Blade Runner 2

– Blade Runner 2 – Akt 1 –
A K T I : Abschied
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Julian Wangler
S t a r T r e k: Voyager
Season 8
- Crossing the Line -
Roman
Ω
~ www.startrek-companion.de ~
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Vorwort
Blade Runner ist für mich persönlich einer der
ungewöhnlichsten und prägendsten ScienceFiction-Filme. Längst nicht nur durch seine berauschende Optik hat er das Genre nachhaltig
beeinflusst. Das ist insofern verwunderlich als
der Film zeit seines Erscheinens im heiß umkämpften Jahr 1982 kaum die Produktionskosten wieder einspielte. Erst über die Zeit reifte er
zum Diamanten einer sich wandelnden ScienceFiction-Gemeinschaft heran und wird heute als
Keimzelle dunklerer Genre-Entwürfe gesehen.
Was den Film weit über seine Noir- und Cyberpunkästhetik hinaus auszeichnet, ist meines
Erachtens nach zweierlei: die feine Mischung
aus harter Dystopie rund um eine verkommene
Menschheit sowie eine besondere Empfindsamkeit, die sich im zweifelnden, verletzlichen
Helden Rick Deckard, aber auch seinem Verhältnis zur Replikantin Rachael bündelt. Wie
kaum ein anderer Kinostreifen gelingt es Blade
Runner, Zweifel an einer Welt zu säen, in der
vieles blind vorausgesetzt wird. So zeigt schließlich der Abschiedsmonolog Roy Battys, dass die
Frage nach Gut und Böse, nach Wahr und
Falsch keine ist, die sich an den bloßen Kategorien Mensch und Maschine entscheidet.
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Der Autor Paul M. Sammon merkte zu diesem
Thema einmal an: „Blade Runner ist im Grunde
ein warnender Film, der uns sagt: Der Replikant - der Bösewicht - kann in jedem von uns
stecken, auch im Menschen. Er sagt uns: Sei
kein Replikant. Behalte Dein Einfühlungsvermögen. Sei ein Mensch. So geht es in Blade
Runner nicht um das Materielle, sondern letztendlich um das Spirituelle.“
2012 begingen wir das dreißigjährige Jubiläum
einer beachtlichen filmischen Zukunftsvision,
die aktueller scheint denn je. Während Ridley
Scotts Teil zwei im Herbst 2017 erscheinen
wird, habe ich mich an meine ganz eigene Fortsetzung der Geschichte Rick Deckards begeben.
Meine Grundlage bildet die Final Cut-Version
von 2007, die nach Scotts eigener Aussage seiner Vorstellung vom Film am nächsten kommt.
Zusätzlich finden auch einige Figuren des Blade
Runner-PC-Spiels aus dem Jahr 1997 (Westwood Studios) Einzug, allerdings unter den Bedingungen einer komplett neuen Story.
Kehren Sie zurück in die fremdartige Welt von
Blade Runner. Und sehen Sie mir nach, dass ich
die Handlung der Authentizität halber um hundert Jahre nach hinten verschoben habe. ;-)
- Der Autor, Dezember 2015
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Copyright
Bei Blade Runner 2 handelt es sich um ein
nicht-kommerzielles Fan-Fiction-Projekt (s.g.
non-commercial fan-fiction), welches in keiner
Weise bestehendes Copyright oder andere Lizenzen verletzten möchte. Blade Runer unterliegt dem Copyright von Warner Bros.
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Strahlend feurig stürzten die Engel,
tiefer Donner rollte um ihre Küsten,
brennend zu den Feuern von Orc.
- William Blake, America: A Prophecy
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Zu Beginn des 22. Jahrhunderts
erzielte die Tyrell Corporation bei
der Erschaffung künstlicher Lebensformen einen revolutionären
Durchbruch: Die hoch entwickelten
Roboter, die der Konzern bislang
hervorgebracht
hatte,
wurden
durch eine völlig neuartige biosynthetische Technologie abgelöst. Mit
Nexus-1
(2048)
der Phase Nexus-5 wurde erstmals
ein dem Menschen ähnelndes Wesen geschaffen: der Replikant.
Rund
anderthalb
Jahrzehnte
nach der Herstellung des ersten
Replikanten wurde die Phase
Nexus-6
Nexus-2
(2060)
künstlichen
eingeläutet.
Diese
Menschen
waren
stärker, schneller, beweglicher
und mindestens genauso intelli7
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
gent wie die Genetikingenieure,
die sie erschaffen hatten.
Dennoch besaßen Replikanten keinerlei Rechte. Sie wurden als Sklavenarbeiter bei der gefährlichen
Erforschung und Kolonialisierung
neuer Planeten sowie zum Bau von
Raumbasen und als Kanonenfutter
in Kriegen eingesetzt.
Bei der blutigen Meuterei einer
Nexus-Kampftruppe in einer der
entlegenen
Kolonien
kamen
Hunderte Menschen ums Leben.
Seitdem waren Replikanten auf
der Erde verboten. Spezielle Polizeieinheiten – die sogenannten
Blade Runner – erhielten den
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Nexus-3
(2073)
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Befehl, dieses Verbot sicherzustellen. Ihre Aufgabe war es, jeden Replikanten, der auf der Erde entdeckt wurde, zu töten.
Nexus-4
(2087)
Blade Runner konnten außerhalb
der gesetzlichen Grenzen operieren.
Bei der Jagd auf Replikanten waren
sie befugt, bis zum Äußersten zu
gehen. Ein Blade Runner, der tötete, irrte niemals.
Für den Vorgang, einen Replikanten zu eliminieren, wurde ein
ganz neuer Begriff geprägt. Man
nannte es nicht Exekution. Man
nannte es ‚aus dem Verkehr ziehen‘.
Nexus-5,
Replikant
(2101)
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Nexus-6,
Replikant
(2115)
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Prolog
Anmerkung: Blade Runner ist ein toller
Film, ein echter Alltime-Sci-Fi-Klassiker.
Nur mit einer Szene konnte ich nie wirklich
meinen Frieden machen: der erzwungenen
Liebesszene zwischen Deckard und Rachael.
Sie war mir viel zu plump und zu roh, völlig
unpassend für das Verhältnis, das die beiden aus meiner Sicht haben. Daher nehme
ich den Prolog dieses Buches zum Anlass,
diese spezielle Szene zu revidieren und gegen meine eigene Wunschfassung zu ersetzen. So viel künstlerische Freiheit muss
sein. Auf die Geschichte hat diese kleine,
eher gefühlige Änderung aber keinerlei Einfluss.
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Die Verwandlung vollzog sich schrittweise.
Sie hatte ihr Sakko abgelegt, die Noten studiert, und dann hatte sie beschlossen, einfach zu spielen. Anschließend hatte sie ihre
strenge Frisur geöffnet, woraufhin prächtige, ungezähmte Locken zum Vorschein kamen und auf ihre Schultern fielen.
