Virtuelle Farbrekonstruktionen gotischer Figuren des Regensburger

Friedrich Fuchs / Raoul Kaufer
Virtuelle Farbrekonstruktionen gotischer Figuren
des Regensburger Domes
Das verschollene Wissen um die
Farbigkeit der Gotik
Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu virtuellen Farbrekonstruktionen gotischer Bildwerke
aus Stein soll der marginale Hinweis sein, dass
im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit die
Gotik landläufig nach wie vor mit dem Klischee
vom „finsteren“ Mittelalter belegt ist und sich
somit die Frage nach einer möglichen ehemaligen Farbigkeit in der Regel gar nicht stellt.
Umso größer ist das Erstaunen, wenn mitunter
Beispiele von nachgewiesener gotischer Farbigkeit über die denkmalpflegerische Fachwelt hinaus Bekanntheit erlangen. Letztendlich ist dieses fehlgeleitete Bewusstsein ein Spätausläufer
bestimmter Idealvorstellungen des 19. Jahrhunderts, wonach mittelalterliche Sakralarchitektur
bevorzugt steinsichtig zu sein hatte. Die großen
Purifizierungen des 19. Jahrhunderts legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Erinnert sei etwa
an die teils radikalen Maßnahmen im Bamberger Dom, die auf Betreiben des bayerischen Königs Ludwig I. vorgenommen wurden. Die
überkommene Farbigkeit des berühmten Bamberger Reiters zum Beispiel wurde dabei als so
störend empfunden, dass alle denkbaren Mittel
gerade recht waren, um die Figur von diesem
Makel zu befreien. Falls Abwaschen und Abbürsten nicht den gewünschten Erfolg brächten,
sollte die Farbe nötigenfalls abgemeißelt werden.
Auch die Denkmalpflege des 20. Jahrhunderts war bis in die 60er Jahre hinein vielfach
von Idealvorstellungen des 19. Jahrhunderts geprägt und ging bisweilen sogar noch puristischer vor, indem wiederum die seltenen farbigen Bemalungen des 19. Jahrhunderts abgenommen wurden, um den vermeintlichen „Ursprungszustand“ freizulegen. Viele solchermaßen „entkleidete“ mittelalterliche Räume und
zahllose bis auf den Grund freigelegte Bildwerke sind das Ergebnis. Spätestens seit der Entwicklung systematischer restauratorischer Untersuchungsmethoden in den 1960er Jahren wissen wir jedoch, dass im Mittelalter ungefasste
Bildwerke die große Ausnahme waren und der
Farbigkeit sogar eine der Form nahezu gleichrangige Bedeutung beigemessen wurde.
Die restauratorische Wiederentdeckung
der gotischen Farbigkeit
Bemerkenswerterweise erfolgte die Neubewertung der Frage nach der Farbigkeit mittelalterlicher Steinbildwerke allen voran durch Denkmalpfleger der ehemaligen DDR. Besonders relevant in unserem Zusammenhang ist dabei,
dass diese Kollegen schon von Beginn an die
Notwendigkeit sahen, die Summe der restauratorisch ermittelteten Einzelbefunde zu einem
Bild zu vereinen, das heißt ehemalige farbige
Erscheinungsbilder auf dem Papier zu rekonstruieren, um damit auch diesen verschollenen
Aspekt mittelalterlicher Kunstwerke ins Bewusstsein zu rücken. Die ersten Veröffentlichungen mit Farbrekonstruktionen führten in
der Fachwelt zwar zu allgemeinem Aufhorchen,
fanden im „Westen“ aber vorerst keine weitere
Nachfolge.
Die moderne Denkmalpflege hierzulande arbeitete verstärkt an der Verfeinerung der Untersuchungsmethoden, vor allem durch eine zunehmende Ausweitung in den Bereich der Naturwissenschaft, eine Tendenz, die bis heute anhält.
