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[JOGU] SPEZIAL II/2007 € 4,80
Das Magazin
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Impressum
Inhalt
Zum Titelbild: Bonifatius, Rhabanus Maurus, Erzbischof Willigis,
Johannes Gutenberg, Georg Forster, Wilhelm Immanuel von
Ketteler, Carl Zuckmayer und Anna Seghers – acht Leitfiguren der
Mainzer Stadtgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart sind
Inhalt dieser JOGU SPEZIAL, die anlässlich des Jahrs der Geisteswissenschaften von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
herausgegeben wird. Geisteswissenschaftliche Professorinnen
und Professoren schildern, welchen Einfluss diese herausragenden
Persönlichkeiten als Weltbürger, Europäer und berühmte Mainzer
auf die Stadt Mainz und ihre Zeitgenossen ausübten.
Herausgeber:
Der Präsident der Johannes Gutenberg-Universität Mainz,
Univ.-Prof. Dr. Georg Krausch
Leitung Bereich Öffentlichkeitsarbeit:
Petra Giegerich
Leitung Redaktion:
Annette Spohn-Hofmann (V.i.S.d.P.)
Autoren dieser Ausgabe:
Univ.-Prof. Dr. Mechthild Dreyer, Univ.-Prof. Dr. Franz Josef Felten,
Univ.-Prof. Dr. Stephan Füssel, Prof. Dr. Ernst-Dieter Hehl
Univ.-Prof. Dr. Michael Kißener, Prof. Dr. Hermann Kurzke,
PD Dr. Gunther Nickel, Univ.-Prof. Dr. Oliver Scheiding
Univ.-Prof. Dr. phil. Bernhard Spies
Diese Sonderausgabe der JOGU erscheint
in Kooperation mit der
Redaktionsassistenz:
Birgitt Maurus
4 Zeitleiste
5 Editorial
6 Baumeister und Wegbereiter
Bonifatius – Apostel der Deutschen
8 Die Welt ist lesbar
Hrabanus Maurus: Mönch, Gelehrter, Erzbischof
Kontakt:
Telefon: + 49 61 31 39-2 23 69, 39-2 05 93
Telefax: + 49 61 31 39-2 41 39
E-Mail: [email protected]
Internet: http://zope.verwaltung.uni-mainz.de/presse/jogu
10 Erzbischof Willigis von Mainz
Der „zweite Mann“ nach dem Papst in der Kirche des Reiches
1. Auflage 2007
12 Vater der Massenkommunikation
Johannes Gutenberg
Titelbild: Annette Spohn-Hofmann
14 Untergang einer Reichshauptstadt Goethes „Belagerung von Mainz“
Gestaltung: Thomas Design, Freiburg
Druck:
Werbedruck GmbH Horst Schreckhase
Postfach 1233
34283 Spangenberg
Telefon + 49 56 63 94 94
Telefax + 49 56 63 93 988-0
www.schreckhase.de
[email protected]
Foto: Peter Pulkowski, 2005
Namentlich gezeichnete Beiträge
geben nicht unbedingt die Meinung
des Herausgebers und der Redaktion
wieder. Nachdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
[JOGU] SPEZIAL
II/2007
Dom St. Martin: Der romanische Bau, der 975 bis
1036 entstand, ist eine dreischiffige Säulenbasilika
mit zwei Chören und vielen Kapellen. Er hat sechs
Türme und prägt damit die Mainzer Altstadt.
Im Gegensatz zu den meisten Kirchenbauten
jener Zeit, deren Hauptchor stets gen Osten
gerichtet war, ist der Mainzer Dombau westwärts gerichtet, wie dies auch bei den großen
Kathedralen Roms der Fall war. Neben den
Domen von Speyer und Worms gehört er zu
den Höhepunkten der romanischen Sakralbauten am Oberrhein.
16 Weltumsegler, Revolutionär, Mainzer
Georg Forster oder vom Leben eines deutschen Thomas Paine
18 Bischof der Moderne
Wilhelm Emmanuel von Ketteler
20 Schriftsteller und Politikberater
Carl Zuckmayer
22 Weltliteratur aus Mainz
Anna Seghers
[JOGU] SPEZIAL
II/2007
Zeitleiste
Editorial
600
Bonifatius (673 –754) 716 unternahm Bonifatius eine erste
Missionsreise zu den Friesen. Diese scheiterte jedoch an dem
Friesenherzog Radbod, einem Heiden und Gegner der Franken, der
gerade das südwestliche Friesland von diesen zurückerobert hatte.
So kehrte Bonifatius noch im Herbst 716 nach England zurück,
wo er im darauf folgenden Jahr zum Abt gewählt wurde.
Hrabanus Maurus (780 – 856) Hrabanus Maurus hat dem
Wissen eine wesentliche Rolle im Leben des Menschen eingeräumt.
Zudem hat er maßgeblich dazu beigetragen, seinen Zeitgenossen
die umfangreichen Wissensbestände der heidnischen und der
christlichen Antike zu vermitteln. Das wohl bedeutendste Werk
Hrabans, das diesem Zweck der Wissensvermittlung dient, ist die
zwischen 842 und 847 (dem Jahr seiner Ernennung zum Erzbischof
von Mainz) entstandene große Enzyklopädie „Von den Naturen
der Dinge“ (De rerum naturis) oder – wie sie auch genannt wird
– „Vom Universum“ (De universo).
700
800
Liebe Leserin, lieber Leser,
900
1000
1100
Erzbischof Willigis von Mainz (um 940 – 1011) Weihnachten 983 wurde der dreijährige Otto III. auf Geheiß seines
kaiserlichen Vaters Otto II. in Aachen zum König gesalbt und
gekrönt. Willigis vollzog diese feierliche Liturgie zusammen mit dem
Erzbischof von Ravenna. Während er die Bischöfe und die Kirche des
nordalpinen Reiches repräsentierte, stand Johannes von Ravenna für
die Bischöfe des italienischen Reichsteils. Das Zusammenwirken beider Erzbischöfe bei der Königskrönung signalisierte die Verschmelzung beider Reichsteile im Zeichen des ottonischen Kaisertums.
1200
1300
1400
1500
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) 1792/1793
schloss sich die schwer befestigte Stadt Mainz der französischen
Revolution an. Goethe, der wohl so eine Art Kriegsberichterstatter
hätte sein sollen, schrieb 1793: denn „grade das worauf alles
ankommt darf man nicht sagen“, und auf das, was er sagen durfte,
kam es ihm nicht an. Wenn man aber das Entscheidende verschweigen muss, wird der Bericht zu einem diplomatischen Eiertanz.
Georg Forster (1754 – 1794) Der Weltumsegler Georg Forster,
der drei Jahre von 1772 bis 1775 zusammen mit James Cook den
sagenhaften Australkontinent gesucht und dabei die Inselwelt des
Pazifiks erforscht hatte, wurde als Verfasser des berühmten Reiseberichts „A Voyage round the World“ (1777) nach seiner Rückkehr
von der Blüte der Gelehrten stürmisch gefeiert.
Carl Zuckmayer (1896 – 1971) Der 22. Dezember 1925 war ein
Glückstag in Zuckmayers Leben. Die Uraufführung seiner Komödie
„Der fröhliche Weinberg“ im Berliner Theater am Schiffbauerdamm
hatte einen derart überwältigenden Erfolg beim Premierenpublikum,
dass fast alle Theater in Deutschland sie nachspielen wollten. Mehr
als 120.000 Reichsmark flossen ihm binnen eines Jahres an Tantiemen zu. Das entsprach dem Lebenseinkommen eines Schwerstarbeiters. Über Nacht wurde er zu einem allseits gefragten Autor.
1600
1700
1800
Johannes Gutenberg (1400 – 1468) Das überaus virulente
15. Jahrhundert mit zwei großen Reformkonzilien, mit der Gründung
von 15 (!) neuen Universitäten und zahlreichen technischen notwendigen Erfindungen, wie etwa die Papierherstellung ab 1390 in
Nürnberg, die Weiterentwicklung der Spindelpresse zur Druckerpresse, die chemischen und physikalischen Experimente, die wir in Gutenbergs Straßburger Zeit nachweisen können, aber auch vor allen
Dingen die geistige Kraft des Humanismus schufen ein Panorama,
in dem die Medienrevolution Gutenbergs ihren Widerhall fand.
Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811 – 1877) 1848
zog Ketteler als Abgeordneter in das Frankfurter Paulskirchenparlament ein. Seine zunehmende Popularität führten dann schon bald
zu einem steilen Aufstieg. 1849 wurde er Probst von Berlin und
fürstbischöflicher Legat für die Mark Brandenburg und Pommern.
1850 profitierte er von einem Streit im Mainzer Domkapitel, der
ihn schließlich als eine Art Kompromisskandidaten in das Amt des
Bischofs von Mainz brachte. Seine Weihe zum Bischof am 25. Juli
1850 erfolgte ohne großen Aufwand und Kosten für die Diözese
– Ketteler blieb sein Leben lang ein sparsamer Mann, der sogar
eine eigene Kutsche für überflüssigen Aufwand hielt.
jede Stadt in Deutschland wird für sich in Anspruch
nehmen können, berühmte Söhne und Töchter der
Stadt präsentieren zu können; Nur wenige deutsche
Städte können jedoch vom Mittelalter bis zum 20.
Jahrhundert eine derart illustre Schar aufbieten,
dass es schwergefallen ist, die Auswahl „Berühmter Mainzer“ für die Veranstaltungsreihe „Universität im Rathaus“ anlässlich des Jahrs der Geisteswissenschaften zu begrenzen. Mainz als eine Stadt
reich an Geschichte und Kultur hat Persönlichkeiten
hervorgebracht und angezogen, die nicht nur Wissenschaftler nachhaltig beschäftigt haben, sondern
die lokale und überregionale „personalisierte Gedächtnisorte“ geworden sind.
Es liegt wohl in der Natur des Menschen, dass ihm
Werk und Wirken, Ideenwelt und historisch-kulturelle Kontexte von Personen über deren Lebenswege besonders zugänglich sind. Daher haben sich
die Geisteswissenschaften der Johannes-Gutenberg
Universität mit dieser Veranstaltungsreihe dazu entschlossen, aktuelle Fragen geisteswissenschaftlicher
Erkenntnis an die Biographie von Personen zu knüpfen und dem Phänomen nachzugehen, warum diese
– obwohl immer wieder neu diskutiert und eingeordnet – ihre Bedeutung behalten: Bonifatius, Hrabanus Maurus und Willigis waren nicht nur bedeutende Bischöfe und Erzbischöfe für Mainz, sondern
bedeutende Gelehrte für das gesamte deutsche
Mittelalter; Johannes Gutenberg wurde zum Vater
der Massenkommunikation und schuf den freien Zugang zu Bildung und Information und wurde daher
1946 Namenspatron unserer Mainzer Universität. In
der Person Georg Forsters finden wir die Aneignung
der Welt in Form forschender und beobachtender
Neugier, im lokalen Zusammenhang ist er eher für
seine Teilnahme an der Mainzer Republik bekannt.
Wilhelm Emmanuel von Ketteler als der wohl bedeutendste Mainzer Bischof des 19. Jahrhunderts
ist im nationalen historischen Gedächtnis vor allem
in seinem Bemühen um die katholische Soziallehre
verankert. Anna Seghers erlebte prägende Jahre in
Mainz, Carl Zuckmayer schöpfte aus dem reichen
Fundus regionaler Geschichten und Traditionen:
Beide stehen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven für bedeutende deutschsprachige Literatur
des 20. Jahrhunderts. Ein Sondertermin widmet sich
Goethes faszinierendem Augenzeugenbericht der
„Belagerung von Mainz“ vor dem Hintergrund der
Revolutionskriege.
Es hat von jeher zu den vornehmen Aufgaben der
Mainzer Geisteswissenschaften gehört, Ergebnisse
ihrer wissenschaftlichen Arbeit auch einer Öffentlichkeit zu vermitteln, die über die jeweilige akademische Zunft hinausgeht. Diesem Zweck dienen
die Veranstaltungsreihe wie auch dieses anlässlich
dieser Reihe herausgegebene Sonderheft „JOGU
SPEZIAL – Berühmte Mainzer“. Die Autorinnen und
Autoren sind herausragende Experten für ihr Thema
und geben zugleich einen Einblick in ihre aktuellen
Forschungen.
So unterschiedlich die Personen, die betrachtet
werden, so vielfältig sind auch die Mainzer Geisteswissenschaften an unserer Johannes GutenbergUniversität Mainz, vor allem beheimatet in den
Fachbereichen 05 (Philologie und Philosophie) und
07 (Geschichts- und Kulturwissenschaften). Sie betreiben eine vielfältige Forschung über alle Epochen
des menschlichen Seins von den ersten Hochkulturen bis in unsere unmittelbare Gegenwart, und sie
bedienen sich dabei aktueller und herausfordernder
methodischer und konzeptioneller Zugänge in Altertums-, Kultur-, Geschichts- Literatur-, Sprach- und
Medienwissenschaften. Die Mainzer Geisteswissenschaften tragen das Ihre dazu bei, auf höchstem
Niveau Grundlagenforschung und Orientierungswissen über die Welt zu bieten. Wir verfolgen mit
den „Berühmten Mainzern“ einen Zugang, der die
Verbindung zur Stadt und zur Öffentlichkeit ganz
bewusst sucht. In diesem Sinne danken wir bereits
jetzt den beteiligten Kolleginnen und Kollegen sehr
herzlich.
Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre der
Beiträge in der JOGU SPEZIAL.