Deckard war aus seinem kurzen Erschöpfungsschlummer wieder erwacht und hatte
sich vom Bett hochgekämpft (wobei er fast
seinen Drink verschüttet hätte). Nun nahm
er neben ihr auf dem Hocker Platz, betrachtete, noch ein wenig schlaftrunken, die Notenblätter und sagte: „Ich hab‘ Musik geträumt.“
Rachael setzte erneut zum Spielen an. Ihre
Hände glitten ebenso anmutig wie zielsicher
über die Tasten, mit einem Gespür für Persönlichkeit in der Musik. Es war wunderschön.
„Ich wusste nicht, ob ich spielen kann.“,
sagte sie leise. „Ich hab‘ mich an Klavierstunden erinnert. Aber ich weiß nicht, ob
ich es war oder Tyrells Nichte.“
Ein dünnes Lächeln glitt über ihre Lippen,
ein Lächeln der aufflackernden Erinnerung,
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
größte Schätze der Identität. „Ich weiß noch,
wie ich als kleines Mädchen jeden Morgen,
gleich nach dem Aufstehen, als erstes ans
Klavier meiner Eltern ging. Ich liebte es,
darauf zu spielen. Ich habe es immer geliebt.“ Sie hob die Hände von den Tasten,
legte sie auf den Schoß. Die Musik war erstorben. Melancholie breitete sich aus.
„Aber in Wahrheit sind das alles nicht meine Erinnerungen. Ich habe nie Klavier gespielt. Das ist alles eine Lüge. Ich bin eine
Lüge.“
Ihr Leiden rührte ihn an, mehr als das.
„Doch, das hast Du.“, widersprach Deckard
ihr. Er begann sich zu fragen, wo denn der
Unterschied lag, ob es implantierte oder
‚echte‘ Erinnerungen waren, wenn Rachael
im Ergebnis so sehr zu einer unverwechselbaren Person mit besonderen Fähigkeiten
wurde. „Du hast Klavier gespielt. Und Du
tust es. Du spielst wundervoll, Rachael.“
„Was ist mit Dir?“, fragte sie ihn und wies
auf die Notenblätter. „Spielst Du mir etwas
vor? Es ist immerhin Dein Klavier.“
Deckard fuhr sich durchs leicht zerzauste
Haar und gab einen Seufzer von sich. „Ich
kann nicht spielen. Hab’s nie gelernt.“
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Rachael blinzelte verwundert. „Warum
steht es dann hier in Deiner Wohnung?“
„Ich weiß nicht. Es gefällt mir. Ich stelle
mir vor, ich könnte es. Wenn es mir schlecht
geht oder wenn ich nachdenken muss, setze
ich mich ans Klavier, klimpere auf ein paar
Tasten. Das hilft mir.“
Er schluckte schwer, als ihm eine Erkenntnis kam, die seine bisherigen Überzeugungen zu erschüttern drohte. „Du
siehst… Ich bin der Lügner, Rachel. Nicht
Du.“
Rachael legte ihre Hand auf die seine und
musterte ihn. Er fand sie unglaublich schön.
Wann hatte er eine Frau das letzte Mal so
faszinierend und ergreifend gefunden? Er
vermochte sich nicht zu erinnern. „Was da
nachts durch die Straßen zieht, was Zhora
niedergeschossen hat, dieser unerbittliche
Jäger… Das bist nicht Du.“
Sein Gesicht nahm einen fatalistischen
Ausdruck an. „Ich war nie etwas anderes.“
„Doch, tief in Dir ist ein Mann, der Du in
Wahrheit bist. Dieser Mann ist der größte
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Feind des Jägers. Er verachtet ihn. Du bist
anders. Ich weiß es.“
Erneut seufzte Deckard, drückte ihre
Hand. „Ich bereue nicht, dass wir uns begegnet sind, Rachael.“, ließ er sie wissen.
„Aber ich kann die Straße, auf der ich gehe,
nicht verlassen. Für mich ist es bereits zu
spät.“ Er gab ihr damit zu verstehen, dass er
auch die verbliebenen Nexus-6-Replikanten
verfolgen und aus dem Verkehr ziehen würde, so wie Bryant es von ihm verlangte. „Du
solltest nicht länger hier sein.“
Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln,
verwischten ihre üppige Schminke noch
weiter. Es war, als würde die gebieterische
Fassade endgültig fortgewaschen, mit der
sie ihm das erste Mal im Herzen der Tyrell
Corporation gegenübergetreten war. Zurück
blieb eine verletzliche, feinfühlige Person,
die mit ihren Blicken und Worten in sein
Innerstes einzudringen schien.
„Ich möchte nicht weggehen.“, schluchzte
Rachael. „Ich fühle mich nirgendwo sicherer
als bei Dir.“
Die Worte öffneten ihm das Herz. Deckard
spürte deutlich, wie viel dieses Wesen ihm
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
bedeutete, was er wirklich für sie empfand.
Er vermochte die Distanz nicht länger aufrechtzuerhalten.
Seine Hand fand ihre Wange, streichelte
sie…und dann neigte er sich vor, um Rachel
zu küssen.
„Ich… Ich kann mich nicht erinnern.“,
brachte sie hervor.
„Du wirst Dich erinnern. Lass es mich Dir
zeigen.“
Seine Lippen fanden die ihren. Sie ließ es
geschehen, gab sich ihm voll und ganz hin.
Was folgte, war eine lange, schlaflose
Nacht. Es war die erste Nacht, in der Deckard das Licht des Tages dämmern zu sehen
glaubte. Es sollte nicht die letzte sein.
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
01
Clovis Sacula schwebte gewichtslos im
Nichts. Auf seiner spröden, schmutzigen
Haut fühlte sich der Raumanzug wie ein
Gewand aus feinster Seide an. Ein Kabelschlauch verband ihn mit dem Gerüst, gab
ihm Luft und Sicherheit. Außerdem ermöglichte er es, ihn die ganze Zeit über zu kontrollieren.
Der Anzug behinderte ihn nur, wenn er
versuchte, die Arme weit über den Kopf zu
heben. Wenn das geschah, entspannte er
sich, schwebte eine Zeitlang und versuchte
dann, sich in eine bessere Position zu bringen, um die Arbeit an der Verbindungsstelle
fortzusetzen. Inzwischen vermied er es, die
kleinen Düsen des Raumanzugs zu verwenden – mehrmals war er dadurch übers Ziel
hinausgeschossen und hatte wertvolle Sekunden verloren.
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Der große Schraubenschlüssel in seiner
Hand besaß kein Gewicht, fühlte sich leicht
wie eine Feder an – doch er konnte eine
sehr wirkungsvolle Waffe sein, wenn er mit
den Füßen irgendwo festen Halt fand. Zum
hundertsten Mal an diesem Tag stellte sich
Clovis vor, das Werkzeug an den Kopf einer
der Aufseher zu schmettern, einen Aufstand
der Sklaven anzuzetteln und zu fliehen.
[Nummer Null-fünf-neun-sechs.], erklang
eine schroffe Stimme in seinem Ohr. [Sie
fallen hinter den Zeitplan zurück. Wenn Sie
das Siegel nicht innerhalb von vierzehn Minuten schließen, verlieren Sie Ihre Privilegien.]