Flankierend dazu wurde einer möglichst „objektiven“ Dokumentation der Befunde eine außerordentliche Bedeutung beigemessen, dies vor allem eingedenk großer Unterlassungssünden der
früheren Denkmalpflege auf diesem Gebiet. Der
Forderung nach einer möglichst strengen, objektiven Dokumentation stehen jedoch die Bemühungen um eine anschauliche Gesamtvisualisierung der Untersuchungsergebnisse, etwa mit
Hilfe einer Rekonstruktion, prinzipiell entgegen
– dies streng genommen zu Recht, denn expressis verbis setzt eine Rekonstruktion eine hundertprozentige Kenntnis des Originalzustandes
voraus, was aber bei noch so guter Befundlage
utopisch ist. Jede zusammenfassende Visualisie-
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rung einer per restauratorischer Untersuchung
ermittelten historischen Figurenfassung kann
grundsätzlich nur ein Annäherungsbild sein und
birgt notgedrungen die Gefahr einer subjektiven
Prägung. Streng genommen ist also auch der Titel des Referates nicht ganz korrekt; anstatt
„Farbrekonstruktionen“ müsste es „Approximationen“ oder dergleichen heißen.
Die anhaltende Prämisse der Objektivität bei
der Dokumentation führte dazu, dass in der offiziellen Denkmalpflege nach wie vor abstrakte
Auflistungen von Fassungsbefunden überwiegen, höchstenfalls werden schematische Konturenzeichnungen von Figuren mit entsprechender
Flächenverteilung der Farben angelegt. Der Informationsgehalt solcher Farbverteilungsskizzen ist im Vergleich zur Listenerfassung nicht
hoch genug einzuschätzen, im geistigen Auge
des erfahrenen Insiders mag sich daran vielleicht sogar eine gewisse Vorstellung vom Original entzünden können, für die meisten unserer
Zeitgenossen bleibt jedoch der ästhetische Aussagegehalt der Farbigkeit als eine wesentliche
Seinsschicht eines gotischen Bildwerks unartikuliert, und dies gerade heute in einer Zeit, die
mehr denn je von der Macht der Bilder beherrscht ist.
Das Forschungsprojekt „Regensburger Dom“
Seit 1986 gibt es an der Universität Bamberg
ein Forschungsprojekt zur Bau-, Kunst- und
Funktionsgeschichte des Regensburger Domes
als Modellfall für die interdisziplinäre Erforschung eines mittelalterlichen Großbaus (Leitung: Prof. Dr. A. Hubel und Prof. Dr.-Ing. M.
Schuller). Insbesondere der ganzheitliche Ansatz dieser Unternehmung war Grund für eine
mehrjährige Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft Bonn. Die Arbeiten stehen
kurz vor dem Abschluss und in absehbarer Zeit
wird eine mehrbändige Monografie erscheinen.
Eine Schwerpunktaufgabe des Referenten (F.
Fuchs) war die kunsthistorische und restauratorische Untersuchung der gesamten Dom-Skulpturen, unter anderem speziell im Hinblick auf
ihre frühere Farbigkeit. Von Beginn an war es
dabei das Ziel, neben einer objektiven Dokumentation der Befunde auch eine ganzheitliche
Visualisierung anzustreben, die sich weiter vorwagt als die üblichen Farbverteilungsskizzen.
Man erhoffte sich dabei zusätzliche Aufschlüsse
zum untersuchten Bildwerk als singulärem Objekt, aber auch zur Ikonologie von Gruppenzusammenhängen, des Weiteren Erkenntniszugewinne zur allgemeinen Bedeutung und ästhetischen Gesamtwirkung von farbig gefassten mittelalterlichen Bildwerken im farbig gestalteten
architektonischen Raum.
Wege und Irrwege
In einer ersten Phase wurden Aquarellrekonstruktionen auf der Grundlage handgefertigter
Durchzeichungen hergestellt. So sehr auch die
prächtige Bildwirkung der reich differenzierten
Erstfassungen beeindruckte und so nachhaltig
die teils stark abweichenden späteren Überfassungen die tief greifenden Wandlungen der ästhetischen Vorstellungen deutlich machen können, letztendlich aber stößt man mit der Aquarelltechnik schnell an Grenzen, wenn es um die
Nachahmung von Farbfassungen auf Stein geht.
