Anstöße zum Buch Exodus

„Anstöße zum Buch Exodus“ Bibelstelle: Autor: Ex 22,20‐26; 23,1‐12 Franziskanerpater Franz Richardt ofm Geistlicher Direktor der Katholischen Heimvolkhochschule Haus Ohrbeck, Georgsmarienhütte www.haus‐ohrbeck.de Aufatmen – Gerechtigkeit üben. Ruhig – unruhig – ruhig „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Gott“, so formuliert der hl. Augustinus eine Grunderfahrung seines Lebens. Eine Verfremdung dieses Satzes lautet: „Unruhig ist Gott, bis der Mensch Ruhe findet.“ Un‐
ruhig ist Gott, heiliger Zorn ergreift ihn (Ex 22,23), wenn er mit ansehen muss, wie wir Menschen einander ausbeuten und knechten, wie einer den anderen übersieht, wie Parteilichkeit herrscht und das Recht ge‐
brochen wird, wie der andere Mensch in seiner Bedürftigkeit nicht wahrgenommen wird (Ex 22,20‐26), wie die Natur über die Maßen strapaziert wird (Ex 23,10‐12). Die sozial umfassend in den Blick genommenen ethischen Weisungen in Ex 22‐23 laufen – zusammenge‐
fasst – auf die Forderung hinaus, aufmerksam zu werden für den, dem es in unserer Mitte nicht gut geht. Interessant ist: Ex 22‐23 formuliert nicht nur Gebote, sondern führt eine Motivation ein, die hilft, die Gebo‐
te zu erfüllen. Die Gelenkstelle für die Veränderung und Umkehr findet der Text in der Erinnerung an Erfah‐
rungen, die Israel selber in Ägypten gemacht hat: „Ihr wisst doch, wie einem Fremden zumute ist, denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen“ (Ex 23,9). Im Sinne des Textes weiter gedacht kann man sagen: Ihr wisst doch, wie das ist, wenn man übersehen wird; wenn man nicht wahrgenommen wird; wenn man in seiner Arbeitskraft und seinem guten Willen bis zur Erschöpfung missbraucht wird; wenn man das Gefühl hat, im Recht zu sein und kein Recht zu bekommen; wenn Missgunst und Misstrauen die Oberhand gewin‐
nen. Vergesst das nicht! Lasst diese Erinnerungen in euch wach werden und gebt ihr Raum! Wenn sie euch unruhig macht, dann seht diese Unruhe nicht als lästig, sondern als wertvoll an! Denn sie wird zu einer Quelle, aus der die Kraft fließt, auf den Mitmenschen zuzugehen, dem es nicht gut geht. Sie bewegt dazu, uns in die Menschen einzufühlen, mit denen wir leben, die für uns arbeiten oder die als Fremde zu uns kommen. Der Befreiergott JHWH bindet Israel auf die Seele, jetzt im Land der Freiheit nicht in die gleichen Verhal‐
tensmuster und inneren Strukturen zurückzufallen, die es im Land der Knechtschaft, in Ägypten, erleben musste. So wie JHWH sich in Ägypten auf die Seite der Unterdrückten gestellt hat, so stellt er sich jetzt mit diesem Weisungskatalog ebenfalls auf die Seite der Unterdrückten, und zwar im Lebensraum des Volkes Israel. Die in Ägypten erlebte Todesmacht soll sich im Volk Gottes nicht wiederholen. Israel soll umfassend Leben ermöglichen, so wie JHWH Israel ins Land des Lebens geführt hat. Die Erinnerung an diese Erfahrung soll das Volk Israel motivieren, lebensfördernd miteinander umzugehen. Ex 22‐23 setzt zwar mit ethischen Weisungen ein, stellt aber in die Mitte der Weisungen die Erinnerung, die zur Kraft der Veränderung wird. Der Volksmund sagt es so: „Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen ge‐
