124 8 Schwere Gewalttaten in einem schulischen Kontext – Warnverhalten und Falldynamiken1 Karoline Roshdi, Jens Hoffmann In den letzten Jahren hat im deutschsprachi gen Raum das Thema der schweren zielge richteten Gewalt an Schulen, auch als Schul amok bezeichnet, große Aufmerksamkeit erfahren. Im Rahmen von mehreren inter nationalen Forschungsprojekten wurde hier bei sogenanntes Warnverhalten, das zur Prä vention und Früherkennung eingesetzt wer den kann, identifiziert (Meloy et al. 2014b). Warnverhaltensweisen stellen psychologi sche Muster oder Handlungsmuster bei ei ner Person dar, die auf ein zunehmendes oder sich beschleunigendes Risiko für Ge walttaten hinweisen können (Guldimann et al. 2013). Beispiele für Warnverhalten sind direkte Drohungen, Fixierung, Identifizie rung oder der Weg zur Gewalt (▶ Kap. 16.5). Die vorliegende deskriptive Analyse ver gleicht die Erkenntnisse zu zielgerichteter Gewalt an Schulen mit Fällen, bei denen es zwar einen schulischen Bezug gibt, die je doch anderen Tatdynamiken entsprechen, etwa im Rahmen eines Beziehungswun sches. Bei diesen Tatdynamiken fällt auf, dass die Täter oft auf eine Zielperson, das spätere Opfer, fixiert sind. Grundsätzlich lassen sich hier Gemeinsamkeiten mit ziel gerichteten Gewalttaten an Schulen erken nen, sodass hier Gemeinsamkeiten sowie mögliche Unterschiede herausgearbeitet 1 Das Forschungsprojekt KomPass (Schulische Krisenintervention bei Großschadensereignissen – Entwicklung digitaler Medien zur Qualifizierung von Berufspädagogen, Lehrpersonal und Ausbil dern) wird seit 2012 vom BMBF gefördert. Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Projektes. werden, die für die Präventionsarbeit hilf reich sein können. Da aufgrund der relati ven Seltenheit solcher Gewalttaten in dieser Studie nur eine geringe Fallanzahl unter sucht werden kann, handelt es sich hier um eine erste beschreibende Analyse mit einer primär qualitativen Ausrichtung. 8.1 Zielgerichtete Gewalt an Schulen Zielgerichtete Gewalt an Schulen ist eine spezielle Gewaltdynamik, die als gezielter und potenziell tödlicher Angriff auf be stimmte Personen oder Personengruppen definiert wird, wobei die Schule bewusst als Tatort ausgewählt wird (Fein et al. 2002). Das Konzept der zielgerichteten Gewalt hat insofern Bedeutung, als dass Untersuchun gen sowohl in den USA (Vossekuil et al. 2002) als auch in Deutschland (Roshdi u. Hoffmann 2011) zu dem Ergebnis kommen, dass auf den ersten Blick so unterschiedlich scheinende Taten wie Mehrfachtötungen an Schulen oder einzelne schwere Attacken ge gen Lehrer ähnlichen Verhaltensmustern folgen und somit vergleichbare Risikodyna miken im Vorfeld bestehen. Ein schulischer Amoklauf bildet somit eine Unterkategorie der Dynamik der zielgerichteten schweren Gewalt an Schulen, die dadurch charakteri siert ist, dass nicht nur eine, sondern mehre re Personen mit tödlicher Intention ange griffen werden (Hoffmann u. Roshdi 2011). Analog zu zielgerichteter Gewalt wird auch der Begriff School Shooting im deutschen Sprachraum verwendet (Robertz 2004). Hoffmann, Roshdi: Amok und andere Formen schwerer Gewalt. ISBN: 978-3-7945-2881-3. © Schattauer GmbH 8 Schwere Gewalttaten in einem schulischen Kontext Besonders bedeutsam in diesem Kontext ist das Warnverhalten, das Leakage. Leakage bedeutet auf Deutsch übersetzt etwa „Leck schlagen“ und steht für die direkte oder indi rekte Ankündigung einer möglichen Tatab sicht gegenüber einer dritten Person (Meloy u. O‘Toole 2011). Leakage-Warnverhalten zeigte sich in bisher allen Fällen zielgerich teter Gewalt an Schulen in Deutschland (Bondü u. Scheithauer 2009; Hoffmann et al. 2009). Im Jahr 2009 erschien die erste empiri sche Studie zu schweren zielgerichteten Ge walttaten an deutschen Schulen (Hoffmann et al. 2009). Die Haupterkenntnisse dieser Untersuchung zeigten in Übereinstimmung mit internationalen Forschungsergebnissen, dass es erkennbare psychologische Charak teristika gibt, die bei diesen Tätern gehäuft auftreten, wie z. B. ein narzisstischer Persön lichkeitszug (Bondü u. Scheithauer 2009; McGee u. DeBernardo 1999), eine leichte Kränkbarkeit (McGee u. DeBernardo 1999) und depressive Entwicklung (Fein