Papier als Malgrund sowie die matte, transparente Leichtigkeit der Aquarellfarbe führen zu
weit weg von der satten und körperhaften Wirkung der zumeist öl- oder harzgebundenen Farbfassungen auf Stein.
Um mehr Substanzialität in der Farbwirkung
und einen gewissen Oberflächenglanz zu erreichen wurde als Nächstes in Kooperation mit einem Grafiker ein Versuch mit Acrylfarben in
Airbrushtechnik unternommen. Der Versuch erwies sich als entschieden zu arbeitsaufwendig
und auch im Ergebnis untragbar, weil sich ein
irritierend stilfremdes Abtriften der Farbwerte
bei der Umsetzung der Originalbefunde in große
Farbflächen durch den Grafiker nicht verhindern
ließ.
Als dritte Möglichkeit entschied man sich für
den Weg, durch einen geeignet erscheinenden
Künstler/Restaurator einen Rekonstruktionsversuch mit Deckfarben und echtem Gold zu unternehmen. Auch dies schlug fehl. Nach einhelliger Meinung des Kollegenteams, das auch die
übrigen angesprochenen Versuche kritisch diskutiert hatte, kam man zu der Einsicht, dass die
„Künstler“-Rekonstruktion im Ergebnis am allerwenigsten geeignet erscheint und dass sie
sich, weil hochgradig subjektiv geprägt, auch in
methodischer Hinsicht am ehesten als angreifbar
erweist.
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Gleiches gilt im Übrigen für einen Versuch,
der im Zusammenhang mit einem sensationellen
mittelalterlichen Skulpturenfund im Historischen Museum auf der Burg von Buda unternommen wurde. Dort hat man auf der Grundlage von restauratorisch ermittelten Fassungsbefunden Schwarzweißfotos von Skulpturen durch
Grafiker komplettierend farbig übermalen lassen.
Zwischenbilanz: Inwieweit ist Authentizität
überhaupt erreichbar?
Diese Frage trifft den Kernpunkt, warum die
moderne Denkmalpflege solchen Rekonstruktionsversuchen eine gewisse Skepsis entgegenbringt. Die Gefahr einer subjektiv gefärbten
Ausdeutung der Befunde ist nicht wegzudiskutieren. Geringer ist diese Gefahr jedoch, wenn
die Befunduntersuchung und die Rekonstruktionsversuche unmittelbar in ein und derselben
Hand liegen. Die subjektive Komponente mag
hier gleichfalls Risiken bergen, sie kann aber im
Endeffekt von großem Vorteil sein.
Einen „objektiven“ Befund im Sinne eines
eindeutigen Farbwertes gibt es in der Regel ohnehin nicht. Der untersuchende Restaurator
kommt nicht umhin, bei seiner abschließenden
Festlegung eines bestimmten Farbwertes auch
für die Dokumentation aus einer Vielzahl von
kleinen, zufällig einsehbaren Farbinseln an verstreuten Stellen, zum Beispiel eines Gewandstückes, eine Art Summation vorzunehmen.
Zahllose Faktoren können Ursache dafür sein,
dass eine bestimmte Farbschicht an der einen
Stelle so und an der anderen anders erscheint.
Wenn überhaupt, dann hat der untersuchende
Restaurator auf Grund seiner genauen Kenntnis
des Farbbefunds und des potenziellen Schwankungsspektrums der Farbwerte die allerbesten
Voraussetzungen, um Aussagen darüber machen
zu können, wie eine bestimmte Farbfassung am
wahrscheinlichsten ausgesehen hat. Berufliche
Erfahrung und das, was gemeinhin als Berufsethos bezeichnet wird, sind zwar kein Garant
gegen Fehlinterpretationen, aber wohl doch ein
gewisser Schutz vor allzu großen Irrtümern. Gerade aus einer solchermaßen intensiven, persönlich intendierten Auseinandersetzung mit dem
Problem der visuellen Gesamterscheinung einer
historischen Figurenfassung könnte die Legiti-
mation erwachsen, trotz mancher Bedenken
dennoch das Wagnis von Rekonstruktionsversuchen zu unternehmen.