1900
2000
Anna Seghers (1900 – 1983) Als 1933 die Nationalsozialisten
an die Macht kamen, stand Anna Seghers gleich doppelt in deren
Visier, als Jüdin und als Kommunistin. In allen äußeren Hinsichten
kann das Exil, das die Schriftstellerin ab 1933 in Frankreich und
ab 1941 in Mexiko fand, nur als multipler Absturz beschrieben
werden, mit mehrmaligem hartem Aufprall, so vor allem 1942 bei
der Nachricht, dass die in Mainz zurückgebliebene Mutter in ein KZ
deportiert und zu Tode gekommen sei.
Stephan Füssel
Dekan Fachbereich 05: Philologie und Philosophie
Jan Kusber
Dekan Fachbereich 07: Geschichts- und Kulturwissenschaften
[JOGU] SPEZIAL
II/2007
Berühmte Mainzer
Foto: Elmar Rettinger
Berühmte Mainzer
Baumeister und Wegbereiter
Bonifatius – Apostel der Deutschen Der angelsächsische Missionar,
Kirchenreformer und Erzbischof Bonifatius, der die letzten Jahre auch Bischof
von Mainz war, gehört zweifellos zu den Menschen, deren Aktionsradius weit
über Mainz hinaus reichte. Sein Handeln trug zu dem bei, was man die „weltgeschichtliche Wende des 8. Jahrhunderts“ nannte, ganz zu schweigen von seinen
Verdiensten um Christianisierung und Kulturtransfer. Zudem ist über sein Leben
und Wirken mehr bekannt als über die meisten seiner Zeitgenossen – und vieler
später Lebenden, dank der Briefe, die in Mainz nach seinem Tod zusammengestellt und dank der Vita, die hier geschrieben wurde.
Entscheidungen den Grund für seine Erfolge als
Missionar, als Organisator und Reformer der Kirche:
Von Anfang an sicherte er sich die Unterstützung
des Papstes, der ihn zum Bischof erhob, ihm den
Namen Bonifatius gab, den er fortan führte. Hinzu
kam die Protektion des faktischen Herrn des fränkischen Reiches, des Hausmeiers Karl Martell. Beide
unterstützten ihn in seiner Arbeit in den hessischthüringischen Grenzgebieten mit Schutzbriefen und
Empfehlungsschreiben. Fränkische Stützpunkte wie
Büraburg gaben ihm Rückhalt bei seiner Mission,
die vor spektakulären Gewaltakten nicht zurückschreckten: Fällung der Donareiche!
Bonifatius im Geist der Ökumene, aber mit konfessionellen Unterschieden – auch heute noch, wenn
auch entspannter als in der Zeit nach der Reformation, als Bonifatius von evangelischer Seite als
„Malefatius“ (Übeltäter) verurteilt wurde, weil er
die freie germanische Kirche Rom ausgeliefert habe,
oder im 19. Jahrhundert, als er katholischerseits als
„Apostel der Deutschen“ an die ideologische Front
geschickt wurde.
Stets war ihm der Apostolische
Stuhl maßgebliche Quelle des
Rechts, der Liturgie,
der Gebräuche.
Abb.: © Wikimedia Commons
So ist es nur konsequent, dass Bonifatius weit über
Mainz hinaus bekannt war und ist, dass man sich
an ihn erinnert, ihn feiert, ja verehrt, ihn für sich in
Anspruch nimmt oder kritisch sieht, sein Leben und
Wirken im Kontext seiner Zeit wie sein Nachleben
künstlerisch behandelt oder wissenschaftlich unter
die Lupe nimmt – besonders zu runden Gedenktagen. So auch im Jahre 2004, zum 1250. Todestag,
als allein in Mainz verblüffend viele und vielfältige
Aktivitäten ihm gewidmet waren.
Auch die Evangelische Kirche feierte am Todestag
einen Bonifatius-Tag in der Johanniskirche mit einem Vortrag und mit der Vorführung und Diskussion
einer der beiden zum Jubiläum produzierten Fernsehfilme (Tod im Morgengrauen). Der Landesbischof
sah den Missionar und Reformer Bonifatius – mit
kritischem Blick, wie er der Presse vorab erläuterte
– als Vordenker des christlichen Abendlandes, der
Strömungen des alten Christentums ausgegrenzt,
Fehlentwicklungen des Mittelalters vorgearbeitet, aber auch Positionen der Reformation Martin
Luthers vorgelebt habe, aber nicht als Heiligen.
Bonifatius war, so scheint es 2004, so populär wie
noch nie, und so mag man fragen: Wer war dieser
Mann, an den man 1250 Jahre nach seinem Tod so
intensiv und vielfältig erinnert? Warum ist er für uns
so interessant?
Als Kind bereits trat der junge Winfried in ein südenglisches Kloster ein und durchlief die übliche
Ausbildung. Offenbar mit großem Erfolg, denn bald
wurde er selbst Lehrer, gelehrter Autor und Abt,
und nahm an Synoden und komplizierten Verhandlungen teil. Doch hielt es ihn nicht in England. Wie
nicht wenige seiner Landsleute sah er seine Berufung in der Mission bei den verwandten Sachsen
auf dem Festland.
Nach einem kurzfristig gescheiterten ersten Versuch in Friesland 716, legte er
bei seinem Neuanfang 718 mit zwei
Bonifatius lies eines der wichtigsten
germanischen Heiligtümer – die
Donareiche – unter den Augen der
noch nicht zum Christentum bekehrten
Chatten fällen. Gemälde von 1737
[JOGU] SPEZIAL
II/2007
Die Bindung an das Papsttum, zu dem er 722 in
ein besonderes Treueverhältnis getreten war, war
freilich viel tiefer. Stets war ihm der Apostolische
Stuhl maßgebliche Quelle des Rechts, der Liturgie,
der Gebräuche, vor allem als er mit Hilfe des bayrischen Herzogs die bayrische Kirche reorganisierte
und nach dem Tode Karl Martells, 741, dessen Söhne und Nachfolger, Karlmann und Pippin, für eine
umfassende Reform der fränkischen Reichskirche
gewann. Beim Nachfolger des Apostelfürsten suchte er immer wieder Rat in allen Problemen, vor die
ihn eine heidnisch-christliche Mischgesellschaft an
den Grenzen des Reiches mit rudimentären kirchlichen und politischen Strukturen stellte – bis in
banalste Details. Hier suchte er auch Unterstützung
gegen fränkische Große, Kleriker wie Laien, die seine Vorstellungen vom rechten Lebenswandel nicht
teilten und sich der von ihm energisch betriebenen
Reorganisation der Kirche widersetzten.
Selbst der Papst tröstete ihn,
er möge Geduld haben,
er habe doch schon so
viel erreicht.
Nach ersten Erfolgen musste Bonifatius schnell zurückstecken, weil seine Pläne zur finanziellen Sicherung der einzelnen Kirchen, Klöster und Bistümer,
zur (Neu)Besetzung der Bistümer, zur Wiedererrichtung der Kirchenprovinzen tief ins politisch-gesellschaftliche Gefüge eingriffen.
Der mit Elan gestartete Reformer, den man geradezu auflaufen ließ, trug schwer an diesen Rückschlä-
gen, die nach seinem Verständnis nicht nur ihn, sondern
die Kirche insgesamt trafen. Man versteht, dass sich die
resignativen Äußerungen häufen, vor allem in Briefen
in seine Heimat. Selbst der Papst tröstete ihn, er möge
Geduld haben, er habe doch schon so viel erreicht.
In der Tat – im Grunde hätte der alt gewordene Bonifatius zufrieden Bilanz ziehen können: War ihm Sachsen als
Missionsgebiet zwar verschlossen geblieben, so hatte er
in der Organisation und Reform der Kirche viel erreicht.
Aus der schlecht geführten fränkischen Landeskirche
hatte Bonifatius eine romverbundene Landeskirche gemacht, mit Männern, die sein Reformwerk weitertragen
und große neue Dinge anbahnen konnten – freilich, und
darin kann man die Tragik des verdienten alten Mannes sehen, an ihm vorbei agierten. Bonifatius war nicht
mehr beteiligt, als die Franken 751 den karolingischen
Hausmeier mit dem Segen des Papstes zum König erhoben und den merowingischen Vorgänger ins Kloster
schickten.
Erst Generationen später nutzte man sein Prestige, indem die Reichsannalen ihn als Coronator nannten. Bonifatius war auch nicht dabei, als 754 ein Papst zum
ersten Mal die Alpen überschritt und mit dem neuen
König Pippin ein Bündnis schmiedete, das die Welt veränderte: Dem Papst brachte das Bündnis die fränkische
Waffenhilfe gegen die Langobarden ein, den Franken
schon zwei Jahrzehnte später die Herrschaft über Italien
und keine 50 Jahre später die Kaiserkrone.
Während im Herzen des Frankenreiches, in Ponthion,
Quierzy und Saint-Denis, verhandelt und gefeiert wurde,
war Bonifatius zu seinen Wurzeln ins friesische Missionsgebiet zurückgekehrt. Dort wurde er am 5. Juni 754
erschlagen – er starb als Märtyrer, wie es schien.
Und deshalb feierten ihn schon 754 die englischen Bischöfe als Patron ihres Landes, obwohl er nur die erste
Hälfte seines Lebens dort verbracht hatte. Seine eigentliche Leistung, die weit über seinen Tod hinaus wirkte,
vollbrachte er auf dem Kontinent. Mit größerem Recht
also stellte Rabanus Maurus, Abt von Fulda und genau
hundert Jahre nach ihm Erzbischof von Mainz, seinen
Vorgänger in eine Reihe mit den Aposteln, woraus dann
ein Fuldaer Mönch im 12. Jahrhundert „unseren Patron
und Apostel von ganz Gallien und Germanien“ gemacht
hat, bis er schließlich in der Romantik zum „Apostel der
Deutschen“, nach 1945 zum „Baumeister des christlichen Abendlandes“ und in unseren Tagen zum „Wegbereiter der Europäischen Union“ wurde.
Franz J. Felten n
Denkmal des heiligen Bonifatius
vor dem Mainzer Dom
[JOGU] SPEZIAL
II/2007
Berühmte Mainzer
Die Welt ist lesbar
Hrabanus Maurus: Mönch, Gelehrter, Erzbischof
Hrabanus Maurus, in Mainz geboren und hier auch gestorben,
gehört zu den großen und einflussrei­chen Gestalten der Karolingischen Ära. Hrabanus hatte nicht nur hohe kirchliche Leitungsämter inne. Er war zugleich auch ein viel beschäftigter Gelehrter,
der ein umfangreiches Werk hinterlassen hat. Sein großes Anliegen war es, das Wissen der Tradition und seiner Zeit zu sammeln,
verfügbar zu machen und zugleich inhaltlich zu vermitteln.
Lohnt es sich, Wissen zu erwerben, zu vermitteln,
oder gar es zu besitzen? Welches Wissen ist wert,
dass man es erwirbt, vermittelt und besitzt? Unsere „Wissens-Gesellschaft“, deren Wohlergehen
wesentlich mit den Fortschritten von Wissenschaft
verbunden ist, wird die erste Frage sicherlich mit
einem uneingeschränkten „Ja“ beantworten. Sehr
viel schwieriger aber wird es sein, einen Konsens
im Blick auf die zweite Frage zu erzielen. Es mag
vielleicht verwundern: Solche Fragen bewegen nicht
nur uns. Schon vor mehr als einem Jahrtausend, im
Frühmittelalter, hat man sich mit der Bedeutung
sowie dem Wert von Wissen und Wissenschaft
auseinandergesetzt und dieses Thema durchaus
kontrovers diskutiert. Freilich verstand man unter
der Nützlichkeit von Wissen damals etwas anderes
als wir heute, die wir gewohnt sind, diese Frage
nur für unsere Lebenskontexte und zweckrational
zu stellen.
Es ist ein großer Mainzer gewesen, der schon im
9. Jahrhundert für seine Zeit richtungsweisende
Antworten auf diese Fragen gegeben hat. Ihm haben wir zudem auch einen wichtigen Beitrag zur
Entwicklung einer mittelalterlichen Wissenskultur
zu verdanken. Die Rede ist von Hrabanus Maurus
(ca. 780-856). Er hat als Gelehrter, als Abt von Fulda und als Erzbischof von Mainz unermüdlich dafür
geworben, dem Wissen eine wesentliche Rolle im
Leben des Menschen einzuräumen. Zudem hat er
maßgeblich dazu beigetragen, seinen Zeitgenossen
die umfangreichen Wissensbestände der heidnischen und der christlichen Antike zu vermitteln.
Der historische Hintergrund für seine Unternehmungen sind bekanntlich die Maßnahmen Karls des
Großen und seiner Nachfolger, die eine „Bildungsre-
[JOGU] SPEZIAL
II/2007
form“ zum Ziel hatten. Diese Reform wird oft als „Karolingische
Renaissance“ bezeichnet, da sie
durch einen Rückgriff auf antikes
Gedankengut geprägt war. Hinter diesen Reformbemühungen
stand die politische Absicht, die
Bildungs- und Wissensstandards
einzelner Gesellschafts­gruppen und damit mittelbar
auch das Bildungsniveau der gesamten fränkischen
Gesellschaft nachhaltig zu verbessern.
Das wohl bedeutendste Werk
Hrabans, das diesem Zweck der
Wissensvermittlung dient, ist
die große Enzyklopädie „Von
den Naturen der Dinge“.