pflastert, der Weg zum Himmel mit guten Erinnerungen!“ Mein Blick fällt auf das August‐Kalenderbild zu dieser Textstelle im Kalender: „Damit sie zu Atem kommen“ (Ex 23,12) und ruft die Frage wach: Wie kommt einer in der Reihe der vielen in der Vorwärtsbewegung zum Stehen? Und: was passiert, wenn man stehenbleibt? [1] Ich möchte an eine Erfahrung anknüpfen, auf die der jüdische Philosoph E. Lévinas aufmerksam macht. Er führt folgendes Beispiel an: Wir gehen durch die Stadt und sehen plötzlich einen Bettler am Straßenrand sitzen. Er macht nichts, er sitzt „nur“ da, vor ihm steht ein Becher für eine paar Cent oder Euro. Auf dem Weg durch die Stadt sehen wir viele Menschen, die wie wir unterwegs sind. Wir sehen sie und sehen sie zugleich nicht. Aber dieser Bettler fällt uns auf. Ihn übersehen wir nicht. Obwohl er nichts macht, macht er etwas mit uns. Er löst Reaktionen in uns aus. Vielleicht drücken wir uns an ihm vorbei und gehen auf die andere Straßenseite. Vielleicht denken wir: Er könnte arbeiten gehen! Vielleicht geben wir ihm ein wenig Geld oder sehen ihn wenigstens an. Es gibt viele Möglichkeiten. Aber eins geht nicht: Wir können nicht so tun, als hätten wir ihn nicht gesehen. Wir geraten in die Situation, dass wir innerlich anhalten, dass wir ste‐
hen bleiben. Lévinas fragt sich und uns: Warum sehen wir diesen Bettler? Warum macht er uns unruhig, obwohl er ganz ruhig ist? Lévinas antwortet: Er erinnert uns an eine Grundwahrheit unseres Lebens: Wir gehen durch die Stadt und sorgen uns um unser Sein und Dasein. Auf einmal begegnen wir einem Menschen, der um sein Sein nicht kämpft, sondern sich das Sein, das Dasein schenken lässt. Dieser „Einbruch“ in unser Dasein – so Lévinas – bringt in uns in Kontakt mit einer Grundwahrheit unseres Lebens. Im Daseinskampf und in der Sorge um unser Sein werden wir plötzlich mit einer Erfahrung konfrontiert, die uns anrührt und uns für einen Augenblick zu einem Mitmenschen macht, der auf andere Gedanken kommt. Das geschieht höchst‐
wahrscheinlich nicht so bewusst, wie es jetzt beschrieben ist. Aber im Hintergrund unseres Menschseins mögen diese Gedankenprozesse einsetzen. Lévinas nennt diese innere Bewegung die Stunde „Null“ oder einen „Augenblick der Menschwerdung“ oder einen „Augenblick der Heiligkeit“, Heiligkeit nicht in einem verschrobenen, überfrommen Sinn, sondern so: Der andere bekommt ein Gesicht („Antlitz“ – nennt es Lévinas). Unter den vielen Menschen nehme ich den anderen plötzlich als einen Einzigen wahr. Indem ich das tue, nehme ich auch mich als einen Einzigen wahr, als einen, der jetzt angesprochen ist, aufzumerken und zu reagieren. Was die anderen, die mit mir auf der Straße unterwegs sind oder mir entgegenkommen, tun oder denken, ist nicht wichtig. Wichtig ist nur: Ich bin gefragt in meiner Verantwortung für einen, der mir fremd ist und mit dem ich sonst nichts zu tun habe. Das faktische Dasein und die vielen Sorgen um mich selbst machen mich noch nicht zu einem reifen Men‐
