U G ] O J [ I A L -Universität Mainz Z E P S utenberg r Johannes G [JOGU] SPEZIAL II/2007 € 4,80 Das Magazin de Impressum Inhalt Zum Titelbild: Bonifatius, Rhabanus Maurus, Erzbischof Willigis, Johannes Gutenberg, Georg Forster, Wilhelm Immanuel von Ketteler, Carl Zuckmayer und Anna Seghers – acht Leitfiguren der Mainzer Stadtgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart sind Inhalt dieser JOGU SPEZIAL, die anlässlich des Jahrs der Geisteswissenschaften von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz herausgegeben wird. Geisteswissenschaftliche Professorinnen und Professoren schildern, welchen Einfluss diese herausragenden Persönlichkeiten als Weltbürger, Europäer und berühmte Mainzer auf die Stadt Mainz und ihre Zeitgenossen ausübten. Herausgeber: Der Präsident der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Univ.-Prof. Dr. Georg Krausch Leitung Bereich Öffentlichkeitsarbeit: Petra Giegerich Leitung Redaktion: Annette Spohn-Hofmann (V.i.S.d.P.) Autoren dieser Ausgabe: Univ.-Prof. Dr. Mechthild Dreyer, Univ.-Prof. Dr. Franz Josef Felten, Univ.-Prof. Dr. Stephan Füssel, Prof. Dr. Ernst-Dieter Hehl Univ.-Prof. Dr. Michael Kißener, Prof. Dr. Hermann Kurzke, PD Dr. Gunther Nickel, Univ.-Prof. Dr. Oliver Scheiding Univ.-Prof. Dr. phil. Bernhard Spies Diese Sonderausgabe der JOGU erscheint in Kooperation mit der Redaktionsassistenz: Birgitt Maurus 4 Zeitleiste 5 Editorial 6 Baumeister und Wegbereiter Bonifatius – Apostel der Deutschen 8 Die Welt ist lesbar Hrabanus Maurus: Mönch, Gelehrter, Erzbischof Kontakt: Telefon: + 49 61 31 39-2 23 69, 39-2 05 93 Telefax: + 49 61 31 39-2 41 39 E-Mail: [email protected] Internet: http://zope.verwaltung.uni-mainz.de/presse/jogu 10 Erzbischof Willigis von Mainz Der „zweite Mann“ nach dem Papst in der Kirche des Reiches 1. Auflage 2007 12 Vater der Massenkommunikation Johannes Gutenberg Titelbild: Annette Spohn-Hofmann 14 Untergang einer Reichshauptstadt Goethes „Belagerung von Mainz“ Gestaltung: Thomas Design, Freiburg Druck: Werbedruck GmbH Horst Schreckhase Postfach 1233 34283 Spangenberg Telefon + 49 56 63 94 94 Telefax + 49 56 63 93 988-0 www.schreckhase.de [email protected] Foto: Peter Pulkowski, 2005 Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers und der Redaktion wieder. Nachdruck nur mit Quellenangabe gestattet. [JOGU] SPEZIAL II/2007 Dom St. Martin: Der romanische Bau, der 975 bis 1036 entstand, ist eine dreischiffige Säulenbasilika mit zwei Chören und vielen Kapellen. Er hat sechs Türme und prägt damit die Mainzer Altstadt. Im Gegensatz zu den meisten Kirchenbauten jener Zeit, deren Hauptchor stets gen Osten gerichtet war, ist der Mainzer Dombau westwärts gerichtet, wie dies auch bei den großen Kathedralen Roms der Fall war. Neben den Domen von Speyer und Worms gehört er zu den Höhepunkten der romanischen Sakralbauten am Oberrhein. 16 Weltumsegler, Revolutionär, Mainzer Georg Forster oder vom Leben eines deutschen Thomas Paine 18 Bischof der Moderne Wilhelm Emmanuel von Ketteler 20 Schriftsteller und Politikberater Carl Zuckmayer 22 Weltliteratur aus Mainz Anna Seghers [JOGU] SPEZIAL II/2007 Zeitleiste Editorial 600 Bonifatius (673 –754) 716 unternahm Bonifatius eine erste Missionsreise zu den Friesen. Diese scheiterte jedoch an dem Friesenherzog Radbod, einem Heiden und Gegner der Franken, der gerade das südwestliche Friesland von diesen zurückerobert hatte. So kehrte Bonifatius noch im Herbst 716 nach England zurück, wo er im darauf folgenden Jahr zum Abt gewählt wurde. Hrabanus Maurus (780 – 856) Hrabanus Maurus hat dem Wissen eine wesentliche Rolle im Leben des Menschen eingeräumt. Zudem hat er maßgeblich dazu beigetragen, seinen Zeitgenossen die umfangreichen Wissensbestände der heidnischen und der christlichen Antike zu vermitteln. Das wohl bedeutendste Werk Hrabans, das diesem Zweck der Wissensvermittlung dient, ist die zwischen 842 und 847 (dem Jahr seiner Ernennung zum Erzbischof von Mainz) entstandene große Enzyklopädie „Von den Naturen der Dinge“ (De rerum naturis) oder – wie sie auch genannt wird – „Vom Universum“ (De universo). 700 800 Liebe Leserin, lieber Leser, 900 1000 1100 Erzbischof Willigis von Mainz (um 940 – 1011) Weihnachten 983 wurde der dreijährige Otto III. auf Geheiß seines kaiserlichen Vaters Otto II. in Aachen zum König gesalbt und gekrönt. Willigis vollzog diese feierliche Liturgie zusammen mit dem Erzbischof von Ravenna. Während er die Bischöfe und die Kirche des nordalpinen Reiches repräsentierte, stand Johannes von Ravenna für die Bischöfe des italienischen Reichsteils. Das Zusammenwirken beider Erzbischöfe bei der Königskrönung signalisierte die Verschmelzung beider Reichsteile im Zeichen des ottonischen Kaisertums. 1200 1300 1400 1500 Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) 1792/1793 schloss sich die schwer befestigte Stadt Mainz der französischen Revolution an. Goethe, der wohl so eine Art Kriegsberichterstatter hätte sein sollen, schrieb 1793: denn „grade das worauf alles ankommt darf man nicht sagen“, und auf das, was er sagen durfte, kam es ihm nicht an. Wenn man aber das Entscheidende verschweigen muss, wird der Bericht zu einem diplomatischen Eiertanz. Georg Forster (1754 – 1794) Der Weltumsegler Georg Forster, der drei Jahre von 1772 bis 1775 zusammen mit James Cook den sagenhaften Australkontinent gesucht und dabei die Inselwelt des Pazifiks erforscht hatte, wurde als Verfasser des berühmten Reiseberichts „A Voyage round the World“ (1777) nach seiner Rückkehr von der Blüte der Gelehrten stürmisch gefeiert. Carl Zuckmayer (1896 – 1971) Der 22. Dezember 1925 war ein Glückstag in Zuckmayers Leben. Die Uraufführung seiner Komödie „Der fröhliche Weinberg“ im Berliner Theater am Schiffbauerdamm hatte einen derart überwältigenden Erfolg beim Premierenpublikum, dass fast alle Theater in Deutschland sie nachspielen wollten. Mehr als 120.000 Reichsmark flossen ihm binnen eines Jahres an Tantiemen zu. Das entsprach dem Lebenseinkommen eines Schwerstarbeiters. Über Nacht wurde er zu einem allseits gefragten Autor. 1600 1700 1800 Johannes Gutenberg (1400 – 1468) Das überaus virulente 15. Jahrhundert mit zwei großen Reformkonzilien, mit der Gründung von 15 (!) neuen Universitäten und zahlreichen technischen notwendigen Erfindungen, wie etwa die Papierherstellung ab 1390 in Nürnberg, die Weiterentwicklung der Spindelpresse zur Druckerpresse, die chemischen und physikalischen Experimente, die wir in Gutenbergs Straßburger Zeit nachweisen können, aber auch vor allen Dingen die geistige Kraft des Humanismus schufen ein Panorama, in dem die Medienrevolution Gutenbergs ihren Widerhall fand. Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811 – 1877) 1848 zog Ketteler als Abgeordneter in das Frankfurter Paulskirchenparlament ein. Seine zunehmende Popularität führten dann schon bald zu einem steilen Aufstieg. 1849 wurde er Probst von Berlin und fürstbischöflicher Legat für die Mark Brandenburg und Pommern. 1850 profitierte er von einem Streit im Mainzer Domkapitel, der ihn schließlich als eine Art Kompromisskandidaten in das Amt des Bischofs von Mainz brachte. Seine Weihe zum Bischof am 25. Juli 1850 erfolgte ohne großen Aufwand und Kosten für die Diözese – Ketteler blieb sein Leben lang ein sparsamer Mann, der sogar eine eigene Kutsche für überflüssigen Aufwand hielt. jede Stadt in Deutschland wird für sich in Anspruch nehmen können, berühmte Söhne und Töchter der Stadt präsentieren zu können; Nur wenige deutsche Städte können jedoch vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert eine derart illustre Schar aufbieten, dass es schwergefallen ist, die Auswahl „Berühmter Mainzer“ für die Veranstaltungsreihe „Universität im Rathaus“ anlässlich des Jahrs der Geisteswissenschaften zu begrenzen. Mainz als eine Stadt reich an Geschichte und Kultur hat Persönlichkeiten hervorgebracht und angezogen, die nicht nur Wissenschaftler nachhaltig beschäftigt haben, sondern die lokale und überregionale „personalisierte Gedächtnisorte“ geworden sind. Es liegt wohl in der Natur des Menschen, dass ihm Werk und Wirken, Ideenwelt und historisch-kulturelle Kontexte von Personen über deren Lebenswege besonders zugänglich sind. Daher haben sich die Geisteswissenschaften der Johannes-Gutenberg Universität mit dieser Veranstaltungsreihe dazu entschlossen, aktuelle Fragen geisteswissenschaftlicher Erkenntnis an die Biographie von Personen zu knüpfen und dem Phänomen nachzugehen, warum diese – obwohl immer wieder neu diskutiert und eingeordnet – ihre Bedeutung behalten: Bonifatius, Hrabanus Maurus und Willigis waren nicht nur bedeutende Bischöfe und Erzbischöfe für Mainz, sondern bedeutende Gelehrte für das gesamte deutsche Mittelalter; Johannes Gutenberg wurde zum Vater der Massenkommunikation und schuf den freien Zugang zu Bildung und Information und wurde daher 1946 Namenspatron unserer Mainzer Universität. In der Person Georg Forsters finden wir die Aneignung der Welt in Form forschender und beobachtender Neugier, im lokalen Zusammenhang ist er eher für seine Teilnahme an der Mainzer Republik bekannt. Wilhelm Emmanuel von Ketteler als der wohl bedeutendste Mainzer Bischof des 19. Jahrhunderts ist im nationalen historischen Gedächtnis vor allem in seinem Bemühen um die katholische Soziallehre verankert. Anna Seghers erlebte prägende Jahre in Mainz, Carl Zuckmayer schöpfte aus dem reichen Fundus regionaler Geschichten und Traditionen: Beide stehen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven für bedeutende deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts. Ein Sondertermin widmet sich Goethes faszinierendem Augenzeugenbericht der „Belagerung von Mainz“ vor dem Hintergrund der Revolutionskriege. Es hat von jeher zu den vornehmen Aufgaben der Mainzer Geisteswissenschaften gehört, Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Arbeit auch einer Öffentlichkeit zu vermitteln, die über die jeweilige akademische Zunft hinausgeht. Diesem Zweck dienen die Veranstaltungsreihe wie auch dieses anlässlich dieser Reihe herausgegebene Sonderheft „JOGU SPEZIAL – Berühmte Mainzer“. Die Autorinnen und Autoren sind herausragende Experten für ihr Thema und geben zugleich einen Einblick in ihre aktuellen Forschungen. So unterschiedlich die Personen, die betrachtet werden, so vielfältig sind auch die Mainzer Geisteswissenschaften an unserer Johannes GutenbergUniversität Mainz, vor allem beheimatet in den Fachbereichen 05 (Philologie und Philosophie) und 07 (Geschichts- und Kulturwissenschaften). Sie betreiben eine vielfältige Forschung über alle Epochen des menschlichen Seins von den ersten Hochkulturen bis in unsere unmittelbare Gegenwart, und sie bedienen sich dabei aktueller und herausfordernder methodischer und konzeptioneller Zugänge in Altertums-, Kultur-, Geschichts- Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaften. Die Mainzer Geisteswissenschaften tragen das Ihre dazu bei, auf höchstem Niveau Grundlagenforschung und Orientierungswissen über die Welt zu bieten. Wir verfolgen mit den „Berühmten Mainzern“ einen Zugang, der die Verbindung zur Stadt und zur Öffentlichkeit ganz bewusst sucht. In diesem Sinne danken wir bereits jetzt den beteiligten Kolleginnen und Kollegen sehr herzlich. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre der Beiträge in der JOGU SPEZIAL. 