Die SVP kann auch im Seeland nicht überzeugen

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Region
Bieler Tagblatt Dienstag, 01.03.2016
Die SVP kann auch im Seeland nicht überzeugen
«Das Feuer hat auch
auf das Land übergegriffen»
Das Projekt hatte von Anfang an
einen schweren Stand
Die Durchsetzungsinitiative
der SVP sei hauptsächlich
wegen der starken Kampagne
aus der Zivilgesellschaft
gescheitert, sagt Politologe
Lukas Golder. Aber auch die
FDP-Wähler hätten eine
entscheidende Rolle gespielt.
Biel Nach der
NeumarktplatzAbstimmung kommt
von bürgerlicher Seite
Kritik am Bieler
Gemeinderat. Dieser
hätte die Argumente
der Gegner früher
berücksichtigen sollen.
Abstimmung Im Seeland hat der Wind gedreht: Wurde 2010 die Ausschaffungsinitiative noch mit wuchtigen 60,7 Prozent befürwortet, stimmten nun 57,9 Prozent gegen die
Durchsetzungsinitiative. Während etwa Leubringen-Magglingen die Initiative deutlich verwarf, sind ländliche Gemeinden wie Hermrigen und Treiten nach wie vor auf SVP-Kurs.
Andrea Butorin und
Jacqueline Lipp
Die Durchsetzungsinitiative (DSI)
der SVP ist am Sonntag klar abgelehnt worden. Vor allem in den
Städten hatte das Anliegen einen
schweren Stand. Doch im Seeland
verzeichnete nicht Biel die
höchste Ablehnung, sondern Leubringen-Magglingen. Die Stimmberechtigten verwarfen die Vorlage dort mit 72,2 Prozent. Gemeindepräsidentin Madeleine
Deckert hat erwartet, dass die DSI
in Leubringen-Magglingen scheitert. Für das deutliche Nein gibt es
laut der parteilosen Gemeindepräsidentin mehrere Gründe. «Als
stadtnahe Gemeinde stimmen wir
tendenziell eher städtisch ab. Zudem herrscht durch die Zweisprachigkeit eine Toleranz und Offenheit. Nicht zuletzt haben sich die
Einwohner gut informiert und
deshalb so entschieden.»
Ebenfalls über 70 Prozent
Nein-Stimmen gab es in Ligerz.
Gemeindepräsident
Andreas
Fiechter ist nicht überrascht. «In
Ligerz herrscht grundsätzlich ein
liberaler Geist. Deshalb habe ich
ein Nein erwartet, allerdings
nicht in diesem Ausmass.» Ligerz
hat nach Ried die höchste Stimmbeteiligung verzeichnet (siehe
Infobox). Das freut Andreas
Fiechter. «Politisch sind die Ligerzer sehr interessiert, auch am
Dorfleben. Es ist sehr erfreulich,
dass fast drei von vier Stimmberechtigten an die Urne sind.»
dent Andreas Fiechter. «Ich denke
nicht, dass dies einen enormen
Einfluss hatte. Aber in Ligerz leben
auch viele Wirtschaftsleute aus der
Industrie, für die der Aspekt der
ausländischen Arbeitskräfte womöglich eine Rolle gespielt hat.»
Paul Möri vermutet weiter, dass
das Stimmverhalten aufgrund seiner These bezüglich der landwirtschaftlichen Hilfskräfte aus dem
Ausland in der «Gemüse-Ecke»
des Seelands anders aussieht als
etwa in Hermrigen. Diese Aussage bestätigt sich zwar nach
einem Blick nach Siselen, Ins,
Gals oder Gampelen, nicht aber,
wenn man nach Brüttelen, Finsterhennen oder Treiten schaut.
Letzteres weist nach Hermrigen gar den zweithöchsten Ja-Anteil des Seelands auf. Im Hinblick
auf die zahlreichen ausländischen
Landwirtschafts-Angestellten sei
dieses klare Resultat durchaus
überraschend, sagt der Treitener
Gemeindepräsident Matthias
Schumacher (parteilos). Trotzdem rechnete er aufgrund der
ländlich geprägten Bevölkerungsstruktur mit einer Zustimmung
zur Initiative, wenn auch nicht
mit einer derart klaren.
