können. Entstanden als Konsequenz des Unvermögens, die feudalen gesellschaftlichen Verhältnisse auf
revolutionärem Weg zu überwinden, wurde Bildung als Kraft der Befreiung
idealisiert, allerdings nicht mit politisch-revolutionärer Stoßrichtung, sondern im Sinne bloßer Geisteskultur. Ihre emanzipatorische Potenz wurde außergesellschaftlich verortet und Freiheit in die Dimension eines Privatbesitzes gerückt. Selbstbefreiung wurde zu einer von der gesellschaftlichen Realität
und den spezifischen Existenzbedingungen von Subjekten unabhängig gege-
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ERICH RIBOLITS
benen Möglichkeit erklärt. »Bildung sollte sein, was dem freien, im eigenen
Bewusstsein gründenden, aber in der Gesellschaft fortwirkenden und seine
Triebe sublimierenden Individuum rein als dessen eigener Geist zukäme. Sie
galt stillschweigend als Bedingung einer autonomen Gesellschaft; je heller die
Einzelnen, desto heller das Ganze.« (Adorno 1959: 97) Seit damals bestimmt
die Idee, eine Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch eine
»bildungsmäßige Veredelung« der Menschen erreichen zu können, hartnäckig
den Vorstellungshorizont deutschsprachiger Intellektueller. Der Grundgedanke der Bildungsidee lautet, dass Menschen durch Wissenserwerb und die
Auseinandersetzung mit Wissen nicht bloß befähigt werden, im Rahmen jeweils gegebener Daseinsbedingungen mehr oder weniger gut zu über-leben.
Die Förderung der intellektuellen Potenz von Menschen gilt darüber hinaus
als die wesentliche Grundlage des Heranwachsens von Autonomie und Mündigkeit; dafür also, dass Menschen die Fähigkeit und den Mut entwickeln, sich
den »Zumutungen der Macht« entgegenzustellen.
Wie zu zeigen versucht wurde, kann Macht jedoch durch eine Stärkung
der Subjekte auf dem Weg, sie per Wissen und Wahrheit enger an die (herrschende) Vernunft zu binden, in ihrem Bestand nicht gefährdet werden; tatsächlich bedarf es dafür einer Schwächung der Subjekte. Wenn – im Sinne der
klassischen emanzipatorischen Emphase – das Subjekt sein eigenes Werden
und seine Verquickung mit den Machverhältnissen durch logisches Hinterfragen tatsächlich durchschauen könnte, wäre die Konsequenz auch gar nicht die
»Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit«, sondern das Implodieren seines Subjektstatus. Um Macht tatsächlich zu transzendieren, müsste das
Subjekt die Sphäre der instrumentellen Vernunft verlassen, sich damit aber
selbst den Boden unter den Füßen wegziehen. Da das Subjekt durch den Eintritt in die Sphäre der Intelligibilität entsteht, ist es in seinem Fortbestand von
dieser Sphäre existenziell abhängig. Die gegebenen Machtverhältnisse durch
das Anwenden einer instrumentell nicht kastrierten »Antivernunft« infrage
zu stellen und die innerhalb der gegebenen Machtverhältnisse idealisierte Kritikfähigkeit konsequent auf diese selbst anzuwenden, kommt einem illegalen Grenzübertritt in Richtung Nicht-Intelligibilität gleich. Dafür bedarf es
in der Tat Mutes – allerdings nicht jenes, »sich seines Verstandes ohne Anleitung durch andere zu bedienen«, sich also jenes Denkkorsett autonom anzulegen, das qua Instrumentalisierung der Vernunft in den letzten Jahrhunderten zur Standardausstattung des Subjekts geworden ist. Um die auf Grundlage
des sich selbst per instrumenteller Vernunft definierenden und disziplinierenden Subjekts beruhenden Machtverhältnisse zu überwinden, ist der Mut gefordert, den durch die herrschende Vernunft in das Prokrustesbett der Macht
gezwungenen Verstand über Bord zu werfen – sich also gewissermaßen selbst
WARUM BILDUNG BEI DER ÜBERWINDUNG DER MACHTVERHÄLTNISSE …
187
aufzugeben. Gefordert ist jener Mut, den Wittgenstein (1963: 111) am Ende seines Tractatus logico-philosophicus anspricht: die Leiter [der Vernunft – E.R.]
wegzuwerfen, nachdem man auf ihr hinaufgestiegen ist.