1900 2000 Anna Seghers (1900 – 1983) Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, stand Anna Seghers gleich doppelt in deren Visier, als Jüdin und als Kommunistin. In allen äußeren Hinsichten kann das Exil, das die Schriftstellerin ab 1933 in Frankreich und ab 1941 in Mexiko fand, nur als multipler Absturz beschrieben werden, mit mehrmaligem hartem Aufprall, so vor allem 1942 bei der Nachricht, dass die in Mainz zurückgebliebene Mutter in ein KZ deportiert und zu Tode gekommen sei. Stephan Füssel Dekan Fachbereich 05: Philologie und Philosophie Jan Kusber Dekan Fachbereich 07: Geschichts- und Kulturwissenschaften [JOGU] SPEZIAL II/2007 Berühmte Mainzer Foto: Elmar Rettinger Berühmte Mainzer Baumeister und Wegbereiter Bonifatius – Apostel der Deutschen Der angelsächsische Missionar, Kirchenreformer und Erzbischof Bonifatius, der die letzten Jahre auch Bischof von Mainz war, gehört zweifellos zu den Menschen, deren Aktionsradius weit über Mainz hinaus reichte. Sein Handeln trug zu dem bei, was man die „weltgeschichtliche Wende des 8. Jahrhunderts“ nannte, ganz zu schweigen von seinen Verdiensten um Christianisierung und Kulturtransfer. Zudem ist über sein Leben und Wirken mehr bekannt als über die meisten seiner Zeitgenossen – und vieler später Lebenden, dank der Briefe, die in Mainz nach seinem Tod zusammengestellt und dank der Vita, die hier geschrieben wurde. Entscheidungen den Grund für seine Erfolge als Missionar, als Organisator und Reformer der Kirche: Von Anfang an sicherte er sich die Unterstützung des Papstes, der ihn zum Bischof erhob, ihm den Namen Bonifatius gab, den er fortan führte. Hinzu kam die Protektion des faktischen Herrn des fränkischen Reiches, des Hausmeiers Karl Martell. Beide unterstützten ihn in seiner Arbeit in den hessischthüringischen Grenzgebieten mit Schutzbriefen und Empfehlungsschreiben. Fränkische Stützpunkte wie Büraburg gaben ihm Rückhalt bei seiner Mission, die vor spektakulären Gewaltakten nicht zurückschreckten: Fällung der Donareiche! Bonifatius im Geist der Ökumene, aber mit konfessionellen Unterschieden – auch heute noch, wenn auch entspannter als in der Zeit nach der Reformation, als Bonifatius von evangelischer Seite als „Malefatius“ (Übeltäter) verurteilt wurde, weil er die freie germanische Kirche Rom ausgeliefert habe, oder im 19. Jahrhundert, als er katholischerseits als „Apostel der Deutschen“ an die ideologische Front geschickt wurde. Stets war ihm der Apostolische Stuhl maßgebliche Quelle des Rechts, der Liturgie, der Gebräuche. Abb.: © Wikimedia Commons So ist es nur konsequent, dass Bonifatius weit über Mainz hinaus bekannt war und ist, dass man sich an ihn erinnert, ihn feiert, ja verehrt, ihn für sich in Anspruch nimmt oder kritisch sieht, sein Leben und Wirken im Kontext seiner Zeit wie sein Nachleben künstlerisch behandelt oder wissenschaftlich unter die Lupe nimmt – besonders zu runden Gedenktagen. So auch im Jahre 2004, zum 1250. Todestag, als allein in Mainz verblüffend viele und vielfältige Aktivitäten ihm gewidmet waren. Auch die Evangelische Kirche feierte am Todestag einen Bonifatius-Tag in der Johanniskirche mit einem Vortrag und mit der Vorführung und Diskussion einer der beiden zum Jubiläum produzierten Fernsehfilme (Tod im Morgengrauen). Der Landesbischof sah den Missionar und Reformer Bonifatius – mit kritischem Blick, wie er der Presse vorab erläuterte – als Vordenker des christlichen Abendlandes, der Strömungen des alten Christentums ausgegrenzt, Fehlentwicklungen des Mittelalters vorgearbeitet, aber auch Positionen der Reformation Martin Luthers vorgelebt habe, aber nicht als Heiligen. Bonifatius war, so scheint es 2004, so populär wie noch nie, und so mag man fragen: Wer war dieser Mann, an den man 1250 Jahre nach seinem Tod so intensiv und vielfältig erinnert? Warum ist er für uns so interessant? Als Kind bereits trat der junge Winfried in ein südenglisches Kloster ein und durchlief die übliche Ausbildung. Offenbar mit großem Erfolg, denn bald wurde er selbst Lehrer, gelehrter Autor und Abt, und nahm an Synoden und komplizierten Verhandlungen teil. Doch hielt es ihn nicht in England. Wie nicht wenige seiner Landsleute sah er seine Berufung in der Mission bei den verwandten Sachsen auf dem Festland. Nach einem kurzfristig gescheiterten ersten Versuch in Friesland 716, legte er bei seinem Neuanfang 718 mit zwei Bonifatius lies eines der wichtigsten germanischen Heiligtümer – die Donareiche – unter den Augen der noch nicht zum Christentum bekehrten Chatten fällen. Gemälde von 1737 [JOGU] SPEZIAL II/2007 Die Bindung an das Papsttum, zu dem er 722 in ein besonderes Treueverhältnis getreten war, war freilich viel tiefer. Stets war ihm der Apostolische Stuhl maßgebliche Quelle des Rechts, der Liturgie, der Gebräuche, vor allem als er mit Hilfe des bayrischen Herzogs die bayrische Kirche reorganisierte und nach dem Tode Karl Martells, 741, dessen Söhne und Nachfolger, Karlmann und Pippin, für eine umfassende Reform der fränkischen Reichskirche gewann. Beim Nachfolger des Apostelfürsten suchte er immer wieder Rat in allen Problemen, vor die ihn eine heidnisch-christliche Mischgesellschaft an den Grenzen des Reiches mit rudimentären kirchlichen und politischen Strukturen stellte – bis in banalste Details. Hier suchte er auch Unterstützung gegen fränkische Große, Kleriker wie Laien, die seine Vorstellungen vom rechten Lebenswandel nicht teilten und sich der von ihm energisch betriebenen Reorganisation der Kirche widersetzten. Selbst der Papst tröstete ihn, er möge Geduld haben, er habe doch schon so viel erreicht. Nach ersten Erfolgen musste Bonifatius schnell zurückstecken, weil seine Pläne zur finanziellen Sicherung der einzelnen Kirchen, Klöster und Bistümer, zur (Neu)Besetzung der Bistümer, zur Wiedererrichtung der Kirchenprovinzen tief ins politisch-gesellschaftliche Gefüge eingriffen. Der mit Elan gestartete Reformer, den man geradezu auflaufen ließ, trug schwer an diesen Rückschlä- gen, die nach seinem Verständnis nicht nur ihn, sondern die Kirche insgesamt trafen. Man versteht, dass sich die resignativen Äußerungen häufen, vor allem in Briefen in seine Heimat. Selbst der Papst tröstete ihn, er möge Geduld haben, er habe doch schon so viel erreicht. In der Tat – im Grunde hätte der alt gewordene Bonifatius zufrieden Bilanz ziehen können: War ihm Sachsen als Missionsgebiet zwar verschlossen geblieben, so hatte er in der Organisation und Reform der Kirche viel erreicht. Aus der schlecht geführten fränkischen Landeskirche hatte Bonifatius eine romverbundene Landeskirche gemacht, mit Männern, die sein Reformwerk weitertragen und große neue Dinge anbahnen konnten – freilich, und darin kann man die Tragik des verdienten alten Mannes sehen, an ihm vorbei agierten. Bonifatius war nicht mehr beteiligt, als die Franken 751 den karolingischen Hausmeier mit dem Segen des Papstes zum König erhoben und den merowingischen Vorgänger ins Kloster schickten. Erst Generationen später nutzte man sein Prestige, indem die Reichsannalen ihn als Coronator nannten. Bonifatius war auch nicht dabei, als 754 ein Papst zum ersten Mal die Alpen überschritt und mit dem neuen König Pippin ein Bündnis schmiedete, das die Welt veränderte: Dem Papst brachte das Bündnis die fränkische Waffenhilfe gegen die Langobarden ein, den Franken schon zwei Jahrzehnte später die Herrschaft über Italien und keine 50 Jahre später die Kaiserkrone. Während im Herzen des Frankenreiches, in Ponthion, Quierzy und Saint-Denis, verhandelt und gefeiert wurde, war Bonifatius zu seinen Wurzeln ins friesische Missionsgebiet zurückgekehrt. Dort wurde er am 5. Juni 754 erschlagen – er starb als Märtyrer, wie es schien. Und deshalb feierten ihn schon 754 die englischen Bischöfe als Patron ihres Landes, obwohl er nur die erste Hälfte seines Lebens dort verbracht hatte. Seine eigentliche Leistung, die weit über seinen Tod hinaus wirkte, vollbrachte er auf dem Kontinent. Mit größerem Recht also stellte Rabanus Maurus, Abt von Fulda und genau hundert Jahre nach ihm Erzbischof von Mainz, seinen Vorgänger in eine Reihe mit den Aposteln, woraus dann ein Fuldaer Mönch im 12. Jahrhundert „unseren Patron und Apostel von ganz Gallien und Germanien“ gemacht hat, bis er schließlich in der Romantik zum „Apostel der Deutschen“, nach 1945 zum „Baumeister des christlichen Abendlandes“ und in unseren Tagen zum „Wegbereiter der Europäischen Union“ wurde. Franz J. Felten n Denkmal des heiligen Bonifatius vor dem Mainzer Dom [JOGU] SPEZIAL II/2007 Berühmte Mainzer Die Welt ist lesbar Hrabanus Maurus: Mönch, Gelehrter, Erzbischof Hrabanus Maurus, in Mainz geboren und hier auch gestorben, gehört zu den großen und einflussreichen Gestalten der Karolingischen Ära. Hrabanus hatte nicht nur hohe kirchliche Leitungsämter inne. Er war zugleich auch ein viel beschäftigter Gelehrter, der ein umfangreiches Werk hinterlassen hat. Sein großes Anliegen war es, das Wissen der Tradition und seiner Zeit zu sammeln, verfügbar zu machen und zugleich inhaltlich zu vermitteln. Lohnt es sich, Wissen zu erwerben, zu vermitteln, oder gar es zu besitzen? Welches Wissen ist wert, dass man es erwirbt, vermittelt und besitzt? Unsere „Wissens-Gesellschaft“, deren Wohlergehen wesentlich mit den Fortschritten von Wissenschaft verbunden ist, wird die erste Frage sicherlich mit einem uneingeschränkten „Ja“ beantworten. Sehr viel schwieriger aber wird es sein, einen Konsens im Blick auf die zweite Frage zu erzielen. Es mag vielleicht verwundern: Solche Fragen bewegen nicht nur uns. Schon vor mehr als einem Jahrtausend, im Frühmittelalter, hat man sich mit der Bedeutung sowie dem Wert von Wissen und Wissenschaft auseinandergesetzt und dieses Thema durchaus kontrovers diskutiert. Freilich verstand man unter der Nützlichkeit von Wissen damals etwas anderes als wir heute, die wir gewohnt sind, diese Frage nur für unsere Lebenskontexte und zweckrational zu stellen. Es ist ein großer Mainzer gewesen, der schon im 9. Jahrhundert für seine Zeit richtungsweisende Antworten auf diese Fragen gegeben hat. Ihm haben wir zudem auch einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung einer mittelalterlichen Wissenskultur zu verdanken. Die Rede ist von Hrabanus Maurus (ca. 780-856). Er hat als Gelehrter, als Abt von Fulda und als Erzbischof von Mainz unermüdlich dafür geworben, dem Wissen eine wesentliche Rolle im Leben des Menschen einzuräumen. Zudem hat er maßgeblich dazu beigetragen, seinen Zeitgenossen die umfangreichen Wissensbestände der heidnischen und der christlichen Antike zu vermitteln. Der historische Hintergrund für seine Unternehmungen sind bekanntlich die Maßnahmen Karls des Großen und seiner Nachfolger, die eine „Bildungsre- [JOGU] SPEZIAL II/2007 form“ zum Ziel hatten. Diese Reform wird oft als „Karolingische Renaissance“ bezeichnet, da sie durch einen Rückgriff auf antikes Gedankengut geprägt war. Hinter diesen Reformbemühungen stand die politische Absicht, die Bildungs- und Wissensstandards einzelner Gesellschaftsgruppen und damit mittelbar auch das Bildungsniveau der gesamten fränkischen Gesellschaft nachhaltig zu verbessern. Das wohl bedeutendste Werk Hrabans, das diesem Zweck der Wissensvermittlung dient, ist die große Enzyklopädie „Von den Naturen der Dinge“. Das wohl bedeutendste Werk Hrabans, das diesem Zweck der Wissensvermittlung dient, ist die zwischen 842 und 847 (dem Jahr seiner Ernennung zum Erzbischof von Mainz) entstandene große Enzyklopädie „Von den Naturen der Dinge“ (De rerum naturis) oder – wie sie auch genannt wird – „Vom Universum“ (De universo). Den Inhalt dieses Werkes charakterisiert Hraban in einem Brief an König Ludwig den Deutschen folgendermaßen: „So also habe ich zuerst schreibend einiges [vom] obersten Guten und von unserem wahren Schöpfer erörtert, d.h. von Vater, Sohn und hl. Geist, dem einen und allmächtigen Gott […]. Danach aber habe ich von den himmlischen und irdischen Geschöpfen gehandelt, nicht nur von ihrer Natur, sondern auch von ihren Kräften und Wirkungen: […] Und weil es mir nicht zukommt, von den heiligen Menschen, die im Alten und Neuen Testament erwähnt werden, und ihren mystischen Handlungen zu schweigen, Rabanus Maurus: „De rerum naturis“ (früher Druck) und auch nicht von den Orten, an den sie wohnten, habe ich es für gut befunden, ihre Namen und zugleich die der Orte aus der hebräischen in die lateinische Sprache zu übersetzen, um damit leichter die mystische Bedeutung erklären zu können. Ich habe auch im vorliegenden Werkchen nicht weniges über den katholischen Glauben und die christliche Religion hinzugefügt; und [ich habe von dem geschrieben, was dazu] im Gegensatz [steht]: über den Aberglauben der Heiden, über den Irrtum der Häretiker, über die Philosophen und Magier und die falschen Götter, über die Sprache der Heiden, über die Reiche und das Zivil- und Militärvokabular und die Verwandtschaften; über die Steine, Hölzer und Kräuter, die auf der Erde entstehen, über die verschiedenen Künste und Bauwerke und über vieles andere mehr [… ].