Der Treitener Gemeinderat ist
wie in Hermrigen parteilos, im
Dorf existiert allerdings eine SVPSektion, die gemäss Schumacher
nicht sonderlich aktiv ist. «Trotzdem sympathisieren bei uns viele
mit den Positionen der SVP.»
Wie stimmte Bangerten?
Den grössten Anteil an Ja-Stimmen erhielt die Durchsetzungsinitiative im Seeland in der Gemeinde Hermrigen. 61,1 Prozent
oder 91 Personen stimmten der
Initiative zu – für Gemeindepräsident Paul Möri keine Überraschung. «Unsere Bevölkerung ist
ziemlich SVP-treu», sagt er. Das
liege an der verhältnismässig
grossen Anzahl an Landwirten.
Möri sagt, das SVP-linientreue
Wahlverhalten ziehe sich wie ein
roter Faden durch Hermrigen.
Tatsächlich: Bereits vor sechs
Jahren scherte die Gemeinde mit
81,8 Prozent Ja-Stimmen zur
Ausschaffungsinitiative obenaus
– nur in Bangerten lag der Ja-Anteil noch höher. Die Hermriger
Bevölkerung sei gegenüber Ausländerfragen generell nicht sehr
offen eingestellt, sagt Möri weiter.
Dies, obwohl der Ausländeranteil
im Ort sehr gering sei.
Ein möglicher Faktor könne der
geringe freie Wohnraum sein: In
Hermrigen lebten fast ausnahmslos Wohneigentümer und praktisch keine Mieter. «Vielleicht ist
auch deshalb von einer SP-Opposition im Dorf nichts zu spüren.»
Im Hermriger Gemeinderat
spielt die Parteizugehörigkeit allerdings keine Rolle: Nur ein einziger Gemeinderat zähle sich zur
BDP, die anderen seien wie Möri
selbst parteilos. «Ob jemand aber
ein Parteibuch besitzt, entzieht
sich meiner Kenntnis.»
Vor sechs Jahren stach die Gemeinde Bangerten besonders ins
Auge: Mit rekordverdächtig hohen 95,9 Prozent stimmten die
Bangerter der Ausschaffungsinitiative zu – abgestimmt haben damals 73 Personen. Heute existiert
Bangerten nicht mehr als autonome Gemeinde; seit Anfang Jahr
ist es Teil der Grossgemeinde Rapperswil. Und Rapperswil, welches
2010 die Ausschaffungsinitiative
mit 58,9 Prozent ebenfalls annahm, sagte diesmal Nein. Allerdings nur knapp: 51,4 Prozent der
Rapperswiler lehnten die DSI ab.
Für
Gemeindeschreiberin
Sandra Guggisberg ist das keine
Überraschung: «Die Rapperswiler stimmen meistens wie der nationale Durchschnitt.» Wie die
Bangerter dieses Mal gestimmt
haben, lässt sich nicht eruieren,
denn aufgrund des Stimmgeheimnisses wird in Rapperswil
nicht erhoben, wie die einzelnen
Dörfer stimmen oder wählen.
Sandra Kuster, frühere Bangerter Gemeindepräsidentin und
heutige Gemeinderätin von Rapperswil (parteilos), kann das Abstimmungsverhalten der Bangerter nicht einschätzen. «Früher hat
man gesehen, wer an die Urne gegangen ist, heute weiss man nicht,
wer überhaupt noch abstimmt.»
Möglicherweise sei die Stimmbeteiligung nun etwas tiefer,
schliesslich gebe es in Bangerten
kein Stimmlokal mehr.
Gemäss Kuster war die DSI im
Dorf kein Thema, und auch Guggisberg kann nur spekulieren, weshalb Rapperswil diesmal gegen die
SVP gestimmt hat. Der Gemeinderat sei mit vier SVP-, drei VGP(Vereinigung Gemeindepolitik;
eher Mitte-Links einzuordnen),
einem SP- sowie einem parteilosen
Sitz ausgeglichen besetzt. Ob die
wachsende Gemeindegrösse sowie
die Abnahme an Landwirtschaftsbetrieben einen Einfluss haben,
sei höchstens als Spekulation zu
betrachten, schliesst Guggisberg.