Erst wenn das Subjekt sich quasi selbst loslässt und insofern zu einem anderen wird, als es (in Teilbereichen) den Anruf negiert, sich zu sich selbst, zu anderen und zur Natur so zu verhalten, wie es einem als »vernünftig geltenden
Subjekt« zukommt, beginnt eine Reise zu Ufern jenseits der aktuellen Machtverhältnisse. In diesem Sinn folgert Foucault, dass (tatsächliche) Kritik am
System erst dann gegeben ist, wenn diese sich nicht bloß darin erschöpft, eine
Überprüfung unter dem Anspruch der Vernunft vorzunehmen, sondern sich
in Form einer praktischen Verweigerung einer bestimmten Subjektivitätsform
äußert (vgl.: Masschelein 2004: 95). Kritik ist für ihn deshalb nicht als rationaler Akt zu fassen, sondern als »Bewegung, in welcher sich das Subjekt das
Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und
die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin« (Foucault 1992: 15). Wie Masschelein (2003: 139) schreibt, wird Mündigkeit »in dieser Linie nicht als rationale
Autonomie und Projekt rationaler Kritik gesehen, sondern als eine praktische
Haltung, in der man sich der Interpellation, sich auf diese bestimmte Weise zu
sich selbst und anderen zu verhalten, entzieht«. »Ein solches Unternehmen« –
so Foucault – »ist das einer Ent-Subjektivierung«, eine Aktion, in der sich »das
Subjekt von sich selbst losreißt« und daran hindert, weiterhin »derselbe zu
sein« (Foucault 1996: 27).
Ein Heranwachsender konstituiert sich als eine den aktuell gegebenen
Machtverhältnissen entsprechende Subjektivität durch die existenzielle Erfahrung, nur dann als vollwertiges Mitglied der menschlichen (Interaktions-)
Gemeinschaft anerkannt zu werden, wenn sein »sich auf andere Beziehen« in
Form von Strukturen und Begriffen zur Geltung kommt, die sich innerhalb
der Grenzen des intelligiblen Raumes befinden. Die Erfahrung der Anerkennung bringt Menschen dazu, sich als ein mit den Machtverhältnissen konformes Subjekt zu kreieren und diese Subjektivitätsform fortlaufend auszubauen.
Foucault formuliert dazu: »Der Mensch ist ein Erfahrungstier: Er tritt ständig
in einen Prozess ein, der ihn als Objekt konstituiert und ihn dabei gleichzeitig
verschiebt, verformt, verwandelt – und ihn als Subjekt umgestaltet.« (Ebd.: 85)
Der Anspruch, die eigene machtgemäße Subjektivitätsform zu relativieren,
setzt demgemäß voraus, die Grenzen des »normalen« Erfahrungsraumes zu
überschreiten, sich Erfahrungen auszusetzen, die im Rahmen der gegebenen
Machtverhältnisse nicht vorgesehen sind, und dadurch eine Veränderung seiner selbst – die seine (weitere) Anerkennbarkeit gefährdet – zu riskieren. Unter
Bezugnahme auf Nietzsche, Blanchot und Bataille weist Foucault darauf hin,
dass sich das Subjekt, indem es sich auf derartige (Grenz-)Erfahrungen ein-
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benen Möglichkeit erklärt. »Bildung sollte sein, was dem freien, im eigenen
Bewusstsein gründenden, aber in der Gesellschaft fortwirkenden und seine
Triebe sublimierenden Individuum rein als dessen eigener Geist zukäme. Sie
galt stillschweigend als Bedingung einer autonomen Gesellschaft; je heller die
Einzelnen, desto heller das Ganze.« (Adorno 1959: 97) Seit damals bestimmt
die Idee, eine Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch eine
»bildungsmäßige Veredelung« der Menschen erreichen zu können, hartnäckig
den Vorstellungshorizont deutschsprachiger Intellektueller. Der Grundgedanke der Bildungsidee lautet, dass Menschen durch Wissenserwerb und die
Auseinandersetzung mit Wissen nicht bloß befähigt werden, im Rahmen jeweils gegebener Daseinsbedingungen mehr oder weniger gut zu über-leben.
Die Förderung der intellektuellen Potenz von Menschen gilt darüber hinaus
als die wesentliche Grundlage des Heranwachsens von Autonomie und Mündigkeit; dafür also, dass Menschen die Fähigkeit und den Mut entwickeln, sich
den »Zumutungen der Macht« entgegenzustellen.