“ Diese Aufzählung Hrabans, die er ausdrücklich als unvollständig charakterisiert, zeigt die Vielfalt der Gegenstände, die er in seiner Enzyklopädie behandelt. Alles, was man von den himmlischen und den irdischen Dingen im Ganzen wissen sollte, kann man hier nachlesen. Und so handelt das Werk letztlich von der Wirklichkeit im Ganzen und dies unter spezifisch christlicher Perspektive. Zwar orientiert sich Hraban mit seiner Schrift inhaltlich an einem enzyklopädischen Vorbild, nämlich den „Etymologien“ des Isidor von Sevilla (um 560-633). Aber er baut dieses Vorbild in einer für ihn bezeichnenden Weise um. Er ändert nicht nur die Reihenfolge der Inhalte, die er präsentiert. Er vermittelt seinem Leser auch, dass alles im Universum nicht nur eine rein sachliche Bedeutung hat, sondern zugleich auch als Zeichen für etwas anderes steht. Die sichtbare Welt verweist nach Hraban auf Gott als ihren Ursprung und darauf, wie der Mensch entsprechend der göttlichen Ordnung ein gelingendes Leben führen kann. Diese Ordnung ist die eigentliche Wirklichkeit, die sich nur demjenigen Menschen erschließt, der die Dinge und die Begriffe von ihnen als Zeichen für etwas anderes zu lesen versteht. Die Welt ist nach Hraban also ein Offenbarungsbuch, die Welt ist lesbar im Blick darauf, wie der Mensch sein Leben im Horizont Gottes führen soll. Die Welt als Schöpfung ist ein Raum des Wissens von der Wirklichkeit Gottes und der göttlichen Ordnung, an der der Mensch sein Leben ausrichten soll. In einem abgeleiteten Sinn ist dann auch die Enzyklopädie des Hrabanus Maurus ein Raum des Wissens, denn sie beinhaltet die Gesamtheit des Wissens von eben dieser Welt und ihrer Bedeutung für das menschliche Leben. Welche Bedeutung für den Menschen hat nun dieses Wissen, das Hraban mit seiner Enzyklopädie vermittelt? beispielsweise nicht nur selbst nicht lehren. Er kann – so Hraban – weder den Nutzen dieses Wissens bestimmen noch es zum Wohl der ihm anvertrauten Menschen richtig anwenden. Alle, die sich aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit um das Wohlergehen ihrer Mitmenschen zu kümmern haben, müssen dazu Wissen besitzen und auch selbst gebildet sein. So ist also alles Wissen gut, das dem Menschen hilft, sich selbst persönlich zu entwickeln. Dazu gehört das spezialistische Einzelwissen, vor allem aber das Wissen, das dem Menschen ermöglicht, sich, die Welt und die Wirklichkeit im Ganzen besser zu verstehen. Denn durch dieses Wissen kann er theoretisch und praktisch seinen Ort in der göttlichen Weltordnung finden und einnehmen. Mit der Enzyklopädie „Von den Naturen der Dinge“ hat Hrabanus Maurus nicht nur Wissen von der Welt und ihren Gegebenheiten zusammengestellt. Indem er die Schöpfung als Zeichen begreift, hat er auch eine Deutung der Welt und des Menschen formuliert, die das Wissen von der Welt und den Bedingungen für ein gelingendes Leben in einen unauflösbaren Zusammenhang bringt. Mechthild Dreyer n Abb.: © Wikimedia Commons Abb.: © Wikimedia Common s Berühmte Mainzer Alle, die sich aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit um das Wohlergehen ihrer Mitmenschen zu kümmern haben, müssen dazu Wissen besitzen und auch selbst gebildet sein. Wissenserwerb und Wissensbesitz haben für Hraban einen ganz individuellen Nutzen. Die Vervollkommnung des einzelnen Menschen ist auf Wissen von der Welt angewiesen, insbesondere aber auf das Wissen davon, wie das ewige Heil zu erlangen ist. Für den Christen Hraban ist dieses Wissen in den Schriften des Alten und Neuen Testamentes grundgelegt. Um diese nicht immer leichten Texte zu verstehen, hat Hraban Kommentare zu den einzelnen biblischen Büchern verfasst. Die Enzyklopädie wiederum bietet zu den Kommentaren unter sachlichen Gesichtspunkten gleichsam eine vertiefende Ergänzung. Wissen hat für Hraban zudem eine hohe soziale Relevanz. Wer kein theologisches, medizinisches oder historisches Wissen besitzt, wer sich in Rhetorik und Logik nicht auskennt und wer keine Kenntnis der Sitten und der moralischen Verpflichtungen hat, kann Hrabanus Maurus (links), begleitet von Alcuin, übergibt sein Werk an Erzbischof Otgar von Mainz [JOGU] SPEZIAL II/2007 Berühmte Mainzer Erzbischof Willigis von Mainz Der „zweite Mann“ nach dem Papst in der Kirche des Reiches Mit einem Begriff, der die Stellung des Papstes in der ganzen Kirche definiert, hat Papst Benedikt VII. 975 die Position des Mainzer Erzbischofs in der Kirche des ottonischen Reichs nördlich der Alpen beschrieben. Das Recht, den König zu krönen, wird hier ausdrücklich genannt. Dieses Krönungsrecht ist an der ersten Jahrtausendwende in eine Krise geraten. Willigis hat mit einer Handlung darauf reagiert, die bis heute seinen Ruhm in Mainz begründet: Er ließ einen neuen Dom erbauen. Auf goldenem Grund hat man einst den Namen des Mainzer Erzbischofs Willigis (975-1011) lesen können. Denn Willigis hatte für den Dom, den er neu hatte erbauen lassen, Türen aus Bronze anfertigen lassen. Sie bilden das heutige Marktportal. Bronze glänzt golden. So glänzten die Türen an der Hauptkirche des Erzbischofs wie die goldenen Türen des Tempels Salomons. Foto: Ernst-Dieter Hehl Aber nicht allein auf den Tempel des auserwählten Volkes verwies der Dom des Willigis. Denn der Erzbischof hatte auf den Türbalken durch eine Inschrift verkündet, dass er erstmals nach dem Tod Karls des Großen wieder Türflügel aus Metall habe anfertigen lassen. Die Mainzer Türen hatten ihr Vorbild in den Bronzetüren des Aachener Münsters Karls des Großen. Der Bau des Willigis insgesamt orientierte sich aber an Fulda, wo Bonifatius begraben lag, und an dem Petersdom in Rom. Denn anders als sonst üblich, steht sein Hauptaltar wie dort im Westen. Erzbischof Willigis hatte für den Dombau Türen aus Bronze anfertigen lassen. [JOGU] SPEZIAL II/2007 Der neue Dom macht spezifische Zuordnungen der Mainzer Kirche zu König (Aachen) und Papst (Rom) deutlich. Dass sich diese Zuordnungen um die erste Jahrtausendwende wandelten, scheint den Neubau des Mainzer Domes durch Willigis erst veranlasst zu haben. Willigis sollte „nach dem Gipfel des Papstes“ in den „kirchlichen Angelegenheiten“ des Reiches „herausragen“. Eigentlich hatte alles gut angefangen. 975 war Willigis zum Erzbischof von Mainz erhoben worden, nachdem er zuvor seit 971 unter Otto dem Großen (+ 973) und dessen Sohn Otto II. als Kanzler in der nächsten Umgebung des Herrschers tätig gewesen war. Als Vertrauensmann Kaiser Ottos II. bestieg er den erzbischöflichen Stuhl von Mainz. Als solchen zeichnete ihn Papst Benedikt VII. durch ein besonderes Privileg aus. Bereits zwei der Vorgänger des Willigis hatten durch ein päpstliches Privileg die Position eines päpstlichen Stellvertreters (Vikar) in der Kirche des nordalpinen Reiches erhalten. Diese Vikariatsstellung endete jeweils mit dem Tod des Erzbischofs, musste dem Nachfolger also eigens neu verliehen werden. Willigis sollte – so das Papstprivileg – künftig „nach dem Gipfel des Papstes“ in den „kirchlichen Angelegenheiten“ des Reiches „herausragen“. Er wird für die Kirche des Reiches zum zweiten Mann nach dem Papst. Hier ist seine Stellung mit der päpstlichen vergleichbar, denn die Urkunde verwendet für sein „Herausragen“ ein lateinisches Wort (praeeminere), das sonst für den Vorrang steht, den der hl. Petrus vor seinen Mitaposteln hat. Die Päpste sind nach ihrem Verständnis als Nachfolger Petri in diesen Vorrang gegenüber den Bischöfen eingerückt. Willigis erhält eine ver- 10 gleichbare Position gegenüber den Bischöfen des ottonischen Reiches nördlich der Alpen. Auch seine Nachfolger sollen diese innehaben, genauso wie ein neuer Papst automatisch in die Rechtsstellung seines Vorgängers eintritt. Als Beispiele für die Felder, auf denen Willigis seinen kirchlichen Vorrang wahrnehmen soll, nennt die Papsturkunde die Veranstaltung von Synoden und die Weihe (Krönung) des Königs. Jede Königskrönung in Aachen durch den Mainzer Erzbischof demonstrierte dessen Vorrang vor seinen Amtsbrüdern. An den beiden Krönungen ostfränkisch-deutscher Könige, die dem Privileg für Willigis vorausgingen, haben die Mainzer Erzbischöfe mitgewirkt. Otto der Große hat 936 die Krone in Aachen von dem Mainzer Erzbischof Hildebert erhalten, der Kölner Erzbischof assistierte dabei. 961 ließ Otto der Große seinen Sohn Otto II. wiederum in Aachen zum König krönen. Die Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier taten dies gemeinsam. Aachen gehörte zur Kirchenprovinz des Kölner Erzbischofs, wodurch dieser einen an sich kaum abweisbaren Anspruch besaß, diese liturgische Handlung vorzunehmen. Mit der Krönung von 936 hatte der Mainzer Erzbischof deshalb einen Vorrang vor seinem Kölner (und Trierer) Amtsbruder gewonnen. Das Privileg von 975 schien diesen auf Dauer abzusichern. Keinem anderen Erzbischof war es rechtlich gestattet, außerhalb seines Amtsbereichs eine kirchliche Handlung aus eigenem Recht vorzunehmen. Dem Mainzer Erzbischof hingegen war dies seit 975 durch ein päpstliches Privileg gerade hinsichtlich der Herrscherweihe verbrieft. Jede Königskrönung in Aachen durch den Mainzer Erzbischof demonstrierte dessen Vorrang vor seinen Amtsbrüdern. Jede Königskrönung in Aachen demonstrierte damals den Vorrang des Mainzers vor seinen Amtsbrüdern. Offenkundig wurde das, als der dreijährige Otto III. auf Geheiß seines kaiserlichen Vaters an Weihnachten 983 in Aachen zum König gesalbt und gekrönt wurde. Willigis vollzog die feierliche Liturgie zusammen mit dem Erzbischof von Ravenna. Während er die Bischöfe und die Kirche des nordalpinen Reiches repräsentierte, stand Johannes von Ravenna für die Bischöfe des italienischen Reichsteils. Das Zusammenwirken beider Erzbischöfe bei der Königskrönung signalisierte die Verschmelzung beider Reichsteile im Zeichen des ottonischen Kaisertums. Der Zufall des frühen Todes Kaiser Ottos II., der in Italien unmittelbar vor der Aachener Krönung seines Sohnes gestorben war, ließ Willigis in eine zentrale politische Position einrücken. Er gehörte zu denen, die die Königswürde des Kindes gegen die Aktionen Heinrichs des Zänkers, Neffe Ottos des Großen, erfolgreich verteidigten. Königspläne des Zänkers zu unterstützen, hätte bedeutet, der Königssalbung und -krönung die bindende Kraft abzusprechen. Willigis selbst hätte die Wirkung jener Liturgie verneint, auf deren Durchführung sein Vorrang