Das nicht selten geäußerte Befremden über
die „Buntheit“ solcher Annäherungsbilder zu
mittelalterlichen Figurenfassungen resultiert im
Wesentlichen aus dem eingangs skizzierten Klischee vom „finsteren“ Mittelalter, und diese
Skepsis besteht teilweise sogar zurecht. In einem nicht unmaßgeblichen Punkt jedoch müssen wir die Ergebnisse unserer Rekonstruktionsversuche in jedem Falle relativieren: Es ist dies
die Intensität der Ausleuchtung, bei welcher wir
heute mittelalterliche Figuren untersuchen, fotografieren und welche wir wie selbstverständlich
auch beim Rekonstruieren der Farbfassung zu
Grunde legen. Unsere Wahrnehmung ist daran
gewöhnt, dass Dinge, die hergezeigt werden sollen, ins helle Licht getaucht sind.
Auch in mittelalterlichen Kirchen gab es zu
Zeiten spezielle Beleuchtungen für die Skulpturen. Dies bezeugen häufig originale Spuren von
Kerzenhaltern an den Konsolen zu Füßen der
Bildwerke. Eine solche, noch dazu beim geringsten Luftzug in sich bewegte Beleuchtung führt
naturgemäß zu anderen Wirkungen der Farbigkeit und auch der Plastizität. Versuche, etwa
solchermaßen mystisch verklärte Wirkungen visuell zu simulieren, würden sich vollends auf
ungesichertem Terrain bewegen. Auch die hypothetische Fragestellung, ob vielleicht die Figuren gar absichtlich so bunt gefasst worden sind,
um im gedämpften Licht einer gotischen Kirche
noch genügend Farbkraft entfalten zu können,
wird sich nie eindeutig beantworten lassen.
Andererseits gibt es genug Beispiele, wonach
auch im Außenbereich, also im hellen Tageslicht, aufgestellte Bildwerke gleichermaßen bunt
gefasst waren. Sicher würde man bei einer virtuellen Rekonstruktion eines gotischen Rauminterieurs mit Figuren die Lichtverhältnisse berücksichtigen und die Farben entsprechend abdunkeln. Bei der isolierten Rekonstruktion einer Einzelfigur vor weißem Papier erscheint es hingegen methodisch konsequenter, potenzielle Einwirkungsfaktoren aus der Umgebung auszuklammern und die Farben so wiederzugeben,
wie sie faktisch sind. Die helle Ausleuchtung
könnte dabei als eine Art von objektiver Richtschnur dienen, von der aus für den Einzelnen
subjektive Interpretationen in beliebige Richtungen möglich sind.
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Dieses Suchen nach einem in gewisser Weise
objektiven Ausgangspunkt für Überlegungen
zur Bildwirkung historischer Figurenpolychromie führte zu dem Entschluss, bei künftigen Rekonstruktionsversuchen künstlerisch-manuelle
Methoden wegen ihrer besonderen Anfälligkeit
für subjektive Ausdeutungen nicht mehr weiterzuverfolgen. Als ein denkbarer neuer Weg lockten die gerade auf den Markt drängenden Möglichkeiten moderner Bildbearbeitung mit dem
Computer. Als effizientes Werkzeug für eine
gewissermaßen bis zur Komplettierung der Gesamtform hoch potenzierte Vervielfältigung
kleiner Farbbefunde versprach der Computer
eine Art „Objektivierung“ der Vorgehensweise.