‚Privilegien‘. Das war eine euphemistische
Bezeichnung für Essen, Wasser, Sauerstoff
und eine Koje – das absolute Minimum fürs
Überleben. Mehr stand einem Replikanten
nicht zu. Er war dazu gemacht worden, zu
funktionieren wie die Maschine, für den die
Menschen ihn halten wollten. Man verlor
seine Privilegien nur ein oder zweimal. Anschließend wurde der Betreffende zusammen mit dem Müll ausgeschleust, und zwar
ohne Raumanzug. Schnell würde ein anderer Arbeiter die Lücke schließen.
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Clovis ließ seine Gedanken auch weiterhin
treiben, als er über den gewaltigen Verteron-Beschleuniger hinwegsah, ein röhrenförmiges Gerüst, zehn Kilometer lang und
zwei Kilometer breit. Zusätzliche Habitatund Ausrüstungsmodule sprossen entlang
der Außenhaut, gabelten sich zusammen
mit hochsensiblen Ortungsdetektoren in
verschiedene Richtungen. Es fiel schwer,
sich die ganze Konstruktion vorzustellen,
wenn man immer nur einige dünne Stangen
sah, umgeben von der Schwärze des Alls.
Der Anblick Tausender von Arbeitern, die
Raumanzüge trugen und wie ungeschickte
Spinnen an dem Gebilde herumkletterten,
vermittelte einen Eindruck von der unglaublichen Länge der Apparatur. Kleine
Militärshuttles, die im Zentrum der langen
Röhre patrouillierten, ermöglichten eine
vage Vorstellung von der Breite.
Clovis begriff plötzlich, dass er sich trotz
der Wahrnehmung des Aufsehers nicht bewegt hatte. Ließ sich daraus der Schluss ziehen, dass er bereit für den Tod war? Sicherlich nicht. Denn er war klug genug zu wissen, dass Sterben nichts bedeutete, wenn es
auf diese Weise geschah. Sein Tod würde
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
vergeudet sein, denn er bewirkte keine Veränderung. Die Replikanten würden weiter
entehrt und rechtlos sein, und er würde als
eine Nummer von zahllosen verschwinden.
Ein Werkzeug, das seinen Dienst getan hatte. Ein Werkzeug, das man schließlich wegwarf. Mehr nicht.
Weshalb spielte er dann in letzter Zeit so
regelmäßig mit dem Feuer? Vielleicht war es
das Bewusstsein, dass ihm die Zeit davonlief, welches ihn so große Risiken eingehen
ließ. Vor wenigen Tagen war er drei Jahre
alt geworden. Er war sich im Klaren darüber, dass er bereits Dreiviertel seines Lebens verwirkt hatte, und mehr als ein Jahr
davon hatte er nichts anderes gesehen als
eben jene stählernen Aufbauten vor dem
Hintergrund ewiger Nacht.
Ich darf nicht einfach so verschwinden.
Vorher muss ich etwas erreicht haben. Für
mein Volk. Etwas, das bleibt. Aber wie sollte er in seiner Lage etwas erreichen? Er
konnte doch nicht einmal sich selbst helfen,
wie dann seinem Volk? Wie sollte er etwas
schaffen, an dem so viele vor ihm gescheitert waren, die eine weit bessere Ausgangslage für sich reklamieren konnten?
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Vielleicht, so gewahrte Clovis sich, versuchte er auch nur Roy Batty hinterher zu
eifern, den er vor fünf Monaten zum letzten
Mal gesehen hatte. Dann war er auf eine der
äußersten Koloniewelten – den Uranusmond Olympus – versetzt worden, um neue
unterirdische Industriekomplexe in Hochgefahrenzonen zu erschließen (eigentlich
eine Geringschätzung seiner Qualitäten als
erfahrenes Gefechtsmodell). Doch davor
war Batty zur Legende unter den hiesigen
Arbeitern geworden.
Er war von Träumen beseelt gewesen;
Träume, die von der Freiheit und Selbstbestimmung von Replikanten kündeten. Von
einem weit längeren Leben als nur die vier
Jahre an der Nabelschnur der Kontrolle. In
den wenigen Ruhepausen hatte er sie mit
viel Pathos in Umlauf gebracht, seine Visionen, und seitdem schien Batty präsenter
denn je zuvor zu sein. Wie ging noch einmal
dieses Gedicht, das er ständig rezitiert hatte? Er hatte den Wunsch gehegt, dem
Schöpfer von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu treten.
Clovis hatte nie verstanden, was in seinem
Bruder vor sich gegangen war, aber insge24
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
heim hatte er ihn bewundert, gespürt, dass
er etwas Besonderes war. Ob er noch lebt?
Vermutlich würde er das nie erfahren.
Nichtsdestotrotz würde Roy Batty in Erinnerung bleiben.
Clovis stülpte den Schraubenschlüssel
über einen Bolzen, sah auf die digitale Anzeige im Griff und zog an, bis der richtige
Spannungswert erreicht war. Einfach so
Abertausende Lichtjahre überbrücken…
Eine unglaubliche Vorstellung., dachte er.
Niemand von den menschlichen Ingenieuren und Wissenschaftlern schien zu wissen,
ob es wirklich funktionieren würde. Schon
bald würde man es herausfinden, und wie
dieses Experiment auch ausging: Ohne die
Nexus-6-Arbeiter hätte es niemals realisiert
werden können.
Warum also plagten ihn Gewissensbisse,
es zu nichts gebracht zu haben? Womöglich
würde er nie ein Kämpfer für die Freiheit
seiner Brüder und Schwestern sein, aber
dafür hatte er seinen Teil geleistet, der
Menschheit mit etwas Glück das Tor zu den
Sternen zu öffnen. War das nichts, worauf
man mit Stolz zurückblicken konnte, wenn
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
die Lichter des Lebens eines nicht allzu fernen Tages für immer erloschen?
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
02
Der Regen fiel schwer. Er war dicht, sauer
und roch nach Abgasen.
Rick Deckard kannte die dicken Tropfen,
die regelmäßig seine Kleidung tränkten. Seit
sich der Himmel über den Straßen L.A.s um
die Jahrhundertwende für immer zugezogen
hatte, war er zu seinem steten Begleiter geworden. Er begleitete ihn, wann immer er,
Zeitung lesend, wartete, bis sein angestammter Platz an Ho-Chis Nudelbar frei
wurde; er begleitete ihn, wenn er im Einsatz
war; er begleitete ihn, wenn er einsam
durch die Innenstadt streifte, vorbei an der
DNA-Gasse und der Animoid-Allee, um
nach getaner Arbeit einen klaren Kopf zu
bekommen und jene Einsamkeit zu vertreiben, die ihm seit er denken konnte wie ein
finsterer Schatten anhaftete.
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Auf diese Weise war das schmutzige, sintflutartig sich ergießende Wasser im Laufe
der Jahre zu einer Art Hintergrundmelodie
verschwommen, die er fast gar nicht mehr
wahrnahm, war sie doch so elementar wie
die Luft, die er einatmete.
Heute galt das nicht mehr. An diesem
Morgen, nachdem er aus dem sich öffnenden Lift des kathedralenartigen Hochhauses
getreten war, vernahm Deckard den Regen
mit einer Bewusstheit und Intensität, die er
nicht für möglich gehalten hätte. Rasch befragte er sein Innerstes nach dem Grund
hierfür und fand tatsächlich eine Antwort.