Das wohl bedeutendste Werk Hrabans, das diesem
Zweck der Wissensvermittlung dient, ist die zwischen 842 und 847 (dem Jahr seiner Ernennung
zum Erzbischof von Mainz) entstandene große Enzyklopädie „Von den Naturen der Dinge“ (De rerum
naturis) oder – wie sie auch genannt wird – „Vom
Universum“ (De universo). Den Inhalt dieses Werkes charakterisiert Hraban in einem Brief an König
Ludwig den Deutschen folgendermaßen: „So also
habe ich zuerst schreibend einiges [vom] obersten
Guten und von unserem wahren Schöpfer erörtert,
d.h. von Vater, Sohn und hl. Geist, dem einen und
allmächtigen Gott […]. Danach aber habe ich von
den himmlischen und irdischen Geschöpfen gehandelt, nicht nur von ihrer Natur, sondern auch von
ihren Kräften und Wirkungen: […] Und weil es mir
nicht zukommt, von den heiligen Menschen, die
im Alten und Neuen Testament erwähnt werden,
und ihren mystischen Handlungen zu schweigen,
Rabanus Maurus: „De rerum naturis“ (früher Druck)
und auch nicht von den Orten, an den sie wohnten, habe ich es für gut befunden, ihre Namen und
zugleich die der Orte aus der hebräischen in die lateinische Sprache zu übersetzen, um damit leichter
die mystische Bedeutung erklären zu können. Ich
habe auch im vorliegenden Werkchen nicht weniges über den katholischen Glauben und die christliche Religion hinzugefügt; und [ich habe von dem
geschrieben, was dazu] im Gegensatz [steht]: über
den Aberglauben der Heiden, über den Irrtum der
Häretiker, über die Philosophen und Magier und die
falschen Götter, über die Sprache der Heiden, über
die Reiche und das Zivil- und Militärvokabular und
die Verwandtschaften; über die Steine, Hölzer und
Kräuter, die auf der Erde entstehen, über die verschiedenen Künste und Bauwerke und über vieles
andere mehr [… ].“
Diese Aufzählung Hrabans, die er ausdrücklich als
unvollständig charakterisiert, zeigt die Vielfalt der
Gegenstände, die er in seiner Enzyklopädie behandelt. Alles, was man von den himmlischen und den
irdischen Dingen im Ganzen wissen sollte, kann
man hier nachlesen. Und so handelt das Werk letztlich von der Wirklichkeit im Ganzen und dies unter
spezifisch christlicher Perspektive. Zwar orientiert
sich Hraban mit seiner Schrift inhaltlich an einem
enzyklopädischen Vorbild, nämlich den „Etymologien“ des Isidor von Sevilla (um 560-633). Aber er
baut dieses Vorbild in einer für ihn bezeichnenden
Weise um. Er ändert nicht nur die Reihenfolge der
Inhalte, die er präsentiert. Er vermittelt seinem Leser
auch, dass alles im Universum nicht nur eine rein
sachliche Bedeutung hat, sondern zugleich auch als
Zeichen für etwas anderes steht. Die sichtbare Welt
verweist nach Hraban auf Gott als ihren Ursprung
und darauf, wie der Mensch entsprechend der göttlichen Ordnung ein gelingendes Leben führen kann.
Diese Ordnung ist die eigentliche Wirklichkeit, die
sich nur demjenigen Menschen erschließt, der die
Dinge und die Begriffe von ihnen als Zeichen für
etwas anderes zu lesen versteht. Die Welt ist nach
Hraban also ein Offenbarungsbuch, die Welt ist lesbar im Blick darauf, wie der Mensch sein Leben im
Horizont Gottes führen soll. Die Welt als Schöpfung
ist ein Raum des Wissens von der Wirklichkeit Gottes und der göttlichen Ordnung, an der der Mensch
sein Leben ausrichten soll. In einem abgeleiteten
Sinn ist dann auch die Enzyklopädie des Hrabanus
Maurus ein Raum des Wissens, denn sie beinhaltet
die Gesamtheit des Wissens von eben dieser Welt
und ihrer Bedeutung für das menschliche Leben.
Welche Bedeutung für den Menschen hat nun dieses Wissen, das Hraban mit seiner Enzyklopädie
vermittelt?
beispielsweise nicht nur selbst nicht lehren. Er kann
– so Hraban – weder den Nutzen dieses Wissens
bestimmen noch es zum Wohl der ihm anvertrauten
Menschen richtig anwenden. Alle, die sich aufgrund
ihrer beruflichen Tätigkeit um das Wohlergehen ihrer Mitmenschen zu kümmern haben, müssen dazu
Wissen besitzen und auch selbst gebildet sein.
So ist also alles Wissen gut, das dem Menschen
hilft, sich selbst persönlich zu entwickeln. Dazu gehört das spezialistische Einzelwissen, vor allem aber
das Wissen, das dem Menschen ermöglicht, sich,
die Welt und die Wirklichkeit im Ganzen besser zu
verstehen. Denn durch dieses Wissen kann er theoretisch und praktisch seinen Ort in der göttlichen
Weltordnung finden und einnehmen. Mit der Enzyklopädie „Von den Naturen der Dinge“ hat Hrabanus Maurus nicht nur Wissen von der Welt und
ihren Gegebenheiten zusammengestellt. Indem er
die Schöpfung als Zeichen begreift, hat er auch eine
Deutung der Welt und des Menschen formuliert,
die das Wissen von der Welt und den Bedingungen
für ein gelingendes Leben in einen unauflösbaren
Zusammenhang bringt.
Mechthild Dreyer n
Abb.: © Wikimedia Commons
Abb.: © Wikimedia Common
s
Berühmte Mainzer
Alle, die sich aufgrund
ihrer beruflichen Tätigkeit
um das Wohlergehen ihrer
Mitmenschen zu kümmern
haben, müssen dazu Wissen
besitzen und auch selbst
gebildet sein.
Wissenserwerb und Wissensbesitz haben für Hraban einen ganz individuellen Nutzen. Die Vervollkommnung des einzelnen Menschen ist auf Wissen
von der Welt angewiesen, insbesondere aber auf
das Wissen davon, wie das ewige Heil zu erlangen
ist. Für den Christen Hraban ist dieses Wissen in den
Schriften des Alten und Neuen Testamentes grundgelegt. Um diese nicht immer leichten Texte zu
verstehen, hat Hraban Kommentare zu den einzelnen biblischen Büchern verfasst. Die Enzyklopädie
wiederum bietet zu den Kommentaren unter sachlichen Gesichtspunkten gleichsam eine vertiefende
Ergänzung.
Wissen hat für Hraban zudem eine hohe soziale Relevanz. Wer kein theologisches, medizinisches oder
historisches Wissen besitzt, wer sich in Rhetorik und
Logik nicht auskennt und wer keine Kenntnis der Sitten und der moralischen Verpflichtungen hat, kann
Hrabanus Maurus (links), begleitet von Alcuin,
übergibt sein Werk an Erzbischof Otgar von Mainz
[JOGU] SPEZIAL
II/2007
Berühmte Mainzer
Erzbischof Willigis von Mainz
Der „zweite Mann“ nach dem Papst in der Kirche des Reiches Mit
einem Begriff, der die Stellung des Papstes in der ganzen Kirche definiert, hat
Papst Benedikt VII. 975 die Position des Mainzer Erzbischofs in der Kirche des
ottonischen Reichs nördlich der Alpen beschrieben. Das Recht, den König zu
krönen, wird hier ausdrücklich genannt. Dieses Krönungsrecht ist an der ersten
Jahrtausendwende in eine Krise geraten. Willigis hat mit einer Handlung darauf
reagiert, die bis heute seinen Ruhm in Mainz begründet: Er ließ einen neuen
Dom erbauen.
Auf goldenem Grund hat man einst den Namen des
Mainzer Erzbischofs Willigis (975-1011) lesen können. Denn Willigis hatte für den Dom, den er neu
hatte erbauen lassen, Türen aus Bronze anfertigen
lassen. Sie bilden das heutige Marktportal. Bronze
glänzt golden. So glänzten die Türen an der Hauptkirche des Erzbischofs wie die goldenen Türen des
Tempels Salomons.
Foto: Ernst-Dieter Hehl
Aber nicht allein auf den Tempel des auserwählten
Volkes verwies der Dom des Willigis. Denn der Erzbischof hatte auf den Türbalken durch eine Inschrift
verkündet, dass er erstmals nach dem Tod Karls des
Großen wieder Türflügel aus Metall habe anfertigen lassen. Die Mainzer Türen hatten ihr Vorbild in
den Bronzetüren des Aachener Münsters Karls des
Großen. Der Bau des Willigis insgesamt orientierte
sich aber an Fulda, wo Bonifatius begraben lag, und
an dem Petersdom in Rom. Denn anders als sonst
üblich, steht sein Hauptaltar wie dort im Westen.
Erzbischof Willigis hatte für den Dombau Türen aus
Bronze anfertigen lassen.
[JOGU] SPEZIAL
II/2007
Der neue Dom macht spezifische Zuordnungen der
Mainzer Kirche zu König (Aachen) und Papst (Rom)
deutlich. Dass sich diese Zuordnungen um die erste
Jahrtausendwende wandelten, scheint den Neubau
des Mainzer Domes durch Willigis erst veranlasst zu
haben.
Willigis sollte „nach dem
Gipfel des Papstes“ in den
„kirchlichen Angelegenheiten“
des Reiches „herausragen“.
Eigentlich hatte alles gut angefangen. 975 war
Willigis zum Erzbischof von Mainz erhoben worden,
nachdem er zuvor seit 971 unter Otto dem Großen
(+ 973) und dessen Sohn Otto II. als Kanzler in der
nächsten Umgebung des Herrschers tätig gewesen
war. Als Vertrauensmann Kaiser Ottos II. bestieg er
den erzbischöflichen Stuhl von Mainz. Als solchen
zeichnete ihn Papst Benedikt VII. durch ein besonderes Privileg aus. Bereits zwei der Vorgänger des
Willigis hatten durch ein päpstliches Privileg die
Position eines päpstlichen Stellvertreters (Vikar) in
der Kirche des nordalpinen Reiches erhalten. Diese
Vikariatsstellung endete jeweils mit dem Tod des
Erzbischofs, musste dem Nachfolger also eigens
neu verliehen werden. Willigis sollte – so das Papstprivileg – künftig „nach dem Gipfel des Papstes“
in den „kirchlichen Angelegenheiten“ des Reiches
„herausragen“. Er wird für die Kirche des Reiches
zum zweiten Mann nach dem Papst. Hier ist seine
Stellung mit der päpstlichen vergleichbar, denn die
Urkunde verwendet für sein „Herausragen“ ein
lateinisches Wort (praeeminere), das sonst für den
Vorrang steht, den der hl. Petrus vor seinen Mitaposteln hat. Die Päpste sind nach ihrem Verständnis
als Nachfolger Petri in diesen Vorrang gegenüber
den Bischöfen eingerückt. Willigis erhält eine ver-
10
gleichbare Position gegenüber den Bischöfen des
ottonischen Reiches nördlich der Alpen. Auch seine
Nachfolger sollen diese innehaben, genauso wie
ein neuer Papst automatisch in die Rechtsstellung
seines Vorgängers eintritt. Als Beispiele für die Felder, auf denen Willigis seinen kirchlichen Vorrang
wahrnehmen soll, nennt die Papsturkunde die Veranstaltung von Synoden und die Weihe (Krönung)
des Königs.
Jede Königskrönung in Aachen
durch den Mainzer Erzbischof
demonstrierte dessen Vorrang
vor seinen Amtsbrüdern.
An den beiden Krönungen ostfränkisch-deutscher
Könige, die dem Privileg für Willigis vorausgingen,
haben die Mainzer Erzbischöfe mitgewirkt. Otto der
Große hat 936 die Krone in Aachen von dem Mainzer Erzbischof Hildebert erhalten, der Kölner Erzbischof assistierte dabei. 961 ließ Otto der Große
seinen Sohn Otto II. wiederum in Aachen zum König
krönen. Die Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier
taten dies gemeinsam.
Aachen gehörte zur Kirchenprovinz des Kölner
Erzbischofs, wodurch dieser einen an sich kaum
abweisbaren Anspruch besaß, diese liturgische
Handlung vorzunehmen. Mit der Krönung von 936
hatte der Mainzer Erzbischof deshalb einen Vorrang
vor seinem Kölner (und Trierer) Amtsbruder gewonnen. Das Privileg von 975 schien diesen auf Dauer
abzusichern. Keinem anderen Erzbischof war es
rechtlich gestattet, außerhalb seines Amtsbereichs
eine kirchliche Handlung aus eigenem Recht vorzunehmen. Dem Mainzer Erzbischof hingegen war
dies seit 975 durch ein päpstliches Privileg gerade hinsichtlich der Herrscherweihe verbrieft. Jede
Königskrönung in Aachen durch den Mainzer Erzbischof demonstrierte dessen Vorrang vor seinen
Amtsbrüdern. Jede Königskrönung in Aachen demonstrierte damals den Vorrang des Mainzers vor
seinen Amtsbrüdern.
Offenkundig wurde das, als der dreijährige Otto III.
auf Geheiß seines kaiserlichen Vaters an Weihnachten 983 in Aachen zum König gesalbt und gekrönt
wurde. Willigis vollzog die feierliche Liturgie zusammen mit dem Erzbischof von Ravenna. Während er
die Bischöfe und die Kirche des nordalpinen Reiches
repräsentierte, stand Johannes von Ravenna für die
Bischöfe des italienischen Reichsteils. Das Zusammenwirken beider Erzbischöfe bei der Königskrönung signalisierte die Verschmelzung beider Reichsteile im Zeichen des ottonischen Kaisertums.
Der Zufall des frühen Todes Kaiser Ottos II., der in
Italien unmittelbar vor der Aachener Krönung seines
Sohnes gestorben war, ließ Willigis in eine zentrale
politische Position einrücken. Er gehörte zu denen,
die die Königswürde des Kindes gegen die Aktionen
Heinrichs des Zänkers, Neffe Ottos des Großen, erfolgreich verteidigten. Königspläne des Zänkers zu
unterstützen, hätte bedeutet, der Königssalbung
und -krönung die bindende Kraft abzusprechen.
Willigis selbst hätte die Wirkung jener Liturgie verneint, auf deren Durchführung sein Vorrang in Reich
und Kirche beruhte. Während der Unmündigkeit
Ottos III. zählte er zu den Schlüsselfiguren im Gefüge des Reiches.