Farbrekonstruktionen mit dem Computer
Stark vereinfacht ließe sich das Procedere wie
folgt beschreiben: Der Rechner übernimmt die
zeichnerische Form sowie die Plastizität in Gestalt der Hell-Dunkel-Abstufungen von einer
Fotovorlage. Nach einer internen Separierung
der Farbflächen können in Abstimmung mit
dem Restaurator, der die Farbwerte vom Original her kennt, die Farben in die verschiedenen
Flächenzonen „eingegossen“ werden. Ganz so
einfach ist es natürlich nicht.
Die ersten Versuche waren ein Sichherantasten an die Möglichkeiten moderner Bildbearbeitung. In Ermangelung eigener Software und entsprechend leistungsfähiger Hardware griffen
wir dankbar auf eine zufällig zu Stande gekommene Offerte des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft (Prof. Dr. Chr. Gerlach und
Dipl.-Designerin M. Pohl) an der Fachhochschule Hildesheim zurück. Über eine mehrwöchige Kampagne wurde für die zwei ältesten
und bedeutendsten Figuren des Domes, die um
1280 entstandene Verkündigungsgruppe des sogenannten Erminoldmeisters, jeweils eine Rekonstruktion der ersten Farbfassung als Computersimulation hergestellt. Die Figuren hatten im
Lauf der Jahrhunderte insgesamt fünf Fassungen erhalten, dennoch hatte die restauratorische
Untersuchung für die Erstfassung eine so gute
Befundlage erbracht, dass eine Rekonstruktion
möglich erschien. Während der Arbeitskampagne erwies sich die regionale Distanz Regensburg—Hildesheim für die Effizienz des Informationsaustausches als sehr hinderlich. Den-
noch fand das Ergebnis allseits große Zustimmung.1
Mutiger geworden wuchsen nun die Ansprüche an die Leistungsfähigkeit des Computers
hinsichtlich der Genauigkeit der Bildauflösung.
Die Hildesheimer Rekonstruktionsbilder wirken
leicht verschwommen und die gekurvten Linien
zeigen den bekannten „Sägezahn-Effekt“. Nachdem es sich bei den ausgewählten Figuren um
Bildwerke mit einer besonders kräftigen plastischen Binnengliederung handelt, fällt dieses
Manko nicht so schwer ins Gewicht. Bei Figuren mit weniger prägnanter Plastizität war allerdings zu befürchten, dass mehr auf lineare Wirkungen ausgerichtete Gestaltungsmotive nicht
befriedigend umzusetzen seien.
Nachdem die Kooperation mit der Fachhochschule Hildesheim von vornherein als Pilotprojekt galt und langfristig auch in wirtschaftlicher
Hinsicht andere Lösungen gesucht werden
mussten, kam man zu der Einsicht, das Projekt
aus Gründen der Arbeitsökonomie in Regensburg zu installieren. Kontakte des Referenten
(Restaurators) mit einem Büro für Computergrafik (Raoul Kaufer, XYZ Mediendesign)2 in
Regensburg boten hierfür gute Voraussetzungen. Restaurator und Computergrafiker konnten
künftig hautnah zusammenarbeiten. Der Grafiker verfügt nicht nur über hochleistungsfähiges
technisches Equipment, sondern auch über
„klassische“ künstlerische Fähigkeiten, Qualifikationen, die sich, auch wenn sie auf den ersten
Blick den oben angestellten grundsätzlichen
Überlegungen widerläufig erscheinen, letztlich
dennoch als unentbehrlich erwiesen.