schen, erst das Herausgerufen‐werden aus dem eigenen Ich und die Antwort auf diesen Ruf machen mich zu einem Ich‐Selbst. Für diesen Augenblick, in dem ich innerlich und vielleicht auch äußerlich stehen bleibe, Verantwortung wahrnehme und anders handele, ist etwas gut geworden in der Welt, im anderen, in mir. Für einen Augenblick ist Heil geschehen. Herausgerufen aus der Ruhe in die Unruhe, wandelt sich die Unruhe in eine Kraft, für einen Augenblick wieder Ruhe in die Unruhe der Welt zu bringen. Die Erinnerung an solche Begebenheiten und an die damit verbundenen Gefühle führen zur Empathie. Deswegen liegt in der Unruhe ein Segen. So deute ich die grüne Person in der Bewegung der roten Läufer oder Geher. Sie bleibt stehen. Vielleicht, weil sie einen anderen Menschen wahrgenommen hat, vielleicht, weil gerade in ihr eine Verwandlung passiert. Die Erinnerung an Situationen, in denen wir gerufen waren, stehen zu bleiben und verantwortlich zu handeln, hilft uns, die Menschen zu sehen, die Aufmerksamkeit und Ruhe brauchen. Verschenkte Aufmerksamkeit führt zur Ruhe, führt dazu, dass andere, dass „sie zu Atem kommen“ (Ex 23,12). Ein weiterer Gedanke in diesem Kontext: Gott sagt von sich: „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, ihre laute Klage über ihre An‐
treiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid“ (Ex 3,7). Was er sieht und hört, bewegt ihn: „Ich bin herabge‐
stiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen“ (Ex 3,8). Gott steigt herab, verlässt den Raum seiner Göttlichkeit und kommt den Menschen zu Hilfe. Er lässt sich herausrufen und wird schließlich in Jesus Chris‐
tus selber Mensch. Weil Gott sich der Fremdheit ausgesetzt und Fremdheit erfahren hat, kann er so leiden‐
schaftlich Partei ergreifen für den Fremden, die Witwe, den Waisen, den Armen, für alle, die diese Bibelstel‐
le im Blick hat – bis hin zur entfremdeten Natur. Er kennt ihre Leiden. [2] Dieser Jesus erzählt uns in einem Gleichnis von einem Mann, einem Vorübergehenden, dem seine Augen zu einem Einfallstor einer göttlichen Herausforderung wurden. Der barmherzigen Samariter trifft auf seinem Weg plötzlich auf einen Verwundeten und lässt sich von ihm ansprechen: „… sah ihn und wurde von Mitleid ergriffen, …“ (Lk 10,33f.). Er bringt den Verwundeten schließlich in eine Herberge, an einen Ort der Ruhe und des Aufatmens. Von ein paar Leuten in unserer Kirche habe ich gehört und gelesen, dass sie aus der Fülle der vielen Flücht‐
linge ein paar Wenige wahr‐ und aufgenommen haben. Infolge davon haben sie festgestellt, wie sich auf einmal die Themen ihrer Gespräche und Gedanken änderten und manches von dem, was uns sonst die Gemüter bewegt, in den Hintergrund trat, weil ein paar Menschen in den Vordergrund traten und einen Raum bekamen, in dem sie für einen Augenblick oder dauerhaft aufatmen konnten. So erschließt sich mir die Überschrift über diesen Abschnitt Ex 22‐23: „Aufatmen – Gerechtigkeit einüben“. Gerechtigkeit einüben führt dazu, dass andere aufatmen können. Wenn andere durch uns aufatmen kön‐
nen, hat diese geschenkte Aufmerksamkeit Rückwirkungen auf uns selber. Am Ende sind wir selber ruhiger und zufriedener und können besser atmen, weil wir uns dem Leben und seinen Herausforderungen gestellt haben. „Gerechtigkeit einüben“ führt zu mehr Lebendigkeit, auf allen Seiten, führt uns in das Land des Le‐
bens und der Freiheit, in das Land, „in dem Milch und Honig fließen“ (Ex 3,8). Literatur: Emmanuel Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, München ²1988.; Ders., Die Spur des Ande‐
ren. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, München 2007. [3]