Seit der Kaiserkrönung Ottos III. 996 verstärken
sich aber Hinweise für Konflikte zwischen Willigis
und Otto III. Angegriffen wurde seine Stellung als
„zweiter Mann nach dem Papst“. Bis zum Tod Ottos III. im Januar 1002 lässt sich beobachten, wie
der Kaiser und die beiden Päpste Gregor V. und
Silvester II. immer weniger Rücksicht auf die Anliegen des Mainzer Erzbischofs nahmen. Den entscheidenden Schlag führten sie, indem sie seine
Position bei der Königskrönung in Aachen grundsätzlich in Frage stellten. Denn Otto III. erwirkte
997 bei Gregor V. ein Privileg, wonach in Aachen
Kardinäle eingesetzt werden sollten und es nur die-
sen sowie dem für Aachen zuständigen Bischof von
Lüttich und dem Kölner Erzbischof als zuständigem
Metropoliten erlaubt sei, am Hauptaltar des Münsters eine Messe zu lesen. Eine Messe gehörte
jedoch zur Königssalbung und -krönung. Willigis
konnte deshalb in Aachen keine Königskrönung aus
eigenem Recht mehr vornehmen. Für ihn galt nun,
wie für jeden anderen Bischof, dass er nur in seinem
eigenen Amtsbereich eine kirchliche Handlung ausführen durfte.
Der neue Dom sollte
anstelle Aachens zur
Krönungskirche werden.
Wohl erst damals begann Willigis mit der Errichtung
seines neuen Doms, deshalb orientierte er sich mit
der Bronzetür an Aachen und nannte ausdrücklich
Karl den Großen. Der neue Dom sollte anstelle
Aachens zur Krönungskirche werden. In Mainz hat
Willigis selbst 1002 mit Heinrich II. den Nachfolger
des früh verstorbenen Ottos III. krönen können.
Nach dem frühen und kinderlosen Tod Ottos III. hatte Willigis den Anspruch Heinrichs, Sohn Heinrichs
des Zänkers, auf den Thron unterstützt. Doch trotz
des Respekts, mit dem der neue Herrscher ihm be-
gegnete, seinen früheren Vorrang in der Kirche des
Reiches hat Willigis nicht mehr erreicht. Nach dem
Tod des Willigis im Jahre 1011 erhielt 1024 Heinrichs Nachfolger Konrad II. nochmals in Mainz die
Krone. Danach wurde Aachen wieder zum Ort der
Königskrönung, die nun aber der Kölner Erzbischof
als örtlich zuständiger Metropolit vornahm.
Die Zeit, in der der Mainzer Erzbischof als „zweiter
Mann nach dem Papst“ agierte, endete noch unter Willigis, das Mainzer Krönungsrecht ging etwa
30 Jahre nach seinem Tod verloren. Den „goldenen“
Türen des Doms war längeres Nachleben bestimmt.
Sie glänzten vermutlich noch golden, als man auf
ihnen das Stadtprivileg des Erzbischofs Adalbert I.
(1109-37) eingravierte. Als man nämlich dessen
Text 1135 auf eine Pergamenturkunde übertrug,
schrieb man deren erste Zeile mit goldener Tinte.
Hinter der Patina, die heute die Domtüren des Willigis bedeckt, kann der Historiker so ein „goldenes
Mainz“ entdecken.
Ernst-Dieter Hehl n
Abb.: © dpa Picture-Alliance
Berühmte Mainzer
Bischof Willigis in der Klosterschule.
Nach dem Gemälde von Wilhelm Lindenschmit
11
[JOGU] SPEZIAL
II/2007
Berühmte Mainzer
Foto: Peter Pulkowski
Vater der Massenkommunikation
Straßburg und in Köln gedruckt, keine zehn Jahre
später in Subiaco (in der Nähe von Rom), dann in
Paris an der Sorbonne und in London. Über 1000
Druckwerkstätten können wir in den nächsten 50
Jahren nachweisen.
Seine Erfindung breitete sich
in selbst für heutige Verhältnisse unwahrscheinlicher
Geschwindigkeit durch die
deutschsprachigen Länder
und Europa aus.
Johannes Gutenberg Der Vater der Massenkommunition, Johannes Gutenberg, dessen Wirkungen es zu verdanken ist, dass der freie und ungehinderte
Zugang zu Wissen und Information gesellschaftliche Umbrüche wie den Humanismus, die Reformation, die Aufklärung und die Demokratie der Neuzeit erst
möglich machte. Mit dem Namen der Stadt Mainz ist auf der anderen Seite aber
auch die Zensur verbunden, die durch Dekret des Kurfürsten und Bischofs der
Stadt Mainz hier ebenfalls Ihren Ausgang nahm.
Gutenberg ist aber auch ein großer Unbekannter. Wir kennen weder sein Porträt noch sein Geburtsdatum, noch wissen wir, wo er sich in vielen
Jahrzehnten seines Lebens aufgehalten hat. Die
bekannte Holzschnittdarstellung mit der Pelzmütze
und dem Bart ist 120 Jahre nach seinem Tod entstanden und wurde auch für andere Personen verwendet; sein Geburtsdatum im Jahr 1400 ist aus
Quellen erschlossen, die eine Spannbreite von fünf
Jahren erlauben. Hat er wirklich in Erfurt studiert?
Hat er möglicherweise am Reformkonzil von Basel
teilgenommen, war er etwa in den Jahren 1444-48
auf der Seidenstraße nach Osten unterwegs und
lernte dort die jahrhundertealte Technik des Holzmodeldrucks kennen, gar den Druck mit beweglichen Einzellettern aus Korea?
[JOGU] SPEZIAL
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Wichtiger als diese offenen Fragen seiner Biografie
sind die Fragen seiner nachweisbaren Erfindungsund vor allen Dingen seiner Wirkungsgeschichte.
Kein einziges Druckwerk enthält zwar einen direkten Druckvermerk, der die Urheberschaft Gutenbergs dokumentiert. Doch lassen sich sowohl
die später nach ihm benannte Bibel, ein Bibellexikon, ein Kalender, Ablassbriefe und weitere Kleinschriften seiner Werkstatt zuordnen, die durch die
Fust-Schöffersche Werkstatt dann mit weiteren Liturgica, humanistischen Texten, Sachbüchern und
Ratgebern („Gart der Gesundheait“) deutlich angereichert wurde. Seine Erfindung breitete sich in
selbst für heutige Verhältnisse unwahrscheinlicher
Geschwindigkeit durch die deutschsprachigen Länder und Europa aus, schon bald wurde in Bamberg,
12
Das überaus virulente 15. Jahrhundert mit zwei großen Reformkonzilien in Konstanz und Basel, mit der
Gründung von 15 (!) neuen Universitäten und zahlreichen technischen notwendigen Erfindungen, wie
etwa die Papierherstellung bei Ullmann Stromer ab
1390 in Nürnberg, die Weiterentwicklung der Spindelpresse zur Druckerpresse, die chemischen und
physikalischen Experimente, die wir in Gutenbergs
Straßburger Zeit nachweisen können, aber auch vor
allen Dingen die geistige Kraft des Humanismus mit
ihrem Glauben an die allgemeine Bildungsfähigkeit
des Menschen schufen ein Panorama, in dem diese
Medienrevolution Gutenbergs ihren Widerhall fand.
Die Humanisten waren von der positiven Wirkung
der Bereitstellung von Texten mit dem klassischen
Wissen der Antike überzeugt, da sie Bildungsvermittlung als eine wahre Aufgabe für die Gesellschaft verstanden und davon ausgingen, dass durch
das Vorhandensein der klassischen Texte die allgemeine Bildung der Bevölkerung gehoben werden
könnte. Die römische Kirche erkannte unmittelbar
die Bedeutung des neuen Mediums, da es nun möglich war, überall in der Welt mit einem identischen
Messformular Gottesdienste abzuhalten, wie es
zuvor unter anderem Nikolaus von Kues gefordert
hatte. In 125 Diözesen konnten nun individuelle
Breviere zum Gebet der Priester bereitgestellt werden, Messbücher und Liturgica wurden in großer
Zahl bestellt. Aber auch der Zugang zu den „alten
Heiden“ der römischen und griechischen Literatur
wurde durch die Kurie selbst befördert, die im Kloster Sancta Scholastica in Subiaco bei Rom die Werke von Kirchenvätern (Lactantius), aber auch der
römischen Rhetoriker (Cicero) herstellen ließen.
Mit der Volkssprache nahm die Reformation der
Kirche lange vor der Reformation Luthers einen
Berühmte Mainzer
Abb.: © Gutenberg Museum
Seite aus der Gutenbergbibel, von der es nur noch 48 –
zum Teil unvollständige – Exemplare in der ganzen Welt gibt.
ungeahnten Aufschwung, 18 deutschsprachige
Bibelübersetzungen vor Martin Luther lassen sich
im Druck nachweisen. Sowohl die (Grund-)Schulbildung als auch die universitäre Bildung erlebten eine
nie geahnte Blüte, die erst im 18. Jahrhundert auch
zahlenmäßig wieder erreicht wurde. Die Lesefähigkeit nahm rasant zu, das Format der Bücher veränderte sich von einem großformatigen Folianten hin
zu einem „Taschenbuch“. Martin Luthers Reformation im 16. Jahrhundert wäre ohne diesen medialen
Hintergrund nicht denkbar, aber auch neue Erkenntnisse im technischen, naturwissenschaftlichen oder
philosophischen Bereichen ließen sich durch diese
Massenproduktion ganz anders vermitteln.
Die Lesefähigkeit nahm rasant
zu, das Format der Bücher veränderte sich von einem großformatigen Folianten hin zu
einem „Taschenbuch“.
Wie immer, wenn große Informationsmengen bewegt werden, gibt es auch Bedenkenträger, die
sowohl das Übermaß der Buchproduktion bemängelten als auch Sorge äußerten, dass das Wissen in
den Händen falscher Bevölkerungsgruppen negative Folgen haben könnte. So ist Mainz nicht nur
die Geburtsstadt des Buchdrucks, sondern auch
eine der ersten Städte, in denen ein generelles
Zensuredikt ausgesprochen wurde, von Kurfürst
und Erzbischof Bertold von Henneberg, der 1485
dekretierte, dass die Bibelübersetzung nicht in die
Hände des „gemeinen Mannes“ gelangen sollte, da
sonst die Autorität der Kirche und des Lehramtes
unterminiert würde. Aber auch weltliche Herrscher
wie Kaiser Maximilian I. (1491-1519) verboten häretische Schriften, ebenso sein Enkel Karl V. auf dem
Augsburger Reichstag 1530.
Schon der französische Universitätsrektor Guillaume Fichet hatte 1470 davon gesprochen, dass der
Buchdruck ein „trojanisches Pferd“ sei, das auf der
einen Seite als ein „Gottesgeschenk“ unter anderem den christlichen Glauben verbreiten hälfe, das
aber auch durch häretische und verderbliche Schriften die Menschen verunsichern könne. Die Reaktion der Zeitgenossen war insgesamt überwiegend
positiv, der „Erzhumanist“ Conrad Celtis schrieb in
einer Ode, dass es „einem Sohn der Stadt Mainz zu
verdanken sei, dass die Deutschen durch die Erfindung der Buchdruckerkunst nicht mehr wegen ihrer
angeblichen geistigen Rückständigkeit geschmäht
werden könnten“.
Allein eine solche Beobachtung ist es wert, dass
man sich erneut mit den grundsätzlichen Fragen der
Medienrevolution beschäftigt, die in Mainz ihren
Ausgang genommen hat und die auch heute, weitergeführt durch elektronische Medien, noch längst
nicht an ihrem Zielpunkt angekommen ist.
Stephan Füssel n
13
Information: Stephan Füssel: Johannes Gutenberg. 4. Aufl. Reinbek 2007 (= rororo 50610);
Stephan Füssel: Gutenberg und seine Wirkung.
Frankfurt: Insel 3. Aufl. 2006 (Übersetzungen in
englischer, italienischer und schwedischer Sprache
erschienen)
[JOGU] SPEZIAL
II/2007
Berühmte Mainzer
Berühmte Mainzer
Goethe 1791
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Von der Metropole Frankfurt aus gesehen erscheint
Mainz heute manchmal als eine bloße Satellitenstadt. Aus dem Blickwinkel des jungen Goethe
sah das noch anders aus. Mainz war damals noch
gleichberechtigt und galt an Reichtum, Eleganz und
politischer Bedeutung als eine der Hauptstädte des
Alten Reichs. Der Erzbischof von Mainz nahm das
Amt des Reichserzkanzlers wahr. Als Ranghöchster
der sieben Kurfürsten hatte er die Kaiserwahl zu leiten, und tat das auch 1764, als der junge Goethe
die Wahl Josephs II. miterlebte, die er im 5. Buch des
Ersten Teils von „Dichtung und Wahrheit“ schildert.
Eigentlich hätte Goethe wohl
so eine Art Kriegsberichter
sein sollen.