et al. 2002). School-Shootings lassen sich nicht monokausal erklären. Vielmehr bestehen individuell unterschiedliche Gemengelagen von akutem Krisenerleben, Schwierigkeiten bei der Verarbeitung problematischer Erfahrungen, einer psychischen Vulnerabilität und der Wahrnehmung, dass eine Gewalttat eine Lösung der Krise darstellt (Hoffmann et al. 2009). Die Planung der Tat und die vorhandenen Gewaltphantasien der Jugendlichen treten nahezu immer nach außen in Erscheinung, wobei dies häufig an der Schule oder gegen über Gleichaltrigen geschieht (Fein et al. 2002; Hoffmann et al. 2009). Es lässt sich ein starker Nachahmungseffekt bei den Tätern feststellen, die regelmäßig auf andere Schul amokläufer vor ihnen als Vorbild für ihre 125 Gewalttat Bezug nehmen (Böckler u. Seeger 2010; Robertz u. Wickenhäuser 2010). Etwa die Hälfte der Taten in Deutschland wurde von ehemaligen Schülern verübt (Roshdi u. Hoffmann 2011). Dies zeigt auf, dass ein in stitutionsübergreifendes Fallmanagement große Bedeutung hat und bei risikobehafte ten Verhaltensweisen in Bildungseinrich tungen eventuell weiter verfolgt werden muss, was mit einem Schüler nach Verlassen der Schule geschieht. Dies kann nur durch die Zusammenarbeit zwischen Institutionen und lokalen Netzwerken geschehen (Hoff mann 2012). Eine zielgerichtete Gewalttat bildet den Endpunkt eines krisenhaften Pro zesses, an dem psychische, situative und in teraktive Aspekte beteiligt sind. Warnsigna le im Vorfeld zeigen sich dabei in der Kom munikation und dem Verhalten des Täters (Hoffmann et al. 2009). Hoffmann (2012) entwickelte ein ver haltensorientiertes Entwicklungsmodell der zielgerichteten Gewalt an Schulen, das einen fundierten Maßstab zur Risikoeinschätzung von Schülern, die bedrohliches Verhalten gezeigt haben, bereitstellt (▶ Abb. 8-1). Demnach zeigen sich in der Entwicklung hin zu einer solchen Tat vier verschie dene Stufen, die nicht als sich ablösende Phasen, sondern als additiv hinzukommen de Muster von Warnverhalten zu betrachten sind. • Die erste Stufe ist die Stufe der Gewalt phantasien. Ein Schüler, der eine Selbst wertproblematik aufweist, erlebt Krän kungen oder Zurückweisungen. Er ver sucht dies durch Gewaltphantasien zu kompensieren, die sich etwa durch den intensiven und übermäßigen Konsum ge walthaltiger Medien zeigen können oder durch eine sogenannte Kriegeridentität, in der er sich als wirkungsmächtiger Rä cher oder Kämpfer inszeniert (Hempel et al. 1999). Hoffmann, Roshdi: Amok und andere Formen schwerer Gewalt. ISBN: 978-3-7945-2881-3. © Schattauer GmbH 126 Amok und schwere zielgerichtete Gewalt an Schulen Tat Ebenen finales kritisches Ereignis Gewaltphantasien nerle Krise ausweglos • Hoffnungslosigkeit zunehmendes Gefühl der Isolation und Ausgegrenztheit • Selbstwertproblematik • Kränkungserfahrungen • Waffenbeschaffung und -konstruktion • Kleidungsbeschaffung • Übungshandlungen n tio Realisierungsphantasien • sozialer Rückzug • Lage erscheint handlungen • Privatrituale • Probehandlungen ala Vorbereitung • Abschieds- Esk ben letzter Tatentschluss • Andeutungen über Tatbegehung • Racheäußerungen • Todeslisten • Recherche über Modus Operandi • Gewaltphantasien als Flucht zur Selbstwertstabilisierung • Konsum von Gewaltmedien • Warrior Mentality • Faszination/Verehrung von Gewalttaten Abb. 8-1 Entwicklungsmodell der schweren zielgerichteten Gewalt an Schulen. • Auf der nächsten Stufe, der Stufe der Rea lisierungsphantasien, beschäftigt sich der Jugendliche konkreter mit einer mögli chen Tatausführung. Dabei werden die Gewaltphantasien zusehends realitätsnä her und detaillierter (Robertz u. Wicken häuser 2010); erste Ideen und Planungen, wie ein Amoklauf durchgeführt werden könnte, werden gedanklich ausgearbeitet. • Auf der Stufe der Vorbereitung erscheint dem Jugendlichen seine Situation als zu nehmend hoffnungs- und ausweglos. Er kapselt sich immer mehr von seinem Umfeld ab, und es kommt zu tatvorberei tenden Handlungen, wie etwa der Be schaffung von Waffen oder Tatausrüs tungsgegenständen. • Die finale Ebene des letzten Tatentschlus ses wird meist von einem letzten Krän kungserleben begleitet. Oft fallen noch stabilisierende Elemente im Leben des Jugendlichen weg, wie z. B. ein Schulaus schluss oder der Verlust eines nahen Menschen. 