in Reich und Kirche beruhte. Während der Unmündigkeit Ottos III. zählte er zu den Schlüsselfiguren im Gefüge des Reiches. Seit der Kaiserkrönung Ottos III. 996 verstärken sich aber Hinweise für Konflikte zwischen Willigis und Otto III. Angegriffen wurde seine Stellung als „zweiter Mann nach dem Papst“. Bis zum Tod Ottos III. im Januar 1002 lässt sich beobachten, wie der Kaiser und die beiden Päpste Gregor V. und Silvester II. immer weniger Rücksicht auf die Anliegen des Mainzer Erzbischofs nahmen. Den entscheidenden Schlag führten sie, indem sie seine Position bei der Königskrönung in Aachen grundsätzlich in Frage stellten. Denn Otto III. erwirkte 997 bei Gregor V. ein Privileg, wonach in Aachen Kardinäle eingesetzt werden sollten und es nur die- sen sowie dem für Aachen zuständigen Bischof von Lüttich und dem Kölner Erzbischof als zuständigem Metropoliten erlaubt sei, am Hauptaltar des Münsters eine Messe zu lesen. Eine Messe gehörte jedoch zur Königssalbung und -krönung. Willigis konnte deshalb in Aachen keine Königskrönung aus eigenem Recht mehr vornehmen. Für ihn galt nun, wie für jeden anderen Bischof, dass er nur in seinem eigenen Amtsbereich eine kirchliche Handlung ausführen durfte. Der neue Dom sollte anstelle Aachens zur Krönungskirche werden. Wohl erst damals begann Willigis mit der Errichtung seines neuen Doms, deshalb orientierte er sich mit der Bronzetür an Aachen und nannte ausdrücklich Karl den Großen. Der neue Dom sollte anstelle Aachens zur Krönungskirche werden. In Mainz hat Willigis selbst 1002 mit Heinrich II. den Nachfolger des früh verstorbenen Ottos III. krönen können. Nach dem frühen und kinderlosen Tod Ottos III. hatte Willigis den Anspruch Heinrichs, Sohn Heinrichs des Zänkers, auf den Thron unterstützt. Doch trotz des Respekts, mit dem der neue Herrscher ihm be- gegnete, seinen früheren Vorrang in der Kirche des Reiches hat Willigis nicht mehr erreicht. Nach dem Tod des Willigis im Jahre 1011 erhielt 1024 Heinrichs Nachfolger Konrad II. nochmals in Mainz die Krone. Danach wurde Aachen wieder zum Ort der Königskrönung, die nun aber der Kölner Erzbischof als örtlich zuständiger Metropolit vornahm. Die Zeit, in der der Mainzer Erzbischof als „zweiter Mann nach dem Papst“ agierte, endete noch unter Willigis, das Mainzer Krönungsrecht ging etwa 30 Jahre nach seinem Tod verloren. Den „goldenen“ Türen des Doms war längeres Nachleben bestimmt. Sie glänzten vermutlich noch golden, als man auf ihnen das Stadtprivileg des Erzbischofs Adalbert I. (1109-37) eingravierte. Als man nämlich dessen Text 1135 auf eine Pergamenturkunde übertrug, schrieb man deren erste Zeile mit goldener Tinte. Hinter der Patina, die heute die Domtüren des Willigis bedeckt, kann der Historiker so ein „goldenes Mainz“ entdecken. Ernst-Dieter Hehl n Abb.: © dpa Picture-Alliance Berühmte Mainzer Bischof Willigis in der Klosterschule. Nach dem Gemälde von Wilhelm Lindenschmit 11 [JOGU] SPEZIAL II/2007 Berühmte Mainzer Foto: Peter Pulkowski Vater der Massenkommunikation Straßburg und in Köln gedruckt, keine zehn Jahre später in Subiaco (in der Nähe von Rom), dann in Paris an der Sorbonne und in London. Über 1000 Druckwerkstätten können wir in den nächsten 50 Jahren nachweisen. Seine Erfindung breitete sich in selbst für heutige Verhältnisse unwahrscheinlicher Geschwindigkeit durch die deutschsprachigen Länder und Europa aus. Johannes Gutenberg Der Vater der Massenkommunition, Johannes Gutenberg, dessen Wirkungen es zu verdanken ist, dass der freie und ungehinderte Zugang zu Wissen und Information gesellschaftliche Umbrüche wie den Humanismus, die Reformation, die Aufklärung und die Demokratie der Neuzeit erst möglich machte. Mit dem Namen der Stadt Mainz ist auf der anderen Seite aber auch die Zensur verbunden, die durch Dekret des Kurfürsten und Bischofs der Stadt Mainz hier ebenfalls Ihren Ausgang nahm. Gutenberg ist aber auch ein großer Unbekannter. Wir kennen weder sein Porträt noch sein Geburtsdatum, noch wissen wir, wo er sich in vielen Jahrzehnten seines Lebens aufgehalten hat. Die bekannte Holzschnittdarstellung mit der Pelzmütze und dem Bart ist 120 Jahre nach seinem Tod entstanden und wurde auch für andere Personen verwendet; sein Geburtsdatum im Jahr 1400 ist aus Quellen erschlossen, die eine Spannbreite von fünf Jahren erlauben. Hat er wirklich in Erfurt studiert? Hat er möglicherweise am Reformkonzil von Basel teilgenommen, war er etwa in den Jahren 1444-48 auf der Seidenstraße nach Osten unterwegs und lernte dort die jahrhundertealte Technik des Holzmodeldrucks kennen, gar den Druck mit beweglichen Einzellettern aus Korea? [JOGU] SPEZIAL II/2007 Wichtiger als diese offenen Fragen seiner Biografie sind die Fragen seiner nachweisbaren Erfindungsund vor allen Dingen seiner Wirkungsgeschichte. Kein einziges Druckwerk enthält zwar einen direkten Druckvermerk, der die Urheberschaft Gutenbergs dokumentiert. Doch lassen sich sowohl die später nach ihm benannte Bibel, ein Bibellexikon, ein Kalender, Ablassbriefe und weitere Kleinschriften seiner Werkstatt zuordnen, die durch die Fust-Schöffersche Werkstatt dann mit weiteren Liturgica, humanistischen Texten, Sachbüchern und Ratgebern („Gart der Gesundheait“) deutlich angereichert wurde. Seine Erfindung breitete sich in selbst für heutige Verhältnisse unwahrscheinlicher Geschwindigkeit durch die deutschsprachigen Länder und Europa aus, schon bald wurde in Bamberg, 12 Das überaus virulente 15. Jahrhundert mit zwei großen Reformkonzilien in Konstanz und Basel, mit der Gründung von 15 (!) neuen Universitäten und zahlreichen technischen notwendigen Erfindungen, wie etwa die Papierherstellung bei Ullmann Stromer ab 1390 in Nürnberg, die Weiterentwicklung der Spindelpresse zur Druckerpresse, die chemischen und physikalischen Experimente, die wir in Gutenbergs Straßburger Zeit nachweisen können, aber auch vor allen Dingen die geistige Kraft des Humanismus mit ihrem Glauben an die allgemeine Bildungsfähigkeit des Menschen schufen ein Panorama, in dem diese Medienrevolution Gutenbergs ihren Widerhall fand. Die Humanisten waren von der positiven Wirkung der Bereitstellung von Texten mit dem klassischen Wissen der Antike überzeugt, da sie Bildungsvermittlung als eine wahre Aufgabe für die Gesellschaft verstanden und davon ausgingen, dass durch das Vorhandensein der klassischen Texte die allgemeine Bildung der Bevölkerung gehoben werden könnte. Die römische Kirche erkannte unmittelbar die Bedeutung des neuen Mediums, da es nun möglich war, überall in der Welt mit einem identischen Messformular Gottesdienste abzuhalten, wie es zuvor unter anderem Nikolaus von Kues gefordert hatte. In 125 Diözesen konnten nun individuelle Breviere zum Gebet der Priester bereitgestellt werden, Messbücher und Liturgica wurden in großer Zahl bestellt. Aber auch der Zugang zu den „alten Heiden“ der römischen und griechischen Literatur wurde durch die Kurie selbst befördert, die im Kloster Sancta Scholastica in Subiaco bei Rom die Werke von Kirchenvätern (Lactantius), aber auch der römischen Rhetoriker (Cicero) herstellen ließen. Mit der Volkssprache nahm die Reformation der Kirche lange vor der Reformation Luthers einen Berühmte Mainzer Abb.: © Gutenberg Museum Seite aus der Gutenbergbibel, von der es nur noch 48 – zum Teil unvollständige – Exemplare in der ganzen Welt gibt. ungeahnten Aufschwung, 18 deutschsprachige Bibelübersetzungen vor Martin Luther lassen sich im Druck nachweisen. Sowohl die (Grund-)Schulbildung als auch die universitäre Bildung erlebten eine nie geahnte Blüte, die erst im 18. Jahrhundert auch zahlenmäßig wieder erreicht wurde. Die Lesefähigkeit nahm rasant zu, das Format der Bücher veränderte sich von einem großformatigen Folianten hin zu einem „Taschenbuch“. Martin Luthers Reformation im 16. Jahrhundert wäre ohne diesen medialen Hintergrund nicht denkbar, aber auch neue Erkenntnisse im technischen, naturwissenschaftlichen oder philosophischen Bereichen ließen sich durch diese Massenproduktion ganz anders vermitteln. Die Lesefähigkeit nahm rasant zu, das Format der Bücher veränderte sich von einem großformatigen Folianten hin zu einem „Taschenbuch“. Wie immer, wenn große Informationsmengen bewegt werden, gibt es auch Bedenkenträger, die sowohl das Übermaß der Buchproduktion bemängelten als auch Sorge äußerten, dass das Wissen in den Händen falscher Bevölkerungsgruppen negative Folgen haben könnte. So ist Mainz nicht nur die Geburtsstadt des Buchdrucks, sondern auch eine der ersten Städte, in denen ein generelles Zensuredikt ausgesprochen wurde, von Kurfürst und Erzbischof Bertold von Henneberg, der 1485 dekretierte, dass die Bibelübersetzung nicht in die Hände des „gemeinen Mannes“ gelangen sollte, da sonst die Autorität der Kirche und des Lehramtes unterminiert würde. Aber auch weltliche Herrscher wie Kaiser Maximilian I. (1491-1519) verboten häretische Schriften, ebenso sein Enkel Karl V. auf dem Augsburger Reichstag 1530. Schon der französische Universitätsrektor Guillaume Fichet hatte 1470 davon gesprochen, dass der Buchdruck ein „trojanisches Pferd“ sei, das auf der einen Seite als ein „Gottesgeschenk“ unter anderem den christlichen Glauben verbreiten hälfe, das aber auch durch häretische und verderbliche Schriften die Menschen verunsichern könne. Die Reaktion der Zeitgenossen war insgesamt überwiegend positiv, der „Erzhumanist“ Conrad Celtis schrieb in einer Ode, dass es „einem Sohn der Stadt Mainz zu verdanken sei, dass die Deutschen durch die Erfindung der Buchdruckerkunst nicht mehr wegen ihrer angeblichen geistigen Rückständigkeit geschmäht werden könnten“. Allein eine solche Beobachtung ist es wert, dass man sich erneut mit den grundsätzlichen Fragen der Medienrevolution beschäftigt, die in Mainz ihren Ausgang genommen hat und die auch heute, weitergeführt durch elektronische Medien, noch längst nicht an ihrem Zielpunkt angekommen ist. Stephan Füssel n 13 Information: Stephan Füssel: Johannes Gutenberg. 4. Aufl. Reinbek 2007 (= rororo 50610); Stephan Füssel: Gutenberg und seine Wirkung. Frankfurt: Insel 3. Aufl. 2006 (Übersetzungen in englischer, italienischer und schwedischer Sprache erschienen) [JOGU] SPEZIAL II/2007 Berühmte Mainzer Berühmte Mainzer Goethe 1791 m Mai n furt a k ran mF eu us m e Von der Metropole Frankfurt aus gesehen erscheint Mainz heute manchmal als eine bloße Satellitenstadt. Aus dem Blickwinkel des jungen Goethe sah das noch anders aus. Mainz war damals noch gleichberechtigt und galt an Reichtum, Eleganz und politischer Bedeutung als eine der Hauptstädte des Alten Reichs. Der Erzbischof von Mainz nahm das Amt des Reichserzkanzlers wahr. Als Ranghöchster der sieben Kurfürsten hatte er die Kaiserwahl zu leiten, und tat das auch 1764, als der junge Goethe die Wahl Josephs II. miterlebte, die er im 5. Buch des Ersten Teils von „Dichtung und Wahrheit“ schildert. Eigentlich hätte Goethe wohl so eine Art Kriegsberichter sein sollen. Abb.: © Martinusbibliothek Mainz Die übrige Stadt hatte sich indes weniger stabil gezeigt. Goethe berichtet über seinen ersten Eindruck Ende Juli 1793: „Den 26sten gelang es uns schon mit einigen Freunden zu Pferd in die Stadt einzudringen; dort fanden wir den bejammernswerthesten Zustand. In Schutt und Trümmer war zusammengestürzt was Jahrhunderten aufzubauen gelang, wo in der schönsten Lage der Welt Reichthümer von Provinzen zusammenflossen, und Religion das was ihre Diener besaßen zu befestigen und zu vermehren trachtete. Die Verwirrung die den Geist ergriff, war höchst schmerzlich, viel trauriger, als wäre man in eine durch Zufall eingeäscherte Stadt gerathen.