Abb.: © Martinusbibliothek Mainz
Die übrige Stadt hatte sich indes
weniger stabil gezeigt. Goethe berichtet über seinen ersten Eindruck
Ende Juli 1793: „Den 26sten gelang
es uns schon mit einigen Freunden
zu Pferd in die Stadt einzudringen;
dort fanden wir den bejammernswerthesten Zustand. In Schutt und
Trümmer war zusammengestürzt
was Jahrhunderten aufzubauen
gelang, wo in der schönsten Lage
der Welt Reichthümer von Provinzen zusammenflossen, und Religion das was ihre Diener besaßen
zu befestigen und zu vermehren
trachtete. Die Verwirrung die den
Geist ergriff, war höchst schmerzlich, viel trauriger, als wäre man
in eine durch Zufall eingeäscherte
Stadt gerathen.“
eth
Auch den Dom, der ihm missbehaglich war, hat
Goethe mehrfach betreten. Es gibt gute Gründe
für die Annahme, dass die Domszene im „Faust“
atmosphärische Elemente aus Mainz wiedergibt.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Goethe an den
Mainzer Dom dachte, als er Gretchen um Luft ringen ließ („Mir wird so eng’!/ Die Mauern-Pfeiler/
Befangen mich!/ Das Gewölbe/ drängt mich!“)
und der Chor grausig sein „Dies irae“ sang. Die
unglückliche Kindsmörderin Susanne Margaretha
Auch den Dom, der ihm missbehaglich war, hat Goethe
mehrfach betreten.
Go
Der Frankfurter Johann Wolfgang von Goethe liebte
Mainz und hat die Stadt immer und immer wieder
besucht. Wichtige Erlebnisse verbindet Goethe mit
Mainz, lernt dort 1774 seinen Förderer, den späteren Großherzog Carl August von Sachsen-WeimarEisenach kennen und hat im Sommer 1793 die Belagerung der Stadt mitgemacht. Den Drususstein auf
der Zitadelle hat er schon als Knabe gezeichnet. Er
erinnert sich daran, als er nach der Rückeroberung
einen ersten Rundgang macht durch die zerstörte Stadt: „Da stand nun Drusus‘
Denkmal, ungefähr noch ebenso
wie ich es als Knabe gezeichnet
hatte, auch dießmal unerschüttert,
so viel Feuerkugeln daran mochten
vorbeigeflogen sein, ja daraufgeschlagen haben.“
Brandt, deren Hinrichtung dem Gemüt des jungen
Goethe eine tiefe Wunde schlug, war jedenfalls mit
dem Postschiff von Frankfurt nach Mainz geflohen.
Hatte sie im Dom gebetet, bevor sie sich den Häschern stellte?
A bb
.: ©
Goethes „Belagerung von Mainz“ Der Untergang von Mainz war ein
Medienereignis der Spitzenklasse: der Hochadel promenierte hinter den Verschanzungen, die Frankfurter Bürger machten Sonntagsausflüge, um die brennende Stadt zu sehen. Militärisch war die Belagerung von Mainz kein Ruhmesblatt, historisch und psychologisch aber eine überaus spannende Geschichte.
Goethe hat diesen tragikomischen Feldzug hautnah miterlebt, von den Wanzen
im Quartier bis zum Kanonenfieber, und in einem fiktiven Tagebuch in allen
Einzelheiten beschrieben.
Der Weltgeist hielt es damals mit den Franzosen. Es
ist kein gutes Gefühl, wenn man die eigene Hauptstadt zerstören soll. Die Motivation der preußischen,
hessischen, sächsischen und österreichischen Soldaten war entsprechend gering, als sie das von 23.000
Franzosen besetzte Mainz zurückerobern sollten.
Die schwer befestigte Stadt hatte sich 1792/93
der französischen Revolution angeschlossen, ihren
Fürstbischof, den Primas des Alten Reichs, verjagt
und eine Jakobinerrepublik gegründet. Deutsche
Truppen belagerten sie daraufhin und legten ihre
märchenhaften Kirchen, Paläste und Schlösser in
Schutt und Asche.
Eigentlich hätte Goethe wohl so eine Art Kriegsberichter sein sollen. Er hatte auch in den ersten
Tagen manches aufzuzeichnen angefangen, hörte
aber bald wieder damit auf (wie er am 7. Juli 1793
an Jacobi schrieb), denn „grade das worauf alles
ankommt darf man nicht sagen“, und auf das, was
er sagen durfte, kam es ihm nicht an. Wenn man
aber das Entscheidende verschweigen muss, wird
der Bericht zu einem diplomatischen Eiertanz – „da
bleibts immer eine Art Advocaten Arbeit die sehr gut
bezahlt werden müßte wenn man sie mit einigem
Humor unternehmen sollte“. Goethe unterließ also
das Berichten. Er führte auch kein Tagebuch. Wenn
die „Belagerung von Mainz“
sich als Tagebuch ausgibt,
so ist das ein Kunstgriff. Der
Text entstand Anfang 1820
und 1822, fast dreißig Jahre
nach den Ereignissen. Unmöglich konnte Goethe die täglichen
Details des Geschehens so lange im
Gedächtnis behalten haben. Er musste
seine „wunderliche Militairlaufbahn“ (an Johann
Friedrich Rochlitz am 22. April 1822) rekonstruieren und half sich mit dem Diarium eines anderen
Gefolgsmanns seines Fürsten sowie mit etlichen damals bereits gedruckt vorliegenden Quellen. Aus ihnen komponierte er ein fiktives Tagebuch. Es musste
zugleich Beteiligung und Distanz verraten. Er war
überall dabei, aber er war kein Parteigänger. Auch
1822 konnte man noch nicht einfach die Wahrheit
sagen. Die Geschichte musste so erzählt werden,
dass sie dem Herzog gefiel und in der weimarischen
Hofgesellschaft nicht allzu viel Anstoß erregte. Goethe durfte nicht offen sagen, wie lächerlich sich
die eigenen Heerführer gemacht hatten und wie
missglückt trotz des Sieges die ganze Belagerung
letzten Endes war. Er konnte auch nicht sagen, dass
der Glaube, man könne die Anliegen der Revolution
militärisch ersticken, nur in sehr oberflächlichen Gemütern entstehen konnte.
Der Tagebuchschreiber sieht
Bäume, aber keinen Wald.
II/2007
Information: Untergang einer Reichshauptstadt.
Johann Wolfgang von Goethe: Belagerung von
Mainz. Ein Bilderbogen. Herausgegeben von Oliver
Kemmann und Hermann Kurzke. Societätsverlag,
Frankfurt a. M. 2007.
Die Tagebuchform erlaubt eine gewollte Kurzsichtigkeit, ein „Understatement“, das Goethe zur Tarnung
dient. Der Tagebuchschreiber sieht Bäume, aber keinen Wald. Goethe nimmt spielerisch die Froschperspektive
ein, um der Erwartung, er müsse Adlerurteile abgeben, zu entkommen. So täuscht er gleich
zu Beginn eine lokale Perspektive vor, mimt den Ortskundigen,
mutet dem Leser allerlei Dörfer
rund um Mainz zu, zwingt ihn,
sich mit der Lage von Weisenau
und Oberolm, Kostheim und
Marienborn vertraut zu machen, was nur den Zweck hat,
von der weltgeschichtlichen
Dimension des Geschehens
abzulenken. Aber Goethe wäre
nicht Goethe, wenn er nicht
gerade in solcher Beschräkung
seine Meisterschaft zeigte.
Der Brand des Mainzer Doms am 28. Juni 1793
Belagerungskarte von Mainz
[JOGU] SPEZIAL
Goethe hat das Alte Reich nicht nostalgisch verklärt
wie manche Romantiker. Er war kein Freund der
französischen Revolution, verwahrte sich aber auch
dagegen, ein Freund des Bestehenden genannt zu
werden. Er war, wie er am 4. Januar 1824 zu Johann
Peter Eckermann sagte, „vollkommen überzeugt,
dass irgendeine große Revolution nie Schuld des
Volkes, sondern der Regierung“ ist. „Revolutionen
sind ganz unmöglich, sobald die Regierungen fortwährend gerecht und fortwährend wach sind, so
daß sie ihnen durch zeitgemäße Verbesserungen
entgegenkommen und sich nicht so lange sträuben, bis das Notwendige von unten her erzwungen wird.“ Der endgültige Abschied vom Alten
Reich zögerte sich in Deutschland noch bis 1918
hinaus, aber das deprimierende Erscheinungsbild,
das seine Repräsentanten bei der Belagerung von
Mainz boten, ließ schon 1793 ahnen, dass sein
Leben verwirkt war. „Die Zeit aber“, sagte Goethe
in jenem Gespräch mit Eckermann, „ist in ewigem
Fortschreiten begriffen, und die menschlichen
Dinge haben alle fünfzig Jahre eine andere Gestalt,
so daß eine Einrichtung, die im Jahre 1800 eine
Vollkommenheit war, schon im Jahre 1850 vielleicht
ein Gebrechen ist.“
Hermann Kurzke n
Abb.: © Landesmuseum Mainz
Untergang einer Reichshauptstadt
Der Untergang von Mainz
war deshalb auch ein
Medienereignis der Spitzenklasse. Der Hochadel
promenierte hinter den
Verschanzungen, und die
Frankfurter Bürger machten
Sonntagsausflüge, um die brennende Stadt zu sehen. Die Fürsten
hatten ihre Schnellmaler dabei, um alles festzuhalten. Im Falle des Herzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach waren es hauptsächlich zwei: ganz
offiziell Georg Melchior Kraus und eher hobbymäßig
der Engländer Charles Gore. Ein wenig spöttisch notiert Goethe am Tag, als der Mainzer Dom brannte:
„Herr Gore und Rath Krause behandelten den Vorfall künstlerisch und machten so viele Brandstudien, daß ihnen später gelang, ein durchscheinendes
Nachtstück zu verfertigen, welches noch vorhanden
ist und, wohlerleuchtet, mehr als irgend eine Wortbeschreibung die Vorstellung einer unselig glühenden Hauptstadt des Vaterlandes zu überliefern im
Stande sein möchte.“
14
15
[JOGU] SPEZIAL
II/2007
Berühmte Mainzer
Berühmte Mainzer
Weltumsegler, Revolutionär, Mainzer
Bis dahin verbrachte Georg harte Lehrjahre unter
der strengen Obhut seines Vaters Reinhold Forster,
dessen Leidenschaft für die Naturkunde und ungezügelter Wissensdurst ihn bereits als Kind tief
beeinflußt hatten. Schon in jungen Jahren erlernte
[JOGU] SPEZIAL
II/2007
Die Strapazen an Bord und die Plackerei der Niederschrift hatten sich gelohnt, denn der Ruhm, den die
Forsters erlangten, eröffnete ihnen lukrative Posten
in Deutschland. Der Vater nahm eine Professur in
Halle an und der Sohn folgte einem Ruf auf den
Lehrstuhl für Naturkunde am Collegium Carolinum
in Kassel. Georg war schon bald der absolutistisch
geprägten Kadettenanstalt des Landgrafen von Hessen-Kassel überdrüssig und nahm begeistert einen
Ruf an die neubegründete Universität im polnischen
Wilna an, zumal er sich auch in Kassel mit seinen
Freimaurerbrüdern restlos überworfen hatte. Das
Unternehmen wurde zu einer einzig großen Enttäuschung. Nachdem auch das Angebot des Zarenhofs,
die Leitung einer Expedition in die unerforschten
Gebiete des Stillen Ozeans zu unternehmen, kurz-
16
Abb.: © Landesmuseum Mainz
Georg Forster. Portrait
von Johann Heinrich
Wilhelm Tischbein
fristig gescheitert war, schien die Offerte des Erzbischofs und Kurfürsten von Mainz, sich um die Universitätsbibliothek zu kümmern und Naturkunde zu
unterrichten, als Lichtblick für den jungen Gelehrten
und seine wachsende Familie. Doch auch bald stellte
sich in Mainz Ernüchterung ein. Als Protestant war
er in der katholischen Stadt nicht überall gern gesehen. Die Bücher, die ihm anvertraut wurden, waren
auf die Karthause, die alte Jesuitenbibliothek und
die Universität verstreut. Die meisten Bücher waren
Heiligenschriften oder geistliche Liederbücher und
vom Staub gänzlich zerfressen. Von den insgesamt
fünfzigtausend Bänden waren mehr als die Hälfte
Doubletten. Für einen jungen, modernen Naturwissenschaftler war die Lage frustrierend. Trotzdem
machte er sich daran, einen Katalog anzulegen und
war darum bemüht, die Sammlung in einem Gebäude zu vereinen.
Als Aufklärer und Liberaler
durchdachte er zum erstenmal
die Problematik der Revolution
und Demokratie.
Sitzung des Jakobinerklubs
im Akademiesaal des
Kurfürstlichen Schlosses.
Federzeichnung von Johann
Jakob Hoch
binerherrschaft verschlang unerbittlich ihre eigenen
Kinder und statt dem Freiheitsbaum zu huldigen,
jubelten die Massen nunmehr unter dem Schafott.
Forster kehrte allerdings der Revolution nicht den
Rücken. Er erklärte gegenüber seinen zweifelnden
Freunden in Deutschland: „Nein, unsere Sache
siegt, oder wo nicht, ist es schön mit ihr zu fallen“.
Nachdem die preußischen Truppen Mainz zurückerobert hatten, wurde über ihn die Reichsacht verhängt. Im Januar 1794 starb Forster als 39jähriger
in Paris an einer Lungenentzündung. Nur drei Jahre
später, 1797, wurde Mainz im Frieden von Campo
Formio wieder französisch.
Beide – Forster und Paine –
waren Aufklärer und radikale
Denker, die an nachweisbare
Naturgesetze glaubten,
denen das Universum
unterworfen ist.