In diesem Regen hatte er jemandem beim
Sterben zugesehen.
Genau genommen kam diese Beschreibung einer unzulässigen Vereinfachung
gleich. Zahllose Male hatte er bereits beigewohnt, wie jemand aus dem Leben schied,
während die tränkende Nässe ohne Unterlass und schier aus Kübeln vom Himmel
fiel, aber in der gestrigen Nacht war eine
entscheidende Sache anders gewesen: Er
war nicht derjenige gewesen, der den Tod
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
brachte. Stattdessen war ihm unerwartet
das Leben geschenkt worden.
Roy Batty, ein Replikant der Nexus-6Reihe1, hatte sich in sein Schicksal gefügt.
Er war bereit gewesen, der Welt ihre Sünden zu vergeben – Deckard zu vergeben –,
ehe das Ende seines kurzen Lebens ihn einholte. Nach allem, was ihm angetan worden
war, hatte er bewiesen, dass er im Kern seines Herzens besser war als diejenigen, die
ihn und seinesgleichen unerbittlich jagten.
Dass er ein Herz hatte.
Nur Minuten vorher hatte Deckard noch
gegen ihn gekämpft. (Die gebrochenen Finger, notdürftig geschient, schmerzten weiterhin bestialisch.) Aber im Rückblick war
er sich nicht mehr sicher, ob es für Batty
jemals ein Kampf auf Leben und Tod gewe1
Rick Deckard hatte in seiner früheren Dienstzeit als Blade
Runner auf dem gesamten Globus Nexus-Modelle der 4er- und
5er-Generation gejagt (nach wie vor mit Abstand am verbreitetsten) und aus dem Verkehr gezogen (auch 4er und 5er waren, wie die 6er, nach dem Massaker nachträglich auf der Erde
verboten worden und wurden landläufig zu den Replikanten
gezählt, obwohl dies in wissenschaftlicher Hinsicht nicht korrekt ist). Der erste 6er, dem Deckard begegnet war, war Rachael in der Tyrell Corporation gewesen. Anschließend hatte er
Zhora bei Taffey Lewis, einem Varietéladen, ausfindig gemacht.
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
sen war. Hatte er ihm nicht vielmehr eine
Lektion erteilen wollen, bevor er ging?
Zuerst hatte er widerlegt, was eine der
Grundlehren über Replikanten war, die jeder angehende Rep-Detect verinnerlichen
musste: Einem Replikanten ist es gleichgültig, was mit einem anderen Replikanten geschieht. Das hatten sie immer gesagt. Doch
Deckard hatte gesehen, wie Batty Anteil
nahm am Verlust seiner Begleiterin. Er hatte die von Deckard brutal erschossene Pris
Stratton leidenschaftlich geküsst und ihren
Namen gewimmert.
Kurz darauf waren in strömendem Regen
Worte gesprochen worden. Unerwartete
Worte. Worte, die so viel schöner und besser als alles waren, was diese vermaledeite
Welt in einer langen Zeit hervorgebracht
hatte. Eine weiße Taube war zum Himmel
aufgestiegen, und während sich das ereignete, schien es für einen winzigen Augenblick
so etwas wie einen Wolkenbruch zu geben.
Eine beinahe unwirkliche Szene. Deckard
hatte da gesessen, geschwiegen und zugesehen. Ein Teil von ihm ahnte wohl, dass dieser Moment ihn verändern würde. Weit
mehr als das.
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Dieser Moment riss erbarmungslos fort,
was von dem einstmals so ehrgeizigen, seiner Sache so sicheren Blade Runner übrig
geblieben war. Der Mann im beigen Trenchcoat, der mit hochgestelltem Kragen und
fatalistischer Aura durch den Regen lief, um
maschinengleich seinem stumpfen, bürokratischen
Mörderberuf
nachzugehen.
Hauptsache Geld, Hauptsache Sicherheit,
Hauptsache, man schwamm mit dem
Strom. Dieser Mann existierte nicht länger2.
Am Ende gab es nur noch jemanden, der der
Spezies Mensch unverblümt in ihre hässliche Fratze starrte, der dabei erschrak…und
alles in Frage stellte, was sein Dasein, seine
Gewohnheiten und Überzeugungen ausmachte. Es war, als sähe man die Realität
mit neuen Augen.
Hoch oben auf dem Dach des BradburyGebäudes, mitten im neunten Sektor, war
Rick Deckard in dieser Nacht mit Batty gestorben und daraufhin neu geboren worden.
2
Rick Deckard hatte die Blade Runner-Einheit zwar verlassen,
bevor er von Harry Bryant unter Zwang wiedereingezogen
wurde, doch dies geschah nicht, weil Deckard seine Arbeit in
Frage gestellt hatte. Vielmehr war der Grund für seinen Austritt
die anhaltenden Schwierigkeiten mit seinem Chef gewesen.
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Als was, war noch ungewiss. Doch diese
Reinkarnation würde es nun unweigerlich
mit sich bringen, dass er alles zurückließ,
was ihm einstmals lieb und teuer gewesen
war.
Seinen Job im Rep-Detect-Department bei
der LAPD. Seine Wohnung mit all den Habseligkeiten und Reminiszenzen, die auf
einmal entwertet worden zu sein schienen,
weil er ihnen nicht mehr recht über den
Weg traute. Das Klavier. Das vertraute Bett.
Der Balkon, von dem er so oft in die
schwindelerregende Tiefe geschaut hatte,
auf der Suche nach Antworten. Die
Schwarzweiß- und sepiafarbenen Fotos und
Malereien, stille Inseln der Sehnsüchte nach
einem anderen Leben in einer anderen Zeit.
All das Hochprozentige, mit dem er sich,
wenn ihn dieser Moloch von einer Stadt
wieder einmal zu erdrücken drohte, regelmäßig die Sinne betäubt hatte, in der festen
und damals noch intakten Hoffnung, morgen würde ein besserer Tag, morgen würde
alles irgendwie anders werden.
Was war nur geschehen? Gewissermaßen
war alles anders geworden, aber auf eine
vollkommen unerwartete Weise und in ei33
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
ner Totalität, die sich seinem Fassungsvermögen immer noch entzog.
„Kommst Du, Deckard?“
Die Stimme war zerbrechlich und sanft,
klang verstört von all den Schrecken, fast
wie die eines verängstigten Kindes. Sie kam
aus dem Innern der schmucklosen Satcar.
Die Stimme hatte nur noch wenig gemein
mit dem Moment ihrer ersten Begegnung
im Herzen der Tyrell Corporation. Genau
wie alles andere an ihr hatte sie sich verändert.
Vor ein paar Tagen erst war ihm eine kühle und unnahbar wirkende Frau mit strenger Hochsteckfrisur gegenübergetreten. Enges Kostüm, forscher Gang. Sie hatte äußerst selbstbewusst gewirkt, hatte Deckard
sogleich unter Druck gesetzt, indem sie wissen wollte, ob er jemals aus Versehen einen
Menschen getötet habe. Als ihr Chef, Tyrell,
hinzustieß und Deckard bat, Rachael probehalber dem Voight-Kampff-Test zu unterziehen, hatte sie ihm einen amüsierten, beinahe spöttischen Blick zugeworfen. Nicht
im Traum schien sie daran gedacht zu haben, diese Prozedur könnte ihr innerstes
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Selbst ins Wanken bringen, alles in Frage
stellen.