Wie zu zeigen versucht wurde, kann Macht jedoch durch eine Stärkung
der Subjekte auf dem Weg, sie per Wissen und Wahrheit enger an die (herrschende) Vernunft zu binden, in ihrem Bestand nicht gefährdet werden; tatsächlich bedarf es dafür einer Schwächung der Subjekte. Wenn – im Sinne der
klassischen emanzipatorischen Emphase – das Subjekt sein eigenes Werden
und seine Verquickung mit den Machverhältnissen durch logisches Hinterfragen tatsächlich durchschauen könnte, wäre die Konsequenz auch gar nicht die
»Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit«, sondern das Implodieren seines Subjektstatus. Um Macht tatsächlich zu transzendieren, müsste das
Subjekt die Sphäre der instrumentellen Vernunft verlassen, sich damit aber
selbst den Boden unter den Füßen wegziehen. Da das Subjekt durch den Eintritt in die Sphäre der Intelligibilität entsteht, ist es in seinem Fortbestand von
dieser Sphäre existenziell abhängig. Die gegebenen Machtverhältnisse durch
das Anwenden einer instrumentell nicht kastrierten »Antivernunft« infrage
zu stellen und die innerhalb der gegebenen Machtverhältnisse idealisierte Kritikfähigkeit konsequent auf diese selbst anzuwenden, kommt einem illegalen Grenzübertritt in Richtung Nicht-Intelligibilität gleich. Dafür bedarf es
in der Tat Mutes – allerdings nicht jenes, »sich seines Verstandes ohne Anleitung durch andere zu bedienen«, sich also jenes Denkkorsett autonom anzulegen, das qua Instrumentalisierung der Vernunft in den letzten Jahrhunderten zur Standardausstattung des Subjekts geworden ist. Um die auf Grundlage
des sich selbst per instrumenteller Vernunft definierenden und disziplinierenden Subjekts beruhenden Machtverhältnisse zu überwinden, ist der Mut gefordert, den durch die herrschende Vernunft in das Prokrustesbett der Macht
gezwungenen Verstand über Bord zu werfen – sich also gewissermaßen selbst
WARUM BILDUNG BEI DER ÜBERWINDUNG DER MACHTVERHÄLTNISSE …
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aufzugeben. Gefordert ist jener Mut, den Wittgenstein (1963: 111) am Ende seines Tractatus logico-philosophicus anspricht: die Leiter [der Vernunft – E.R.]
wegzuwerfen, nachdem man auf ihr hinaufgestiegen ist.
Erst wenn das Subjekt sich quasi selbst loslässt und insofern zu einem anderen wird, als es (in Teilbereichen) den Anruf negiert, sich zu sich selbst, zu anderen und zur Natur so zu verhalten, wie es einem als »vernünftig geltenden
Subjekt« zukommt, beginnt eine Reise zu Ufern jenseits der aktuellen Machtverhältnisse. In diesem Sinn folgert Foucault, dass (tatsächliche) Kritik am
System erst dann gegeben ist, wenn diese sich nicht bloß darin erschöpft, eine
Überprüfung unter dem Anspruch der Vernunft vorzunehmen, sondern sich
in Form einer praktischen Verweigerung einer bestimmten Subjektivitätsform
äußert (vgl.: Masschelein 2004: 95). Kritik ist für ihn deshalb nicht als rationaler Akt zu fassen, sondern als »Bewegung, in welcher sich das Subjekt das
Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und
die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin« (Foucault 1992: 15). Wie Masschelein (2003: 139) schreibt, wird Mündigkeit »in dieser Linie nicht als rationale
Autonomie und Projekt rationaler Kritik gesehen, sondern als eine praktische
Haltung, in der man sich der Interpellation, sich auf diese bestimmte Weise zu
sich selbst und anderen zu verhalten, entzieht«. »Ein solches Unternehmen« –
so Foucault – »ist das einer Ent-Subjektivierung«, eine Aktion, in der sich »das
Subjekt von sich selbst losreißt« und daran hindert, weiterhin »derselbe zu
sein« (Foucault 1996: 27).
Ein Heranwachsender konstituiert sich als eine den aktuell gegebenen
Machtverhältnissen entsprechende Subjektivität durch die existenzielle Erfahrung, nur dann als vollwertiges Mitglied der menschlichen (Interaktions-)
Gemeinschaft anerkannt zu werden, wenn sein »sich auf andere Beziehen« in
Form von Strukturen und Begriffen zur Geltung kommt, die sich innerhalb
der Grenzen des intelligiblen Raumes befinden. Die Erfahrung der Anerkennung bringt Menschen dazu, sich als ein mit den Machtverhältnissen konformes Subjekt zu kreieren und diese Subjektivitätsform fortlaufend auszubauen.
