„Nietzsche und die Wissenschaft“: vorläufige Bemerkungen Dr. Dirk R. Johnson In den letzten Jahren ist das Interesse an das Thema „Nietzsche und die Wissenschaft“ stark angestiegen und gewinnt weiter an Interesse. Als ich 1994 als graduate student an der Indiana Universtity studierte und dort zum ersten Mal Professor Zimmerli kennen gelernt habe, habe ich zu meiner Überraschung festgestellt, dass zum Thema Nietzsche/Darwin kaum etwas Neues oder Interessantes erschienen war. Die ersten ernsteren Auseinandersetzungen gab es um die Jahrhunderwende, z.B. bei Alexander Tille (1893) und Claire Richter (1911); in den fast hundert darauf folgenden Jahren hatten sich die Gelehrten kaum noch damit beschäftigt. Seitdem ich angefangen hatte, meine ersten Gedanken zum Thema aufzuschreiben, gab es allmählich ein Paar Schriften, die sich damit auseinandersetzten: ausser ein Paar kürzere Beiträge (hier v.a. der wichtige, in Nietzsche Studien schon im Jahre 1987 erschienene Aufsatz von Werner Stegmaier) sind hauptsächlich Gregory Moores und John 1 Richardsons Werke aus den Jahren 2002 bzw. 2004 hervorzuheben. Auch erwähnenswert ist die Monographie von Edith Düsing, die 2006 in Deutschland erschienen ist. Wie sieht es beim umfänglicheren Thema „Nietzsche und die Wissenschaft“ aus? Nicht viel besser, eigentlich. Natürlich gibt es einzelne Beiträge, die sich dem Thema widmeten, aber kaum in dem Unfang, dass man von einem selbstständigem Forschungsgebiet oder gar einer grundlegenden Studie sprechen kann, die im Stande gewesen wäre, grössere Aufmerksamkeit auf die Zusammenhänge zwischen Nietzsche und der Wissenschaft zu lenken. Es ist vielleicht mühselig zu ergründen, warum ein so grosses und viel versprechendes Forschungsterrain jahrzehnte lang brach und unergiebig da lag. Man könnte einige Vermutungen wagen, die auf sowohl externe als auch auf interne Hindernisse hindeuten. Externe Hindernisse würde ich solche nennen, die ausserhalb der Nietzscheforschung dieser Forschungsrichtung im Wege gestanden haben. Dazu zähle ich die starke Wissenschaftsgläubigkeit des Zeitalters als auch der Akademie selbst, 2 welche eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Nietzsches radikaler Wissenschaftskritik erschwerte. Ebenso retardierend wirkte die Infragestellung der nietzscheschen Philosophie von Seiten derer, die Nietzsche stets einen grundsätzlichen Irrationalismus vorgeworfen haben, wie z.B. Habermas. Interne Hindernisse nenne ich anderseits solche, die in der Nietzsche Forschungsgemeinde selbst angesiedelt sind. Hier betrachte ich den starken Einfluss Heideggers als Hemmschuh, da Heideggers Geringschätzung von Nietzsches „angeblichen Biologismus“ als auch sein ambitionierter Versuch, Nietzsches Zusammenhänge zu den Wissenschaften und v.a. zu den wissenschaftlichen Methoden seiner Zeit zu übersehen, eine ganze Generation auf die Spur eines „metaphysischen“ Nietzsches gelenkt haben. In der heutigen Nietzscheforschung liegen immer noch vorwiegend solche Interpretationen vor, die uns kaum eine Spur von Nietzsches Engagement mit den Naturwissenschaften seiner Zeit nachweisen lassen, als ob Nietzsche im luftleeren geschichtlichen Raum handelte und es 3 ihm nur darum ginge, die angebliche platonische Vorherrschaft umzukehren. Es ist nicht schwer zu erahnen, dass eine solche Sicht massgebend von anderen fruchtbaren Perspektiven ablenkt. In den letzten Jahren sieht es schon ein bisschen besser aus, obwohl wir meiner Meinung nach immer noch an der Schwelle dieses Themenbereichs stehen. 1994 erschien Babette Babichs Nietzsche‘s Philosophy of Science, eine der wenigen Schriften, die das Wort „science“ bewusst im Titel hervorhoben. Der Text spricht von einer nietzscheschen „philosophy of science“; interessanterweise versucht er das Thema von einer heideggerschen Perspektive anzugehen. 