Unter diesen Voraussetzungen sollte nun eine
weitere „Probe“ erstellt werden, um einerseits
vor dem Hintergrund der Hildesheimer Ergebnisse die erweiterten Möglichkeiten auszutesten
und zugleich Anhaltspunkte für eine Kostenschätzung zu gewinnen. Bewusst wurde dabei
eine vergleichsweise schwierige Skulptur ausgewählt, eine um 1320 entstandene lebensgroße
Petrusfigur von hoher künstlerischer Qualität. 3
Vergleichsweise schwierig erschien sie aus
mehreren Gründen. Das Bildwerk zeigt eine
sehr dezente plastische Formensprache, tonangebend ist stattdessen die ausgesuchte Eleganz
des Lineaments. Die zu rekonstruierende Erstfassung ist in den Gewandzonen farblich auffallend wenig untergliedert. Die großen homogenen Farbflächen beziehen demnach ihr Binnen-
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leben hauptsächlich aus dem Bewegungsfluss
der Linien und den fein differenzierten plastischen Abstufungen. Diese kleinteilige Binnenbelebung der Farbflächen war eine besondere
Herausforderung bei der Rekonstruktion, die
eine plakative Gesamtwirkung vermeiden sollte.
Die Erstfassung ist durch eine spätere, völlig
anders lautende Überfassung abgedeckt. Mehrere zeichnerische Gestaltungselemente der Erstfassung waren also aus der fotografischen Vorlage nicht zu übernehmen und mussten von
Hand rekonstruiert werden. Ganz besondere
Schwierigkeiten bereitete das Gesicht des
Petrus. Im Unterschied zu der relativ glatt gespannten, nahezu schematisierten Gesichtstektonik der beiden Figuren aus dem Hildesheimer
Versuch zeigt der Petrus ein plastisch regelrecht
zerklüftetes, individualisiertes Antlitz. Hier
konnte die fotografische Vorlage bei weitem
nicht genügen. Sie lieferte kein ausreichendes
Hell-Dunkel-Gerüst, um durch „Aufgießen“ von
Inkarnatfarbe und partielle Rothöhungen ein
ausdrucksvolles, gealtertes und tief ernstes
Petrusgesicht entstehen zu lassen. Stattdessen
musste das Gesicht mit Hilfe des digitalen „Pinsels“ gleichsam per Hand von Grund auf neu
gemalt werden. Insbesondere hierbei, aber auch
bei der zeichnerischen Rekonstruktion mancher
Gestaltungsdetails sowie bei der Feinjustierung
der Hell-Dunkel-Abstufungen im Relief der Gewandfalten, waren die soliden künstlerischen
Fertigkeiten des Grafikers von großem Nutzen.
Das Ergebnis fand im Kollegenteam einhellige Zustimmung. Die Bilanz des Arbeitsaufwandes (ca. 60 Stunden für den Computergrafiker,
die Zeit des Referenten/Restaurators nicht gerechnet) hielt sich in vertretbarem wirtschaftlichen Rahmen. Gegenüber dem Hildesheimer
Versuch (mit einer Kalkulation von 100 Stunden pro Figur) war eine Zeitersparnis von immerhin 40 Prozent zu verzeichnen.
Die Arbeit aus der Sicht des Computergrafikers (Raoul Kaufer)
Werkzeuge und Materialien
Die digitale Farbrekonstruktion der Steinskulptur erfolgte über einen Macintosh-Apple-Rechner mit reichlich Arbeitsspeicher und Festplattenkapazität. Das Eingabemedium bestand aus
einem Wacom-Grafiktablett mit drucksensitivem Stift. Hauptsächlich wurde die Bildbearbeitungssoftware „Adobe Photoshop“ benutzt. Für
einige Detailarbeiten an der Figur, vor allem im
Kopfbereich, kam das Malprogramm „Painter“
der Firma Metacreations zum Einsatz.
Eine unerlässliche Grundlage waren die vom
Restaurator bereitgestellten Farbmuster und ein
Farbverteilungsschema der von ihm im Regensburger Dom untersuchten Figur des hl. Petrus.
Ein gutes Dutzend Fotoaufnahmen der jetzigen
Befundsituation der Skulptur gehörte ebenfalls
zu den Arbeitsmitteln. Zu diesen materialen
Vorgaben kam eine Reihe mündlicher Vorgaben, nach denen versucht werden musste, das
Farbbild, das sich der Restaurator von der betreffenden Skulptur in seinem Kopf gemacht
hatte, sozusagen in den Kopf des Computergrafikers zu bekommen. Von der Präzision dieses
kommunikativen Vorstellungstransfers hing es
letztlich ab, ob die gotische Farbfassung der
Heiligenfigur wenigstens annähernd so zurückgewonnen werden konnte, wie sich dies nach
den Beobachtungen des Restaurators darstellte.
