6 Region Bieler Tagblatt Dienstag, 01.03.2016 Die SVP kann auch im Seeland nicht überzeugen «Das Feuer hat auch auf das Land übergegriffen» Das Projekt hatte von Anfang an einen schweren Stand Die Durchsetzungsinitiative der SVP sei hauptsächlich wegen der starken Kampagne aus der Zivilgesellschaft gescheitert, sagt Politologe Lukas Golder. Aber auch die FDP-Wähler hätten eine entscheidende Rolle gespielt. Biel Nach der NeumarktplatzAbstimmung kommt von bürgerlicher Seite Kritik am Bieler Gemeinderat. Dieser hätte die Argumente der Gegner früher berücksichtigen sollen. Abstimmung Im Seeland hat der Wind gedreht: Wurde 2010 die Ausschaffungsinitiative noch mit wuchtigen 60,7 Prozent befürwortet, stimmten nun 57,9 Prozent gegen die Durchsetzungsinitiative. Während etwa Leubringen-Magglingen die Initiative deutlich verwarf, sind ländliche Gemeinden wie Hermrigen und Treiten nach wie vor auf SVP-Kurs. Andrea Butorin und Jacqueline Lipp Die Durchsetzungsinitiative (DSI) der SVP ist am Sonntag klar abgelehnt worden. Vor allem in den Städten hatte das Anliegen einen schweren Stand. Doch im Seeland verzeichnete nicht Biel die höchste Ablehnung, sondern Leubringen-Magglingen. Die Stimmberechtigten verwarfen die Vorlage dort mit 72,2 Prozent. Gemeindepräsidentin Madeleine Deckert hat erwartet, dass die DSI in Leubringen-Magglingen scheitert. Für das deutliche Nein gibt es laut der parteilosen Gemeindepräsidentin mehrere Gründe. «Als stadtnahe Gemeinde stimmen wir tendenziell eher städtisch ab. Zudem herrscht durch die Zweisprachigkeit eine Toleranz und Offenheit. Nicht zuletzt haben sich die Einwohner gut informiert und deshalb so entschieden.» Ebenfalls über 70 Prozent Nein-Stimmen gab es in Ligerz. Gemeindepräsident Andreas Fiechter ist nicht überrascht. «In Ligerz herrscht grundsätzlich ein liberaler Geist. Deshalb habe ich ein Nein erwartet, allerdings nicht in diesem Ausmass.» Ligerz hat nach Ried die höchste Stimmbeteiligung verzeichnet (siehe Infobox). Das freut Andreas Fiechter. «Politisch sind die Ligerzer sehr interessiert, auch am Dorfleben. Es ist sehr erfreulich, dass fast drei von vier Stimmberechtigten an die Urne sind.» dent Andreas Fiechter. «Ich denke nicht, dass dies einen enormen Einfluss hatte. Aber in Ligerz leben auch viele Wirtschaftsleute aus der Industrie, für die der Aspekt der ausländischen Arbeitskräfte womöglich eine Rolle gespielt hat.» Paul Möri vermutet weiter, dass das Stimmverhalten aufgrund seiner These bezüglich der landwirtschaftlichen Hilfskräfte aus dem Ausland in der «Gemüse-Ecke» des Seelands anders aussieht als etwa in Hermrigen. Diese Aussage bestätigt sich zwar nach einem Blick nach Siselen, Ins, Gals oder Gampelen, nicht aber, wenn man nach Brüttelen, Finsterhennen oder Treiten schaut. Letzteres weist nach Hermrigen gar den zweithöchsten Ja-Anteil des Seelands auf. Im Hinblick auf die zahlreichen ausländischen Landwirtschafts-Angestellten sei dieses klare Resultat durchaus überraschend, sagt der Treitener Gemeindepräsident Matthias Schumacher (parteilos). Trotzdem rechnete er aufgrund der ländlich geprägten Bevölkerungsstruktur mit einer Zustimmung zur Initiative, wenn auch nicht mit einer derart klaren. Der Treitener Gemeinderat ist wie in Hermrigen parteilos, im Dorf existiert allerdings eine SVPSektion, die gemäss Schumacher nicht sonderlich aktiv ist. «Trotzdem sympathisieren bei uns viele mit den Positionen der SVP.» Wie stimmte Bangerten? Den grössten Anteil an Ja-Stimmen erhielt die Durchsetzungsinitiative im Seeland in der Gemeinde Hermrigen. 