2010 fand die erste grosse Konferenz zum Thema „Nietzsches Wissenschaftsphilosophie“ an der TU/Berlin statt, an der ich teilnahm. Hier sprach man auch von einer Wissenschaftsphilosophie Nietzsches, statt von einer Philosophie, die sich sowohl in Anlehnung auf als auch gegen die Wissenschaft definiert hat. Aus dieser Tagung enstand eine Anthologie von Einzelbeiträgen, die Helmut Heit, Günter Abel und Marco Brusotti 2012 bei de Gruyter herausgegeben hatten. 4 Im angelsächsischen Raum sieht es ein bisschen anders aus. In den USA und Grossbritannien ist schon seit einigen Jahren der Versuch da, Nietzsche für die „Philosophie“ wieder zu gewinnen—was eigentlich heisst, für die analytische Tradition. Da die letzte grosse Interpretationswelle—die aus Frankreich stammende, sich auf Heidegger beziehende postmoderne Tendenz—letztendlich in englischsprechenden Ländern auf Skepsis und Ablehnung gestossen war, begann man Nietzsche quasi als analytischen Philosophen avant la lettre zu entdecken—oder zumindest als jemand, bei dem wichtige Ansätzpunkte zu finden waren. Wie man so schön auf Englisch sagt: „don’t throw the baby out with the bathwater“—was in diesem Fall heisst, man sollte Nietzsche retten, auch wenn dabei alles Belastende um ihn herum wegzuschütten war. War das eine „marriage of convenience“, da Nietzsche sowieso in der Philosophiegeschichte nicht mehr zu verleugnen war, oder hat man mit diesem Ansatzpunkt ein neues Forschungsterrain gewonnen? Das ist eine Frage, die es mir hier nicht zu beantworten gilt; es geht mir hier stattdessen um die Frage, ob diese 5 Tendenz uns einen neuen Zugang zu Nietzsches Position zur Wissenschaft eröffnet. Ohne Zweifel hat diese Richtung aus Nordamerika und Grossbritannien die Frage aufgeworfen, wie die nietzschesche Philosophie mit den naturwissenschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit in Zusammenhang stand. Sie entdeckte in Nietzsche eine allgemeine Tendenz, die sein Denken mit der gleichzeitig in England auftretenden „moral philosophy“ in Zusammenhang brachte. Die moderne Wissenschaft war insofern nicht mehr wegzuleugnen, sondern die Wahrheitsansprüche der Wissenschaft sah man jetzt als die internen Kriterien, die auch Nietzsches Philosophie animierten. Ganz pauschal gesagt: alles, was in Nietzsche zu finden war, musste sich mit den Kentnissen der modernen Wissenschaft decken. Aber der Preis für diesen neuen Konsens—ein zu hoher Preis, meiner Meinung nach—ist, dass man die radikalen, nicht zu verleugnenden Angriffe Nietzsches auf die Wissenschaft einfach unter den Teppich kehrte. Die einzige Forschungrichtung also, die es mit Nietzsches Engagement mit den Naturwissenschaften ernst nimmt, 6 erweckt in uns den Eindruck, dass sie ein wenig an Nietzsches Philosophie gekaut hat, ohne sie richtig verdaut zu haben. Durch meine Forschungsarbeit an Nietzsche und Darwin, deren Ergebnisse in der Monographie Nietzsche’s Anti-Darwinism 2010 bei Cambridge erschienen sind, ist mir allmählich bewusst geworden, dass die Frage der nietzscheschen Beziehung zur Wissenschaft noch ganz offen stand. Mit meiner Forschung sah ich erst die Möglichkeit, den Zugang zu diesem breiteren, darüber stehenden Thema zu finden. Unbefriedigt sowohl mit dem „metaphysischem“ Nietzsche-Bild, das die Wissenschaftsproblematik ausser Acht lässt, als auch einer Interpretationsrichtung, die Nietzsche am liebsten unter die wissenschaftsfreundlichen analytischen Philosophen einreihen möchte, wollte ich die Frage der Wissenschaft bewusst ins Zentrum stellen, wo sie hingehört, aber in einer Manier, die Nietzsches Philosophie