Vorgehensweise
Ausgehend von einer passenden Schwarzweißaufnahme wurde ein hoch aufgelöster Scan angefertigt, der es erlaubte, die Skulptur noch in
den vermeintlich nebensächlichsten Details zu
durchmustern. So ließ sich ein Überblick sowohl über ihre statisch als auch über ihre dynamisch wirkenden Merkmale gewinnen. Doch
wie aus einer grau getönten Vorlage ein Farbbild generieren? Gefragt war eine Strategie und
die bestand darin, die digitale Bemalung der
eingescannten Fotografie ähnlich der Arbeitsweise an einem Ölgemälde vorzunehmen, das
heißt konkret einer ganz bestimmten Art der Ölmalerei, nämlich das Malen in farbgetönten Lasuren – eine Technik, die im ausgehenden 14. und
beginnenden 15. Jahrhundert aufblühte und lan-
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ge stilbildend war.
Vereinfacht gesagt, besteht das Lasurmalen
darin, dass man transparente und halbtransparente Farbschleier aus in Harzölen verrührten
Farbpigmenten – Schicht für Schicht – übereinander aufbringt. Von diesem Verfahren her rühren die oft erstaunliche Tiefgründigkeit und die
Leuchtkraft alter Gemälde, deren Realismus zuweilen wie die Vorwegnahme der Farbfotografie wirkt. Viele Werke sind den abgebildeten
Gegenständen derart täuschend echt nachgebildet, dass man von einem „trompe l’oeuil“-Effekt spricht. Mit einer Bildbearbeitungssoftware
und einem grafikfähigen Computer lässt sich
diese altmeisterliche Malweise durchaus simulieren, mit dem Vorteil, dass die bei der Ölmalerei anfallenden Trocknungsprozesse entfallen
und beliebig viele Retuschen und Nachbesserungen selbst noch in den unteren Bildschichten
möglich sind. Bei einem echten Ölgemälde ist
das schwerlich machbar (digitale Pinsel tropfen
nicht!).
Um also dem hl. Petrus am Computermonitor
sein ehedem gotisches Farbgewand überzustreifen, musste man sich schichtenweise an die ursprünglich starke Farbigkeit herantasten. Zuerst
wurden die Volumina und Massen der plastischen Komposition begutachtet, anschließend
deren „Oberhaut“ und Teile des Figurenschmucks geglättet und restauriert (nach den
Vorgaben des Restaurators). Schließlich wurde
der Tonwertumfang des Scans entsprechend
manipuliert, um – wiederum analog zur alten
Ölmalerei – eine „Unterzeichnung/Untermalung“ zu schaffen, deren Grauwerte nach Maßgabe ihrer Hell-Dunkel-Abstufung nun nach
und nach farbige Valeurs verliehen bekamen.
Anfänglich wirkte das Ganze eher flächig und
für den außenstehenden Betrachter ziemlich ungekonnt, bis mit zunehmender Zahl farbiger Lasuren die Bildpartien an Kontur und Binnendifferenzierung gewannen. Die Tiefen und Höhen,
die Schatten und Lichter kamen – konform zur
Plastizität der Steinskulptur – zusehends deutlicher zum Vorschein.