Die Frage, was Hermrigen etwa
von Ligerz unterscheide, in dem
die DSI mit 70,7 Prozent bachab
geschickt wurde, beantwortet Paul
Möri mit der unterschiedlichen
Ausprägung der Landwirtschaft:
So seien die Ligerzer Rebbauern
viel stärker auf ausländische Hilfskräfte angewiesen als die Hermriger Bauern, von denen kein einziger Angestellte beschäftige.
Diese Vermutung bezweifelt jedoch der Ligerzer Gemeindepräsi-
Selzach
Anteil Ja-Stimmen bei der Durchsetzungsinitiative
Treiten: Ja trotz Gemüsebau
«Bevölkerung ist SVP-treu»
Bauern versus Winzer?
Die DSI im Vergleich mit der Ausschaffungsinitiative
< 30
30-35
35-40
40-45
45-50
50-60
Bettlach
60-70
«Durch die
Zweisprachigkeit herrscht
Toleranz und
Offenheit.»
> 70
Grenchen
Lengnau
Pieterlen
Arch
Meinisberg
Safnern
Leubringen/
Magglingen
Biel
TwannTüscherz
Madeleine Deckert,
Gemeindepräsidentin LeubringenMagglingen
Schwadernau
Ipsach
Aegerten
Studen
Port
Bellmund
SutzLattrigen
Ligerz
Mörigen
Täuffelen
Merzligen
Hermrigen
Büetigen
Schnottwil Biezwil
Diessbach
Wengi
Lyss
Kappelen
Bühl
Oberwil
Dotzigen
Worben
Jens
Epsach
Büren
Scheuren
Brügg
Nidau
Rüti
Meienried
Orpund
Grossaffoltern
Rapperswil
Hagneck
Walperswil
Gals
Aarberg
Lüscherz
Erlach
Bargen
Siselen
Vinelz
Schüpfen
Seedorf
Brüttelen
Finsterhennen
Tschugg
Leuzigen
Kallnach
Gampelen
Treiten
Meikirch
Radelfingen
Ins
Fräschels
Müntschemier
Kerzers
Ried b.
Kerzers
Selzach
Anteil Ja-Stimmen bei der Ausschaffungsinitiative
Bettlach
< 30
30-35
35-40
40-45
45-50
50-60
60-70
> 70
Grenchen
Lengnau
Pieterlen
Arch
Meinisberg
Safnern
Leubringen/
Magglingen
Biel
TwannTüscherz
Schwadernau
Ipsach
Aegerten
Studen
Port
Bellmund
SutzLattrigen
Ligerz
Mörigen
Täuffelen
Worben
Jens
Merzligen
Hermrigen
Epsach
Büren
Scheuren
Brügg
Nidau
Bühl
Rüti
Meienried
Orpund
Oberwil
Dotzigen
Büetigen
Schnottwil Biezwil
Diessbach
Wengi
Lyss
Kappelen
Grossaffoltern
Rapperswil
Hagneck
Walperswil
Gals
Aarberg
Lüscherz
Erlach
Bargen
Siselen
Vinelz
Schüpfen
Seedorf
Brüttelen
Finsterhennen
Tschugg
Kallnach
Gampelen
Treiten
Radelfingen
Ins
Fräschels
Müntschemier
Kerzers
Ried b.
Kerzers
Grafik: BT/ml
Meikirch
Leuzigen
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Bieler Tagblatt Dienstag, 01.03.2016
Lukas Golder, die Wähler im
Seeland haben die Ausschaffungsinitiative 2010 deutlich
angenommen. Die Durchsetzungsinitiative vom Sonntag
hingegen hatte keine Chance.
Wieso?
Lukas Golder: Unsere Vorumfragen haben gezeigt, dass das Anliegen am Anfang sehr viele Sympathien erfuhr, aber der Gegenkampagne ist es gelungen, die
Detailprobleme der Umsetzung
erfolgreich zu attackieren. Gerade in der deutschsprachigen
Schweiz haben wir diesen Wandel beobachtet. Man kann sogar
von einem Bumerang sprechen.
Inwiefern?
Lange hatte man das Gefühl, in
den Kernthemen der SVP gelinge
es den linken und bürgerlichen
Parteien nicht, mit abstrakten
Argumenten gegen die emotionalisierte Politik der Volkspartei
anzukommen. Denn die SVP
prägte die Einstellung der Bevölkerung in diesen Themen entscheidend mit. Nun hat man ein
Gegenrezept gefunden. Nicht
nur die linken, sondern vor allem
die bürgerlich-konservativen
und Mitte-Kreise haben jetzt gesagt: Es ist genug. Die SVP kann
nicht beliebig oft immer noch
eine Schippe drauflegen.