Foucault formuliert dazu: »Der Mensch ist ein Erfahrungstier: Er tritt ständig
in einen Prozess ein, der ihn als Objekt konstituiert und ihn dabei gleichzeitig
verschiebt, verformt, verwandelt – und ihn als Subjekt umgestaltet.« (Ebd.: 85)
Der Anspruch, die eigene machtgemäße Subjektivitätsform zu relativieren,
setzt demgemäß voraus, die Grenzen des »normalen« Erfahrungsraumes zu
überschreiten, sich Erfahrungen auszusetzen, die im Rahmen der gegebenen
Machtverhältnisse nicht vorgesehen sind, und dadurch eine Veränderung seiner selbst – die seine (weitere) Anerkennbarkeit gefährdet – zu riskieren. Unter
Bezugnahme auf Nietzsche, Blanchot und Bataille weist Foucault darauf hin,
dass sich das Subjekt, indem es sich auf derartige (Grenz-)Erfahrungen ein-
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ERICH RIBOLITS
lässt, selbst dazu bringen kann, Dinge »mit anderen Augen wahrzunehmen«
(ebd.: 32) und »nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor« (ebd.: 24). Aber auch
wenn Foucault in diesem Zusammenhang von »Ent-Subjektivierung« oder
»Auflösung« des Subjekts spricht, geht es dabei nicht um das empirische Verschwinden des Subjekts. Denn tatsächlich »haben Menschen im Laufe ihrer
Geschichte niemals aufgehört […] sich selbst zu konstruieren […]. Die Serie
von Subjektivitäten wird niemals zu einem Ende kommen und uns niemals
vor etwas stellen, das ›der Mensch‹ wäre.« (Ebd.: 85) Ziel kann somit nicht der
endgültige Abschied vom Subjekt oder das Freisetzen beziehungsweise Wiedergewinnen einer vorausgesetzten »wahren Natur« des Menschen sein. Anzustreben ist keine wie immer definierte Vollkommenheit, sondern »bloß« ein
sich »nicht derart« mit sich selbst Identifizieren – es geht um eine »Erschütterung der […] Seins- und Selbstgewissheit« (Lüders 2007, 142) und der mit dieser korrelierenden Wahrheiten. In Anlehnung an eine häufig zitierte Formulierung Foucaults zum Ziel von Kritik (1992: 12) geht es darum, existenziell zu
erfahren, nicht ein solches Subjekt und nicht dieser Macht in derartiger Form
unterworfen sein zu müssen.
Indem »[d]ie gesellschaftliche Konstitution von Subjektivität bedingt, dass
die Linien des gesellschaftlichen Konflikts um Emanzipation nicht einfach
zwischen einzelnen Menschen oder Menschengruppen verlaufen, sondern
auch mitten durch die je Einzelnen hindurch« (Bierwirth 2013: 33), setzt tatsächliche (und nicht bloß als Bewusstwerden und Verfolgen der je eigenen
Interessen verstandene) Emanzipation das Transzendieren der durch die aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen geforderten Subjektivitätsform voraus – allerdings nicht (bloß) in Form rationaler Auseinandersetzung, sondern
»in der Tat«. »Die Transformation der Verhältnisse ist keine Angelegenheit des
Geistes, sondern eine der Praxis, die durch die Ungewissheit ihres Ausgangs
gekennzeichnet ist. Die Innerlichkeit des vom Christentum initiierten und
von Kant weitergeführten moralischen Denkens wird damit aufgebrochen
und existenziell wie experimentell nach Außen gewendet. Durch einen Übertritt gelangt man nicht in einen Raum frei von Macht, sondern erreicht nur
Veränderungen in den je aktuellen Macht-Wissen-Konstellationen.« (Riefling
2012: 160) Eine derartige konkrete, »veränderte Erprobung seiner selber« stellt
nach Foucault als praktische »Kritik dessen, was wir sind, zugleich die historische Analyse der uns gegebenen Grenzen […] und ein Experiment der Möglichkeit ihrer Überschreitung« (Foucault 1990: 53) dar. Konkret bedeutet die
»veränderte Erprobung seiner selbst« nichts anderes als ein Sich-Einlassen auf
Erfahrungen, die über den Erfahrungshorizont hinausweisen, den das »vernünftige System« üblicherweise bereitstellt, und die dazu animieren, das Verhältnis zu sich selbst und zur Welt unmittelbar anders zu begreifen. Das Sub-
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189
jekt kann sich von den es bestimmenden, habitualisierten Machtverhältnissen
nur emanzipieren, indem es sich »aussetzt« und in Erfahrungen »stürzt«, mittels derer es sich selbst der Basis seiner Existenz beraubt. Der »normale« Erfahrungsraum, in dem sich Menschen im Rahmen des gegebenen gesellschaftlichen Systems bewegen, ist durch Verwertung und Konkurrenz definiert.