“ eth Auch den Dom, der ihm missbehaglich war, hat Goethe mehrfach betreten. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass die Domszene im „Faust“ atmosphärische Elemente aus Mainz wiedergibt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Goethe an den Mainzer Dom dachte, als er Gretchen um Luft ringen ließ („Mir wird so eng’!/ Die Mauern-Pfeiler/ Befangen mich!/ Das Gewölbe/ drängt mich!“) und der Chor grausig sein „Dies irae“ sang. Die unglückliche Kindsmörderin Susanne Margaretha Auch den Dom, der ihm missbehaglich war, hat Goethe mehrfach betreten. Go Der Frankfurter Johann Wolfgang von Goethe liebte Mainz und hat die Stadt immer und immer wieder besucht. Wichtige Erlebnisse verbindet Goethe mit Mainz, lernt dort 1774 seinen Förderer, den späteren Großherzog Carl August von Sachsen-WeimarEisenach kennen und hat im Sommer 1793 die Belagerung der Stadt mitgemacht. Den Drususstein auf der Zitadelle hat er schon als Knabe gezeichnet. Er erinnert sich daran, als er nach der Rückeroberung einen ersten Rundgang macht durch die zerstörte Stadt: „Da stand nun Drusus‘ Denkmal, ungefähr noch ebenso wie ich es als Knabe gezeichnet hatte, auch dießmal unerschüttert, so viel Feuerkugeln daran mochten vorbeigeflogen sein, ja daraufgeschlagen haben.“ Brandt, deren Hinrichtung dem Gemüt des jungen Goethe eine tiefe Wunde schlug, war jedenfalls mit dem Postschiff von Frankfurt nach Mainz geflohen. Hatte sie im Dom gebetet, bevor sie sich den Häschern stellte? A bb .: © Goethes „Belagerung von Mainz“ Der Untergang von Mainz war ein Medienereignis der Spitzenklasse: der Hochadel promenierte hinter den Verschanzungen, die Frankfurter Bürger machten Sonntagsausflüge, um die brennende Stadt zu sehen. Militärisch war die Belagerung von Mainz kein Ruhmesblatt, historisch und psychologisch aber eine überaus spannende Geschichte. Goethe hat diesen tragikomischen Feldzug hautnah miterlebt, von den Wanzen im Quartier bis zum Kanonenfieber, und in einem fiktiven Tagebuch in allen Einzelheiten beschrieben. Der Weltgeist hielt es damals mit den Franzosen. Es ist kein gutes Gefühl, wenn man die eigene Hauptstadt zerstören soll. Die Motivation der preußischen, hessischen, sächsischen und österreichischen Soldaten war entsprechend gering, als sie das von 23.000 Franzosen besetzte Mainz zurückerobern sollten. Die schwer befestigte Stadt hatte sich 1792/93 der französischen Revolution angeschlossen, ihren Fürstbischof, den Primas des Alten Reichs, verjagt und eine Jakobinerrepublik gegründet. Deutsche Truppen belagerten sie daraufhin und legten ihre märchenhaften Kirchen, Paläste und Schlösser in Schutt und Asche. Eigentlich hätte Goethe wohl so eine Art Kriegsberichter sein sollen. Er hatte auch in den ersten Tagen manches aufzuzeichnen angefangen, hörte aber bald wieder damit auf (wie er am 7. Juli 1793 an Jacobi schrieb), denn „grade das worauf alles ankommt darf man nicht sagen“, und auf das, was er sagen durfte, kam es ihm nicht an. Wenn man aber das Entscheidende verschweigen muss, wird der Bericht zu einem diplomatischen Eiertanz – „da bleibts immer eine Art Advocaten Arbeit die sehr gut bezahlt werden müßte wenn man sie mit einigem Humor unternehmen sollte“. Goethe unterließ also das Berichten. Er führte auch kein Tagebuch. Wenn die „Belagerung von Mainz“ sich als Tagebuch ausgibt, so ist das ein Kunstgriff. Der Text entstand Anfang 1820 und 1822, fast dreißig Jahre nach den Ereignissen. Unmöglich konnte Goethe die täglichen Details des Geschehens so lange im Gedächtnis behalten haben. Er musste seine „wunderliche Militairlaufbahn“ (an Johann Friedrich Rochlitz am 22. April 1822) rekonstruieren und half sich mit dem Diarium eines anderen Gefolgsmanns seines Fürsten sowie mit etlichen damals bereits gedruckt vorliegenden Quellen. Aus ihnen komponierte er ein fiktives Tagebuch. Es musste zugleich Beteiligung und Distanz verraten. Er war überall dabei, aber er war kein Parteigänger. Auch 1822 konnte man noch nicht einfach die Wahrheit sagen. Die Geschichte musste so erzählt werden, dass sie dem Herzog gefiel und in der weimarischen Hofgesellschaft nicht allzu viel Anstoß erregte. Goethe durfte nicht offen sagen, wie lächerlich sich die eigenen Heerführer gemacht hatten und wie missglückt trotz des Sieges die ganze Belagerung letzten Endes war. Er konnte auch nicht sagen, dass der Glaube, man könne die Anliegen der Revolution militärisch ersticken, nur in sehr oberflächlichen Gemütern entstehen konnte. Der Tagebuchschreiber sieht Bäume, aber keinen Wald. II/2007 Information: Untergang einer Reichshauptstadt. Johann Wolfgang von Goethe: Belagerung von Mainz. Ein Bilderbogen. Herausgegeben von Oliver Kemmann und Hermann Kurzke. Societätsverlag, Frankfurt a. M. 2007. Die Tagebuchform erlaubt eine gewollte Kurzsichtigkeit, ein „Understatement“, das Goethe zur Tarnung dient. Der Tagebuchschreiber sieht Bäume, aber keinen Wald. Goethe nimmt spielerisch die Froschperspektive ein, um der Erwartung, er müsse Adlerurteile abgeben, zu entkommen. So täuscht er gleich zu Beginn eine lokale Perspektive vor, mimt den Ortskundigen, mutet dem Leser allerlei Dörfer rund um Mainz zu, zwingt ihn, sich mit der Lage von Weisenau und Oberolm, Kostheim und Marienborn vertraut zu machen, was nur den Zweck hat, von der weltgeschichtlichen Dimension des Geschehens abzulenken. Aber Goethe wäre nicht Goethe, wenn er nicht gerade in solcher Beschräkung seine Meisterschaft zeigte. Der Brand des Mainzer Doms am 28. Juni 1793 Belagerungskarte von Mainz [JOGU] SPEZIAL Goethe hat das Alte Reich nicht nostalgisch verklärt wie manche Romantiker. Er war kein Freund der französischen Revolution, verwahrte sich aber auch dagegen, ein Freund des Bestehenden genannt zu werden. Er war, wie er am 4. Januar 1824 zu Johann Peter Eckermann sagte, „vollkommen überzeugt, dass irgendeine große Revolution nie Schuld des Volkes, sondern der Regierung“ ist. „Revolutionen sind ganz unmöglich, sobald die Regierungen fortwährend gerecht und fortwährend wach sind, so daß sie ihnen durch zeitgemäße Verbesserungen entgegenkommen und sich nicht so lange sträuben, bis das Notwendige von unten her erzwungen wird.“ Der endgültige Abschied vom Alten Reich zögerte sich in Deutschland noch bis 1918 hinaus, aber das deprimierende Erscheinungsbild, das seine Repräsentanten bei der Belagerung von Mainz boten, ließ schon 1793 ahnen, dass sein Leben verwirkt war. „Die Zeit aber“, sagte Goethe in jenem Gespräch mit Eckermann, „ist in ewigem Fortschreiten begriffen, und die menschlichen Dinge haben alle fünfzig Jahre eine andere Gestalt, so daß eine Einrichtung, die im Jahre 1800 eine Vollkommenheit war, schon im Jahre 1850 vielleicht ein Gebrechen ist.“ Hermann Kurzke n Abb.: © Landesmuseum Mainz Untergang einer Reichshauptstadt Der Untergang von Mainz war deshalb auch ein Medienereignis der Spitzenklasse. Der Hochadel promenierte hinter den Verschanzungen, und die Frankfurter Bürger machten Sonntagsausflüge, um die brennende Stadt zu sehen. Die Fürsten hatten ihre Schnellmaler dabei, um alles festzuhalten. Im Falle des Herzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach waren es hauptsächlich zwei: ganz offiziell Georg Melchior Kraus und eher hobbymäßig der Engländer Charles Gore. Ein wenig spöttisch notiert Goethe am Tag, als der Mainzer Dom brannte: „Herr Gore und Rath Krause behandelten den Vorfall künstlerisch und machten so viele Brandstudien, daß ihnen später gelang, ein durchscheinendes Nachtstück zu verfertigen, welches noch vorhanden ist und, wohlerleuchtet, mehr als irgend eine Wortbeschreibung die Vorstellung einer unselig glühenden Hauptstadt des Vaterlandes zu überliefern im Stande sein möchte.“ 14 15 [JOGU] SPEZIAL II/2007 Berühmte Mainzer Berühmte Mainzer Weltumsegler, Revolutionär, Mainzer Bis dahin verbrachte Georg harte Lehrjahre unter der strengen Obhut seines Vaters Reinhold Forster, dessen Leidenschaft für die Naturkunde und ungezügelter Wissensdurst ihn bereits als Kind tief beeinflußt hatten. Schon in jungen Jahren erlernte [JOGU] SPEZIAL II/2007 Die Strapazen an Bord und die Plackerei der Niederschrift hatten sich gelohnt, denn der Ruhm, den die Forsters erlangten, eröffnete ihnen lukrative Posten in Deutschland. Der Vater nahm eine Professur in Halle an und der Sohn folgte einem Ruf auf den Lehrstuhl für Naturkunde am Collegium Carolinum in Kassel. Georg war schon bald der absolutistisch geprägten Kadettenanstalt des Landgrafen von Hessen-Kassel überdrüssig und nahm begeistert einen Ruf an die neubegründete Universität im polnischen Wilna an, zumal er sich auch in Kassel mit seinen Freimaurerbrüdern restlos überworfen hatte. Das Unternehmen wurde zu einer einzig großen Enttäuschung. Nachdem auch das Angebot des Zarenhofs, die Leitung einer Expedition in die unerforschten Gebiete des Stillen Ozeans zu unternehmen, kurz- 16 Abb.: © Landesmuseum Mainz Georg Forster. Portrait von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein fristig gescheitert war, schien die Offerte des Erzbischofs und Kurfürsten von Mainz, sich um die Universitätsbibliothek zu kümmern und Naturkunde zu unterrichten, als Lichtblick für den jungen Gelehrten und seine wachsende Familie. Doch auch bald stellte sich in Mainz Ernüchterung ein. Als Protestant war er in der katholischen Stadt nicht überall gern gesehen. Die Bücher, die ihm anvertraut wurden, waren auf die Karthause, die alte Jesuitenbibliothek und die Universität verstreut. Die meisten Bücher waren Heiligenschriften oder geistliche Liederbücher und vom Staub gänzlich zerfressen. Von den insgesamt fünfzigtausend Bänden waren mehr als die Hälfte Doubletten. Für einen jungen, modernen Naturwissenschaftler war die Lage frustrierend. Trotzdem machte er sich daran, einen Katalog anzulegen und war darum bemüht, die Sammlung in einem Gebäude zu vereinen. Als Aufklärer und Liberaler durchdachte er zum erstenmal die Problematik der Revolution und Demokratie. Sitzung des Jakobinerklubs im Akademiesaal des Kurfürstlichen Schlosses. Federzeichnung von Johann Jakob Hoch binerherrschaft verschlang unerbittlich ihre eigenen Kinder und statt dem Freiheitsbaum zu huldigen, jubelten die Massen nunmehr unter dem Schafott. Forster kehrte allerdings der Revolution nicht den Rücken. Er erklärte gegenüber seinen zweifelnden Freunden in Deutschland: „Nein, unsere Sache siegt, oder wo nicht, ist es schön mit ihr zu fallen“. Nachdem die preußischen Truppen Mainz zurückerobert hatten, wurde über ihn die Reichsacht verhängt. Im Januar 1794 starb Forster als 39jähriger in Paris an einer Lungenentzündung. Nur drei Jahre später, 1797, wurde Mainz im Frieden von Campo Formio wieder französisch. Beide – Forster und Paine – waren Aufklärer und radikale Denker, die an nachweisbare Naturgesetze glaubten, denen das Universum unterworfen ist. Seine kompromißlose Haltung und die schonungslose Analyse des Despotismus, der „Automaten“ fordere, sowie seine beißende Kritik an den „Prie- Abb.: © Wikimedia Commons Der 1754 in Nassenhuben bei Danzig geborene Georg Forster führte seit seiner Kindheit ein bewegtes Leben. Lange Zeit als schwarzes Schaf des deutschen Geisteslebens und irregeleiteter Schwärmer in Vergessenheit geraten, da er es in seinen Schriften gewagt hatte, den im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation vorherrschenden feudalen Muff schonungslos anzuprangern, galt schon zu seinen Lebzeiten als eine Legende. Der Weltumsegler, der drei Jahre von 1772 bis 1775 zusammen mit James Cook den sagenhaften Australkontinent gesucht und