Was war ausschlaggebend für
diese Wende?
Auf den sozialen Medien fand
eine starke Bewegung aus der Zivilgesellschaft statt. Rechtsprofessoren, aber auch Künstler und
Junge haben mit abstrakten Argumenten wie Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte eine
emotionale Debatte angestossen
und so einen Show-Down-Situation geschaffen. Die Botschaft
war: Hier geht es um die Zukunft
der Schweiz, um die Frage, ob
wir in einer SVP-Schweiz leben
wollen oder nicht. Auch die Medien haben vehement gesagt,
dass die Durchsetzungsinitiative
eine Schlüsselfrage sei. Und dieses Feuer hat auch aufs Land
übergegriffen.
Aber die sozialen Medien verbindet man eher mit urbanen,
jungen Menschen als mit
ländlichen Gegenden.
Ja, aber auch die aktive, beruflich
integrierte Gesellschaft auf dem
Land bewegt sich auf diesen Kanälen. Zudem hat die Mobilisierung über die sozialen Medien
hinaus flächendeckend Kreise
gezogen. Und gerade auch in Gegenden, wo die FDP oder die
CVP stark ist, fand dieser Wandel
statt. Das Seeland entspricht diesem Kernmuster.
Die FDP-Wähler haben im
Seeland also eine wichtige
Rolle gespielt?
Ja. Wo früher ein guter Teil der
klassischen FDP-Wähler eher
SVP-Positionen zugestimmt hat,
ist es der FDP diesmal gelungen,
ihre Wähler von ihrer eigenen
Position zu überzeugen, aber vor
allem auch, sie an die Urne zu bewegen. Das hat mit zur Rekordmobilisierung geführt.
Der sonst oft zitierte StadtLand-Graben war also weniger stark?
Er ist immer noch vorhanden.
Gerade im Berner Oberland oder
in der Innerschweiz, wo die
nächste grössere Stadt weit entfernt ist, haben viele Gemeinden
Ja gestimmt. Sobald man aber
im weitesten Sinne von der Agglomeration spricht, ist diese
Kampagne aus der Zivilgesellschaft eingefahren. Das ist positiv: Es dient der politischen Kultur des Landes, dass sich eine Bewegung aus der Zivilgesellschaft
entwickelt hat.
Sie sprechen von einem Kernmuster. Wird das die zukünftigen Debatten verändern?
Die erwähnte Kombination von
Argument und Emotion wird in
Zukunft der Schlüssel jeder
Kampagne sein. Wenn ein
Thema das Potenzial hat, so intensiv diskutiert zu werden, verlaufen zukünftige Debatten
wahrscheinlich ähnlich. Welche
Themen das sind, muss sich noch
weisen. Sicher ist aber, dass über
die sozialen Medien besonders
auch junge, vielleicht eher apolitische Menschen, erreicht werden.
Kann man aus dem Resultat
schliessen, dass die SVP in Zukunft an Boden verliert?
Nein, auf keinen Fall. Die SVP ist
gerade in ländlichen Gegenden
nach wie vor für viele die attraktivste Partei. Und die Jungen
sind heute tendenziell traditioneller und – was untypisch ist –
auch etwas konservativer eingestellt, das spricht für die SVP. In
Bezug auf die Wählerstärke und
das Wählerpotenzial ist die
Volkspartei also weiterhin auf
einem guten Stand. Und sie hat
auch immer noch die Organisations- und Finanzkraft, um Initiativen erfolgreich durchzubringen.
Dann erwarten Sie auch keine
Trendwende in Sachen Ausländerfragen?
Nur insofern, dass sich die SVP
in Zukunft überlegen muss, mit
welchen Themen sie Initiativen
lanciert. Denn nun hat sie erlebt,
dass ihr das auch schaden kann.
Momentan ist der Schwung der
SVP, die ständig auf der Erfolgswelle reitet und der niemand etwas anhaben kann, gebrochen.