61,1 Prozent oder 91 Personen stimmten der Initiative zu – für Gemeindepräsident Paul Möri keine Überraschung. «Unsere Bevölkerung ist ziemlich SVP-treu», sagt er. Das liege an der verhältnismässig grossen Anzahl an Landwirten. Möri sagt, das SVP-linientreue Wahlverhalten ziehe sich wie ein roter Faden durch Hermrigen. Tatsächlich: Bereits vor sechs Jahren scherte die Gemeinde mit 81,8 Prozent Ja-Stimmen zur Ausschaffungsinitiative obenaus – nur in Bangerten lag der Ja-Anteil noch höher. Die Hermriger Bevölkerung sei gegenüber Ausländerfragen generell nicht sehr offen eingestellt, sagt Möri weiter. Dies, obwohl der Ausländeranteil im Ort sehr gering sei. Ein möglicher Faktor könne der geringe freie Wohnraum sein: In Hermrigen lebten fast ausnahmslos Wohneigentümer und praktisch keine Mieter. «Vielleicht ist auch deshalb von einer SP-Opposition im Dorf nichts zu spüren.» Im Hermriger Gemeinderat spielt die Parteizugehörigkeit allerdings keine Rolle: Nur ein einziger Gemeinderat zähle sich zur BDP, die anderen seien wie Möri selbst parteilos. «Ob jemand aber ein Parteibuch besitzt, entzieht sich meiner Kenntnis.» Vor sechs Jahren stach die Gemeinde Bangerten besonders ins Auge: Mit rekordverdächtig hohen 95,9 Prozent stimmten die Bangerter der Ausschaffungsinitiative zu – abgestimmt haben damals 73 Personen. Heute existiert Bangerten nicht mehr als autonome Gemeinde; seit Anfang Jahr ist es Teil der Grossgemeinde Rapperswil. Und Rapperswil, welches 2010 die Ausschaffungsinitiative mit 58,9 Prozent ebenfalls annahm, sagte diesmal Nein. Allerdings nur knapp: 51,4 Prozent der Rapperswiler lehnten die DSI ab. Für Gemeindeschreiberin Sandra Guggisberg ist das keine Überraschung: «Die Rapperswiler stimmen meistens wie der nationale Durchschnitt.» Wie die Bangerter dieses Mal gestimmt haben, lässt sich nicht eruieren, denn aufgrund des Stimmgeheimnisses wird in Rapperswil nicht erhoben, wie die einzelnen Dörfer stimmen oder wählen. Sandra Kuster, frühere Bangerter Gemeindepräsidentin und heutige Gemeinderätin von Rapperswil (parteilos), kann das Abstimmungsverhalten der Bangerter nicht einschätzen. «Früher hat man gesehen, wer an die Urne gegangen ist, heute weiss man nicht, wer überhaupt noch abstimmt.» Möglicherweise sei die Stimmbeteiligung nun etwas tiefer, schliesslich gebe es in Bangerten kein Stimmlokal mehr. Gemäss Kuster war die DSI im Dorf kein Thema, und auch Guggisberg kann nur spekulieren, weshalb Rapperswil diesmal gegen die SVP gestimmt hat. Der Gemeinderat sei mit vier SVP-, drei VGP(Vereinigung Gemeindepolitik; eher Mitte-Links einzuordnen), einem SP- sowie einem parteilosen Sitz ausgeglichen besetzt. Ob die wachsende Gemeindegrösse sowie die Abnahme an Landwirtschaftsbetrieben einen Einfluss haben, sei höchstens als Spekulation zu betrachten, schliesst Guggisberg. Die Frage, was Hermrigen etwa von Ligerz unterscheide, in dem die DSI mit 70,7 Prozent bachab geschickt wurde, beantwortet Paul Möri mit der unterschiedlichen Ausprägung der