Ineins damit und doch konträr zur figürlichen
Plastizität mussten einige flächig-ornamenthafte
oder grafisch-linear wirkende Partien, z. B. der
Gewandsaum oder die dreikronige Tiara, akzentuiert werden. Das Problem bei der Farbrekonstruktion speziell dieser Figur lag denn auch
darin, dass die natürlich-organisch und die ab-
strakt-ornamental wirkenden Teile zu einer bunten Collage hätten geraten können – eine Gefahr, die obendrein verstärkt wurde durch die
primärfarbenhafte Farbgebung (intensives Blau
im Gewand, goldglänzendes Gelb im Brustbereich des Gewandverschlusses, des Gewandsaumes, der Schuhe und in der Tiara, ein kräftigdunkles Rot im Buch und ein aufgehelltes in der
Tiara). Wegen der durchgehend fein abgestuften
Farbtransparenzen, die vom Hellen ins Dunkle
changieren, konnte aber die bestechende Farbigkeit der Skulptur unter Wahrung ihrer plastischen Eigenheiten mit diesen verbunden werden.
Am Ende stand dann erneut ein mehr technisch dominierter Arbeitsschritt, denn Monitorbild ist nicht gleich Druckbild. Die am Bildschirm digital erarbeitete Farbrekonstruktion
wurde über einen kalibrierten Farbdrucker der
Marke „Pictography“ von Fuji ausgegeben. Die
Ausdrucke eines solchen Geräts, dessen Anschaffungskosten im fünfstelligen Bereich liegen, haben die Farbbrillianz, -konsistenz und
Durchzeichnung professioneller Studioabzüge.
Feedback, Wunsch und Wirklichkeit für die
Zukunft des Projektes
Das Feedback von offizieller fachlicher Seite
war im Allgemeinen positiv. Man klassifizierte
das Ergebnis als begrüßenswerte Methode zur
Gesamtvisualisierung restauratorischer Befunde,
die zugleich geeignet ist, neue Dimensionen für
das Verständnis des Bildwerks als Kunstwerk
aus Form und Farbe zu erschließen. Ungeachtet
dessen bleibe jedoch die Notwendigkeit einer
traditionellen „objektiven“ Dokumentation der
Befunde bestehen.
Ungleich größere positive Resonanz kam von
Seiten der interessierten Laien und der Medien.
Der Allianz zwischen „antiquierter“ Mittelalterforschung und „moderner“ Computerwelt
schien eine ganz eigene Reizqualität innezuwohnen. Eine örtliche Zeitung schwärmte vom
Faszinosum eines „virtuellen Ausflugs in die
Farbigkeit der Gotik“ und auch das Fernsehen
widmete dem Thema einen kurzen Film. Unisono
kam der Wunsch zum Ausdruck, künftig mehr
davon sehen zu können, nicht nur eine Figur,
sondern vielleicht einen Raumausschnitt mit Figuren oder langfristig sogar einen virtuellen
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Spaziergang durch eine gotische Kathedrale.
Um wenigstens ein paar Schritte in diese
Richtung tun zu können, wurde bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein Antrag auf
Fördermittel gestellt. Es sollten noch einige Rekonstruktionen zu speziell ausgewählten Einzelfiguren erarbeitet werden und darüber hinaus
eine Ansicht von einem farbig gefassten und figurenbesetzten gotischen Baldachinaltar mit zugehörigem Raumausschnitt.
Das Projekt wurde abgelehnt mit der lapidaren Begründung, „Spielereien“ dieser Art seien
aus der Sicht der Wissenschaft nicht nötig.
Anmerkungen
1 Hubel, A. / Schuller, M. unter Mitarbeit von F. Fuchs
und R. Kroos: Der Dom zu Regensburg. Vom Bauen
und Gestalten einer gotischen Kathedrale, Regensburg
1995, S. 16–20, m. Abb.
2 Angemerkt sei, dass der Begriff „Computergrafik“ das
Tätigkeitsprofil von Raoul Kaufer nur sehr unzureichend erfasst.
3 Eine Kurzfassung dieses Referates mit einer Abbildung
der Petrusfigur in Schwarzweiß sowie einer Farbabbildung von der Rekonstruktion der Ursprungsfassung findet sich im Internet auf der Homepage des Hauses der
Bayerischen Geschichte (http://www.bayern.de/HDBG/
t99fuchs.htm).