Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Inge Kämmerer Literarische Orte Das Uwe Johnson Literaturhaus in Klütz (2) von Susanne von Schenck Sendung: 01.09.2015, hr2-kultur Sprecherin: Autorin O-Töne von: Anja-Franziska Scharsich (Leiterin U.-J.-Haus), Uwe Johnson hr2-kultur / Bildung Copyright Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. Anmoderationsvorschlag Auf halber Strecke zwischen Wismar und Lübeck liegt Klütz. Eine Sehenswürdigkeit des kleinen Ortes ist das Barockschloss Bothmer mit der berühmten Festonallee, girlandenartig geformten Linden. Literaturinteressierte lädt das Uwe Johnson Literaturhaus zu einem Besuch ein. Es ist kein „Dichterhaus“ im klassischen Sinn: der Schriftsteller hat dort nie gelebt. Aber Klütz ist Vorbild des fiktiven Ortes Jerichow aus Johnsons Roman „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“. Das Literaturhaus in einem ehemaligen Getreidespeicher gibt Einblick in Leben und Werk Uwe Johnsons, der neben Günter Grass und Heinrich Böll als unbestechlicher Chronist des 20. Jahrhunderts in Gesamtdeutschland gilt. Susanne von Schenck hat das Uwe Johnson Literaturhaus im mecklenburgischen Klütz besucht. ____________________________________________________________________________ Beitrag 1 Atmo Straße, Ort, Vögel (Archiv) Autorin Nicht weit vom Klützer Marktplatz, im Thurow 14, erhebt sich ein mächtiger Getreidespeicher. Am Eingang des Gebäudes leuchtet ein rotes Metallschild mit dem Profil eines jungen Mannes - Nickelbrille, Pfeife und Haare, durch die der Wind weht. Hier ist das Uwe Johnson Literaturhaus. Anja-Franziska Scharsich leitet es. 2 O –Ton Schar Getreidespeicher Das ist etwas, was Uwe Johnson entgegenkäme, der sein Mecklenburg in der ganz ursprünglichen Art sehr geliebt hat. Und was zeugt mehr von Mecklenburg als ein Getreidespeicher. 3 Atmo Treppe Autorin Das denkmalgeschützte Gebäude beherbergt seit 2006 die Stadtbibliothek, die Touristeninformation, ein nettes Café - und vor allem auf zwei Etagen eine umfangreiche Ausstellung zu Leben und Werk Uwe Johnsons. Ein Museum für einen Roman: Denn der des Schriftsteller hat nie in Klütz gelebt. Aber er hat Mecklenburg geliebt und auch zum Schauplatz seiner Romane gemacht. Zitator Johnson „Wohin ich in Wahrheit gehöre, das ist die dicht umwaldete Seenplatte Mecklenburgs von Plau bis Templin, entlang der Elbe und der Havel.“ Musik Autorin Geboren 1934 im pommerschen Cammin, aufgewachsen in Mecklenburg, ab 1959 Lebensstationen in Berlin, Rom, New York, gestorben 1984 im englischen Sherness-on-Sea - Uwe Johnson hat in seinem Werk immer wieder den Verlust von Heimat thematisiert. Eine tiefe Sehnsucht danach ist das Grundmotiv seines Schreibens. Ob Uwe Johnson Klütz, gut zwanzig Kilometer von der Ostsee entfernt, je besucht hat? 4 O-Ton Schar Klütz Klütz ist ein sehr kleiner Ort, mit etwa 3000 Einwohnern und zu der Zeit, wo er diesen Ort empfiehlt, taucht er noch in keinem Reiseführer auf, und insofern liegt die Vermutung da schon nahe, dass er den Ort doch näher gekannt haben muss. Aber das ist eine Vermutung, wir können es nicht dokumentieren, aber es spielt nicht unbedingt die Rolle für unsere Ausstellung. Autorin Die macht neugierig auf den Schriftsteller und auf sein komplexes Hauptwerk „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“. In dem vierteiligen Roman verwebt Uwe Johnson die Exilgeschichte einer deutschen Familie mit den politischen Ereignissen der Zeit. Klütz spielt in den Jahrestagen eine Rolle - als fiktiver Ort Jerichow. Der Schriftsteller sprach selbst von seinen „tatsächlichen Erfindungen“ - das trifft, so Anja-Franziska Scharsich, auf die Figuren genauso zu wie auf die Orte. 5 O-Ton Schar Ort Uwe Johnson siedelt Jerichow fast nachvollziehbar an, indem er sagt: Jerichow ist ein kleiner Ort zwischen Lübeck und Wismar gelegen. Das sind zwei reale Orte, die man auf der Landkarte findet. Und er schreibt weiter: Ja, die Jerichower haben auch Pech gehabt, sie liegen nicht ganz an der Ostsee. Vorgelagert ist ein ehemaliges Fischerdort, was sich dann zu einem Ostseebad gemausert hat. Und das ist natürlich auch die Konstellation zwischen Klütz und Boltenhagen. Autorin Detailversessen, wie es seine Art war, hat Uwe Johnson sich genau mit dem Ort beschäftigt: Zitator „... ein Nest aus niedrigen Ziegelbauten entlang einer Straße aus Kopfsteinen.