dabei die Inselwelt des Pazifiks erforscht hatte, wurde als Verfasser des berühmten Reiseberichts „A Voyage round the World“ (1777) nach seiner Rückkehr von der Blüte der Gelehrten stürmisch gefeiert. Der Busenfreund aller deutschen Genies, Fritz Jacobi, trug den jungen Naturforscher auf Händen und seine Bekanntheit verschuf ihm Professuren für Naturgeschichte in Kassel und Wilna. Über Umwege kam er schließlich 1786 in das geistliche Mainz, wohin ihn der Erzbischof und Kurfürst Friedrich Karl Josef von Erthal gerufen hatte, um die dortige Universitätsbibliothek zu leiten. er die Grundkenntnisse der Botanik und Biologie, so dass sich der Vater entschloss, den begabten 10jährigen Jungen auf eine Expedition nach Rußland mitzunehmen, mit der Katharina II. den älteren Forster beauftragt hatte. War diese erste Forschungsreise aus wissenschaftlicher Sicht ein Erfolg, endete der Aufenthalt in Rußland im finanziellen Ruin der Familie. Der Vater sah sich hochverschuldet gezwungen, nach neuen Auftraggebern umzuschauen, und so endeten die Forsters in England, das sich zu dieser Zeit anschickte, Naturkundler für seine geplanten Südseereisen anzuheuern. Georg erweckte in London als „young writer“ Aufmerksamkeit, als er noch keine dreizehn Jahre alt den ehrwürdigen Herren der Antiquarischen Gesellschaft London seine Übersetzung von Lomonossows „Kurze Geschichte Rußlands“ vortrug, die er nebenbei in die Gegenwart fortgeschrieben hatte. Nach vielen Schwierigkeiten erhielt der Vater endlich den lang ersehnten Auftrag, an Cooks zweiter Weltumsegelung 1772 teilzunehmen. Sein Sohn sollte ihn als Zeichner und Helfer begleiten. Als nach der Rückkehr die englische Admiralität sich weigerte, die Aufzeichnungen des Vaters zu drucken, verfaßte Georg auf Betreiben seines Vaters eine umfassende, in englischer Sprache geschriebene Darstellung über die Reise nach Tahiti und die Südsee, die bald danach auch in deutscher Übersetzung erschien und große Aufmerksamkeit erregte. Abb.: © Wikimedia Commons Georg Forster oder vom Leben eines deutschen Thomas Paine Georg Forster war einer der großen aufklärerischen Geister des 18. Jahrhunderts. Seine Teilnahme an der zweiten Weltreise von James Cook machte ihn zu einem der namhaftesten Schriftsteller und Naturforscher seiner Zeit. Als politisch wacher Geist wurde der seit 1788 in Mainz als Oberbibliothekar wirkende Forster ein glühender Anhänger der Französischen Revolution und Mitbegründer der Mainzer Republik. ästhetischen und politischen Erörterungen in Briefen erweiterten die Reisebeschreibung zu einem kulturhistorischen und -kritischen Essay. Die Unruhen in Aachen, Lüttich, Belgien und Holland, die überschattet wurden von den sich überschlagenden Ereignissen der französischen Revolution, konfrontierten Georg Forster mit den „Antinomien der Politik“. Als Aufklärer und Liberaler durchdachte er zum erstenmal die Problematik der Revolution und Demokratie. Auch wenn er gemäßigt urteilte, so äußerte er freilich die Einsicht in die Notwendigkeit einer Umwälzung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Als im Oktober 1792 die französischen Revolutionstruppen Mainz einnahmen und die Bürgerschaft die republikanische Verfassung annahm, wurde auch Georg Forster in den Strudel der politischen Ereignisse hineingezogen. In seiner „Darstellung der Revolution in Mainz“ (1793) verspottete er die Feigheit der hohen Herren und prophezeite die „letzte Zuckung des Despotismus“. Er trat dem Jakobinerklub bei und schrieb seinen Mainzer „Brüdern“ ins Stammbuch: „Jede Authorität, die sich nicht gründet auf Vernunft, nicht auf freien Willen Aller, jede Authorität, wovon man behauptet, daß der Wille sie bevollmächtigte, sie nicht wieder zurücknehmen und vernichten könne, ist unrechtmäßig, usurpirt, tyrannisch und darf von freien Menschen nicht geduldet werden“. Als er 1793 als Abgeordneter des Mainzer Konvents in das aufgewühlte Paris fuhr, mußte er allerdings erkennen, daß es mit „der Wahrheit, der Vernunft, der Freiheit, der Gleichheit“, denen er im Mainzer Jakobinerklub das Wort geredet hatte, nicht weit her war. Die Jako- Die geistige Enge des katholischen Fürstentums machte ihm zunehmend zu schaffen. Die im Frühjahr 1790 unternommene Reise von Mainz nach Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich, die er zusammen mit dem jungen Alexander von Humboldt unternahm, sollte seine schwere psychische Krise überwinden helfen. Die ein Jahr später veröffentlichten „Ansichten vom Niederrhein“ verdienten nach dem Urteil von Friedrich Schlegel den Ruhm eines Klassikers der deutschen Prosa. Die stern und Leviten“ und deren „albernen Mummereien und hergeplapperten Formeln“ legen Parallelen zum Schicksal des Amerikaners Thomas Paine (1737-1809) nahe. Forsters Schrift „Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit“ (1793) besitzt Ähnlichkeiten zu Paines „Rights of Man“ (1791) und seinem letzten großen Werk „The Age of Reason“ (1794). Beide waren Aufklärer und radikale Denker, die an nachweisbare Naturgesetze glaubten, denen das Universum unterworfen ist. Außerdem forderten beide den rationalen Menschen, der weniger von der göttlichen Vorsehung als durch Erziehung und soziale Umgebung geprägt ist. Beide wurden als Querulanten, Gotteslästerer und Atheisten verfemt. In Folge der restaurativen Entwicklung im 19. Jahrhundert fiel ihr einstiger Ruhm zunehmend in Vergessenheit. Insbesondere Georg Forster verschwand, anders als in der ehemaligen DDR, die ihn als Held der Revolution hochstilisierte, aus dem öffentlichen Bewußtsein der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft. Angesichts eines scheinbar schrankenlosen ökonomischen Globalismus erscheint indes heute wiederum Forsters Appell an die Nachgeborenen, dass es keinen „Zwang geben kann, der den freien Menschen bindet, eines anderen Knecht zu werden“ sowie dessen Ansichten von der Welt und vom Glück der Menschheit aktueller denn je. Oliver Scheiding n Die Schiffe HMS Resolution und Adventure während James Cooks zweiter Südseereise in der Bucht von Matawai. Gemälde von William Hodges, 1776 17 [JOGU] SPEZIAL II/2007 Berühmte Mainzer Berühmte Mainzer Wilhelm Emmanuel von Ketteler Mit Sicherheit gehört Bischof Ketteler (1811-1877) zu den herausragenden Bischofsgestalten der Neuzeit und ist gewiss einer der bekanntesten „Mainzer“. Nach ihm sind viele öffentliche Einrichtungen benannt, Straßennamen erinnern an ihn und nicht zuletzt stößt auch der MainzBesucher auf dem Bischofsplatz auf eine markante Plastik, welche die Erinnerung an den Oberhirten wach halten soll. Dabei stammte der „große Mainzer“ gar nicht aus unserer Gegend, sondern kam aus Westfalen, wo er in Münster am 25. Dezember 1811 geboren wurde. Die Tradition seines freiherrlichen, gleichwohl bescheiden lebenden Elternhauses reichte tief zurück in die Zeit des Fürstbistums Münster, jenes geistlichen Wahlstaates, der für Ketteler in gewisser Weise immer eine vorbildliche politische Ordnung darstellte. Diese Wurzeln machten ihn freilich nicht zu einem rückwärtsgewandten, den Neuerungen der Zeit gegenüber verschlossenen Menschen, sondern sensibilisierten ihn vielmehr für Fehlentwicklungen, die er hellsichtiger als andere früh erkennen sollte, und sie bestärkten ihn in einem nahezu unbändigen Freiheits- und Gerechtigkeitswillen. Das zeigt schon die radikale Wende, die der 27jährige Gerichtsreferendar 1837 seinem Leben gab. Im Dienste des preußischen Staates wollte er nicht mehr bleiben, als dieser im Konflikt mit der katholischen Kirche den Kölner Erzbischof DrosteVischering in Haft nehmen ließ, um seine Position in der damals höchst umstrittenen Mischehenfrage durchzusetzen. Dieser als „Kölner Ereignis“ in die Geschichtsbücher eingegangene Konflikt rührte so sehr an seinem „so oft schon verrathenen Gewissen“, wie er seinem Bruder schrieb, dass er eine voraussehbar gute Karriere im Staatsdienst abbrach, um sich dem Priesterberuf zuzuwenden. [JOGU] SPEZIAL II/2007 An der Universität München geriet er in Kontakt mit bekannten Katholiken wie Joseph Görres und unter den Einfluss des Theologen Ignaz Döllinger, dessen organisches Kirchenverständnis er übernahm. Die Kirche hatte fortan für Ketteler immer den Vorrang vor allen anderen Fragen. Um ihre Freiheit im konstitutionellen Staat kämpfte er. In ihr sah er Gläubige, Klerus und Papst in einem lebendigen Miteinander, wobei er die päpstliche Vorrangstellung nie in Frage stellte. Das galt sogar, als er während des I. Vatikanischen Konzils als Kritiker des berühmten Unfehlbarkeitsdogmas auftrat, sich schließlich aber doch demütig der päpstlichen Entscheidung unterwarf. Grabdenkmal Kettelers in der Marienkapelle des Mainzer Doms. Allmählich entwickelte sich nun seine politische Position gegen die Linke, der er vorwarf „ die größt mögliche Freiheit für sich und für die anderen die möglichst größte Sklaverei“ zu fordern. In München, später in Eichstätt gewann er zudem die Auffassung, dass die Kirche sich nicht hinter den Kirchenmauern verstecken dürfe, vielmehr in der Welt zu wirken habe und für die Schwachen eintreten müsse. Das tat dann der 1844 zum Priester Geweihte auch auf seiner ersten Pfarrstelle in Hopsten/Westfalen, wo er mit allen Mitteln die Not der ländlichen Bevölkerung zu mindern versuchte. Das tat er auch, als die Revolution von 1848 die Chance zu einem politischen Engagement eröffnete. Kette- 18 ler zog als Abgeordneter in das Frankfurter Paulskirchenparlament ein, liebäugelte dort sogar drei Tage lang mit der radikalen Linken, bevor er sich dann aber doch dem katholischen Club näherte. Allmählich entwickelte sich nun seine politische Position gegen die Linke, der er vorwarf „ die größt mögliche Freiheit für sich und für die anderen die möglichst größte Sklaverei“ zu fordern. Vor allem aber wandte er sich gegen das liberale Freiheitsverständnis, denn eine „gesetzliche Garantie schrankenloser Freiheit für den einzelnen“ hielt er „für eine Rechtloserklärung aller“. Auch der liberalen Wirtschaftspolitik widersprach er aus sozialen Gesichtspunkten und nicht zuletzt identifizierte er in dem liberalen Glauben an den konstitutionellen Staat eine Staatsvergottung, die am Ende die Freiheit des Bürgers mehr einschränke als je zuvor. Gelegenheiten zur eigenen Profilierung auf dieser Basis ergaben sich mehrfach, so dass er immer bekannter wurde und schließlich eine Einladung erhielt, die Adventspredigten in Mainz zu halten. Dabei entwickelte er zum ersten Mal im Winter 1848/49 seine Sicht der „sozialen Frage“, die ihn fortan nicht mehr loslassen sollte und zu seinem Ruf als „Sozialbischof“ geführt hat. Kettelers Positionen dazu unterlagen im Laufe der Zeit verschiedenen Wandlungen. Am Ende stand 1869 seine Rede auf der Liebfrauenheide bei Offenbach vor 10.000 Arbeitern, in der er einen gerechten Arbeitslohn, ein Verbot der Kinderarbeit und den Schutz von Mädchen und Schwangeren forderte. Später ist diese Rede als die „Magna Charta der christlichen Arbeiterbewegung“ bezeichnet worden. Kettelers zunehmende Popularität und die in Frankfurt geknüpften Verbindungen führten dann bald schon zu einem steilen Aufstieg. 1849 wurde er Probst von Berlin und fürstbischöflicher Legat für die Mark Brandenburg und Pommern. 