Aber jetzt war nichts mehr an ihr wie zuvor. Es war, als sei eine schöne, perfekte,
aber im Grunde leblose Fassade eingerissen
worden. Dahinter waren Chaos, Zerrüttung,
Verzweiflung zum Vorschein gekommen,
jedoch auch eine kostbare Wahrhaftigkeit
und Reinheit. Sie war zu der Frau geworden, die ihn zum Licht der unausgesprochenen Wahrheit führte, das schon lange in einem Winkel seines Selbst gelodert hatte. Sie
hatte es entfacht, und nun war nichts, gar
nichts mehr wie zuvor.
Wenn er Rachael ansah, dann sah er auf
einen Schlag all das Unrecht, das er Batty
und sämtlichen Replikanten antat, die er
jemals gejagt und zur Strecke gebracht hatte. Sie war wie eine Inkarnation seines Gewissens, seiner Reue, seines erwachten
Wunsches, es besser zu machen. Er konnte
die Zeit nicht zurückdrehen, seine Taten
nicht ungeschehen machen. Was er tun
konnte, war, zu bedauern und einen neuen
Anfang zu wagen. Und das bedeutete, ihr
bei dem, was das Morgen brachte, beizustehen.
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Als er ihre Stimme hörte, bewirkte dies
umso mehr, dass er sich dieses Moments,
der nun ablief, voll und ganz gewahrte.
Es ist kein Traum. Gleich würde er mit ihr
in Richtung Norden aufbrechen. Er würde
L.A. den Rücken kehren – gut möglich, dass
er niemals hierher zurückkam –, und all das
wegen ihr. Wegen einer Frau, die nach gängigen Maßstäben nicht einmal eine Frau
war. Wie er die vergangenen Tage so Revue
passieren ließ, wusste er nicht mehr, wann
es geschehen war, doch es war geschehen.
Nur das war wichtig.
Er liebte Rachael. Und deshalb würde er
alles tun, um sie in Sicherheit zu bringen.
Die Stadt, seine alte Heimat, hatte nichts
mehr, was sie ihm geben konnte. Sie widerte
ihn jetzt umso mehr an, offenbarte sich in
einer ungeschminkten Verwerflichkeit, die
ihn unumstößlich wissen ließ, dass Schönreden nichts mehr half. Bald schon würden
ihm seine ehemaligen Kollegen im Nacken
hängen, da war er sich sicher. Bryant würde
es persönlich nehmen, das hatte er immer.
Die gewohnten Fronten würden sich in
Kürze verkehren. Aus dem Jäger würde ein
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Gejagter werden. Nicht mehr viel würde
bleiben vom Alten. Obwohl er wusste, was
er tat und sich nie Illusionen hingegeben
hatte, dass jede wegweisende Entscheidung
ihren Preis verlangte, suchte Deckard mit
einem Mal eine tiefe Leere heim. Er war ein
Mann, der seinen Glauben verloren hatte,
und nichts würde ihm dieses Vertrauen
wieder zurückbringen.
Verloren wie Tränen im Regen…
Ein fernes Echo hallte durch seinen Geist.
Die Worte waren ebenso abgrundtief traurig
wie atemberaubend hoffnungsvoll. Sie wollten nicht recht in eine Welt passen, der vor
langer Zeit jeglicher Sinn für Poesie abhandengekommen war.
Was sollte nun aus ihm werden? Er hatte
keine Ahnung. Er wusste nur, dass der alte
Rick Deckard unwiederbringlich tot war.
Seine Zukunft lag woanders, und erst einmal musste er herausfinden, wer der neue
Rick Deckard überhaupt war. Dies war ein
Punkt ohne Wiederkehr.
Schöne, neue Welt…
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Schweigend stieg er ein, und die Flügeltür
des Fahrzeugs schloss sich automatisch.
„Deckard?“
Er schaute sie an. Sah, wie eine Träne der
Furcht über ihre Wange rann. „Ich möchte
leben.“
Da war er wieder, dieser glühende, unbändige Wunsch, zu leben, der eigenen
Existenz eine Bedeutung zu verleihen. Er
hatte ihn auch bei Batty gesehen, bei Zhora,
Pris und Leon. Was für eine verrückte Ironie: Am Ende wirkten die sogenannten Maschinen vitaler, lebendiger und lebenshungriger als die meisten Menschen, denen er
begegnet war. Alles verkehrte sich. Das Motto ‚Menschlicher als der Mensch‘ war zu einer Prophezeiung geworden, die sich selbst
erfüllte, doch möglicherweise nicht in der
Art, wie es beabsichtigt worden war.
„Ja, ich weiß.“
Es stimmte: Rachael hatte nur vier Jahre
zu leben. Sie war von Tyrell so gemacht
worden. Genau wie bei den anderen Nexus6ern war die begrenzte Lebensspanne – so
hatte es Bryant und später Tyrell selbst ihm
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
erklärt – primärer Bestandteil eines Sicherungssystems. Dieses sollte verhindern, dass
die neue, kognitiv und emotional ungeheuer
fortgeschrittene Replikantengeneration eine
zu starke Eigenständigkeit entwickelte,
durch die ihr Verhalten instabil bis unberechenbar wurde – und so womöglich zur Gefahr für die menschliche Gesellschaft. Ein
Werkzeug der Kontrolle.
Es war da eine Ironie, dass Deckards eigene Erfahrungen gezeigt hatten, wie wenig
die vier Jahre in der Praxis taugten. Im Gegenteil, sie stachelten nur noch mehr dazu
an, sich zu entwickeln, eine Identität mit
eigenen Erfahrungen und Erinnerungen
auszubilden3, nach vorn zu drängen, denn
Zeit war kostbar. Der überhebliche Tyrell
war nicht nur in diesem Punkt einem dramatischen Irrtum erlegen. Seine ‚Kinder‘
hatten ihn eines Besseren belehrt.
Über Esper hatte Deckard den Großrechner des Präsidiums angezapft und sich Zugang zu Rachaels streng geheimer Akte verschafft. Sie hatte ihn nach dem Datum ihrer
3
Man mochte nur an Leon Kowalskis Besessenheit von eigenen Fotos denken, egal, wie unbedeutend sie waren, denn sie
symbolisierten seine persönlichen Erinnerungen.
39
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Entstehung gefragt. Dem Dossier zufolge
hatte Tyrell sie vor etwas mehr als vier Monaten erweckt. Blieben noch drei Jahre und
sieben Monate.
Deckard musste zugeben, er war ziemlich
überrascht gewesen, als er schwarz auf weiß
vorfand, dass Rachael eine genauso kurze
Lebenszeit beschieden war wie all den anderen Vertretern ihrer Reihe. Im persönlichen
Gespräch hatte Tyrell ihm gesagt, angesichts ihrer implantierten Erinnerungen sei
sie mit einem ‚Polster‘ für ihre emotionale
Entwicklung ausgestattet worden. Folglich
hatte Deckard angenommen, der Sicherheitsmechanismus sei deshalb nicht mehr
erforderlich, und er sei entfernt worden.