als ganzer gerecht wird. Wie ich sie sehe, steht diese Philosophie in einem grundsätzlichen, produktiven Antagonismus zur Wissenschaft—nicht im Sinne einer radikalen Ablehnung, was Nietzsche nicht beabsichtigt, 7 sondern in einem nietzscheschen Sinne—im Sinne des agon, des Wettkampfes mit einem gleichrangigen Gegner. Ich sehe also Nietzsches Philosophie nicht gegen die Wissenschaft oder mit der Wissenschaft, sondern mit der Wissenschaft und über sie hinaus. Ich stehe noch relativ am Anfang dieser Untersuchungen, jedoch durch meine Forschungen und weiter gehenden Fragestellungen fühle ich mich in der Lage, einige vorläufige Bemerkungen zum Thema zu wagen. 1) Die Wissenschaften stehen im Zentrum Nietzsches Bemühungen, seine „Philosophie der Zukunft“ festzulegen. Als Folge Heideggers Wirken, war die Tendenz innerhalb der Forschung, Nietzsches Philosophie als einen fundamentalen Gegner der Naturwissenschaften des 19 Jh. zu sehen. Heidegger meinte, die Seinsfrage sei durch die oberflächlichen materialistischen Ansätze der neuzeitlichen Wissenschaft verloren gegangen; es gehe jetzt darum, die vorsokratische Weisheit wieder zu gewinnen, indem man den historischen Platonismus umkehre. Dieser Ansatz schuf einen 8 fundamentalen Gegensatz zwischen Nietzsche und der Wissenschaft, als ob seine Philosophie mit ihr in fundamentalem Widerspruch stünde und die naturwissenschaftlichen Errungschaften mit seinem Projekt wenig zu tun hätten. Aber Nietzsches Kritik an Platon bzw. den Platonismus war nicht, dass diese den Nährboden für die modernen Naturwissenschaften lieferten und die Seinsfrage ignorierten, sondern dass die positive, neuansetzende Fragestellung der Vorsokratiker, ihre eigentliche grosse Leistung—nämlich, eine skeptische, wissenschaftliche Grundhaltung zur Natur—von den decadenten, wissenschaftfeindlichen, die absolute Wahrheit in Anspruch nehmenden Platonikern erfolgreich bei Seite geschoben war, so dass der neue Ansatz der Vorsokratiker gänzlich verloren gegangen war. Es galt also jetzt, diesen höheren wissenschaftlichen Standpunkt wieder neu zu gewinnen und die zeitgenössischen Wissenschaften, v.a. deren kritische Methoden, waren zumindest die Voraussetzung für eine evtl. die Wissenschaft inkorpierende, aber nicht bei ihr stehen bleibenden „Philosophie der Zukunft“. Insofern steht diese Zukunftsphilosophie nicht in Opposition 9 zur Wissenschaft, sondern in einer ständigen produktiven Auseinandersetzung mit ihr. 2) Nietzsches Philosophie ist aber auch nicht mit den zeitgenössischen Wissenschaften gleich zu setzen. Es steht ausser Zweifel, dass Nietzsches Spätphilosophie nach Zarathustra eine viel kritischere Position den Naturwissenschaften gegenüber einnimmt als sein Denken in den sogennanten „positivistischen“ mittleren Jahren, wo Nietzsche über sich behauptet hatte, er habe nichts „mehr getrieben als Physiologie, Medizin und Naturwissenschaften“ (EH, MA 3). Ruth Abbey z.B. bedauert diese letzte Wendung und sieht im Spätwerk einen verloren gegangenen, produktiven Ansatz, soagar ein Abgleiten ins Irrationale, welches das Projekt des mässigen, vernünftigen Skeptizismus der mittleren Periode über Bord geworfen habe. Wie dem auch sei, eine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit dem ganzen Nietzsche muss die radikale Wissenschaftskritik seiner letzten Werke, besonders der Genealogie, zu erklären versuchen und mit seiner früheren, eher 10 wissenschaftsfreundlichen Position in Einklang bringen. Am Ende der Genealogie der Moral III steht aber ein Schlüssel zu seiner wichtigen, in der Forschung wenig berücksichtigten Wendung, die seine spätere Abkehr von der neuzeitlichen Wissenschaft auf den Punkt bringt: die Wissenschaft sei, so