Landwirtschaft: So seien die Ligerzer Rebbauern viel stärker auf ausländische Hilfskräfte angewiesen als die Hermriger Bauern, von denen kein einziger Angestellte beschäftige. Diese Vermutung bezweifelt jedoch der Ligerzer Gemeindepräsi- Selzach Anteil Ja-Stimmen bei der Durchsetzungsinitiative Treiten: Ja trotz Gemüsebau «Bevölkerung ist SVP-treu» Bauern versus Winzer? Die DSI im Vergleich mit der Ausschaffungsinitiative < 30 30-35 35-40 40-45 45-50 50-60 Bettlach 60-70 «Durch die Zweisprachigkeit herrscht Toleranz und Offenheit.» > 70 Grenchen Lengnau Pieterlen Arch Meinisberg Safnern Leubringen/ Magglingen Biel TwannTüscherz Madeleine Deckert, Gemeindepräsidentin LeubringenMagglingen Schwadernau Ipsach Aegerten Studen Port Bellmund SutzLattrigen Ligerz Mörigen Täuffelen Merzligen Hermrigen Büetigen Schnottwil Biezwil Diessbach Wengi Lyss Kappelen Bühl Oberwil Dotzigen Worben Jens Epsach Büren Scheuren Brügg Nidau Rüti Meienried Orpund Grossaffoltern Rapperswil Hagneck Walperswil Gals Aarberg Lüscherz Erlach Bargen Siselen Vinelz Schüpfen Seedorf Brüttelen Finsterhennen Tschugg Leuzigen Kallnach Gampelen Treiten Meikirch Radelfingen Ins Fräschels Müntschemier Kerzers Ried b. Kerzers Selzach Anteil Ja-Stimmen bei der Ausschaffungsinitiative Bettlach < 30 30-35 35-40 40-45 45-50 50-60 60-70 > 70 Grenchen Lengnau Pieterlen Arch Meinisberg Safnern Leubringen/ Magglingen Biel TwannTüscherz Schwadernau Ipsach Aegerten Studen Port Bellmund SutzLattrigen Ligerz Mörigen Täuffelen Worben Jens Merzligen Hermrigen Epsach Büren Scheuren Brügg Nidau Bühl Rüti Meienried Orpund Oberwil Dotzigen Büetigen Schnottwil Biezwil Diessbach Wengi Lyss Kappelen Grossaffoltern Rapperswil Hagneck Walperswil Gals Aarberg Lüscherz Erlach Bargen Siselen Vinelz Schüpfen Seedorf Brüttelen Finsterhennen Tschugg Kallnach Gampelen Treiten Radelfingen Ins Fräschels Müntschemier Kerzers Ried b. Kerzers Grafik: BT/ml Meikirch Leuzigen 7 Region Bieler Tagblatt Dienstag, 01.03.2016 Lukas Golder, die Wähler im Seeland haben die Ausschaffungsinitiative 2010 deutlich angenommen. Die Durchsetzungsinitiative vom Sonntag hingegen hatte keine Chance. Wieso? Lukas Golder: Unsere Vorumfragen haben gezeigt, dass das Anliegen am Anfang sehr viele Sympathien erfuhr, aber der Gegenkampagne ist es gelungen, die Detailprobleme der Umsetzung erfolgreich zu attackieren. Gerade in der deutschsprachigen Schweiz haben wir diesen Wandel beobachtet. Man kann sogar von einem Bumerang sprechen. Inwiefern? Lange hatte man das Gefühl, in den Kernthemen der SVP gelinge es den linken und bürgerlichen Parteien nicht, mit abstrakten Argumenten gegen die emotionalisierte Politik der Volkspartei anzukommen. Denn die SVP prägte die Einstellung der Bevölkerung in diesen Themen entscheidend mit. Nun hat man ein Gegenrezept gefunden. Nicht nur die linken, sondern vor allem die bürgerlich-konservativen und Mitte-Kreise haben jetzt gesagt: Es ist genug. Die SVP kann nicht beliebig oft immer noch eine Schippe drauflegen. Was war ausschlaggebend für diese Wende? Auf den sozialen Medien fand eine starke Bewegung aus der Zivilgesellschaft statt. Rechtsprofessoren, aber auch Künstler und Junge haben mit abstrakten Argumenten wie Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte eine emotionale