Seine kompromißlose Haltung und die schonungslose Analyse des Despotismus, der „Automaten“
fordere, sowie seine beißende Kritik an den „Prie-
Abb.: © Wikimedia Commons
Der 1754 in Nassenhuben bei Danzig geborene Georg Forster führte seit seiner Kindheit ein bewegtes
Leben. Lange Zeit als schwarzes Schaf des deutschen Geisteslebens und irregeleiteter Schwärmer
in Vergessenheit geraten, da er es in seinen Schriften gewagt hatte, den im Heiligen Römischen Reich
Deutscher Nation vorherrschenden feudalen Muff
schonungslos anzuprangern, galt schon zu seinen
Lebzeiten als eine Legende. Der Weltumsegler, der
drei Jahre von 1772 bis 1775 zusammen mit James
Cook den sagenhaften Australkontinent gesucht
und dabei die Inselwelt des Pazifiks erforscht hatte,
wurde als Verfasser des berühmten Reiseberichts
„A Voyage round the World“ (1777) nach seiner
Rückkehr von der Blüte der Gelehrten stürmisch gefeiert. Der Busenfreund aller deutschen Genies, Fritz
Jacobi, trug den jungen Naturforscher auf Händen
und seine Bekanntheit verschuf ihm Professuren für
Naturgeschichte in Kassel und Wilna. Über Umwege kam er schließlich 1786 in das geistliche Mainz,
wohin ihn der Erzbischof und Kurfürst Friedrich Karl
Josef von Erthal gerufen hatte, um die dortige Universitätsbibliothek zu leiten.
er die Grundkenntnisse der Botanik
und Biologie, so dass sich der Vater
entschloss, den begabten 10jährigen Jungen auf eine Expedition
nach Rußland mitzunehmen, mit
der Katharina II. den älteren Forster
beauftragt hatte. War diese erste
Forschungsreise aus wissenschaftlicher Sicht ein Erfolg, endete der
Aufenthalt in Rußland im finanziellen Ruin der Familie. Der Vater sah
sich hochverschuldet gezwungen,
nach neuen Auftraggebern umzuschauen, und so endeten die Forsters in England, das sich zu dieser
Zeit anschickte, Naturkundler für
seine geplanten Südseereisen anzuheuern. Georg erweckte in London als „young
writer“ Aufmerksamkeit, als er noch keine dreizehn
Jahre alt den ehrwürdigen Herren der Antiquarischen Gesellschaft London seine Übersetzung von
Lomonossows „Kurze Geschichte Rußlands“ vortrug, die er nebenbei in die Gegenwart fortgeschrieben hatte. Nach vielen Schwierigkeiten erhielt der
Vater endlich den lang ersehnten Auftrag, an Cooks
zweiter Weltumsegelung 1772 teilzunehmen. Sein
Sohn sollte ihn als Zeichner und Helfer begleiten.
Als nach der Rückkehr die englische Admiralität
sich weigerte, die Aufzeichnungen des Vaters zu
drucken, verfaßte Georg auf Betreiben seines Vaters
eine umfassende, in englischer Sprache geschriebene Darstellung über die Reise nach Tahiti und die
Südsee, die bald danach auch in deutscher Übersetzung erschien und große Aufmerksamkeit erregte.
Abb.: © Wikimedia Commons
Georg Forster oder vom Leben
eines deutschen Thomas Paine
Georg Forster war einer der großen
aufklärerischen Geister des 18. Jahrhunderts. Seine Teilnahme an der
zweiten Weltreise von James Cook
machte ihn zu einem der namhaftesten Schriftsteller und Naturforscher
seiner Zeit. Als politisch wacher Geist
wurde der seit 1788 in Mainz als
Oberbibliothekar wirkende Forster
ein glühender Anhänger der Französischen Revolution und Mitbegründer
der Mainzer Republik.
ästhetischen und politischen Erörterungen in Briefen erweiterten die
Reisebeschreibung zu einem kulturhistorischen und -kritischen Essay.
Die Unruhen in Aachen, Lüttich, Belgien und Holland, die überschattet
wurden von den sich überschlagenden Ereignissen der französischen
Revolution, konfrontierten Georg
Forster mit den „Antinomien der
Politik“. Als Aufklärer und Liberaler
durchdachte er zum erstenmal die
Problematik der Revolution und Demokratie. Auch wenn er gemäßigt urteilte, so äußerte er freilich die Einsicht in die Notwendigkeit
einer Umwälzung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Als im Oktober 1792 die französischen Revolutionstruppen Mainz einnahmen und
die Bürgerschaft die republikanische Verfassung
annahm, wurde auch Georg Forster in den Strudel
der politischen Ereignisse hineingezogen. In seiner „Darstellung der Revolution in Mainz“ (1793)
verspottete er die Feigheit der hohen Herren und
prophezeite die „letzte Zuckung des Despotismus“.
Er trat dem Jakobinerklub bei und schrieb seinen
Mainzer „Brüdern“ ins Stammbuch: „Jede Authorität, die sich nicht gründet auf Vernunft, nicht auf
freien Willen Aller, jede Authorität, wovon man behauptet, daß der Wille sie bevollmächtigte, sie nicht
wieder zurücknehmen und vernichten könne, ist unrechtmäßig, usurpirt, tyrannisch und darf von freien
Menschen nicht geduldet werden“. Als er 1793 als
Abgeordneter des Mainzer Konvents in das aufgewühlte Paris fuhr, mußte er allerdings erkennen, daß
es mit „der Wahrheit, der Vernunft, der Freiheit, der
Gleichheit“, denen er im Mainzer Jakobinerklub das
Wort geredet hatte, nicht weit her war. Die Jako-
Die geistige Enge des katholischen Fürstentums
machte ihm zunehmend zu schaffen. Die im Frühjahr 1790 unternommene Reise von Mainz nach
Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich, die er zusammen mit dem jungen Alexander
von Humboldt unternahm, sollte seine schwere psychische Krise überwinden helfen. Die ein Jahr später veröffentlichten „Ansichten vom Niederrhein“
verdienten nach dem Urteil von Friedrich Schlegel
den Ruhm eines Klassikers der deutschen Prosa. Die
stern und Leviten“ und deren „albernen Mummereien und hergeplapperten Formeln“ legen
Parallelen zum Schicksal des Amerikaners Thomas
Paine (1737-1809) nahe. Forsters Schrift „Über
die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der
Menschheit“ (1793) besitzt Ähnlichkeiten zu Paines
„Rights of Man“ (1791) und seinem letzten großen
Werk „The Age of Reason“ (1794). Beide waren
Aufklärer und radikale Denker, die an nachweisbare Naturgesetze glaubten, denen das Universum
unterworfen ist. Außerdem forderten beide den rationalen Menschen, der weniger von der göttlichen
Vorsehung als durch Erziehung und soziale Umgebung geprägt ist. Beide wurden als Querulanten,
Gotteslästerer und Atheisten verfemt. In Folge der
restaurativen Entwicklung im 19. Jahrhundert fiel
ihr einstiger Ruhm zunehmend in Vergessenheit.
Insbesondere Georg Forster verschwand, anders als
in der ehemaligen DDR, die ihn als Held der Revolution hochstilisierte, aus dem öffentlichen Bewußtsein der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft. Angesichts eines scheinbar schrankenlosen
ökonomischen Globalismus erscheint indes heute
wiederum Forsters Appell an die Nachgeborenen,
dass es keinen „Zwang geben kann, der
den freien Menschen bindet, eines anderen Knecht zu werden“ sowie dessen Ansichten von der Welt und vom Glück der
Menschheit aktueller denn je.
Oliver Scheiding n
Die Schiffe HMS Resolution und Adventure
während James Cooks zweiter Südseereise in
der Bucht von Matawai. Gemälde von William
Hodges, 1776
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[JOGU] SPEZIAL
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Berühmte Mainzer
Berühmte Mainzer
Wilhelm Emmanuel von Ketteler
Mit Sicherheit gehört Bischof Ketteler
(1811-1877) zu den herausragenden
Bischofsgestalten der Neuzeit und
ist gewiss einer der bekanntesten
„Mainzer“. Nach ihm sind viele
öffentliche Einrichtungen benannt,
Straßennamen erinnern an ihn und
nicht zuletzt stößt auch der MainzBesucher auf dem Bischofsplatz
auf eine markante Plastik, welche die Erinnerung an den Oberhirten wach halten soll.
Dabei stammte der „große Mainzer“ gar
nicht aus unserer Gegend, sondern kam aus
Westfalen, wo er in Münster am 25. Dezember 1811 geboren wurde. Die Tradition seines
freiherrlichen, gleichwohl bescheiden lebenden Elternhauses reichte tief zurück in die Zeit
des Fürstbistums Münster, jenes geistlichen
Wahlstaates, der für Ketteler in gewisser Weise immer eine vorbildliche politische Ordnung
darstellte. Diese Wurzeln machten ihn freilich nicht
zu einem rückwärtsgewandten, den Neuerungen der
Zeit gegenüber verschlossenen Menschen, sondern
sensibilisierten ihn vielmehr für Fehlentwicklungen,
die er hellsichtiger als andere früh erkennen sollte,
und sie bestärkten ihn in einem nahezu unbändigen
Freiheits- und Gerechtigkeitswillen.
Das zeigt schon die radikale Wende, die der 27jährige Gerichtsreferendar 1837 seinem Leben
gab. Im Dienste des preußischen Staates wollte er
nicht mehr bleiben, als dieser im Konflikt mit der
katholischen Kirche den Kölner Erzbischof DrosteVischering in Haft nehmen ließ, um seine Position
in der damals höchst umstrittenen Mischehenfrage
durchzusetzen. Dieser als „Kölner Ereignis“ in die
Geschichtsbücher eingegangene Konflikt rührte so
sehr an seinem „so oft schon verrathenen Gewissen“, wie er seinem Bruder schrieb, dass er eine voraussehbar gute Karriere im Staatsdienst abbrach,
um sich dem Priesterberuf zuzuwenden.
[JOGU] SPEZIAL
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An der Universität München geriet er in Kontakt mit
bekannten Katholiken wie Joseph Görres und unter
den Einfluss des Theologen Ignaz Döllinger, dessen
organisches Kirchenverständnis er übernahm. Die
Kirche hatte fortan für Ketteler immer den Vorrang
vor allen anderen Fragen. Um ihre Freiheit im konstitutionellen Staat kämpfte er. In ihr sah er Gläubige,
Klerus und Papst in einem lebendigen Miteinander,
wobei er die päpstliche Vorrangstellung nie in Frage
stellte. Das galt sogar, als er während des I. Vatikanischen Konzils als Kritiker des berühmten Unfehlbarkeitsdogmas auftrat, sich schließlich aber doch
demütig der päpstlichen Entscheidung unterwarf.
Grabdenkmal Kettelers in der Marienkapelle
des Mainzer Doms.
Allmählich entwickelte sich
nun seine politische Position
gegen die Linke, der er vorwarf „ die größt mögliche
Freiheit für sich und für die
anderen die möglichst größte
Sklaverei“ zu fordern.
In München, später in Eichstätt gewann er zudem
die Auffassung, dass die Kirche sich nicht hinter den
Kirchenmauern verstecken dürfe, vielmehr in der
Welt zu wirken habe und für die Schwachen eintreten müsse. Das tat dann der 1844 zum Priester
Geweihte auch auf seiner ersten Pfarrstelle in Hopsten/Westfalen, wo er mit allen Mitteln die Not der
ländlichen Bevölkerung zu mindern versuchte. Das
tat er auch, als die Revolution von 1848 die Chance
zu einem politischen Engagement eröffnete. Kette-
18
ler zog als Abgeordneter in das Frankfurter Paulskirchenparlament ein, liebäugelte dort sogar drei Tage
lang mit der radikalen Linken, bevor er sich dann
aber doch dem katholischen Club näherte. Allmählich entwickelte sich nun seine politische Position
gegen die Linke, der er vorwarf „ die größt mögliche
Freiheit für sich und für die anderen die möglichst
größte Sklaverei“ zu fordern. Vor allem aber wandte
er sich gegen das liberale Freiheitsverständnis, denn
eine „gesetzliche Garantie schrankenloser Freiheit
für den einzelnen“ hielt er „für eine Rechtloserklärung aller“. Auch der liberalen Wirtschaftspolitik
widersprach er aus sozialen Gesichtspunkten und
nicht zuletzt identifizierte er
in dem liberalen Glauben an
den konstitutionellen Staat
eine Staatsvergottung, die
am Ende die Freiheit des
Bürgers mehr einschränke
als je zuvor.
Gelegenheiten zur eigenen
Profilierung auf dieser Basis ergaben sich mehrfach,
so dass er immer bekannter wurde und schließlich
eine Einladung erhielt, die
Adventspredigten in Mainz
zu halten. Dabei entwickelte er zum ersten Mal im
Winter 1848/49 seine Sicht der „sozialen Frage“,
die ihn fortan nicht mehr loslassen sollte und zu seinem Ruf als „Sozialbischof“ geführt hat. Kettelers
Positionen dazu unterlagen im Laufe der Zeit verschiedenen Wandlungen. Am Ende stand 1869 seine Rede auf der Liebfrauenheide bei Offenbach vor
10.000 Arbeitern, in der er einen gerechten Arbeitslohn, ein Verbot der Kinderarbeit und den Schutz
von Mädchen und Schwangeren forderte. Später ist
diese Rede als die „Magna Charta der christlichen
Arbeiterbewegung“ bezeichnet worden.
Kettelers zunehmende Popularität und die in Frankfurt geknüpften Verbindungen führten dann bald
schon zu einem steilen Aufstieg. 1849 wurde er
Probst von Berlin und fürstbischöflicher Legat für
die Mark Brandenburg und Pommern. 1850 profitierte er von einem Streit im Mainzer Domkapitel,
der ihn schließlich als eine Art Kompromisskandidaten in das Amt des Bischofs von Mainz brachte.
Seine Weihe zum Bischof am 25. Juli 1850 erfolgte
Alle Abb.: © Dom- und Diözesanarchiv Mainz
Bischof der Moderne
ohne großen Aufwand und Kosten für die Diözese – Ketteler blieb sein Leben lang ein sparsamer
Mann, der sogar eine eigene Kutsche für überflüssigen Aufwand hielt.
Für seine offenen Worte,
seinen Kampf gegen manch
ungerechtes Gesetz, musste
auch Ketteler verschiedentlich
Geldstrafen auf sich nehmen.