Nietzsche hier, der versteckte Kern des asketischen Ideals, eines Ideals, das in Platons absolutem Wahrheitsanspruch seinen Anfang genommen habe („ich, Plato, bin die Wahrheit“ [GD, „wahre Welt“]); aber dieser Kern sei auch gleichzeitig der Hebel, der uns ermöglichen wird, uns vom asketischen Ideal zu befreien. Also die Wissenschaft sei die letzte interne Stufe einer seit Platon ansetzenden Entwicklung, die sich durch eine immer tiefer greifende wissenschaftliche Redlichkeit sich am Ende selbst aufheben müsse. Eine über den Platonismus hinausgreifende „Philosophie der Zukunft“ wäre also ohne eine Verschärfung des wissenschaftlichen Geistes gar nicht erst möglich. Insofern kann man Nietzsches Philosophie der modernen Wissenschaft nicht gleich setzen; anderseits in ihrer letzten Konsequenz wäre sie auch nicht ohne ihre Beiträge denkbar. 11 3) Es geht Nietzsche letztendlich um den Wahrheitsbegriff, den er nicht mehr mit der Wissenschaft als solcher identifiziert. Viel ist über Nietzsches Kritik der Wahrheit und des absoluten Wahrheitsanspruches geschrieben worden; ich möchte hier nicht weiter auf diese Diskussion eingehen. Es genügt hier ein Paar Bemerkungen zu äussern. Die Postmoderne hat viel daraus gemacht, dass Nietzsche die Wahrheit selbst in Frage stelle, was die Tür dazu geöffnet habe, dass „everything goes“, d.h. die Tür zu einem Relativismus der Perspektiven, der Meinungen und der moralischen Standpunkte. In Gegenzug darauf entstand eine Reaktion, die versucht, Nietzsche wieder mit der Wissenschaft in Einklang zu bringen, so dass seine Einsichten mit den Kentnissen der Wissenschaft nicht in Konflikt stehen und die Wahrheitsansprüche der Naturwissenschaften nicht widersprechen. Nietzsche zweifele hiernach nicht an die Wahrheit als solche, oder an die natürlichen Gesetzmässigkeiten, sondern versuche lediglich eine revidierte Wertsetzung, die sich an die neuen wissenschaftlichen Erkentnisse orientiere. 12 Im Grunde lassen sich Stellen bei Nietzsche finden, wie so oft, die beide Positionen glaubwürdig erscheinen lassen. In Genealogie der Moral III entlarvt er z.B. den Willen zur Wahrheit als den Kern des asketischen Ideals und sieht voraus, dass dieser Rest an Wille eventuell den Wahrheitsbegriff selber zersetzen müsse. Das ende mit der Frage: „Was bedeutet aller Wille zur Wahrheit?“ (GM III, 27) Anderseits spricht Nietzsche in Ecce Homo von der Wahrheit, die „mit der Lüge von Jahrtausenden in Kampf treten“ werde, was zu weltweiten Erschütterungen und Erdbeben führen würde (EH, Schicksal 1). Also geht Nietzsche von einer Wahrheit und auch einer Lüge aus, bzw. einer Wahrheit, die im Stande wäre, die Geschichte der Welt in zwei Teile zu spalten. Von dieser Perspektive kann man schwer von einem Relativismus sprechen, der alle Perspektiven als gleich hinnimmt, da es sowieso keine absolute Wahrheit mehr gebe. Um diesen anscheinenden Widerspruch klären zu wollen, müssen wir vielleicht die folgenden Ansätze nehmen. Erstens, die modernen Wissenschaften waren für Nietzsche von Bedeutung, da sie ihm die 13 Werkzeuge und die Fragestellungen in die Hand gaben, den neuzeitlichen Idealismus und die Metaphysik zu hinterfragen. V.a. waren ihm die wissenschafltichen Methoden von primärer Bedeutung, da sie vom forschenden Subjekt eine grundlegende skeptische Haltung abverlangten und ihm daran hinderten, einem schwärmenden Moralismus zu verfallen. Aus diesem Grund hat Nietzsche auch die ihm übliche Praxis verfolgt, mehrere Wissenschaften und wissenschaftliche Richtungen gleizeitig zu verfolgen, ohne sich je an einer vollkommen zu binden. Gleichzeitig ist es grundsätzlich ein Fehler davon auszugehen, dass Nietzsche sich mit der modernen Wissenschaft