Debatte angestossen und so einen Show-Down-Situation geschaffen. Die Botschaft war: Hier geht es um die Zukunft der Schweiz, um die Frage, ob wir in einer SVP-Schweiz leben wollen oder nicht. Auch die Medien haben vehement gesagt, dass die Durchsetzungsinitiative eine Schlüsselfrage sei. Und dieses Feuer hat auch aufs Land übergegriffen. Aber die sozialen Medien verbindet man eher mit urbanen, jungen Menschen als mit ländlichen Gegenden. Ja, aber auch die aktive, beruflich integrierte Gesellschaft auf dem Land bewegt sich auf diesen Kanälen. Zudem hat die Mobilisierung über die sozialen Medien hinaus flächendeckend Kreise gezogen. Und gerade auch in Gegenden, wo die FDP oder die CVP stark ist, fand dieser Wandel statt. Das Seeland entspricht diesem Kernmuster. Die FDP-Wähler haben im Seeland also eine wichtige Rolle gespielt? Ja. Wo früher ein guter Teil der klassischen FDP-Wähler eher SVP-Positionen zugestimmt hat, ist es der FDP diesmal gelungen, ihre Wähler von ihrer eigenen Position zu überzeugen, aber vor allem auch, sie an die Urne zu bewegen. Das hat mit zur Rekordmobilisierung geführt. Der sonst oft zitierte StadtLand-Graben war also weniger stark? Er ist immer noch vorhanden. Gerade im Berner Oberland oder in der Innerschweiz, wo die nächste grössere Stadt weit entfernt ist, haben viele Gemeinden Ja gestimmt. Sobald man aber im weitesten Sinne von der Agglomeration spricht, ist diese Kampagne aus der Zivilgesellschaft eingefahren. Das ist positiv: Es dient der politischen Kultur des Landes, dass sich eine Bewegung aus der Zivilgesellschaft entwickelt hat. Sie sprechen von einem Kernmuster. Wird das die zukünftigen Debatten verändern? Die erwähnte Kombination von Argument und Emotion wird in Zukunft der Schlüssel jeder Kampagne sein. Wenn ein Thema das Potenzial hat, so intensiv diskutiert zu werden, verlaufen zukünftige Debatten wahrscheinlich ähnlich. Welche Themen das sind, muss sich noch weisen. Sicher ist aber, dass über die sozialen Medien besonders auch junge, vielleicht eher apolitische Menschen, erreicht werden. Kann man aus dem Resultat schliessen, dass die SVP in Zukunft an Boden verliert? Nein, auf keinen Fall. Die SVP ist gerade in ländlichen Gegenden nach wie vor für viele die attraktivste Partei. Und die Jungen sind heute tendenziell traditioneller und – was untypisch ist – auch etwas konservativer eingestellt, das spricht für die SVP. In Bezug auf die Wählerstärke und das Wählerpotenzial ist die Volkspartei also weiterhin auf einem guten Stand. Und sie hat auch immer noch die Organisations- und Finanzkraft, um Initiativen erfolgreich durchzubringen. Dann erwarten Sie auch keine Trendwende in Sachen Ausländerfragen? Nur insofern, dass sich die SVP in Zukunft überlegen muss, mit welchen Themen sie Initiativen lanciert. Denn nun hat sie erlebt, dass ihr das auch schaden kann. Momentan ist der Schwung der SVP, die ständig auf der Erfolgswelle reitet und der niemand etwas anhaben kann, gebrochen. Interview: Jacqueline Lipp Für die Einen ist es eine Schande, für die Anderen ein Grund zur Freude: Die Bieler haben am Sonntag der Neugestaltung von Neumarkt- und Walkeplatz eine Abfuhr erteilt. Mit 50,6 Prozent — oder anders ausgedrückt mit 189 Stimmen Unterschied — kam dieses Nein zwar äusserst knapp