Geradezu programmatisch war sein Verhalten bei
der Ablegung des Amtseides gegenüber dem Großherzog von Hessen-Darmstadt, Ludwig III., den er
nur mit Vorbehalten leistete. Seine Treue gegenüber
der weltlichen Macht, so stellte er klar, könne nur
so weit reichen, wie das Recht und die Freiheit der
Kirche das zuließen. Hartnäckig suchte er in diesem Sinne in den nächsten Jahren die durch das
geltende Staatskirchenrecht in Hessen-Darmstadt
sehr beengte Stellung der Kirche zu verbessern und
fand dafür bei dem konservativen Minister Reinhard
Freiherr v. Dalwigk zu Lichtenfels (1802-1880) auch
über Jahre hinweg einiges Verständnis. Als jedoch
nach der Reichsgründung der Kulturkampf gegen
die katholische Kirche ausbrach und Otto von Bismarck eine Art „Präventivkrieg“ gegen den Katholizismus zu führen begann (R. Morsey), wurde auch
die Situation in Mainz zunehmend angespannt,
die Auseinandersetzungen zwischen Ketteler und
den liberalen Parteigängern in Hessen-Darmstadt
zunehmend schärfer, ja gehässig. Für seine offenen Worte, seinen Kampf gegen manch ungerechtes Gesetz, musste auch Ketteler verschiedentlich
Geldstrafen auf sich nehmen. Erst Ende der 1870er
Jahre sollte Bismarck die Unzweckmäßigkeit dieses
Kampfes mit der Kirche einsehen und die Eingriffe
in die Autonomie der Kirche zurücknehmen. Doch
das erlebte Ketteler, der 1877 zum Goldenen Bischofsjubiläum des Papstes nach Rom gereist war,
nicht mehr. Auf der strapaziösen Rückreise zog er
sich vermutlich eine Art Lungenentzündung zu und
verstarb völlig unerwartet am 13. Juli 1877 im Kapuzinerkloster zu Burghausen in Oberbayern. Die
Begräbnisfeierlichkeiten in Mainz wurden zu einer
großen Sympathie- und Treuekundgebung für den
hochgeschätzten, schon damals von vielen Menschen verehrten großen Mainzer Bischof.
Michael Kissener n
Am Fuße des Mayon: Auch Monate nach der Katastrophe
geht der Wiederaufbau nur schleppend voran
Portrait von Bischof Ketteler
Wappen von
Bischof Ketteler
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Berühmte Mainzer
Berühmte Mainzer
Abb.: © picture-alliance/akg-images
Carl Zuckmayer Zu Lebzeiten schaffte es Carl Zuckmayer (1896- 971) viermal, auf den Hitlisten des Kulturbetriebs ganz oben zu stehen: 1925 mit der
Komödie „Der fröhliche Weinberg“, 1931 mit der Tragikomödie „Der Hauptmann
von Köpenick“, 1946/47 mit dem Drama „Des Teufels General“ und 1966 mit
seiner Autobiographie „Als wär’s ein Stück von mir“. Danach wurde es immer
stiller um ihn. Seine Prosa und seine Dramatik galten zunehmend als antiquiert
und fielen aus dem Kanon. In den letzten zehn Jahren ist durch eine Reihe von
Veröffentlichungen aus dem Nachlaß – darunter der „Geheimreport“ (2002) und
der „Deutschlandbericht für das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten von
Amerika“ (2004) – das Interesse an Zuckmayer wieder gewachsen.
Der 22. Dezember 1925 war ein Glückstag in Zuckmayers Leben. Die Uraufführung seiner Komödie
„Der fröhliche Weinberg“ im Berliner Theater am
Schiffbauerdamm hatte einen derart überwältigenden Erfolg beim Premierenpublikum, dass fast alle
Theater in Deutschland sie nachspielen wollten.
Mehr als 120.000 Reichsmark flossen ihm binnen
eines Jahres an Tantiemen zu. Das entsprach dem
Lebenseinkommen eines Schwerstarbeiters. So wurde Zuckmayer, der sich bis dahin unter anderem als
Dramaturg, Bänkelsänger, Filmstatist und Anreißer
für Vergnügungslokale durchschlagen musste, über
Nacht zu einem allseits gefragten Autor.
Zuckmayer schreibe „für die Schnäbel der
Schauspieler“, befand der Theaterkritiker Bernhard
Diebold nach der Frankfurter Premiere. Er kritzele „kein Lesespiel, sondern ein Redespiel. Und
namentlich: Spiel, Spiel, Spiel.“ „Sic transit gloria expressionismi“ – so vergeht der Ruhm des
Expressionismus, spöttelte Alfred Kerr, der damalige
Kritikerpapst. Doch auch er wollte diesen Spaß nicht
verderben. Warum? Weil er „das Theater heute vielleicht vor dem hemmungslosen Literatenmist“ rette
„und einen letzten Damm baut gegen das bereits
überlegene Kino“.
Zuckmayer – 1896 in Nackenheim geboren, von
1900 an in Mainz aufgewachsen bis er 1914 als
Kriegsfreiwilliger in den Ersten Weltkrieg zog – vertrat ein klares Gegenprogramm zur Politisierung des
Theaters, wie sie Erwin Piscator und Bertolt Brecht
anstrebten. Das schloss nicht aus, dass er mit beiden in freundschaftlicher Verbindung stand, zumal
auch Zuckmayers Stücke gesellschaftskritischer
[JOGU] SPEZIAL
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Zuckmayers Erfolg schmälerten solche Einwände
nicht im geringsten. Die damit verbundene Selbstgerechtigkeit ärgerte ihn aber. „Wir haben links“,
schrieb er seinem Freund Albrecht Joseph schon im
Dezember 1930, „weder Waffen noch zuverlässige
Leute […] und vor allem: keine Idee, keine Kräfte,
keinen Lebenskern. Das Ganze ist ein Versagen des
Marxismus, sonst nichts, und wir müssen es ausbaden. Weil der Marxismus seit 1918 nicht in der Lage
war, die irrationalen Bedürfnisse der Menschen zu
erregen, zu erfüllen und einem vernünftigen Ziel
zu kopulieren, sondern Menschen für politische
Rechenmaschinen und die Welt für eine durch
konstruktive Ideologien zu regelnde Materialanhäufung hielt, machen sich die irrationalen Bedürfnisse der Menschen selbständig und strömen mit
dem bequemsten und hemmungslosesten Quatsch
zusammen. Daneben stehen die Sozialdemokraten,
die jetzt Thomas Mann gewonnen, aber die Arbeiterschaft verloren haben, und kauen an den Nägeln.
Zum Kotzen.“
Seine Stücke wurden nicht
mehr gespielt, waren aber
auch nicht verboten.
Heinz Rühmann in „Der Hauptmann von Köpenick“.
Titelseite der Illustrierten Film-Bühne, 1956
Züge nicht ganz entbehrten. „Der fröhliche Weinberg“ erregte wegen der ironischen Darstellung
eines Korpsstudenten jedenfalls die Gemüter der
Nationalsozialisten so sehr, dass sie 1926 einen
Theaterskandal nach dem anderen provozierten.
Auch „Der Hauptmann von Köpenick“, mit dem
Zuckmayer 1931 den enormen Erfolg seines „Fröhlichen Weinbergs“ noch übertreffen konnte, missfiel
den – wie er sie nannte – „Rechtsern“ erheblich.
Auf Seiten der Linken war man allerdings ebenfalls
unzufrieden. Es fehle in dem Stück, bemängelte Alfred Kerrs Gegenspieler Herbert Ihering, eine klare
politische Linie.
20
Am Ende der Weimarer Republik befürwortete Zuckmayer daher Pläne des Generals Kurt von Schleicher
zu einem Querfrontbündnis aus Sozialdemokraten,
Gewerkschaftern und „linken“ Nationalsozialisten
um Gregor Strasser, mit denen Hitlers „Machtergreifung“ verhindert werden sollte. Nachdem das
gescheitert war, rechnete er sich dennoch „nicht
zu den Leuten, die über die jüngste Entwicklung in
Deutschland unglücklich“ seien. In einem Brief an
den Publizisten Friedrich Sieburg vom 1. April 1933
sorgte er sich aber darum, „dass die Nation […]
in ihrem neuen Aufbruch geführt und nicht verführt
werde“. Diese Sorge war, wie er bald schmerzlich
erfahren musste, nur zu berechtigt.
Nachdem Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war, hielt sich Zuckmayer – von einer riskanten
Reise in die Reichshauptstadt im November 1935
abgesehen – von Deutschland fern und lebte in seiner „Wiesmühl“ in Henndorf bei Salzburg, die er
sich 1926 von den Tantiemen für den „Fröhlichen
Weinberg“ gekauft hatte. Welche beruflichen Konsequenzen die politische Entwicklung für ihn mit
sich bringen würden, blieb indes noch geraume
Zeit unklar. Seine Stücke wurden nicht mehr ge-
spielt, waren aber auch nicht verboten.
Die Universum Film AG (Ufa), für die er
1930 das Drehbuch zum „Blauen Engel“
mit Marlene Dietrich und Emil Jannings
in den Hauptrollen geschrieben hatte,
schloss mit ihm noch im April 1935 den
Manuskriptvertrag zu einem Filmprojekt,
dessen Verwirklichung dann erst am
Widerstand der Gestapo scheiterte. Im
Dezember 1935 wurde durch das Verbot
seines Romans „Salwàre oder die Magdalena von Bozen“ endlich klar, dass der
deutsche Markt für Zuckmayer verloren
war. Drei Jahre sollte es danach jedoch
noch dauern, bis er und seiner Familie
auch die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wurde.
Abb.: © Deutsche Schillergesellschaft Marbach am Neckar
Schriftsteller und Politikberater
Carl Zuckmayer. Photographie von
Lotte Jacobi, Berlin 1924/25
„Wir finden keinen
Weg in ihre Köpfe und
Herzen.“
Die Abnabelung von Deutschland geschah
also nicht abrupt, sondern in Raten. Das
verschaffte Zuckmayer die von ihm reichlich genutzte Möglichkeit zu Erfahrungen,
die viele andere Emigranten nicht machen
konnten oder wollten. Durch Freunde, die ihn in
Henndorf besuchten, und seine Stippvisite in Berlin
lernte er auch die Binnenperspektive des „Dritten
Reichs“ kennen. Er bekam so einen Überblick über
das breite Spektrum an politischen Positionen, die
von begeisterter Zustimmung über abwartende Zuversicht bis zur Regimekritik reichten. Ende 1943,
vier Jahre nachdem Zuckmayer in die USA emigriert
war, stellte er dieses Wissen dem amerikanischen
Geheimdienst „Office of Strategic Services“ zur
Verfügung, indem er einen Report mit 150 Porträts
über Schauspieler, Regisseure, Schriftsteller, Journalisten und Verleger verfasste, die im nationalsozialistischen Deutschland erfolgreich waren. Er wollte
auf diese Weise die Chance nutzen, der These von
der Kollektivschuld aller Deutschen an den Verbrechen des NS-Regimes zu widersprechen und auf die
Existenz eines „Anderen Deutschlands“ aufmerksam zu machen.
Nach dem Sieg der Alliierten wurde Zuckmayer die
von ihm schon 1943 beantragte amerikanische
Staatsbürgerschaft verliehen, so dass er sich erfolgreich um die Stelle eines zivilen Kulturbeauftragten
beim US-Kriegsministerium bewerben konnte. Im
November 1946 brach er in dessen Auftrag zu einer
Inspektionsreise durch Deutschland und Österreich
auf, von der er nach fünf Monaten völlig erschöpft
zurückkehrte. Trotzdem begann er sofort mit der
Arbeit an einem Bericht, in dem er zahlreiche besatzungspolitische Maßnahmen einer scharfen Kritik unterzog: „Wir erreichen die Menschen nicht“,
warnte er eindringlich. „Wir finden keinen Weg in
ihre Köpfe und Herzen. Wir beeinflussen die Schüler
und Universitätsstudenten nicht wirklich, obwohl
dazu einige Anstrengungen unternommen werden
und es Pläne gibt. Aber was bisher getan und versucht worden ist, ist zu wenig, zu theoretisch, zu
akademisch.“ Zuckmayer wies mit Nachdruck darauf hin, dass man in Deutschland keine Demokratie errichten könne, wenn man die dort lebenden
Menschen weiter als Feinde betrachte. Man müsse
statt dessen allen aufgeschlossenen Kräften Mut zu
einem Neuanfang machen und vor allem Jugendlichen eine Perspektive bieten.
Mit seiner Autobiographie
„Als wär’s ein Stück von mir“
gelang ihm noch einmal ein
ganz großer Erfolg.
Unterdessen avancierte Zuckmayers im amerikanischen Exil geschriebenes Stück „Des Teufels General“ zum erfolgreichsten deutschen Gegenwartsdrama der Nachkriegszeit. Während die Geschichtswissenschaft noch bis in die 1960er Jahre den NS-
21
Staat als monolithischen Führerstaat
darstellte, wusste es der Exilant
besser und zeigte, wie ein Mitläufer
von rauhbeiniger Liebenswürdigkeit
zwischen zynischen Machtpolitikern,
skeptischen Pragmatikern, Jungnationalsozialisten voller jugendlichem
Idealismus und einem zu allem bereiten Widerstandkämpfer allmählich
aufgerieben wird. Am Ende kann er
nicht mehr lavieren, sondern muß
eine folgenschwere Entscheidung
treffen. Den Grund für den Erfolg des
Stücks sah Zuckmayer darin, „dass
der Beschauer nie das Gefühl hat, er
bekomme eine Standpauke gehalten
oder werde mit dem Zeigefinger belehrt“. Eben dadurch animierte das
Stück zu lebhafter Diskussion. Wen
trifft wieviel politische Schuld? Wer
hatte überhaupt Handlungsalternativen? Welche Mittel im Kampf gegen
ein mörderisches Regime sind erlaubt? Wann beginnt das Recht oder
gar die Pflicht zum Widerstand?