Erfahrungen dieser Art stellen – im durchaus wörtlichen Sinn – den »Nährboden« der herrschenden Vernunft und der aus ihr gespeisten Subjektivitätsform
dar, der gemäß es schlichtweg verrückt ist, Mitmenschen nicht als Konkurrenten und die Welt (einschließlich seiner selbst) nicht als Ausbeutungsobjekt
wahrzunehmen und zu behandeln.
Eine Bildungstheorie, der Ent-Subjektivierung im Sinne Foucaults ein Anliegen wäre, müsste somit derartige Prozesse des Überschreitens des durch die
Machtverhältnisse limitierten Erfahrungsraumes in das Zentrum ihrer Bemühungen stellen. Das Subjekt wäre für sie nur insofern Ansprechpartner, als es
darum ginge, es in seiner Selbstgewissheit zu irritieren und zum (zeitweiligen)
Schweigen zu bringen. Bedingung der Möglichkeit von Bildung wäre nicht das
aus seinem Wissen Selbstsicherheit schöpfende Subjekt, sondern die Absenz
des mit sich identischen Selbst. Das Ziel von Bildungsbemühungen bestünde
im Versuch, Subjekte zu ermutigen, die Grenzen ihrer Anerkennbarkeit aufs
Spiel zu setzen und Sehnsüchten Platz zu machen, die aus der vor- und außerdiskursiven Sphäre hervordrängen, den Kriterien der herrschenden Vernunft
entsprechend aber keinen Sinn ergeben und dem Subjekt deshalb als irrational,
naiv und »kindisch« erscheinen (müssen). Es ginge darum, jenen Anteil des
Menschen zu stärken, der in der Psychotherapie verschiedentlich allegorisch
als »inneres Kind« apostrophiert wird. Wenn im Zentrum der Bildungstheorie
nicht die Emanzipation des Subjekts, sondern die Emanzipation vom Subjekt
steht, gilt es das Individuum mit ihm innewohnenden Momenten zu versöhnen, die nicht oder zumindest nicht völlig dem diskursiven Raum eingemeindet sind. Eine derartige Bildungstheorie müsste somit ernst nehmen, was von
Deleuze/Guattari (1992) in Anlehnung an Spinozas Affekttheorie als »Begehren« bezeichnet wurde, mit dem sie aber nicht einfach Triebe, Gefühle oder
Emotionen ansprechen, sondern Affektionen des Körpers, die aus einer präsubjektiven Sphäre in die subjektive Existenz des Individuums hinüberstrahlen. Und sie müsste Menschen Mut machen, ihr (irrationales) Begehren zum
Anlass zu nehmen, die Grenzen der durch die gegebenen Machtverhältnisse
limitierten Formen der Bezugnahme auf sich selbst, andere Menschen und die
Natur experimentell zu überschreiten. Derartige Selbstrelativierungserfahrungen lassen sich allerdings weder didaktisieren noch reflektierend »bearbeiten« – sie können sprachlich nicht repräsentiert werden und entziehen sich
dem vernünftigen Zugang. Wie Thompson unter Bezugnahme auf die Aus-
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ERICH RIBOLITS
lässt, selbst dazu bringen kann, Dinge »mit anderen Augen wahrzunehmen«
(ebd.: 32) und »nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor« (ebd.: 24). Aber auch
wenn Foucault in diesem Zusammenhang von »Ent-Subjektivierung« oder
»Auflösung« des Subjekts spricht, geht es dabei nicht um das empirische Verschwinden des Subjekts. Denn tatsächlich »haben Menschen im Laufe ihrer
Geschichte niemals aufgehört […] sich selbst zu konstruieren […]. Die Serie
von Subjektivitäten wird niemals zu einem Ende kommen und uns niemals
vor etwas stellen, das ›der Mensch‹ wäre.« (Ebd.: 85) Ziel kann somit nicht der
endgültige Abschied vom Subjekt oder das Freisetzen beziehungsweise Wiedergewinnen einer vorausgesetzten »wahren Natur« des Menschen sein. Anzustreben ist keine wie immer definierte Vollkommenheit, sondern »bloß« ein
sich »nicht derart« mit sich selbst Identifizieren – es geht um eine »Erschütterung der […] Seins- und Selbstgewissheit« (Lüders 2007, 142) und der mit dieser korrelierenden Wahrheiten. In Anlehnung an eine häufig zitierte Formulierung Foucaults zum Ziel von Kritik (1992: 12) geht es darum, existenziell zu
erfahren, nicht ein solches Subjekt und nicht dieser Macht in derartiger Form
unterworfen sein zu müssen.