1850 profitierte er von einem Streit im Mainzer Domkapitel, der ihn schließlich als eine Art Kompromisskandidaten in das Amt des Bischofs von Mainz brachte. Seine Weihe zum Bischof am 25. Juli 1850 erfolgte Alle Abb.: © Dom- und Diözesanarchiv Mainz Bischof der Moderne ohne großen Aufwand und Kosten für die Diözese – Ketteler blieb sein Leben lang ein sparsamer Mann, der sogar eine eigene Kutsche für überflüssigen Aufwand hielt. Für seine offenen Worte, seinen Kampf gegen manch ungerechtes Gesetz, musste auch Ketteler verschiedentlich Geldstrafen auf sich nehmen. Geradezu programmatisch war sein Verhalten bei der Ablegung des Amtseides gegenüber dem Großherzog von Hessen-Darmstadt, Ludwig III., den er nur mit Vorbehalten leistete. Seine Treue gegenüber der weltlichen Macht, so stellte er klar, könne nur so weit reichen, wie das Recht und die Freiheit der Kirche das zuließen. Hartnäckig suchte er in diesem Sinne in den nächsten Jahren die durch das geltende Staatskirchenrecht in Hessen-Darmstadt sehr beengte Stellung der Kirche zu verbessern und fand dafür bei dem konservativen Minister Reinhard Freiherr v. Dalwigk zu Lichtenfels (1802-1880) auch über Jahre hinweg einiges Verständnis. Als jedoch nach der Reichsgründung der Kulturkampf gegen die katholische Kirche ausbrach und Otto von Bismarck eine Art „Präventivkrieg“ gegen den Katholizismus zu führen begann (R. Morsey), wurde auch die Situation in Mainz zunehmend angespannt, die Auseinandersetzungen zwischen Ketteler und den liberalen Parteigängern in Hessen-Darmstadt zunehmend schärfer, ja gehässig. Für seine offenen Worte, seinen Kampf gegen manch ungerechtes Gesetz, musste auch Ketteler verschiedentlich Geldstrafen auf sich nehmen. Erst Ende der 1870er Jahre sollte Bismarck die Unzweckmäßigkeit dieses Kampfes mit der Kirche einsehen und die Eingriffe in die Autonomie der Kirche zurücknehmen. Doch das erlebte Ketteler, der 1877 zum Goldenen Bischofsjubiläum des Papstes nach Rom gereist war, nicht mehr. Auf der strapaziösen Rückreise zog er sich vermutlich eine Art Lungenentzündung zu und verstarb völlig unerwartet am 13. Juli 1877 im Kapuzinerkloster zu Burghausen in Oberbayern. Die Begräbnisfeierlichkeiten in Mainz wurden zu einer großen Sympathie- und Treuekundgebung für den hochgeschätzten, schon damals von vielen Menschen verehrten großen Mainzer Bischof. Michael Kissener n Am Fuße des Mayon: Auch Monate nach der Katastrophe geht der Wiederaufbau nur schleppend voran Portrait von Bischof Ketteler Wappen von Bischof Ketteler 19 [JOGU] SPEZIAL II/2007 Berühmte Mainzer Berühmte Mainzer Abb.: © picture-alliance/akg-images Carl Zuckmayer Zu Lebzeiten schaffte es Carl Zuckmayer (1896- 971) viermal, auf den Hitlisten des Kulturbetriebs ganz oben zu stehen: 1925 mit der Komödie „Der fröhliche Weinberg“, 1931 mit der Tragikomödie „Der Hauptmann von Köpenick“, 1946/47 mit dem Drama „Des Teufels General“ und 1966 mit seiner Autobiographie „Als wär’s ein Stück von mir“. Danach wurde es immer stiller um ihn. Seine Prosa und seine Dramatik galten zunehmend als antiquiert und fielen aus dem Kanon. In den letzten zehn Jahren ist durch eine Reihe von Veröffentlichungen aus dem Nachlaß – darunter der „Geheimreport“ (2002) und der „Deutschlandbericht für das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika“ (2004) – das Interesse an Zuckmayer wieder gewachsen. Der 22. Dezember 1925 war ein Glückstag in Zuckmayers Leben. Die Uraufführung seiner Komödie „Der fröhliche Weinberg“ im Berliner Theater am Schiffbauerdamm hatte einen derart überwältigenden Erfolg beim Premierenpublikum, dass fast alle Theater in Deutschland sie nachspielen wollten. Mehr als 120.000 Reichsmark flossen ihm binnen eines Jahres an Tantiemen zu. Das entsprach dem Lebenseinkommen eines Schwerstarbeiters. So wurde Zuckmayer, der sich bis dahin unter anderem als Dramaturg, Bänkelsänger, Filmstatist und Anreißer für Vergnügungslokale durchschlagen musste, über Nacht zu einem allseits gefragten Autor. Zuckmayer schreibe „für die Schnäbel der Schauspieler“, befand der Theaterkritiker Bernhard Diebold nach der Frankfurter Premiere. Er kritzele „kein Lesespiel, sondern ein Redespiel. Und namentlich: Spiel, Spiel, Spiel.“ „Sic transit gloria expressionismi“ – so vergeht der Ruhm des Expressionismus, spöttelte Alfred Kerr, der damalige Kritikerpapst. Doch auch er wollte diesen Spaß nicht verderben. Warum? Weil er „das Theater heute vielleicht vor dem hemmungslosen Literatenmist“ rette „und einen letzten Damm baut gegen das bereits überlegene Kino“. Zuckmayer – 1896 in Nackenheim geboren, von 1900 an in Mainz aufgewachsen bis er 1914 als Kriegsfreiwilliger in den Ersten Weltkrieg zog – vertrat ein klares Gegenprogramm zur Politisierung des Theaters, wie sie Erwin Piscator und Bertolt Brecht anstrebten. Das schloss nicht aus, dass er mit beiden in freundschaftlicher Verbindung stand, zumal auch Zuckmayers Stücke gesellschaftskritischer [JOGU] SPEZIAL II/2007 Zuckmayers Erfolg schmälerten solche Einwände nicht im geringsten. Die damit verbundene Selbstgerechtigkeit ärgerte ihn aber. „Wir haben links“, schrieb er seinem Freund Albrecht Joseph schon im Dezember 1930, „weder Waffen noch zuverlässige Leute […] und vor allem: keine Idee, keine Kräfte, keinen Lebenskern. Das Ganze ist ein Versagen des Marxismus, sonst nichts, und wir müssen es ausbaden. Weil der Marxismus seit 1918 nicht in der Lage war, die irrationalen Bedürfnisse der Menschen zu erregen, zu erfüllen und einem vernünftigen Ziel zu kopulieren, sondern Menschen für politische Rechenmaschinen und die Welt für eine durch konstruktive Ideologien zu regelnde Materialanhäufung hielt, machen sich die irrationalen Bedürfnisse der Menschen selbständig und strömen mit dem bequemsten und hemmungslosesten Quatsch zusammen. Daneben stehen die Sozialdemokraten, die jetzt Thomas Mann gewonnen, aber die Arbeiterschaft verloren haben, und kauen an den Nägeln. Zum Kotzen.“ Seine Stücke wurden nicht mehr gespielt, waren aber auch nicht verboten. Heinz Rühmann in „Der Hauptmann von Köpenick“. Titelseite der Illustrierten Film-Bühne, 1956 Züge nicht ganz entbehrten. „Der fröhliche Weinberg“ erregte wegen der ironischen Darstellung eines Korpsstudenten jedenfalls die Gemüter der Nationalsozialisten so sehr, dass sie 1926 einen Theaterskandal nach dem anderen provozierten. Auch „Der Hauptmann von Köpenick“, mit dem Zuckmayer 1931 den enormen Erfolg seines „Fröhlichen Weinbergs“ noch übertreffen konnte, missfiel den – wie er sie nannte – „Rechtsern“ erheblich. Auf Seiten der Linken war man allerdings ebenfalls unzufrieden. Es fehle in dem Stück, bemängelte Alfred Kerrs Gegenspieler Herbert Ihering, eine klare politische Linie. 20 Am Ende der Weimarer Republik befürwortete Zuckmayer daher Pläne des Generals Kurt von Schleicher zu einem Querfrontbündnis aus Sozialdemokraten, Gewerkschaftern und „linken“ Nationalsozialisten um Gregor Strasser, mit denen Hitlers „Machtergreifung“ verhindert werden sollte. Nachdem das gescheitert war, rechnete er sich dennoch „nicht zu den Leuten, die über die jüngste Entwicklung in Deutschland unglücklich“ seien. In einem Brief an den Publizisten Friedrich Sieburg vom 1. April 1933 sorgte er sich aber darum, „dass die Nation […] in ihrem neuen Aufbruch geführt und nicht verführt werde“. Diese Sorge war, wie er bald schmerzlich erfahren musste, nur zu berechtigt. Nachdem Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war, hielt sich Zuckmayer – von einer riskanten Reise in die Reichshauptstadt im November 1935 abgesehen – von Deutschland fern und lebte in seiner „Wiesmühl“ in Henndorf bei Salzburg, die er sich 1926 von den Tantiemen für den „Fröhlichen Weinberg“ gekauft hatte. Welche beruflichen Konsequenzen die politische Entwicklung für ihn mit sich bringen würden, blieb indes noch geraume Zeit unklar. Seine Stücke wurden nicht mehr ge- spielt, waren aber auch nicht verboten. Die Universum Film AG (Ufa), für die er 1930 das Drehbuch zum „Blauen Engel“ mit Marlene Dietrich und Emil Jannings in den Hauptrollen geschrieben hatte, schloss mit ihm noch im April 1935 den Manuskriptvertrag zu einem Filmprojekt, dessen Verwirklichung dann erst am Widerstand der Gestapo scheiterte. Im Dezember 1935 wurde durch das Verbot seines Romans „Salwàre oder die Magdalena von Bozen“ endlich klar, dass der deutsche Markt für Zuckmayer verloren war. Drei Jahre sollte es danach jedoch noch dauern, bis er und seiner Familie auch die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wurde. Abb.: © Deutsche Schillergesellschaft Marbach am Neckar Schriftsteller und Politikberater Carl Zuckmayer. Photographie von Lotte Jacobi, Berlin 1924/25 „Wir finden keinen Weg in ihre Köpfe und Herzen.“ Die Abnabelung von Deutschland geschah also nicht abrupt, sondern in Raten. Das verschaffte Zuckmayer die von ihm reichlich genutzte Möglichkeit zu Erfahrungen, die viele andere Emigranten nicht machen konnten oder wollten. Durch Freunde, die ihn in Henndorf besuchten, und seine Stippvisite in Berlin lernte er auch die Binnenperspektive des „Dritten Reichs“ kennen. Er bekam so einen Überblick über das breite Spektrum an politischen Positionen, die von begeisterter Zustimmung über abwartende Zuversicht bis zur Regimekritik reichten. Ende 1943, vier Jahre nachdem Zuckmayer in die USA emigriert war, stellte er dieses Wissen dem amerikanischen Geheimdienst „Office of Strategic Services“ zur Verfügung, indem er einen Report mit 150 Porträts über Schauspieler, Regisseure, Schriftsteller, Journalisten und Verleger verfasste, die im nationalsozialistischen Deutschland erfolgreich waren. Er wollte auf diese Weise die Chance nutzen, der These von der Kollektivschuld aller Deutschen an den Verbrechen des NS-Regimes zu widersprechen und auf die Existenz eines „Anderen Deutschlands“ aufmerksam zu machen. Nach dem Sieg der Alliierten wurde Zuckmayer die von ihm schon 1943 beantragte amerikanische Staatsbürgerschaft verliehen, so dass er sich erfolgreich um die Stelle eines zivilen Kulturbeauftragten beim US-Kriegsministerium bewerben konnte. Im November 1946 brach er in dessen Auftrag zu einer Inspektionsreise durch Deutschland und Österreich auf, von der er nach fünf Monaten völlig erschöpft zurückkehrte. Trotzdem begann er sofort mit der Arbeit an einem Bericht, in dem er zahlreiche besatzungspolitische Maßnahmen einer scharfen Kritik unterzog: „Wir erreichen die Menschen nicht“, warnte er eindringlich. „Wir finden keinen Weg in ihre Köpfe und Herzen. Wir beeinflussen die Schüler und Universitätsstudenten nicht wirklich, obwohl dazu einige Anstrengungen unternommen werden und es Pläne gibt. Aber was bisher getan und versucht worden ist, ist zu wenig, zu theoretisch, zu akademisch.