zustande. Doch es bleibt dabei: Das Projekt ist vom Tisch, der Neumarktplatz bleibt die Brache, die er seit der Aufhebung der Parkplätze Anfang 2013 ist. Anders als noch bei der Abstimmung zur Neugestaltung des Bahnhofplatzes im letzten Jahr kann diesmal niemand behaupten, der Abstimmungskampf habe nicht stattgefunden. Sowohl das Referendumskomitee, das die Abstimmung überhaupt erst wollte, wie auch die Befürworter (aus dem linken Lager) waren auf allen Kanälen aktiv. Auch nach dem Nein: Referendums-Komitee-Mitglied und FDP-Stadtrat Leonhard Cadetg schrieb am Sonntagnachmittag im sozialen Netzwerk Twitter, das Abstimmungsresultat sei eine Niederlage für den Gemeinderat. Von Anfang an Gegner Cadetg steht auch ausserhalb des Internets zu dieser Aussage: «Ja, dieses Nein ist die Schuld des Gemeinderats», sagt der FDP-Politiker gegenüber dem BT. Die Regierung, die diese Umgestaltung schliesslich wollte, habe jene Stimmenden, die schon früh Bedenken angemeldet hatten, zu wenig in das Projekt miteinbezogen. «Es reicht nicht, wenn es von Seiten des Gemeinderats platt heisst, es komme gut.» Klar sei, dass es von Anfang an Bedenken gegen das Projekt gegeben habe. Da es derart vielschichtig war, wurden besonders viele Interessen tangiert. Diese kritischen Stimmen seien nicht einfach verschwunden. Knapp im Stadtrat Tatsächlich stand die Umgestaltung des Neumarktplatzes rückblickend unter keinem guten Stern: Im Mai 2013 hatte der Stadtrat über den Projektierungskredit von 590 000 Franken zu bestimmen. In dieser Diskussion lief der Graben bereits den üblichen Parteilinien entlang. Das Ja zum Kredit kam dabei mit 27 Ja- zu 26 Nein-Stimmen extrem knapp zustande. Den Ausschlag gaben die Grünliberalen, die sich den Linken anschlossen, und eine Stimme eines Vertreters der EVP. Deutlicher war das Ja zur Umgestaltung im letzten August, als 30 Stadträte dem Ausführungskredit über 4,8 Millionen Franken zustimmten und nur noch 19 Nein sagten. Kurz nach der Niederlage formierte sich aber das Referendumskomitee aus Vertretern der bürgerlichen Parteien. «Es hätte den Gemeinderat nichts gekostet, mit den Gegnern zu reden, bevor er mit dem fertigen Projekt in den Stadtrat kam», sagt Leonhard Cadetg. Das Projekt sei, mit der Umgestaltung von zwei Plätzen, Strassensanierungen und Bäumepflanzen, kompliziert. «Vielleicht hätte man auch eine Staffelung der Arbeiten in Betracht ziehen können.» Verkehr als Reizthema «Es ist falsch, in einer direkten Demokratie nach jeder Abstimmung den Sündenbock zu suchen», stellt der mit den Vorwürfen konfrontierte Stadtpräsident Erich Fehr (SP) klar. Nach den Gründen für ein Abstimmungsresultat zu fragen, ist seiner Meinung nach Glaskugellesen. «Etwas anderes ist es, nach den Ursachen für ein Resultat zu suchen», so Fehr. Er selber ortet diese beim gescheiterten Neumarktplatz-Projekt klar in der Verkehrsproblematik: auch wenn in Biel traditionell eher links abgestimmt und gewählt wird, so sei die Stadt wohl doch «autophiler» als andere. Das habe vielleicht damit zu tun, dass mit der GM hier eine Autofabrik ihren Standort hatte, andererseits aber auch mit dem Bezug zum ländlichen Berner Jura, wo das Auto sowieso einen hohen Stellenwert habe. Wie sehr das Thema Verkehr die Stimmenden mobilisiert, habe sich schliesslich auch bei der Abstimmung zum Bahnhofplatz gezeigt. Überladenes Projekt Hier sind sich die zwei Lager einig: Die Frage nach der Verkehrsführung habe sicher viel zum Nein beigetragen, sagt Leonhard Cadetg. Das Projekt sei auch in dieser Hinsicht überladen gewesen. Zweitens spielten, wie auch in den Abstimmungen im Stadtrat, die Kosten eine Rolle. «Dass der Gemeinderat immer betont hat, die Gelder dafür kämen auch vom Kanton und vom Bund, hat wenig gebracht. 