Indem »[d]ie gesellschaftliche Konstitution von Subjektivität bedingt, dass
die Linien des gesellschaftlichen Konflikts um Emanzipation nicht einfach
zwischen einzelnen Menschen oder Menschengruppen verlaufen, sondern
auch mitten durch die je Einzelnen hindurch« (Bierwirth 2013: 33), setzt tatsächliche (und nicht bloß als Bewusstwerden und Verfolgen der je eigenen
Interessen verstandene) Emanzipation das Transzendieren der durch die aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen geforderten Subjektivitätsform voraus – allerdings nicht (bloß) in Form rationaler Auseinandersetzung, sondern
»in der Tat«. »Die Transformation der Verhältnisse ist keine Angelegenheit des
Geistes, sondern eine der Praxis, die durch die Ungewissheit ihres Ausgangs
gekennzeichnet ist. Die Innerlichkeit des vom Christentum initiierten und
von Kant weitergeführten moralischen Denkens wird damit aufgebrochen
und existenziell wie experimentell nach Außen gewendet. Durch einen Übertritt gelangt man nicht in einen Raum frei von Macht, sondern erreicht nur
Veränderungen in den je aktuellen Macht-Wissen-Konstellationen.« (Riefling
2012: 160) Eine derartige konkrete, »veränderte Erprobung seiner selber« stellt
nach Foucault als praktische »Kritik dessen, was wir sind, zugleich die historische Analyse der uns gegebenen Grenzen […] und ein Experiment der Möglichkeit ihrer Überschreitung« (Foucault 1990: 53) dar. Konkret bedeutet die
»veränderte Erprobung seiner selbst« nichts anderes als ein Sich-Einlassen auf
Erfahrungen, die über den Erfahrungshorizont hinausweisen, den das »vernünftige System« üblicherweise bereitstellt, und die dazu animieren, das Verhältnis zu sich selbst und zur Welt unmittelbar anders zu begreifen. Das Sub-
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jekt kann sich von den es bestimmenden, habitualisierten Machtverhältnissen
nur emanzipieren, indem es sich »aussetzt« und in Erfahrungen »stürzt«, mittels derer es sich selbst der Basis seiner Existenz beraubt. Der »normale« Erfahrungsraum, in dem sich Menschen im Rahmen des gegebenen gesellschaftlichen Systems bewegen, ist durch Verwertung und Konkurrenz definiert.
Erfahrungen dieser Art stellen – im durchaus wörtlichen Sinn – den »Nährboden« der herrschenden Vernunft und der aus ihr gespeisten Subjektivitätsform
dar, der gemäß es schlichtweg verrückt ist, Mitmenschen nicht als Konkurrenten und die Welt (einschließlich seiner selbst) nicht als Ausbeutungsobjekt
wahrzunehmen und zu behandeln.