“ Autorin Daran hat sich bis heute wenig geändert wie auch an der Backsteinkirche, deren Turm Uwe Johnson mit einer Bischofsmütze vergleicht. Musik Autorin Aber wie einen Ort schildern, den man gar nicht kennt? Ihn so erzählen, dass er für den Leser real erscheint? Als Uwe Johnson Mitte der 1960er Jahre mit den Arbeiten zu „Jahrestage“ beginnt, lebt er in New York. Da er auch nicht in die DDR reisen darf, um dort zu recherchieren, bittet er Freunde und Bekannte, dies für ihn zu tun. Zum Beispiel Brigitte Zeibig, der er im Dezember 1969 schreibt: Zitator „Die Einzelheiten des heutigen Jerichow sollte ich mir selbst beschaffen können mit Reisen an die Ostsee; das kann ich nicht. Hier könnte mir geholfen werden durch jemand, der diese fiktive Kleinstadt Jerichow besucht, indem der für zwei Tage in eine wirkliche Kleinstadt an der Küste fährt, und zwar eine beliebige unter den Kröpelin, Neubuckow (wenn gleich mir Klütz die ergiebigste scheint).“ Autorin Der Brief ist in der Ausstellung in Klütz zu lesen. Wie auch ein detaillierter Fragebogen, den Uwe Johnson ebenfalls Brigitte Zeibig schickte. Er gibt Einblick in die akribische Arbeitsweise des Schriftstellers, bei der Versatzstücke vieler Realitäten miteinander verschmelzen. Zitator „… Sieht man noch alte Frauen mit Gummistiefeln und Kopftüchern? … Gibt es Zeitungskioske außer in Post und Bahnhof? Wie ist die Straße beleuchtet? ... Gibt es in der Fleischerei noch Sägespäne auf dem Fußboden? … Warum würden Sie da nicht für Geld und gute Worte leben wollen?“ 6 O-Ton Schar Zeitungen In Jerichow liest der Heinrich Cresspahl, der Vater von Gesine, den Lübecker Generalanzeiger. Da gibt er denn auch wieder, was man so liest, wie teuer eine Ausgabe war. Und diese Sachen kann man nachvollziehen, die findet man in den Originalzeitungen wieder. Autorin Anja-Franziska Scharsich zeigt auf Vitrinen, in denen Zeitungsartikel und Romanpassagen einander gegenübergestellt sind. Die obere Etage des Getreidespeichers ist der Erzähltechnik Uwe Johnsons gewidmet. Schwarze Ledersessel laden zum Lesen ein. Dort kann man den Autor auch in einem Film sehen und ihn hören – in einer Sendung des Deutschlandfunks anlässlich des vierten Bandes der Jahrestage, der 1983 erscheint. 7 O-Ton Johnson Jahrestage in einer etwas wörtlichen oder zu wörtlichen Auslegung des Wortes, 365 Tage eines Jahres oder 366 mit Zugabe in dem Leben einer weiblichen Person, Gesine Cresspahl war das, geboren 1933 in einer geringfügigen Stadt an der mecklenburgischen Ostseeküste... Die wuchs dann auf mit einem Vater, der war über die fünfzig. Ein schwieriges Leben, wenn man dazu auch noch lügen muss. Autorin Zeitgenossen wie Max Frisch, Walter Kempowski oder Hannah Arendt kommen in der Ausstellung zu Wort. Und Luise Rinser, die Uwe Johnson bei den Treffen der Gruppe 47 erlebt hat, und die nicht mit ihm nicht warm wurde. Anlässlich seines Todes 1984 schreibt sie: Zitatorin [[„Warum stirbt einer mit 49? War er dann krank? Er hat getrunken, viel getrunken, das wird’s gewesen sein. Warum aber trank er? Was war da krank in ihm? Ich kannte ihn und kannte ihn doch nicht. … Warum bewegt mich sein Tod?]] Ich habe diesen Mann und seine Romane nie verstanden, eine mir fremde, mir unheimliche Welt. Die schwarze Lederjacke, das rote Gesicht, der blanke Schädel, die Anwesenheit von etwas starr- finsterem, das mir eine Art Furcht einflößte.“ Autorin Uwe Johnsons letzte Jahre waren geprägt von Alkoholismus und einer Schreibblockade. Seinen Lebenslauf, schrieb er einmal an den Verleger Siegfried Unseld, könne er nicht verfassen. Aber in Klütz, wo, wie seinerzeit in der ganzen DDR, Uwe Johnson nicht verlegt wurde, kann man ihm näherkommen, sein Werk neu entdecken oder sich weiter darin vertiefen. Und dabei in dem historischen Getreidespeicher ein wenig die Zeit vergessen
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