4,8 Millionen Franken sind auch viel Geld, wenn wir nicht alleine dafür aufkommen.» Zudem habe es offenbar keinen Eindruck gemacht, dass die Strassen rund um den Platz sowieso saniert werden müssen. Zweimal Geld, zweimal Platz Die Abstimmung zum Neumarktplatz war bereits die Vierte des Gemeinderats in der laufenden Legislatur, die an der Urne nicht durchkam – ist also nicht doch die Regierung gescheitert? Erich Fehr weist den Zusammenhang zwischen dem aktuellen Gemeinderat und den vier Abstimmungen zurück: «Das sind zwei unterschiedliche Themenbereiche. Einerseits die zwei verlorenen Budget-, andererseits die zwei verlorenen Plätze-Abstimmungen», sagt er. Dass die Budgets 2014 und 2016 bachab geschickt worden sind, sei Teil eines mehrjährigen Kampfes für die Sanierung der Stadtfinanzen. Bereits Anfang 1990er und in den 1970er-Jahren — ebenfalls in wirtschaftlich schwierigen Zeiten — seien Budgets am Stimmvolk gescheitert. Thema anders angehen Etwas anders sehe es aber bei den zwei Plätzen aus, da hier der Verkehr im Vordergrund stand. «Meine persönliche Meinung ist, dass wir diese Thematik in Zukunft anders angehen müssen», so der Stadtpräsident. Die Kostenfrage habe seiner Ansicht nach indes weder beim Bahnhof- noch beim Neumarktplatz eine entscheidende Rolle gespielt. «Das war nebenbei zwar auch ein Argument der Gegner, mir wurde es im persönlichen Kontakt mit den Bielern aber nie genannt», sagt Fehr. Tatsächlich ist fragwürdig, inwiefern sich die Stimmenden vom Kredit trotz finanziell schwierigen Zeiten haben abschrecken lassen. Der Sanierung des Krematoriums haben sie im September 2014 jedenfalls zugestimmt. Dieser war aber mit 9,5 Millionen Franken fast doppelt so hoch wie jener für den Neumarktplatz, und trotzdem haben ihn mit 82,1 Prozent rekordverdächtig viele angenommen. Eva Berger Frage der Woche zum Neumarktplatz: bielertagblatt.ch/mitreden Lukas Golder ist Politik- und Medienwissenschafter beim Forschungsinstitut gfs.bern. zvg Die Stimmbeteiligung im Seeland • Ried ist mit einer Stimmbeteiligung von 75,7 Prozent der Seeländer Spitzenreiter. 530 der 700 Stimmberechtigten haben hier abgestimmt. • Auf dem zweiten Rang liegt Ligerz (72,2 Prozent), an dritter Stelle Fräschels (71,3 Prozent). • Die hohe Stimmbeteiligung der Freiburger Gemeinden könnte daran liegen, dass dort gleichzeitig Wahlen stattgefunden haben. • Die tiefste Stimmbeteiligung im Seeland wurde mit 50,2 Prozent in Pieterlen registriert, gefolgt von Brügg (51,7 Prozent) und Biel (53,1 Prozent). • Im Durchschnitt lag die Seeländer Stimmbeteiligung bei 64,2 Prozent. ab/jl Das Interesse an der Abstimmung über die Neugestaltung des Neumarktplatzes war gross – sowohl im Vorfeld wie auch bei der Resultatsverkündung am Sonntag. Matthias Käser
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