Eine Bildungstheorie, der Ent-Subjektivierung im Sinne Foucaults ein Anliegen wäre, müsste somit derartige Prozesse des Überschreitens des durch die
Machtverhältnisse limitierten Erfahrungsraumes in das Zentrum ihrer Bemühungen stellen. Das Subjekt wäre für sie nur insofern Ansprechpartner, als es
darum ginge, es in seiner Selbstgewissheit zu irritieren und zum (zeitweiligen)
Schweigen zu bringen. Bedingung der Möglichkeit von Bildung wäre nicht das
aus seinem Wissen Selbstsicherheit schöpfende Subjekt, sondern die Absenz
des mit sich identischen Selbst. Das Ziel von Bildungsbemühungen bestünde
im Versuch, Subjekte zu ermutigen, die Grenzen ihrer Anerkennbarkeit aufs
Spiel zu setzen und Sehnsüchten Platz zu machen, die aus der vor- und außerdiskursiven Sphäre hervordrängen, den Kriterien der herrschenden Vernunft
entsprechend aber keinen Sinn ergeben und dem Subjekt deshalb als irrational,
naiv und »kindisch« erscheinen (müssen). Es ginge darum, jenen Anteil des
Menschen zu stärken, der in der Psychotherapie verschiedentlich allegorisch
als »inneres Kind« apostrophiert wird. Wenn im Zentrum der Bildungstheorie
nicht die Emanzipation des Subjekts, sondern die Emanzipation vom Subjekt
steht, gilt es das Individuum mit ihm innewohnenden Momenten zu versöhnen, die nicht oder zumindest nicht völlig dem diskursiven Raum eingemeindet sind. Eine derartige Bildungstheorie müsste somit ernst nehmen, was von
Deleuze/Guattari (1992) in Anlehnung an Spinozas Affekttheorie als »Begehren« bezeichnet wurde, mit dem sie aber nicht einfach Triebe, Gefühle oder
Emotionen ansprechen, sondern Affektionen des Körpers, die aus einer präsubjektiven Sphäre in die subjektive Existenz des Individuums hinüberstrahlen. Und sie müsste Menschen Mut machen, ihr (irrationales) Begehren zum
Anlass zu nehmen, die Grenzen der durch die gegebenen Machtverhältnisse
limitierten Formen der Bezugnahme auf sich selbst, andere Menschen und die
Natur experimentell zu überschreiten. Derartige Selbstrelativierungserfahrungen lassen sich allerdings weder didaktisieren noch reflektierend »bearbeiten« – sie können sprachlich nicht repräsentiert werden und entziehen sich
dem vernünftigen Zugang. Wie Thompson unter Bezugnahme auf die Aus-
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ERICH RIBOLITS
führungen Foucaults in dessen »Vorrede zur Überschreitung« betont, bewegen
sich derartige Erfahrungen »in der ›Ohnmacht ihrer Sprache‹. Die Beteiligten
sind nicht in der Lage, das zu thematisieren, was so verstörend und deplatzierend gewesen ist. Mit anderen Worten: Dieser Erfahrungsprozess existiert
nicht als Realität, sondern lediglich als Bezug zur Auflösung des Subjekts als
in Machtstrukturen konstituiertes.« (Thompson 2009: 194) »Der existenziell
zu vollziehende Akt der Überschreitung ist, ebenso wie die ihn möglich machende Kritik, singulär und lokal« und »erschöpft sich in der Gelegenheit, die
ihn auslöst.« (Riefling 2012: 164).
Eine Bildungstheorie, die zur Kenntnis nimmt, dass Kritik an den und Widerstand gegen die Machtverhältnisse nur durch ein auf Basis individueller
Erfahrungen ausgelöstes Relativieren des an die herrschende Vernunft geketteten Subjekts möglich wird, müsste bis dato sakrosankte bildungstheoretische Prämissen aufgeben. Vor allem müsste sie sich von der optimistischen
Annahme der in den gesellschaftlichen Prozess eingespannten formalisierten Vernunft als den Gegenspieler der Macht und damit einhergehend von
der Vorstellung verabschieden, dass Emanzipation von den Machtverhältnissen als Akt der Vernunft begriffen und unter Bezugnahme auf diese angeregt
werden kann. Stattdessen müsste sie anerkennen, dass eine Sphäre jenseits der
diskursiv konstruierten Intelligibilität existiert, eine Sphäre, die jenen Impulsen der Menschlichkeit Asyl bietet, die den Standards der herrschenden Vernunft nicht untergeordnet sind und durch die Machtverhältnisse nicht kanalisiert werden – und sie müsste schließlich genau diese Sphäre zu ihrer Domäne
erklären. Nur ein derartiger »Abschied vom Subjekt« böte einen Ansatz für das
Aufbrechen der gegebenen Komplizenschaft von Bildung und Macht, die sich
darin zeigt, dass die Bildungsidee – obzwar sie mit emanzipatorischem Pathos
in die Welt gesetzt wurde und an ihrem machtkritischen Nimbus bis heute
krampfhaft festhält – seit ihrem Entstehen die Legitimation für die Selbststeuerung der Subjekte im Sinne der Machtverhältnisse abgibt.
WARUM BILDUNG BEI DER ÜBERWINDUNG DER MACHTVERHÄLTNISSE …
191
Literatur
ADORNO, Theodor W. (1951): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt
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Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve Verlag, S.
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12. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag.
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Taschenbuch Verlag.