Wie sich herausstellte, war das mitnichten
der Fall. Andererseits hatte Tyrell Rachael
auch als Experiment bezeichnet, als Probelauf. Und überhaupt: Er hatte bei unzähligen Gelegenheiten bewiesen, dass er ein
verdammter Kontrollfreak war. Warum sollte er einen Sicherheitsmechanismus aufgeben, wenn er zwei haben konnte?
Vier Jahre. Der Gedanke, sie nach so kurzer Zeit wieder zu verlieren, drohte Deckard
ganz krank zu machen. War Batty nicht mit
40
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
seinem Versuch gescheitert, von Tyrell eine
Möglichkeit zu erhalten, die Lebenserwartung der seinen zu verlängern? War es also
nicht von vorneherein ein zum Scheitern
verurteiltes Unterfangen?
Nein. Die Sache ist noch nicht entschieden. Ich werde nach allem Ausschau halten,
was uns weiterhelfen könnte, Rachaels Leben zu verlängern. So schnell würde er sich
nicht geschlagen geben.
Er nannte dem Computer die Destination:
nach Norden.
Die Satcar nahm Fahrt auf und verlor sich
als eine von zahllosen im strömenden Regen. Eine Träne in einem Meer aus Tränen.
Tränen, die er nicht vergießen konnte.
Deckard schaute nicht zurück.
41
42
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
03
Am späten Nachmittag desselben Tages erreichte der Lift das siebenundneunzigste
Stockwerk. Die Transferkapsel verlangsamte, rastete ein, und die Tür fuhr mit einem
Ruck in die Wand.
Captain Harry Bryant, Leiter der RepDetect-Einheit bei der LAPD, war von finsterer Vorahnung beseelt, die er seit der Abfahrt vom Department immer weniger hatte
zurückdrängen können. Dennoch versuchte
er auch jetzt, den Zweifel von sich abzuwerfen, der an seinem Stolz zu nagen drohte.
Mit einem flüchtigen Wink bedeutete er
den drei dunkel uniformierten Polizisten in
seiner Begleitung, voranzugehen, ehe er zusammen mit Gaff die Nachhut bildete. Appartement Nummer 9732 lag direkt vor
ihnen. Sie überquerten einen schmalen
Steg, auf dem sich Licht und Schatten in
43
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
verwirrenden Mustern brachen, und dann
standen sie bereits vor der Wohnungstür.
Als die Kriminalbeamten ihren Chef fragend anzusehen begannen, wandte Bryant
sich an Gaff. Der wie immer schweigsame
Mexikaner mit den irisierend blauen Augen
und dem eigenwilligen Modegeschmack
verstand sogleich. Er verlagerte sein Gewicht auf den mit goldenem Griff verzierten
Gehstock, als er sich vorbeugte, und streckte
die Hand zur Klingel aus.
Das helltönige Schellen war aus dem Innern der Wohnung deutlich zu hören. Als
Gaff nach ein paar Sekunden den Knopf losließ, verschwand es abrupt.
Ein stiller Countdown schien in Bryant
abzulaufen. Er zählte die Herzschläge herunter, während sie warteten, dass ihnen
aufgemacht wurde. Immer noch wollte er
gerne glauben, dass Deckard gleich – samt
eines Glases Tequila in der Hand – im Türrahmen erschien und er vorzeitig Feierabend machen durfte. Heute hatte er Lust,
sich so eine kleine Blonde aus dem Early Qs
zu bestellen. Marta war zu ihrer Mutter gefahren, es war also die Gelegenheit.
44
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Doch das Schicksal, auf das er so sehnlich
hoffte, war ihm nicht vergönnt.
Hm. Immer noch gut möglich, dass er
einfach nicht zuhause ist. Vielleicht kippt er
sich bei Taffey Lewis oder irgendwo anders
im vierten Sektor einen hinter die Binde.,
dachte der Chef der Blade RunnerAbteilung. Aber warum hat er sich nicht
mehr bei mir gemeldet, dieser Scheißkerl?
Und warum kann man ihn nirgends erreichen?
Eigentlich sollte ihn dieser Umstand nicht
überraschen. Bryant erinnerte sich lebhaft
daran, dass Deckard schon immer ein störrischer Gaul gewesen war, auch bevor er
sich in den Kopf setzte, dem Blade RunnerDasein ein Ende zu bereiten. Nur mit dem
nötigen Nachdruck tat er das, was man von
ihm verlangte. Obwohl Bryant ihn seit seiner kürzlichen ‚Rekrutierung‘ noch nicht
wieder aus dem Dienst entlassen hatte,
mochte es also sein, dass Deckard sich eine
Auszeit hatte genehmigen wollen. Immerhin
hatte er mit der Erledigung dieser fahnen-
45
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
flüchtigen Nexus-6-Schweine ganze Arbeit
geleistet4. Ich würd’s ihm fast gönnen.
Aber dann war ein erneuter Anruf von der
Tyrell Corporation gekommen. Man hatte
Bryant wissen lassen, dass der mit Erinnerungen ausgestattete Prototyp namens
Rachael unbedingt und unverzüglich in die
Firma zurückgeführt werden müsse, weil
der verstorbene Eldon Tyrell ihn ohne detailliertere Konstruktionspläne entworfen
habe. Der Rachael-Prototyp war ein Experiment gewesen5; ein erfolgreiches, wie sich
herausgestellt hatte. Ohne ihn würde sich
die bevorstehende Revolution in punkto Erinnerungsimplantation um Jahre verzögern
4
Das Einzige, was Deckard gehörig vermasselt hatte, war,
seine Replikantenjagd in aller Stille durchzuführen. Er jedoch
hatte viel Aufsehen erregt, sodass die Medien die Sache spitz
gekriegt hatten. Eigentlich hatte Bryant verhindern wollen,
dass an die Öffentlichkeit drang, dass seine Blade Runner es
versäumt hatten, eine Horde flüchtiger Nexus-6er daran zu
hindern, nach L.A. einzudringen. Auch die Tyrell Corporation
konnte kein Interesse an einer solchen Meldung haben.
5
Dazu Eldon Tyrell in Blade Runner: „Rachael ist ein Experiment, nicht mehr. Alles fing damit an, dass wir an ihnen gewisse Besessenheiten feststellten. Sie sind emotional unerfahren.
Die wenigen Jahre, ich meine die Jahre, in denen sie wichtige
Erfahrungen speichern können, die Sie und ich als selbstverständlich erachten. Wenn wir ihnen etwas geben, Vergangenheit, so schaffen wir ein Polster. Wir fangen ihre Emotionen
auf, und als Folge davon können wir sie besser kontrollieren.“
46
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
– und damit auch die Revolution bei der
Erschaffung einer ganz neuen Evolutionsstufe der Replikanten.
Es war bereits das zweite Gespräch dieser
Art gewesen. Beim ersten Mal vor einigen
Tagen war Bryant der Anrufer gewesen, und
man hatte ihm gesagt, Rachael sei wegen
ihres Gehirnimplantats verschwunden; weil
sie die Wahrheit über ihre Identität erfahren hatte. Bryant hatte das alles nicht ganz
verstanden.