Interview: Jacqueline Lipp
Für die Einen ist es eine Schande,
für die Anderen ein Grund zur
Freude: Die Bieler haben am
Sonntag der Neugestaltung von
Neumarkt- und Walkeplatz eine
Abfuhr erteilt. Mit 50,6 Prozent —
oder anders ausgedrückt mit 189
Stimmen Unterschied — kam dieses Nein zwar äusserst knapp zustande. Doch es bleibt dabei: Das
Projekt ist vom Tisch, der Neumarktplatz bleibt die Brache, die
er seit der Aufhebung der Parkplätze Anfang 2013 ist.
Anders als noch bei der Abstimmung zur Neugestaltung des
Bahnhofplatzes im letzten Jahr
kann diesmal niemand behaupten,
der Abstimmungskampf habe
nicht stattgefunden. Sowohl das
Referendumskomitee, das die Abstimmung überhaupt erst wollte,
wie auch die Befürworter (aus dem
linken Lager) waren auf allen Kanälen aktiv. Auch nach dem Nein:
Referendums-Komitee-Mitglied
und FDP-Stadtrat Leonhard Cadetg schrieb am Sonntagnachmittag im sozialen Netzwerk Twitter,
das Abstimmungsresultat sei eine
Niederlage für den Gemeinderat.
Von Anfang an Gegner
Cadetg steht auch ausserhalb des
Internets zu dieser Aussage: «Ja,
dieses Nein ist die Schuld des Gemeinderats», sagt der FDP-Politiker gegenüber dem BT. Die Regierung, die diese Umgestaltung
schliesslich wollte, habe jene
Stimmenden, die schon früh Bedenken angemeldet hatten, zu
wenig in das Projekt miteinbezogen. «Es reicht nicht, wenn es von
Seiten des Gemeinderats platt
heisst, es komme gut.» Klar sei,
dass es von Anfang an Bedenken
gegen das Projekt gegeben habe.
Da es derart vielschichtig war,
wurden besonders viele Interessen tangiert. Diese kritischen
Stimmen seien nicht einfach verschwunden.
Knapp im Stadtrat
Tatsächlich stand die Umgestaltung des Neumarktplatzes rückblickend unter keinem guten
Stern: Im Mai 2013 hatte der
Stadtrat über den Projektierungskredit von 590 000 Franken zu bestimmen. In dieser Diskussion lief
der Graben bereits den üblichen
Parteilinien entlang. Das Ja zum
Kredit kam dabei mit 27 Ja- zu 26
Nein-Stimmen extrem knapp zustande. Den Ausschlag gaben die
Grünliberalen, die sich den Linken anschlossen, und eine Stimme
eines Vertreters der EVP.
Deutlicher war das Ja zur Umgestaltung im letzten August, als
30 Stadträte dem Ausführungskredit über 4,8 Millionen Franken
zustimmten und nur noch 19
Nein sagten. Kurz nach der Niederlage formierte sich aber das
Referendumskomitee aus Vertretern der bürgerlichen Parteien.
«Es hätte den Gemeinderat
nichts gekostet, mit den Gegnern
zu reden, bevor er mit dem fertigen Projekt in den Stadtrat kam»,
sagt Leonhard Cadetg. Das Projekt
sei, mit der Umgestaltung von
zwei Plätzen, Strassensanierungen und Bäumepflanzen, kompliziert. «Vielleicht hätte man auch
eine Staffelung der Arbeiten in Betracht ziehen können.»
Verkehr als Reizthema
«Es ist falsch, in einer direkten Demokratie nach jeder Abstimmung
den Sündenbock zu suchen», stellt
der mit den Vorwürfen konfrontierte Stadtpräsident Erich Fehr
(SP) klar. Nach den Gründen für
ein Abstimmungsresultat zu fragen, ist seiner Meinung nach Glaskugellesen. «Etwas anderes ist es,
nach den Ursachen für ein Resultat zu suchen», so Fehr.
Er selber ortet diese beim gescheiterten Neumarktplatz-Projekt klar in der Verkehrsproblematik: auch wenn in Biel traditionell eher links abgestimmt und
gewählt wird, so sei die Stadt wohl
doch «autophiler» als andere. Das
habe vielleicht damit zu tun, dass
mit der GM hier eine Autofabrik
ihren Standort hatte, andererseits
aber auch mit dem Bezug zum
ländlichen Berner Jura, wo das
Auto sowieso einen hohen Stellenwert habe. Wie sehr das
Thema Verkehr die Stimmenden
mobilisiert, habe sich schliesslich
auch bei der Abstimmung zum
Bahnhofplatz gezeigt.