Bis Mitte der 1950er Jahre feierte Zuckmayer noch
eine Reihe weiterer Theatererfolge, unter anderem
mit „Der Gesang im Feuerofen“ (1953), einem Stück
über Widerstand und Kollaboration in Frankreich
während des Zweiten Weltkriegs, und mit „Das kalte Licht“ (1955), das einen Fall von Atomspionage
thematisiert. Mit der sich Ende der fünfziger Jahre
durchsetzenden Politisierung, Akademisierung und
Intellektualisierung des Kulturbetriebs verlor sich bei
Intendanten, Regisseuren, Dramaturgen und Journalisten allmählich das Interesse an ihm und seiner
Arbeit. Das Publikum blieb Zuckmayer jedoch treu.
1966 gelang ihm daher mit seiner Autobiographie
„Als wär’s ein Stück von mir“ noch einmal ein ganz
großer Erfolg: Weit mehr als eine Million Exemplare
konnten bis heute verkauft werden. Danach wurde
es immer stiller um ihn. „Der Hauptmann von Köpenick“ garantiert den Theatern aber immer noch, wie
zuletzt die Inszenierung von Jan Bosse am Mainzer Staatstheater bewies, bestens besuchte Häuser.
Und als 2002 Zuckmayers „Geheimreport“ für das
„Office of Strategic Services“ erstmals veröffentlicht
wurde, war das Staunen groß: „Dieser alte Text“,
meinte etwa Gustav Seibt in der „Süddeutschen
Zeitung“, „spielt alle Debütanten der Saison mühelos an die Wand.“
Gunther Nickel n
[JOGU] SPEZIAL
II/2007
Berühmte Mainzer
Weltliteratur aus Mainz
Anna Seghers Im Kanon der bedeutendsten deutschsprachigen Prosa des
20. Jahrhunderts finden sich nicht wenige Werke der Anna Seghers, die im
Jahr 1900 als Netty Reiling in Mainz
geboren wurde und ihrer Herkunft
zeitlebens verbunden blieb.
Anna Seghers wurde am 19. November 1900 in
Mainz geboren und starb am 1. Juni 1983 in Berlin.
In ihre Lebensspanne fallen die großen Kriege und
gewaltigen Umbrüche des 20. Jahrhunderts. Ihr Lebenslauf führt sie durch mehr Höhen und Tiefen als
die meisten Zeitgenossen. Isidor Reiling, ihr Vater,
ist ein angesehener Kunst- und Antiquitätenhändler,
die Familie gehört der orthodoxen Israelitischen Religionsgemeinschaft an; die Tochter Netty studiert
Kunstgeschichte in Heidelberg und Köln und promoviert 1924 mit einer Dissertation über Juden und
Judentum im Werk Rembrandts. Den literarischen
Durchbruch bringt das Jahr 1928 mit dem Kleistpreis für die Erzählung „Aufstand der Fischer von St.
Barbara“. Sie reüssiert also auf mehreren Gebieten
zugleich, und dabei partizipiert sie auf ihre Weise an
der Umbruchssituation der Weimarer Zeit. In Heidelberg begibt sie sich in den Kreis der dort lebenden
ungarischen Emigranten, unter ihnen auch Laszlo
Radvanyi, der bei Karl Jaspers mit einer Arbeit über
den Chiliasmus promoviert. Die beiden heiraten
1925. Im Jahr ihres literarischen Durchbruchs tritt
sie der Kommunistischen Partei Deutschlands bei.
Ihre Kritik an Not und Gewalt, Ungerechtigkeit und
Verlogenheit in der Gesellschaft unterscheidet sich
nicht wesentlich von den Mängelanzeigen, die auch
linksbürgerliche, sozialdemokratische und selbst
bürgerliche Schriftsteller formulieren. Aber irgendwann zwischen 1924 und 1928
muss Anna Seghers, wie sich
Netty Reiling nun als öffentliche
Person nennt, zu dem Schluss
gekommen sein, dass die Besei-
[JOGU] SPEZIAL
II/2007
Abb.: privat
„Das siebte Kreuz“, Umschlag der
Erstausgabe von 1942. Erzählt wird die
Geschichte des jungen Kommunisten
Georg Heisler, dem es durch die Unterstützung vieler einzelner Helfer gelingt, aus
dem KZ Westhofen ins Ausland zu fliehen.
tigung der kritikablen Zustände nicht mehr von
Marktwirtschaft und bürgerlicher Demokratie, sondern nur noch von einer sozialistischen Gesellschaft
zu erwarten sei. Man darf davon ausgehen, dass bei
diesem Übergang politisch-ökonomische Erwägungen eine entscheidende Rolle spielten; schließlich
hatte sich ihr Mann vom Philosophen zum Dozenten der politischen Ökonomie entwickelt. In ihren
literarischen Texten spielen solche Argumente indes
keine Rolle. Im Werk der Anna Seghers ist es eine
Frage der individuellen moralischen Ernsthaftigkeit,
aus den vielen Beschwerden eine rückhaltlose Konsequenz zu ziehen und eine entschiedene Alternative zum Kapitalismus anzustreben, auch wenn – und
gerade wenn – der Kampf dafür zunächst vor allem
Opfer auf der eigenen Seite bedeutet.
Der Roman „Das siebte Kreuz“
wird zum Welterfolg, erscheint
noch vor der deutschsprachigen Ausgabe in den USA in der
englischen Übersetzung, wird
dort ein Bestseller und 1944 in
Hollywood verfilmt.
So war, als die Nationalsozialisten 1933 an die
Macht kamen, die Schriftstellerin gleich doppelt
in deren Visier, als Jüdin und als Kommunistin. In
allen äußeren Hinsichten kann das Exil, das Anna
Seghers ab 1933 in Frankreich und ab 1941 in
Mexiko fand, nur als multipler Absturz beschrieben
werden, mit mehrmaligem hartem Aufprall, so vor
allem 1942 bei der Nachricht, dass die in Mainz
zurückgebliebene Mutter in ein KZ deportiert und
zu Tode gekommen sei. Unter diesen Umständen
verfasst die Schriftstellerin Erzählungen und Romane, die zu den bedeutendsten Werken nicht nur der
Exilliteratur, sondern der deutschsprachigen Prosa
des 20. Jahrhunderts gehören: zwei Romane über
die Entstehung und Durchsetzung des Nationalsozialismus
in Deutschland, den großen
Deutschlandroman
jener
Zeit, „Das siebte Kreuz“,
und eine umfangreiche
Kurzprosa, deren stilistische Spannweite von der
Reportage über die psychologische wie die realistische Kurzgeschichte,
die Novelle, die chroni-
kalische und die mythische Erzählung die ganze
Formenvielfalt der Moderne umfasst. Eine merkwürdige Schere zwischen dem Geschick der Autorin und dem des Werks tut sich mit dem Roman
„Das Siebte Kreuz“ auf, der 1942 in Mexico City in
deutscher Sprache herauskommt. Der Roman wird
zum Welterfolg, erscheint noch vor der deutschsprachigen Ausgabe in den USA in der englischen
Übersetzung, wird dort ein Bestseller und 1944 in
Hollywood verfilmt. Noch vor Kriegsende sind Übersetzungen in England, Kanada, Brasilien, Schweden
und Mexiko auf dem Buchmarkt. Bis 1949 folgen
deutsche Ausgaben in allen Besatzungszonen, eine
Übersetzung ins Niederländische, eine ins Französische und die erste vollständige ins Russische. Die
Autorin dieses Buches hat zunächst sehr wenig von
ihrem weltweiten Erfolg, und das nicht nur in ökonomischer Hinsicht. Ihr nächster Roman, „Transit“,
der das Exil in Frankreich zum Stoff und daran ganz
grundsätzlich zum Thema hat, was „Exil“ heißt, ist
so gut wie vollendet, als Anna Seghers bei einem
Unfall gefährlich verletzt wird und nach vier Tagen
im Koma nur langsam wieder sprechen, lesen und
schreiben kann. Der Roman, der eine der prägnantesten Behandlungen des Exils in Frankreich und der
Exilsituation überhaupt in der Literatur des 20. Jahrhunderts darstellt, wird in deutscher Sprache erst
1947 in der Berliner Zeitung und als Buchausgabe
in Konstanz, in der französischen Zone, gedruckt.
1947 wird ihr der Büchnerpreis
verliehen, und damit beginnt
im Westen eine fast vollständige Rezeptionspause von
fast 20 Jahren.
Die zu erwartende Aufwärtsbewegung nach dem
Ende des Exils – Seghers schafft es 1947, nach
Berlin zu kommen und dort Bleibe und Aufgabe
zu finden – verläuft zäh und keineswegs geradlinig. 1947 wird ihr der Büchnerpreis verliehen, und
damit beginnt im Westen eine fast vollständige
Rezeptionspause von fast 20 Jahren. Der aus dem
mexikanischen Exil mitgebrachte Roman „Die Toten
bleiben jung“, eine ästhetisch komplexe Epochenbilanz, 1949 in der DDR veröffentlich, findet wenig
Verständnis, gerade bei den Genossen, denen das
Positive fehlt. Seghers entfaltet eine enorme Produktivität beim Verfassen von Kurzprosa, von der
reportagehaften Dorfgeschichte über die Anekdote
und die poetische, Mythen nach- und umformende
Erzählung bis zu den „Karibischen Geschichten“, die
ein Stück Kolonialgeschichte aufarbeiten und durch
ihr Sujet wie ihre Sprache fast als Solitäre in der
deutschen Prosa gelten können. Sowohl im Hinblick
Foto: © Aufbauverlag Berlin
Berühmte Mainzer
auf die thematische Blickrichtung – die Geschichte
des Kolonialismus, in der wie in einem verfremdenden Gewand die Gegenwart aufscheint – als auch
aufgrund der Sprache hätten diese Geschichten als
Messlatte zeitgenössischer deutschsprachiger Prosa
dienen können, wenn die politischen Verhältnisse
andere gewesen wären – aber dann wären sie vermutlich so gar nicht entstanden. In der Kurzprosa
behält Anna Seghers bis zum Ende ihre Produktivität, die in den beiden großen DDR-Romanen „Die
Entscheidung“ und „Das Vertrauen“ unter dem
Beweisdruck leidet, den sie sich auferlegt. Diese Bücher sind, wenn nicht mit Genuss, so doch mit Gewinn an Wissen zu lesen. Sie zählen zu den wenigen
ernst gemeinten Versuchen eines Systemvergleichs,
der zugunsten der sozialistischen Gesellschaft ausgeht, ohne deren Härten zu beschönigen oder das
im Westen gerade stattfindende Wirtschaftswunder
zu leugnen: Die Romane versuchen zu zeigen, dass
die Opfer, die den Menschen in der DDR abverlangt
werden, nicht etwa keine, sondern in moralischer
Hinsicht sinnvolle Opfer sind. Immerhin demonstrieren sie auch, dass die Schriftstellerin sich nicht
nur mit den Verhältnissen in der DDR bekannt gemacht hat, sondern immer noch mit dem Leben in
den rheinischen Provinzen vertraut ist, in denen
beträchtliche Teile der Handlung in „Der Entscheidung“ spielen.
Die Bücher „Die Entscheidung“
und „Das Vertrauen“ sind,
wenn nicht mit Genuss,
so doch mit Gewinn an
Wissen zu lesen.
In ihrem Œvre artikuliert Anna Seghers ein Krisenbewusstsein, das für die ganze Moderne charakteristisch ist: die nach 1900 immer mehr befestigte
Auffassung, dass die bürgerliche Gesellschaft (in
jeder Bedeutung dieses Terminus) in einen unüberbrückbaren Gegensatz zu allen Sinnvorstellungen
und Wertmaßstäben geraten sei. Unter den ganz
unterschiedlichen Reaktionen auf diese Diagnose fällt die der Anna Seghers nicht nur durch ihre
eigentümliche Ästhetik auf, sondern nicht zuletzt
dadurch, dass sie der Tendenz der Mehrheit widerspricht. Sie beharrt darauf, dass moralische Entscheidung weiterhin möglich sei und dass Literatur
solche Entscheidungsfähigkeit freisetzen könne und
bestärken müsse. Aus diesem Selbstbewusstsein erschreibt sie sich eine gewichtige Position im Spannungsfeld, in dem die klassische Moderne in Europa
und Amerika sich bewegt. Sie trägt nicht wenig zum
Reichtum ihrer Ästhetik bei, durch eine Erzählkunst,
die dem ganzen Werk die Einheit einer identifizier-
baren „Stimme“ verschafft. An dieser Stimme kann
man ihre Texte, wie diejenigen von Gottfried Keller
oder Thomas Mann, schon nach wenigen Zeilen erkennen. In ihr schwingt gut hörbar auch ein Klang
mit, der dem Idiom der Region um Mainz eigentümlich ist. Das gilt buchstäblich wie im übertragenen
Sinn: Anna Seghers hat gerade die Epoche machenden Geschichten sich unter den Menschen und in
den Landschaften dieser Region abspielen sehen.
Bernhard Spies n
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Anna Seghers im mexikanischen Exil.
Foto um 1942
[JOGU] SPEZIAL
II/2007
Blutspenden rettet Leben.
Vielleicht auch Ihres.
Wo?
Klinikum der Johannes
Gutenberg-Universität Mainz,
Transfusionszentrale,
Hochhaus Augustusplatz
Information
Telefon 0 61 31/17-32 16 -32 17
Foto: Photocase©jarts
Termine
Mo, Mi 8.00 bis 16.00
Di, Do 8.00 bis 18.00
Fr 8.00 bis 15.00
Sa 8.00 bis 11.00