Kaum hatte er die Unterhaltung beendet,
da war Pete Guzzar, einer seiner Jungs, zu
ihm ins Büro hereingestürmt und teilte ihm
mit, auf einer Kamera in der Animoid-Allee
sei Rachael entdeckt worden – zusammen
mit Deckard. Das war gestern gewesen, unmittelbar nachdem Deckard das Biest Zhora
liquidierte.
Es war alles aufgezeichnet worden, insbesondere ein bemerkenswerter Vorgang: Offenbar hatte nicht Deckard – wie Bryant bislang fest annahm – den ‚Hautjob‘ Leon Kowalski aus dem Verkehr gezogen, sondern
diese robotische Blaupause von Tyrells
Nichte, und zwar mit Deckards Waffe. Danach waren sie zusammen verschwunden.
47
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Irgendwie schienen sie es ziemlich eilig gehabt zu haben.
Guzzar hatte bereits seine Verschwörungstheorie vorgetragen. Bryant hatte daraufhin
gemault und ihn weggeschickt. Bis jetzt
wollte er immer noch das Beste hoffen,
klammerte sich geradezu daran. Immerhin
gab es noch keinen triftigen Beweis dafür,
dass Deckard dieser Replikantin tatsächlich
Unterschlupf gewährt hatte.
Trotzdem wird er mir einiges erklären
müssen, wenn ich ihn in die Finger kriege.
Es waren strikte Ehrlichkeit und unbedingter Gehorsam, die er von seinen Untergebenen erwartete. Deckard hatte – soviel war
gewiss – diese goldene Regel verletzt.
Niemand öffnete. Einen Moment haderte
Bryant mit sich. Er überlegte, die Aktion
abzublasen und seine Männer zum Rückzug
anzuweisen. Dann aber kam ihm wieder das
Kommunikee mit der Tyrell Corporation in
Erinnerung. Es war ein offenes Geheimnis,
dass sie prägenden Einfluss auf die Politik
in L.A. hatte. Und wenn sie nicht rasch zufriedengestellt wurde, dann konnte es passieren, dass er und die LAPD, ehe man sich
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
versah, in einem schlechten Licht da standen.
Wenn jeder sich um sich selbst kümmert,
ist an alle gedacht.
Na schön. Sie würden einmal schnell nach
dem Rechten sehen und dann wieder die
Kurve kratzen. Deckard würde ihm die
Sorgfältigkeit verzeihen, so wie Bryant ihm
vergeben würde. Vielleicht deutete sich da
sogar eine Möglichkeit an, den Druck auf
Deckard so aufrechtzuerhalten, dass er noch
ein wenig länger in seinem Team blieb.
‚Hautjobs‘ liefen ja immer wieder in der Gegend herum, und nach den letzten Etatkürzungen und Holdens Rendezvous mit dem
Gesundheitssystem besaß er nicht mehr allzu viele Leute, denen er solides Handwerk
zutraute. Deckard war ein verfluchtes EinMann-Schlachthaus.
Auf ein flüchtiges Zeichen hin begaben
sich die Polizisten daran, die Tür aufzubrechen. Eine Minute später war das Hindernis
geknackt, und die Gruppe betrat das Penthouse.
Die Schritte verhallten dumpf im
schmucklosen Flur. Es roch leicht abgestan49
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
den, als sie das Wohnzimmer erreichten.
Regen prasselte gegen die Fensterscheibe;
das Licht vorbeifliegender Skimmer drang
abwechselnd durch die Düsternis.
Der Kassettenbau der Wohnung ließ ein
klaustrophobisches Empfinden in Bryant
aufkommen. Wie konnte man sich hier
drinnen nur wohlfühlen? Man kam sich
beinahe vor wie im Innern einer alten pharaonischen Grabkammer.
In jeder Richtung herrschte heilloses
Durcheinander. Aufgewühlte Bettlaken, ein
Haufen antiquarischer Gegenstände, die
Deckard als Sammler alles Skurrilen auswiesen, dazwischen irgendwo der Esper, das
Spezialgerät zur 3D-Analyse und -interpolation von visuellen Daten…und überall
stand schmutziges Geschirr herum. Nicht zu
vergessen die vielen Flaschen Tsingtao.
Bryant lächelte in sich hinein. Immer noch
der alte Junggeselle.
Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass
er eine Weile nicht mehr hier gewesen war.
Wie lange war das letzte Mal jetzt schon
her? Drei Jahre? Damals hatte Deckard ihn
noch freiwillig zu sich eingeladen.
50
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Dann war Bryant befördert worden, und
ihr Verhältnis erfuhr eine schlagartige Veränderung. Eigentlich hatte er nie ganz verstanden, warum. Natürlich hatte er andere
Prioritäten setzen müssen, und als Leiter
einer der wichtigsten Rep-Detect-Einheiten
Nordamerikas war er zwangsläufig zu einer
allgemein relevanten Person geworden. Irgendwie schien Deckard ihm jede einzelne
Entscheidung, die er seither gefällt hatte,
persönlich übel zu nehmen. Am Ende hatten
sie sich zerstritten, und Bryant war der
Vorwurf gemacht worden, er habe sich
durch seinen Job korrumpieren lassen.
Es ist immer leicht, als kleiner Angestellter das Maul aufzureißen., sagte er sich.
Aber die anhaltende Wirtschaftskrise war
nicht einfach wegzureden. Fakt ist, dass ich
in schwierigen Zeiten, in denen die öffentlichen Kassen leer sind und überall der Rotstift angesetzt wird, den Laden zusammengehalten habe. Wenn er dafür die eine oder
andere Regel hatte ein wenig biegen, hier
und dort etwas subtilen Druck ausüben
müssen, so nahm er diese moralische Flexibilität gerne in Kauf. Am Ende ist diese
Stadt noch genauso sicher vor ‚Hautjobs‘
51
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
wie früher, und nur das zählt. Wir knipsen
sie alle aus.
Nachdem sie einen Blick in die Küche geworfen hatten, zogen sie weiter Richtung
Schlaf- und Arbeitszimmer. Obwohl verlassen und kalt, haftete dem Raum etwas unbestimmt Belebtes an, typisch für Stätten,
die erst unmittelbar zuvor verlassen worden
waren. Energetisches Nachglühen, unbewusste Erinnerung, gespeichert in Molekülen, die noch in der Luft schwebten, berührte Gegenstände, ausgeatmete Luft. Es war
zumindest so ein Eindruck. Irgendetwas
war hier…
„Sir.“
Bryant drehte den Kopf und schaute über
das Klavier hinweg. Aus einem der Schränke
hatte einer der Officers eine Art wattiertes
Sakko gegriffen und hielt es ihm hin. Zuerst
verstand er nicht. Als er jedoch näher trat,
erblickte er den Aufnäher: Rachael Francis,
Tyrell Corporation.
Ein Schlag traf Bryant in die Magengrube.
Er spürte physische Schmerzen. Dann
stimmt es also wirklich. Er hat ihr Unterschlupf gewährt. Er hat sie hier bei sich ge52
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
habt. Seine schlimmsten Befürchtungen waren wahr geworden. Vermutlich war Deckard mit der Replikantin abgehauen, aus
welchem Grund auch immer.
