Der letzte Biergarten Die Blätter verlieben sich jeden Tag in neue

Seite 1/5 Der letzte Biergarten
Die Blätter verlieben sich jeden Tag in neue Farben und ahnen noch nichts vom nahenden
Abschied. Meine Schritte bleiben fast ungehört auf dem nadeligen Waldweg, der hinter mir,
unter mir, vor mir liegt. Wieder hat der Morgen nicht gehalten, was die letzte Nacht
versprochen hatte. Also habe ich mich aufgemacht, zwischen herbstlichen Bäumen hindurch,
deren zerschossene Raurinde noch nicht frei vom Blätterwerk liegt. Bis ich ankomme, im
Biergarten.
Entgegen meiner Gewohnheit wähle ich einen Tisch, an dem schräg gegenüber bereits ein
älterer Herr sitzt. Obwohl die Möglichkeit bestünde, alleine zu bleiben. Viele Männer meines
Alters streben nach Anerkennung als Bierexperte, als Bierist oder Bierologe. Biersommelier.
Vielleicht einfach, um der jahrzehntelangen Tätigkeit des Trinkens nachträglich einen
übergeordneten Sinn zu geben. Mir liegt das fern. Ich habe den Biergarten nicht nach
degustatorischen Kriterien gewählt, sondern einfach, weil er etwas abseitige Ruhe verspricht.
Alles, was ich über das hier ausgeschenkte Bier weiß, ist, dass die Menschen im Herkunftsort,
die es fleißig trinken, besonders alt werden sollen. Ob sie das nun wollen oder nicht. Das
Trinken sowie das Altwerden. Ihr Bier schmeckt etwas herber. Das kommt mir gerade recht.
Die Bedienung stellt den Krug Helles vor mich auf den Tisch. Mit einem Lächeln. Dafür wird
sie bezahlt. Dann entfernt sie sich.
»Die ist unmöglich. Unglaublich blöd.«
»Was?« Ich schrecke auf.
»Na, die da. Aber sie können hier nicht wählerisch sein mit dem Personal. Wer will hier schon
arbeiten, im letzten Biergarten? Da müssen sie nehmen, was kommt.«
»Sieht doch ganz nett aus.«
»Da warten Sie ’mal, bis sie den Mund aufmacht. Das ändert alles.«
Ich mustere mein Gegenüber. Der Bauch, der sich unter dem rot-blau-weißen Karomuster des
Hemdes wölbt, hat die Knöpfe der darübergezogenen Strickweste so nach und nach an den
Rand ihrer Belastbarkeit gebracht. Das Gesicht wirkt fleischig, aber keineswegs lethargisch
oder bierselig. Die in ihren dunklen Höhlen liegenden Augen blicken wach und angriffslustig.
Vielleicht war das doch der falsche Tisch.
»Glauben Sie an Gott?« Das ist direkt.
„Ähm, ich weiß nicht.«
Seite 2/5 »Na, Sie sind auch recht dumm, oder? Das muss man doch wissen, ob man glaubt oder nicht.
Da machen Sie sich aber mal ganz schnell Gedanken darüber, sonst hätten Sie ja gar nicht
herkommen brauchen.«
Was nun das eine mit dem anderen zu tun hat, erschließt sich mir nicht. Ich nehme mir fest
vor, darüber in absehbarer Zeit nachzudenken.
»Also, soll ich Ihnen das erklären?«
Ich weiß nicht, was das sein soll, doch ich nicke zögerlich.
»Sie kennen Athanasius Kircher? Der hat schon im 17. Jahrhundert ganz genau skizziert, wie
das alles aussieht. Keine Ahnung, woher er das wusste. Eine Reise? Unwahrscheinlich. Eine
Vision? Schon eher denkbar. Und deshalb wissen wir es auch. Zumindest diejenigen, die es
sehen wollen.«
»Was?«
»Wie der Paradiesgarten aussieht, natürlich. Er hat es ja gedruckt!«
Bevor ich der Abenteuerlichkeit dieser Ausführungen irgendetwas entgegensetzen kann, lässt
sich mein Gegenüber schon fortreißen.
»Er wird nun mal von vier geraden Hecken umfasst. Vier Flüsse durchqueren ihn, sie
entspringen alle derselben Quelle, am Baum des Lebens. Der Garten ist dicht, aber nicht zu
dicht bewachsen mit Nadel- und Laubbäumen. Vielleicht Zypressen. Oder Platanen. Oder
Eichen. Oder Fichten. Oder Kastanien. Ist ja egal, ein Durcheinander, aber nicht zu
durcheinander.«
»Aha. Und was hat das nun mit dem Ort zu tun, an dem wir uns befinden? Diesem Biergarten
hier?«
»Na, schauen Sie sich doch um! Was sehen Sie?«
Doch etwas neugierig geworden, wende ich meinen Kopf. Mit jedem Krug Bier, den sie
bringt, wird die junge Kellnerin schöner. Ihr dunkelblondes Haar ist zu einem Pferdeschwanz
gebunden, ihre Wangen liegen wie schlafende Halbmonde unter ihren Augenhöhlen und
glänzen kupfern.
Etwas anderes war mir noch gar nicht aufgefallen. Aber tatsächlich sitzen an allen Tischen
nur einzelne Männer. Es ist nicht gleich abzusehen, ob es sich auch um einsame Männer
handelt, aber der Verdacht liegt nahe. Andererseits sind Frauen in der Regel verfroren, und
deshalb ist diese Ansammlung unbegleiteter Männer hier im herbstlichen Waldbiergarten
nicht ganz so absonderlich.