Überladenes Projekt
Hier sind sich die zwei Lager einig:
Die Frage nach der Verkehrsführung habe sicher viel zum Nein
beigetragen, sagt Leonhard Cadetg. Das Projekt sei auch in dieser
Hinsicht überladen gewesen.
Zweitens spielten, wie auch in den
Abstimmungen im Stadtrat, die
Kosten eine Rolle. «Dass der Gemeinderat immer betont hat, die
Gelder dafür kämen auch vom
Kanton und vom Bund, hat wenig
gebracht. 4,8 Millionen Franken
sind auch viel Geld, wenn wir
nicht alleine dafür aufkommen.»
Zudem habe es offenbar keinen
Eindruck gemacht, dass die Strassen rund um den Platz sowieso saniert werden müssen.
Zweimal Geld, zweimal Platz
Die Abstimmung zum Neumarktplatz war bereits die Vierte des
Gemeinderats in der laufenden
Legislatur, die an der Urne nicht
durchkam – ist also nicht doch die
Regierung gescheitert? Erich Fehr
weist den Zusammenhang zwischen dem aktuellen Gemeinderat
und den vier Abstimmungen zurück: «Das sind zwei unterschiedliche Themenbereiche. Einerseits
die zwei verlorenen Budget-, andererseits die zwei verlorenen
Plätze-Abstimmungen», sagt er.
Dass die Budgets 2014 und 2016
bachab geschickt worden sind, sei
Teil eines mehrjährigen Kampfes
für die Sanierung der Stadtfinanzen. Bereits Anfang 1990er und in
den 1970er-Jahren — ebenfalls in
wirtschaftlich schwierigen Zeiten
— seien Budgets am Stimmvolk
gescheitert.
Thema anders angehen
Etwas anders sehe es aber bei den
zwei Plätzen aus, da hier der Verkehr im Vordergrund stand.
«Meine persönliche Meinung ist,
dass wir diese Thematik in Zukunft anders angehen müssen»,
so der Stadtpräsident.
Die Kostenfrage habe seiner
Ansicht nach indes weder beim
Bahnhof- noch beim Neumarktplatz eine entscheidende Rolle
gespielt. «Das war nebenbei zwar
auch ein Argument der Gegner,
mir wurde es im persönlichen
Kontakt mit den Bielern aber nie
genannt», sagt Fehr. Tatsächlich
ist fragwürdig, inwiefern sich die
Stimmenden vom Kredit trotz finanziell schwierigen Zeiten haben abschrecken lassen. Der Sanierung des Krematoriums haben
sie im September 2014 jedenfalls
zugestimmt. Dieser war aber mit
9,5 Millionen Franken fast doppelt so hoch wie jener für den
Neumarktplatz, und trotzdem haben ihn mit 82,1 Prozent rekordverdächtig viele angenommen.
Eva Berger
Frage der Woche zum Neumarktplatz:
bielertagblatt.ch/mitreden
Lukas Golder ist Politik- und
Medienwissenschafter beim
Forschungsinstitut gfs.bern. zvg
Die Stimmbeteiligung
im Seeland
• Ried ist mit einer Stimmbeteiligung von 75,7 Prozent der Seeländer Spitzenreiter. 530 der 700
Stimmberechtigten haben hier
abgestimmt.
• Auf dem zweiten Rang liegt Ligerz (72,2 Prozent), an dritter Stelle
Fräschels (71,3 Prozent).
• Die hohe Stimmbeteiligung der
Freiburger Gemeinden könnte daran liegen, dass dort gleichzeitig
Wahlen stattgefunden haben.
• Die tiefste Stimmbeteiligung im
Seeland wurde mit 50,2 Prozent
in Pieterlen registriert, gefolgt
von Brügg (51,7 Prozent) und Biel
(53,1 Prozent).
• Im Durchschnitt lag die Seeländer Stimmbeteiligung bei 64,2
Prozent. ab/jl
Das Interesse an der Abstimmung über die Neugestaltung des Neumarktplatzes war gross – sowohl im Vorfeld
wie auch bei der Resultatsverkündung am Sonntag. Matthias Käser