8.2 Jugendliche Tötungs delinquenten Die Forschung zu delinquentem Verhalten in der Jugend ist insofern schwierig, da in dieser Altersperiode oft grenzüberschreiten de Verhaltensweisen in unterschiedlicher Form, unterschiedlichem Auftreten und un terschiedlicher Schwere auftreten. Aus die sem Grund lässt sich bei der Entwicklung jugendlicher Delinquenz deshalb feststellen, dass es hierzu keine einfachen monokausa Hoffmann, Roshdi: Amok und andere Formen schwerer Gewalt. ISBN: 978-3-7945-2881-3. © Schattauer GmbH 8 Schwere Gewalttaten in einem schulischen Kontext len Erklärungen geben kann, sondern dass sich dieses Problemverhalten aus verschie denen Risikokonstellationen zusammensetzt (Lösel 2003). Im Allgemeinen sind Kinder mit 5 % und Jugendliche sowie Heranwach sende mit 10 % an der Gesamtheit aller Straf taten beteiligt (Polizeiliche Kriminalstatistik von 1995–2009 in Remschmidt 2012). Betrachtet man Gewaltdelikte durch Ju gendliche, so ist hier zunächst eine Untertei lung vorzunehmen, welche Form von Ge walt genau gemeint ist. In einigen Studien wird der Gewaltbegriff relativ weit gefasst, in anderen Bereichen sehr eng ausgelegt, so dass ein allgemeiner Vergleich der For schungsarbeiten relativ schwer vorzuneh men und auch nicht sinnvoll ist (Reschke et al. 2009). Die in dieser Studie interessieren den Taten gehören zur Kategorie der Tötungsdelinquenz Jugendlicher (14- bis 18-Jährige) oder Heranwachsender (19- bis 21-Jährige). Tötungsdelikte stellen dabei die schwerwiegendsten und gravierendsten Verstöße gegen strafrechtliche und soziale Normen dar (Remschmidt 2012), da die hier vollendeten Taten endgültig und unwider ruflich sind. „Bei Straftaten gegen das Leben sind Heranwachsende in der polizeilichen Kriminalstatistik von 1995–2009 mit einem Prozentsatz von etwa 8 % als Tatverdächtige vertreten, während der Anteil der Jugendlichen unter 5 % liegt und der Anteil der Kinder nicht einmal die 1 %-Grenze erreicht. Differenziert man Straftaten gegen das Leben, nehmen Heranwachsende den größten prozentualen Anteil ein, der bei Mord über 12 % liegt, bei Mord im Zusammenhang mit Raubdelikten sogar fast die 20 %-Marke erreicht und bei Mord im Zusammenhang mit Sexualdelikten die 20 %-Marke überschreitet. Bei allen übrigen vorsätzlichen Tötungen liegt der Anteil der Heranwachsenden bei rund 11 %, der Anteil der Jugendlichen zwischen 5 und 6 %.“ (Remschmidt 2012) 127 Risikofaktoren für jugendliche Tötungs delikte können ebenfalls nicht durch mo nokausale Zusammenhänge erklärt werden. Menschen sind zu komplexe Wesen, und es liegen sehr viele Einflussfaktoren vor, die an der Entstehung der Taten be teiligt sind. Es zeigen sich verschiedene Risikokonstellationen, die jugendliche Tö tungsdelikte begünstigen. Dynamisch be trachtet zeigen diese die Vulnerabilität eines Jugendlichen für die Entstehung einer Tötungshandlung an und begünstigen damit diese Deliktform (Robertz 2000). Die se vielfältigen Ursachen lassen sich in drei Kategorien unterteilen (Remschmidt 2012): • neurobiologische Faktoren, etwa eine Viel zahl von Störungen im Kindes- und Jugendalter, wie z. B. Aufmerksamkeits defizit-/Hyperaktivitätsstörung, Intelli genzmangel oder Temperamentsakzentu ierung; • psychosoziale und soziale Faktoren wie z. B. ein kühles Familienklima, Miss brauchserfahrungen oder Erfahrungen von Vernachlässigung; • situative Faktoren wie Kränkungserleb nisse und Beziehungskonflikte mit dem späteren Opfer sowie die Verfügbarkeit von Waffen (Freisleder 2010; Hawkins et al. 2000). Lempp (1977) hat eine bis zum heutigen Tag bedeutende Arbeit und Analyse jugend licher Mörder im Hinblick auf vorhandene Risikofaktoren erstellt. Er analysierte 80 Täter und kam zu dem Schluss, dass die meisten jugendlichen Mörder wie viele andere Jugendliche auch sind und ein spezi fischer Typus des jugendlichen Tötungsde linquenten nicht existiert (Lempp 1997). Sein herausgearbeiteter Tätertypus beinhal tet Hoffmann, Roshdi: Amok und andere Formen schwerer Gewalt. ISBN: 978-3-7945-2881-3. © Schattauer GmbH
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