identifiziert, ihren Prämissen und Zielen, nur weil er gewisse Grundübereinstimmungen mit einer bestimmten Wissenschaftsrichtung teilt. Um ein Beispiel aus meiner Forschung zu nehmen: nur weil bestimmte naturalistische Ansätze von Nietzsche mit Darwin übereinstimmen, und er, wie Darwin, von sich konkurrienden Willen ausgeht, heisst das lange nicht, dass Nietzsche die darwinsche Theorie der „natürlichen Auslese“ unterschreibt. Mit anderen Worten, man muss den Wahrheitsanspruch 14 von den Wissenschaften trennen, so dass man zu Wahrheiten kommen kann, ohne dass man sich einer Wissenschaft verschreibt. Zweitens, wenn man die Wahrheit von der Wissenschaft als solcher trennt, dann kann der Einzelne zu Wahrheiten kommen, die ausserhalb der üblichen neuzeitlichen Wissenschaftsdomäne stehen. Diese Wahrheiten wären dann nicht mehr wissenschaftliche Wahrheiten, sondern Wahrheiten, die durch eine tiefere Einsicht in die menschliche Natur und Existenz gewonnen werden. Zum Beispiel, wenn der Mensch mit gewissen eigenen Schwächen und instinktiver Selbstverblendung Wissenschaft betreibt, wird er bestimmte Wahrheiten einfach nicht zu Gesichte bekommen bzw. nicht im Stande sein, diese Wahrheiten erst zu erkennen. Um diese Wahrheiten erst ansichtig zu werden, „denn es giebt solche Wahrheiten“ (GM I, 1), müsse man sich zuerst von allem schwämerischen, schwächenden, selbstverlogenen Moralismus loslösen, der, Nietzsche nach, sogar der modernen Wissenschaft anhaftet. Drittens, und letztens, eine Position, die fähig wäre, die innere Verlogenheit der Moral zu verstehen, zu „riechen“, wäre erstmals in der 15 Lage, andere, neue Wahrheiten zu erkennen, die zwar nicht zu einer allgemeingültigen Wahrheit für alle führen können, aber trotzdem zu einem ehrlicheren, realitätsnäheren und naturgemässeren Verständnis der Welt. Nach Nietzsche wäre dies eine dionysische Wahrheit bzw. eine eventuelle Annäherung an eine vorsokratische Weisheit, von der wir durch die irreführende Tendenz der platonischen Schule abgelenkt worden sind. (Siehe hier das wichtige Kapitel 111 „Herkunft des Logischen“ aus der Fröhlichen Wissenschaft, wo Nietzsche den Sieg der westlichen Logik mit dem Untergang des skeptischen Geistes in Verbindung bringt.) Auch wenn die moderne Wissenschaft Nietzsche zuerst die Methoden und die Werkzeuge geliefert hat, sein Projekt der Infragestellung der westlichen Moral zu realisieren, hat dieses Projekt ihm evtl. zu einem Scheideweg gebracht,von wo aus er die moderne Wissenschaft als solche in Frage stellte. Wahrheiten, furchtbare Wahrheiten, gab es für ihn trotzdem, aber dafür bedurfte es erst „stolze Thiere“, die „ihr Herz wie ihren Schmerz im Zaum zu halten wissen und 16 sich dazu erzogen haben, der Wahrheit aller Wünschbarkeit zu opfern“ (GM I, 1). Heisst das, dass die modernen Wissenschaften, auch wenn sie von Nietzsche schliesslich hinterfragt werden, als solche abzulehnen und ihre Verdienste als ganze zu verleugnen sind? Nein—und Nietzsche lässt das nie verlauten. Denn es ging ihm nicht darum, die moderne Wissenschaft zu ersetzen bzw. zu zersetzen wollen, sondern die Basis für eine neue Elite zu schaffen—die sogenannten Philosophen der Zukunft, die Menschen des grossen Mittags—die sich der jetztigen Wissenschaft wie ihr Werkzeug bedient und mit ihr aber auch über sie hinaus neue Werthe setzt. Am Ende wäre diese „Philosophie der Zukunft“ keine Wissenschaft verleugnende oder ablehnende Philosophie, noch eine rein mit der Wissenschaft übereinstimmende Einsicht, sondern eine die Wissenschaft mit einschleissende, jedoch weit über sie hinausgreifende Überhöhung und Übersteigerung des bis dahin menschlich Möglichem. 17 18
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