8 Minden Mindener Tageblatt Nr. 284 · Samstag, 5. Dezember 2015 Über das bewegende Schicksal der „geraubten Kinder“ informierte Christoph Schwarz (r.). Einer, der sich in Minden intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt hat, war ebenfalls da: Robert Kauffeld (2.v.l.) hat einer Frau geholfen, ihre Identität wiederzuerlangen. Foto: Kerstin Rickert Entführt und umerzogen Eine Ausstellung in der Bürgerhalle beleuchtet das Schicksal von Jungen und Mädchen, die deutsch werden mussten: „Geraubte Kinder“. Von Kerstin Rickert Minden (kr). Ihren Eltern entrissen, entführt, selektiert und gewaltsam umerzogen: Tausende Kinder wurden während des Zweiten Weltkriegs von den Nationalsozialisten aus besetzten Gebieten wie Polen systematisch verschleppt und zwangsgermanisiert. Viele, die als Kleinstkinder mit Gewalt „eingedeutscht“ wurden, leben noch heute unter falschem Namen in Deutschland, manche ohne es zu wissen. Andere wie Janina Kunsztowicz, die lange Zeit in Minden lebte, haben sich ihre wahre Identität mühsam zurückerkämpft und müssen mit ihrer qualvollen Geschichte leben. Auf „Erlass zur Festigung des deutschen Volkstums“ wurden unter dem Reichsführer-SS Heinrich Himmler „arisch“ aussehende, blonde und blauäugige Kinder zwecks „Eindeutschung“ entführt und ihrer Identität beraubt. In Kinderheimen des von der SS getragenen Vereins „Lebensborn“ wurden sie selektiert: Kinder, die im Sinne der nationalsozialistischen Rassenideologie als „arisch“ galten, wurden gewaltsam umerzogen, mit einer neuen Identität ausgestattet und in reichsdeutsche Familien vermittelt. Seit rund 20 Jahren versucht Christoph Schwarz, Licht in das dunkle Kapitel der Zwangsgermanisierung tausender Kinder während des Zweiten Weltkriegs zu bringen und kämpft für die Entschädigung der Opfer. 30 von ihnen hat er besucht und sich persönlich ihre leidvolle Lebensgeschichte erzählen lassen. Auch zu Janina Kunszto- Ausstellung in der Bürgerhalle ■ „Geraubte Kinder - vergessene Opfer“: In der Wanderausstellung thematisiert der Freiburger Lehrer Christoph Schwarz ein erschütterndes Kapitel deutscher Geschichte und rückt die Leidenswege von bislang wenig beachteten Opfern wicz, die seit ihrer Heirat einen anderen Nachnamen trägt und heute in Berlin lebt, hat er Kontakt aufgenommen, aber sie wollte zunächst nicht mit ihm sprechen. Inzwischen sei sie „froh, dass die Wahrheit aufgerollt wird“, so Schwarz während der Ausstellungseröffnung in Minden. Über viele Jahre habe sie ihre Biografie wie ein Geheimnis gehütet, aus Angst, anders behandelt zu werden, weil sie eine andere Geschichte habe. Einem, der sie dabei unterstützte, ihre wahre Identität wiederzubekommen, hat sie während ihrer Zeit in Minden des Nationalsozialismus in den Mittelpunkt. ■ Auch die Spuren von Tätern führen nach Minden. Bis Weihnachten gibt die Ausstellung in der Bürgerhalle des Rathauses Einblicke. auch davon erzählt. Robert Kauffeld arbeitete damals beim Jugendamt der Stadt Minden. Johanna Kunzer, wie die gebürtige Polin Janina Kunsztowicz nach ihrer Verschleppung bis 1989 zwangsweise hieß, war bei ihm als Stenotypistin beschäftigt. Die heute 82-Jährige lebte als Kind in der Obhut ihrer Tante und Pflegemutter in Posen, weil ihre leibliche Mutter arbeiten musste. Als Neunjährige wurde sie 1941 ihrer Pflegemutter entrissen, in ein Kinderheim gebracht und mittels Schlafentzug und Folter einer Gehirnwäsche unterzogen. Zur weite- ren „Eindeutschung“ wurde sie in das Lebensborn-Heim in Oberweis bei Salzburg transportiert, ihre Identität wurde ausgelöscht und sie erhielt eine neue auf den Namen Johanna Kunzer. 1944 wurde sie adoptiert, von ihrer Pflegemutter misshandelt und missbraucht. Sämtliche Versuche der leiblichen Mutter, das Mädchen mithilfe der IRO (Internationale Flüchtlingsorganisation) wiederzufinden, wurden unterbunden. „Mitten in der Nacht hat sie mich irgendwohin verfrachtet ... Meine letzte Station war Minden, da kam ich zu diesem Schulz“, erzählte die gebürtige Polin Christoph Schwarz. Es handelte sich um den Verwaltungsjuristen Dr. Erich Schulz, der im dem Lebensborn eigenen Sonderstandesamt „L“ in München die Geburtsurkunden der verschleppten Kinder gefälscht hatte – auch die von Janina Kunsztowicz. Für mehrere Jahre nahm er die junge Frau ab 1950 bei sich in Minden auf, wohl vor allem, um die Machenschaften des Vereins Lebensborn zu verschleiern. Bereits 1948 hatte er an Eides statt versichert, Johanna Kunzer stamme von reichsdeutschen Eltern. Diese Erklärung des ehemaligen Hauptsturmführers-SS aus Minden reichte dem Standesamt I in Berlin (West) auch 1964, auf Veranlassung des Regierungspräsidiums Detmold die falsche Identität der Johanna Kunzer zu bestätigen und zu beurkunden. Erst in den Achtzigerjahren fand Janina Kunsztowicz den Mut, mit Unterstützung von Robert Kauffeld um ihre rechtmäßige Identität zu kämpfen.
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