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ERICH RIBOLITS
führungen Foucaults in dessen »Vorrede zur Überschreitung« betont, bewegen
sich derartige Erfahrungen »in der ›Ohnmacht ihrer Sprache‹. Die Beteiligten
sind nicht in der Lage, das zu thematisieren, was so verstörend und deplatzierend gewesen ist. Mit anderen Worten: Dieser Erfahrungsprozess existiert
nicht als Realität, sondern lediglich als Bezug zur Auflösung des Subjekts als
in Machtstrukturen konstituiertes.« (Thompson 2009: 194) »Der existenziell
zu vollziehende Akt der Überschreitung ist, ebenso wie die ihn möglich machende Kritik, singulär und lokal« und »erschöpft sich in der Gelegenheit, die
ihn auslöst.« (Riefling 2012: 164).
Eine Bildungstheorie, die zur Kenntnis nimmt, dass Kritik an den und Widerstand gegen die Machtverhältnisse nur durch ein auf Basis individueller
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der Vorstellung verabschieden, dass Emanzipation von den Machtverhältnissen als Akt der Vernunft begriffen und unter Bezugnahme auf diese angeregt
werden kann. Stattdessen müsste sie anerkennen, dass eine Sphäre jenseits der
diskursiv konstruierten Intelligibilität existiert, eine Sphäre, die jenen Impulsen der Menschlichkeit Asyl bietet, die den Standards der herrschenden Vernunft nicht untergeordnet sind und durch die Machtverhältnisse nicht kanalisiert werden – und sie müsste schließlich genau diese Sphäre zu ihrer Domäne
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BILDUNG ALS SUBJEKTIVIERUNG
193
Bildung als Subjektivierung
Anmerkungen zur Macht der Bildung
Norbert Ricken
Durchmustert man den gegenwärtigen Theoriediskurs in der Erziehungswissenschaft, dann fällt nicht nur auf, dass man über ›Bildung‹ nicht nicht sprechen kann; vielmehr ist ›Bildung‹, durchaus überraschend, wieder aktuell –
und das nicht nur in politischen Sonntagsreden (vgl. Herzog 1997). Seit einigen
Jahren nun ist die Theoriedebatte um das Konzept der ›Bildung‹ neuerlich entbrannt (vgl. Frischmann 2012): Von einer immer noch »unabgegoltenen Idee«
(vgl. Sünker 2014: 335) und der »Renaissance einer Leitidee« (Dreßler/Sander
2015: 461) ist die Rede; mehr noch: Trotz seines inflationären Gebrauchs führe
der Begriff der Bildung auch gegenwärtig eine eher »marginale Existenz«, weil
»präzise und differenzierte analytische Rekonstruktionen« fehlten und ein
»wirklicher Wissenschaftsdiskurs über die […] Relevanz [der Bildung] noch
nicht entfacht« sei (Stojanov 2014: 203). Ist bereits dieser Befund überaus erstaunlich, so muss doch befremden, dass im anschließenden Einsatz dann weniger auf ›Bildung‹ als ein historisch situiertes und in seiner Bedeutung längst
etabliertes Konzept zurückgegriffen wird, sondern vielmehr auch die Anstrengung unternommen wird, »Bildung anders [zu] denken« (Koller 2012) und als
neuerlich verheißungsvollen Grundbegriff der Erziehungswissenschaft und
– darüber hinaus – der Humanwissenschaften zu reklamieren (vgl. Stojanov
2014: 204) – was angesichts der überaus langen und kaum noch zu übersehenden Diskursgeschichte der ›Bildung‹ (vgl. exemplarisch Koselleck 2006 oder
jüngst Rittelmeyer 2012) auch einer gewissen Komik nicht entbehrt. Denn –
wie oft ist nicht die ›Idee der Bildung‹ in ihrer Genese immer wieder rekonstruiert worden, wie oft sind nicht immer wieder alte und neue Bedeutungen
der Geschichte der Bildung abgetrotzt und als theoretisch oder praktisch unverzichtbare Orientierungen ausgegeben worden.
Man mag nun in diesen Markierungen nichts anderes als die – bisweilen auch
nicht ganz uneigennützige – Konfiguration des Bildungsdiskurses und des eigenen Einsatzes in ihm sehen; man mag auch in der neuen Aktualität nur eine
weitere Welle erkennen, die an ältere Konjunkturen erinnert und ähnlich wie
diese auch wieder abebbt – denn immerhin gehört es zur Geschichte der Bildung doch wohl dazu, dass der Begriff immer wieder scharfer Kritik unterzogen und dann zugunsten anderer Begriffe preisgegeben worden ist. Systematisch gesehen legt die Beharrlichkeit des Konzepts der ›Bildung‹ jedenfalls eine
Eveline Christof,
Erich Ribolits (Hg.)
Bildung und Macht
Eine kritische Bestandsaufnahme
Löcker