“ Zuckmayer wies mit Nachdruck darauf hin, dass man in Deutschland keine Demokratie errichten könne, wenn man die dort lebenden Menschen weiter als Feinde betrachte. Man müsse statt dessen allen aufgeschlossenen Kräften Mut zu einem Neuanfang machen und vor allem Jugendlichen eine Perspektive bieten. Mit seiner Autobiographie „Als wär’s ein Stück von mir“ gelang ihm noch einmal ein ganz großer Erfolg. Unterdessen avancierte Zuckmayers im amerikanischen Exil geschriebenes Stück „Des Teufels General“ zum erfolgreichsten deutschen Gegenwartsdrama der Nachkriegszeit. Während die Geschichtswissenschaft noch bis in die 1960er Jahre den NS- 21 Staat als monolithischen Führerstaat darstellte, wusste es der Exilant besser und zeigte, wie ein Mitläufer von rauhbeiniger Liebenswürdigkeit zwischen zynischen Machtpolitikern, skeptischen Pragmatikern, Jungnationalsozialisten voller jugendlichem Idealismus und einem zu allem bereiten Widerstandkämpfer allmählich aufgerieben wird. Am Ende kann er nicht mehr lavieren, sondern muß eine folgenschwere Entscheidung treffen. Den Grund für den Erfolg des Stücks sah Zuckmayer darin, „dass der Beschauer nie das Gefühl hat, er bekomme eine Standpauke gehalten oder werde mit dem Zeigefinger belehrt“. Eben dadurch animierte das Stück zu lebhafter Diskussion. Wen trifft wieviel politische Schuld? Wer hatte überhaupt Handlungsalternativen? Welche Mittel im Kampf gegen ein mörderisches Regime sind erlaubt? Wann beginnt das Recht oder gar die Pflicht zum Widerstand? Bis Mitte der 1950er Jahre feierte Zuckmayer noch eine Reihe weiterer Theatererfolge, unter anderem mit „Der Gesang im Feuerofen“ (1953), einem Stück über Widerstand und Kollaboration in Frankreich während des Zweiten Weltkriegs, und mit „Das kalte Licht“ (1955), das einen Fall von Atomspionage thematisiert. Mit der sich Ende der fünfziger Jahre durchsetzenden Politisierung, Akademisierung und Intellektualisierung des Kulturbetriebs verlor sich bei Intendanten, Regisseuren, Dramaturgen und Journalisten allmählich das Interesse an ihm und seiner Arbeit. Das Publikum blieb Zuckmayer jedoch treu. 1966 gelang ihm daher mit seiner Autobiographie „Als wär’s ein Stück von mir“ noch einmal ein ganz großer Erfolg: Weit mehr als eine Million Exemplare konnten bis heute verkauft werden. Danach wurde es immer stiller um ihn. „Der Hauptmann von Köpenick“ garantiert den Theatern aber immer noch, wie zuletzt die Inszenierung von Jan Bosse am Mainzer Staatstheater bewies, bestens besuchte Häuser. Und als 2002 Zuckmayers „Geheimreport“ für das „Office of Strategic Services“ erstmals veröffentlicht wurde, war das Staunen groß: „Dieser alte Text“, meinte etwa Gustav Seibt in der „Süddeutschen Zeitung“, „spielt alle Debütanten der Saison mühelos an die Wand.“ Gunther Nickel n [JOGU] SPEZIAL II/2007 Berühmte Mainzer Weltliteratur aus Mainz Anna Seghers Im Kanon der bedeutendsten deutschsprachigen Prosa des 20. Jahrhunderts finden sich nicht wenige Werke der Anna Seghers, die im Jahr 1900 als Netty Reiling in Mainz geboren wurde und ihrer Herkunft zeitlebens verbunden blieb. Anna Seghers wurde am 19. November 1900 in Mainz geboren und starb am 1. Juni 1983 in Berlin. In ihre Lebensspanne fallen die großen Kriege und gewaltigen Umbrüche des 20. Jahrhunderts. Ihr Lebenslauf führt sie durch mehr Höhen und Tiefen als die meisten Zeitgenossen. Isidor Reiling, ihr Vater, ist ein angesehener Kunst- und Antiquitätenhändler, die Familie gehört der orthodoxen Israelitischen Religionsgemeinschaft an; die Tochter Netty studiert Kunstgeschichte in Heidelberg und Köln und promoviert 1924 mit einer Dissertation über Juden und Judentum im Werk Rembrandts. Den literarischen Durchbruch bringt das Jahr 1928 mit dem Kleistpreis für die Erzählung „Aufstand der Fischer von St. Barbara“. Sie reüssiert also auf mehreren Gebieten zugleich, und dabei partizipiert sie auf ihre Weise an der Umbruchssituation der Weimarer Zeit. In Heidelberg begibt sie sich in den Kreis der dort lebenden ungarischen Emigranten, unter ihnen auch Laszlo Radvanyi, der bei Karl Jaspers mit einer Arbeit über den Chiliasmus promoviert. Die beiden heiraten 1925. Im Jahr ihres literarischen Durchbruchs tritt sie der Kommunistischen Partei Deutschlands bei. Ihre Kritik an Not und Gewalt, Ungerechtigkeit und Verlogenheit in der Gesellschaft unterscheidet sich nicht wesentlich von den Mängelanzeigen, die auch linksbürgerliche, sozialdemokratische und selbst bürgerliche Schriftsteller formulieren. Aber irgendwann zwischen 1924 und 1928 muss Anna Seghers, wie sich Netty Reiling nun als öffentliche Person nennt, zu dem Schluss gekommen sein, dass die Besei- [JOGU] SPEZIAL II/2007 Abb.: privat „Das siebte Kreuz“, Umschlag der Erstausgabe von 1942. Erzählt wird die Geschichte des jungen Kommunisten Georg Heisler, dem es durch die Unterstützung vieler einzelner Helfer gelingt, aus dem KZ Westhofen ins Ausland zu fliehen. tigung der kritikablen Zustände nicht mehr von Marktwirtschaft und bürgerlicher Demokratie, sondern nur noch von einer sozialistischen Gesellschaft zu erwarten sei. Man darf davon ausgehen, dass bei diesem Übergang politisch-ökonomische Erwägungen eine entscheidende Rolle spielten; schließlich hatte sich ihr Mann vom Philosophen zum Dozenten der politischen Ökonomie entwickelt. In ihren literarischen Texten spielen solche Argumente indes keine Rolle. Im Werk der Anna Seghers ist es eine Frage der individuellen moralischen Ernsthaftigkeit, aus den vielen Beschwerden eine rückhaltlose Konsequenz zu ziehen und eine entschiedene Alternative zum Kapitalismus anzustreben, auch wenn – und gerade wenn – der Kampf dafür zunächst vor allem Opfer auf der eigenen Seite bedeutet. Der Roman „Das siebte Kreuz“ wird zum Welterfolg, erscheint noch vor der deutschsprachigen Ausgabe in den USA in der englischen Übersetzung, wird dort ein Bestseller und 1944 in Hollywood verfilmt. So war, als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, die Schriftstellerin gleich doppelt in deren Visier, als Jüdin und als Kommunistin. In allen äußeren Hinsichten kann das Exil, das Anna Seghers ab 1933 in Frankreich und ab 1941 in Mexiko fand, nur als multipler Absturz beschrieben werden, mit mehrmaligem hartem Aufprall, so vor allem 1942 bei der Nachricht, dass die in Mainz zurückgebliebene Mutter in ein KZ deportiert und zu Tode gekommen sei. Unter diesen Umständen verfasst die Schriftstellerin Erzählungen und Romane, die zu den bedeutendsten Werken nicht nur der Exilliteratur, sondern der deutschsprachigen Prosa des 20. Jahrhunderts gehören: zwei Romane über die Entstehung und Durchsetzung des Nationalsozialismus in Deutschland, den großen Deutschlandroman jener Zeit, „Das siebte Kreuz“, und eine umfangreiche Kurzprosa, deren stilistische Spannweite von der Reportage über die psychologische wie die realistische Kurzgeschichte, die Novelle, die chroni- kalische und die mythische Erzählung die ganze Formenvielfalt der Moderne umfasst. Eine merkwürdige Schere zwischen dem Geschick der Autorin und dem des Werks tut sich mit dem Roman „Das Siebte Kreuz“ auf, der 1942 in Mexico City in deutscher Sprache herauskommt. Der Roman wird zum Welterfolg, erscheint noch vor der deutschsprachigen Ausgabe in den USA in der englischen Übersetzung, wird dort ein Bestseller und 1944 in Hollywood verfilmt. Noch vor Kriegsende sind Übersetzungen in England, Kanada, Brasilien, Schweden und Mexiko auf dem Buchmarkt. Bis 1949 folgen deutsche Ausgaben in allen Besatzungszonen, eine Übersetzung ins Niederländische, eine ins Französische und die erste vollständige ins Russische. Die Autorin dieses Buches hat zunächst sehr wenig von ihrem weltweiten Erfolg, und das nicht nur in ökonomischer Hinsicht. Ihr nächster Roman, „Transit“, der das Exil in Frankreich zum Stoff und daran ganz grundsätzlich zum Thema hat, was „Exil“ heißt, ist so gut wie vollendet, als Anna Seghers bei einem Unfall gefährlich verletzt wird und nach vier Tagen im Koma nur langsam wieder sprechen, lesen und schreiben kann. Der Roman, der eine der prägnantesten Behandlungen des Exils in Frankreich und der Exilsituation überhaupt in der Literatur des 20. Jahrhunderts darstellt, wird in deutscher Sprache erst 1947 in der Berliner Zeitung und als Buchausgabe in Konstanz, in der französischen Zone, gedruckt. 1947 wird ihr der Büchnerpreis verliehen, und damit beginnt im Westen eine fast vollständige Rezeptionspause von fast 20 Jahren. Die zu erwartende Aufwärtsbewegung nach dem Ende des Exils – Seghers schafft es 1947, nach Berlin zu kommen und dort Bleibe und Aufgabe zu finden – verläuft zäh und keineswegs geradlinig. 1947 wird ihr der Büchnerpreis verliehen, und damit beginnt im Westen eine fast vollständige Rezeptionspause von fast 20 Jahren. Der aus dem mexikanischen Exil mitgebrachte Roman „Die Toten bleiben jung“, eine ästhetisch komplexe Epochenbilanz, 1949 in der DDR veröffentlich, findet wenig Verständnis, gerade bei den Genossen, denen das Positive fehlt. Seghers entfaltet eine enorme Produktivität beim Verfassen von Kurzprosa, von der reportagehaften Dorfgeschichte über die Anekdote und die poetische, Mythen nach- und umformende Erzählung bis zu den „Karibischen Geschichten“, die ein Stück Kolonialgeschichte aufarbeiten und durch ihr Sujet wie ihre Sprache fast als Solitäre in der deutschen Prosa gelten können. Sowohl im Hinblick Foto: © Aufbauverlag Berlin Berühmte Mainzer auf die thematische Blickrichtung – die Geschichte des Kolonialismus, in der wie in einem verfremdenden Gewand die Gegenwart aufscheint – als auch aufgrund der Sprache hätten diese Geschichten als Messlatte zeitgenössischer deutschsprachiger Prosa dienen können, wenn die politischen Verhältnisse andere gewesen wären – aber dann wären sie vermutlich so gar nicht entstanden. In der Kurzprosa behält Anna Seghers bis zum Ende ihre Produktivität, die in den beiden großen DDR-Romanen „Die Entscheidung“ und „Das Vertrauen“ unter dem Beweisdruck leidet, den sie sich auferlegt. Diese Bücher sind, wenn nicht mit Genuss, so doch mit Gewinn an Wissen zu lesen. Sie zählen zu den wenigen ernst gemeinten Versuchen eines Systemvergleichs, der zugunsten der sozialistischen Gesellschaft ausgeht, ohne deren Härten zu beschönigen oder das im Westen gerade stattfindende Wirtschaftswunder zu leugnen: Die Romane versuchen zu zeigen, dass die Opfer, die den Menschen in der DDR abverlangt werden, nicht etwa keine, sondern in moralischer Hinsicht sinnvolle Opfer sind. Immerhin demonstrieren sie auch, dass die Schriftstellerin sich nicht nur mit den Verhältnissen in der DDR bekannt gemacht hat, sondern immer noch mit dem Leben in den rheinischen Provinzen vertraut ist, in denen beträchtliche Teile der Handlung in „Der Entscheidung“ spielen. Die Bücher „Die Entscheidung“ und „Das Vertrauen“ sind, wenn nicht mit Genuss, so doch mit Gewinn an Wissen zu lesen. In ihrem Œvre artikuliert Anna Seghers ein Krisenbewusstsein, das für die ganze Moderne charakteristisch ist: die nach 1900 immer mehr befestigte Auffassung, dass die bürgerliche Gesellschaft (in jeder Bedeutung dieses Terminus) in einen unüberbrückbaren Gegensatz zu allen Sinnvorstellungen und Wertmaßstäben geraten sei. Unter den ganz unterschiedlichen Reaktionen auf diese Diagnose fällt die der Anna Seghers nicht nur durch ihre eigentümliche Ästhetik auf, sondern nicht zuletzt dadurch, dass sie der Tendenz der Mehrheit widerspricht. Sie beharrt darauf, dass moralische Entscheidung weiterhin möglich sei und dass Literatur solche Entscheidungsfähigkeit freisetzen könne und bestärken müsse. Aus diesem Selbstbewusstsein erschreibt sie sich eine gewichtige Position im Spannungsfeld, in dem die klassische Moderne in Europa und Amerika sich bewegt. Sie trägt nicht wenig zum Reichtum ihrer Ästhetik bei, durch eine Erzählkunst, die dem ganzen Werk die Einheit einer identifizier- baren „Stimme“ verschafft. An dieser Stimme kann man ihre Texte, wie diejenigen von Gottfried Keller oder Thomas Mann, schon nach wenigen Zeilen erkennen. In ihr schwingt gut hörbar auch ein Klang mit, der dem Idiom der Region um Mainz eigentümlich ist. Das gilt buchstäblich wie im übertragenen Sinn: Anna Seghers hat gerade die Epoche machenden Geschichten sich unter den Menschen und in den Landschaften dieser Region abspielen sehen. Bernhard Spies n 23 Anna Seghers im mexikanischen Exil. Foto um 1942 [JOGU] SPEZIAL II/2007 Blutspenden rettet Leben. Vielleicht auch Ihres. Wo? Klinikum der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Transfusionszentrale, Hochhaus Augustusplatz Information Telefon 0 61 31/17-32 16 -32 17 Foto: Photocase©jarts Termine Mo, Mi 8.00 bis 16.00 Di, Do 8.00 bis 18.00 Fr 8.00 bis 15.00 Sa 8.00 bis 11.00
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