»Ich verstehe nicht …«
Seite 3/5 »Also: Wie man auch in Kirchers Druck sehen kann, werden die Ausgänge, oder besser
Eingänge zum Paradiesgarten alle von Engeln mit flammenden Schwertern bewacht. Was ja
Sinn macht. Denn lässt man den Menschen an einen hübschen Ort, dann war’s das ja immer
bald mit der Schönheit und Freude. Kommt dort aber gar niemand vorbei, dann wächst alles
zu und das Ganze gerät in Vergessenheit. Und wir befinden uns hier genau vor einem solchen
Eingang.«
Ich lache etwas zu laut.
»Wo soll der sein?«
»Ja, wenn Sie ihn gleich sehen könnten, dann wäre ja alles zu spät. Er ist verdeckt,
verwachsen, verwuchert. Dort drüben.«
Er weist recht unmotiviert mit seinem Kinn auf eine Hecke am hinteren Ende des Biergartens.
Ich beschließe, auch etwas zu diesem Spiel beizutragen.
»Und wo sind dann die anderen Eingänge? Wissen Sie da auch Bescheid?«
»Wo sind wir hier?«
»In einem Biergarten.«
»Eben. Sie haben’s doch gesehen. Es sind nur Männer hier. Das ist die letzte Ruhe vor dem
Paradies, die Männern vorbehalten ist.«
»Also gibt es das auch für Frauen?«
»Ich denke, dass es so sein muss. Das hat aber Athanasius Kircher noch nicht drucken
können, denn es war nicht absehbar.«
»Was war nicht absehbar?«
»Na, dass Gott diese unbenutzten, überwucherten, verfallenden Paradiespforten irgendwann
verpachten würde. Aber er hat’s getan. Sind schöne Plätzchen. Deshalb sitzen wir hier.«
Ich staune. Und mache mich auf den Weg zu den Toiletten.
»Lassen Sie sich von dem nicht nerven. Der sitzt hier ständig. Tagein, tagaus. Letztes Jahr saß
er sogar noch einen Tag nach der Schließung hier. Da sah er uns beim Saubermachen und
Abbauen zu und starrte umher. Richtig gruselig. Sie halten’s schon länger an seinem Tisch
aus als die meisten Gäste.«
Ich lächle. Sie lächelt zurück.
Zurück am Tisch.
»Claus Ogerman – haben Sie von dem schon mal gehört?«
Seite 4/5 Solche Fragen bejahe ich grundsätzlich. Um mir keine Blöße zu geben. Um das Gespräch
nicht unnötig auszubremsen. Um meine Ruhe zu haben. Aber das hier ist zu heikel, denn ich
habe gar keine Ahnung, wer das sein soll. Ein Maler? Ein Artist? Ein Regisseur?
»Da könnten Sie was lernen!«
Das hilft nicht wirklich weiter. Also erwidere ich resigniert, mit den Achseln zuckend, aber
durchaus Interesse zeigend: »Nein, kenne ich nicht.«
»Er war hier. Der prominenteste Gast, den ich hier treffen durfte.«
»Ah ja. Und wer war das jetzt?«
»Ein Komponist. Und Arrangeur. Ein Stück, das nannte er Eine Skizze des Paradieses. Als er
hierher kam, da sah er alle Hoffnung schwinden. So kurz vor dem Ziel. Und dann nur
Holzbänke und Bier. Nicht dass ihm Letzteres nicht schmeckte, nein. Aber er konnte an
diesem Ort nicht lange bleiben. Er trug dieses gepunktete Hemd. Ich glaube, er verstand
plötzlich, dass seine Skizze besser war als das, was da kommen würde.«
Es wird frisch. Sicher meint es der kühle Lufthauch von den Bäumen her nicht böse. Der Alte
fährt fort.
»Aber wissen Sie: Der Tod ist eigentlich genauso egal wie das Leben.«
Das durchfährt mich. Zum ersten Mal verliert sein Erzählen den Klang der Erfindung. Ich
schaue ihm in die Augen. Versuche, seinem Blick standzuhalten. Es gelingt mir nicht lange.
Ich wende mich der alten Kastanie zu. Ein Blatt löst sich. Langsam trägt es der Wind zur
Erde.
»Kann ich dann abkassieren?«
Ich nicke freundlich. Als die Bedienung sich kurz noch einmal entfernt, erklärt der alte Mann
raunend:
»Einmal habe ich es versucht. Es ihr zu erklären. Das hier sei ja nun mal ein Garten, Bier hin
oder her. Und da sei das Abkassieren ja vollkommen unzulässig. Ob sie denn im Garten Eden
auch abkassieren würde, habe ich sie gefragt. Ich glaube ja, sie ist so eine.«
Da ist sie zurück. Er straft sie mit einem missmutigen Blick, den sie nicht weiter beachtet.
Seine Ausführungen müssen jedoch enden.
Ich nehme den letzten Schluck. Dann eile ich in Richtung Ausgang. Sie ist dort beschäftigt,
wendet sich mir aber kurz zu. Senkt die Augen und sieht mich dann mit offenem Lächeln von
unten an. Ich erwidere es.
»Sie kommen wieder?«
Seite 5/5 »Warum?«, frage ich.
»Weil es nicht egal ist.«
Und ich verliebe mich in dieses Wiederkommen. Fröstelnd eine Skizze von ihr.