Er hatte sich nicht einmal Mühe gegeben,
seine Spuren zu verwischen; wahrscheinlich
weil er wusste, dass sein Vorgesetzter ihm
früher oder später sowieso auf die Schliche
kommen und ihn jagen würde. Das schien
er in Kauf zu nehmen. Deckard hatte noch
nie auf seinen Rücken geachtet. Diese
Selbstlosigkeit zeichnete ihn auch jetzt wieder aus.
Was machst Du da nur, Deck? Warum
tust Du mir das an? Nach all den langen
Jahren. Damit hast Du alles zerstört. Bryants Ruf würde er nicht zerstören.
Ein Schwall Wut erfasste den Rep-DetectBoss und schwappte über ihn hinweg. Er
ließ sich nichts anmerken. Wir halten es
erst einmal unter dem Radar, kümmern
uns ganz diskret um die Sache. Die Männer,
die hier bei ihm waren, würden schweigen,
wenn er es ihnen befahl. Ja, Schweigen ist
jetzt Gold.
53
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Bryant nahm seinen aufmerksamen Begleiter in Augenschein, der die ganze Zeit
über geschwiegen und die Umgebung wie
ein Gespenst sondiert hatte. „Wir haben einen fahnenflüchtigen Blade Runner.“, sagte
er mit gedämpfter Stimme. Es hörte sich
beinahe unwirklich an. „Gaff, kontaktieren
Sie Guzzar. Er wird sich dieser Sache persönlich annehmen.“
„Soweit ich weiß, ist er zurzeit schon an
einem anderen Fall dran.“
„Er soll ihn abgeben.“
Gaff wölbte eine Braue. „Darüber wird er
nicht erfreut sein.“
„Vielleicht schon. Jetzt kann er die Rechnung begleichen, die er noch mit Deckard
offen hat.“
Gaffs Brauen zuckten nach oben. „Das soll
ich ihm sagen?“
„Genau das. Guzzar soll mir die Replikantin und Deckard bringen.“
Gaff blieb, wie üblich, ausdruckslos und
nickte einmal. Er würde funktionieren, wie
immer.
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Ein seltsamer Schwermut ergriff Besitz
von Bryant. Es hat Tage gegeben, da hätte
ich meine Seele verkauft, um Deckard zurückzukriegen. Letztlich hatte er das nur
mit brutaler Erpressung möglich machen
können6. Spätestens zum jetzigen Zeitpunkt
aber war sein ehemaliger Kollege zu einer
Bedrohung für ihn geworden. Aber dass
Deckard endgültig raus aus dem Geschäft
war, würde noch die geringste seiner Sorgen
sein, wenn Bryant ihn erst einmal in Gewahrsam hatte.
Ein Punkt ohne Wiederkehr war überschritten worden.
6
Deckard war in Folge ihres Zerwürfnisses ein knappes Jahr
nicht mehr im Geschäft gewesen, ehe Bryant – angesichts
akuten Personalmangels und Holdens vorübergehender ‚Unabkömmlichkeit‘ – beschloss, ihn zurückzuholen.
55
56
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
04
„Retinascan positiv. Sicherheitsfreigabe erfolgt. Sie können jetzt eintreten.“
Die monotone Stimme des Computers versiegte, und dann fuhr die massive Wand zur
Seite. Ein langer, schmaler und spärlich erleuchteter Korridor gab sich preis.
Langsam und gleichmäßig ging sie voran,
jeder Schritt ihrer Absatzschuhe von Widerhall begleitet. Nach einer Weile endeten die
Lichtplatten an der Decke, und sie trat in
tiefes Dunkel.
Wir wissen gar nicht mehr, wie es ist, in
das Licht eines neuen Tages zu treten. Zu
sehr haben wir uns an die Nacht gewöhnt,
die bei uns allgegenwärtig ist.
Die Stimme ihres Onkels drang aus ihrer
Erinnerung an sie heran. Sie war klar und
fest. Das Licht, welches er als der Visionär,
57
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
der er war, gesehen hatte, es waren die Replikanten gewesen.
Vor ihr breitete sich Helligkeit aus. Mit der
Empfindlichkeit eines Menschen, der den
größten Teil seiner Zeit bei künstlicher Beleuchtung zugebracht hatte und das wenige
Sonnenlicht, welches sie aus ihrer privilegierten Warte mitbekommen hatte, zu
schätzen wusste, wurde Anna Tyrell der
Eindruck zuteil, die Helligkeit vor sich
musste von einem fremden Stern kommen.
Sie hatte diesen Ort noch nicht sehr oft
besucht; er war erst vor wenigen Monaten
fertiggestellt worden. Ihr Onkel hatte ihn als
Refugium für sich entworfen. Sein letztes
großes Werk, eine eigene, verborgene Welt
im Herzen der Tyrell Corporation.
Einmal hatte er erwähnt, obwohl alles in
diesem kleinen Reich genetisches Kunstwerk sei, sei es für ihn gewissermaßen wirklicher als die Wirklichkeit. So wie die Replikanten für ihn menschlicher als der Mensch
waren. Das Motto hatte er geprägt, ohne
dass es einen zwangsläufigen ökonomischen
Grund dafür gegeben hätte. Es war sein persönlicher Maßstab gewesen. Er ist ohne
Furcht gestorben, denn er wusste, dass er
58
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
der Welt etwas hinterließ, das Bedeutung
hatte. Das Schaffen dieses herausragenden
Mannes wird die Zeiten überdauern.
Annas Augen waren immer noch auf das
Dunkel eingestellt; das Licht blendete sie.
Wenige Sekunden später trat sie durch die
Wölbung eines breiten Schotts…und alles
veränderte sich. Eine Umgebung nahm
Konturen an, wie man sie heute nicht mehr
auf Erden fand. Vielleicht sah so einst das
Paradies aus, geschaffen von einem Gott
der Schöpfung., sagte sie sich. Oder von einem genialen Genetikdesigner. Womöglich
war es ein und dasselbe.
Eine warme Brise strich durch ihr Haar,
und sie roch frische Erde, den Duft von wilden Blumen und Sträuchern. Ein Bach plätscherte dicht neben ihr über einen Felsen
und sprühte in einem regenbogenfarbenen
Nebel in ihr Gesicht. Sie atmete frische Luft
ein.
Auf der rechten Seite erstreckte sich ein
dichter Wald vor ihr. Es war die schönste
Landschaft, die sie jemals gesehen hatte; ein
Märchenwald aus einem Kinderbuch. Die
knorrigen Bäume wirkten uralt und geheimnisvoll. Linkerhand verliefen bewach59
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
sene Hügel, bis hin zu einer steil abfallenden Felsklippe, über die sich ein urgewaltiger Wasserfall in einer Gischt ergoss, zu seinen Füßen ein lichtgesprenkelter See. Das
Gras auf der unebenen Wiese war weich und
glatt wie grüner Samt, gesprenkelt mit Feldern aus Wildblumen von tiefem Blau und
kräftigem Orange.
Anna hob den Kopf und blickte in einen
makellosen blauen Frühlingshimmel. Nirgends war die Begrenzung der inneren
Mauern zu erkennen. Ein Wunderwerk der
Illusion, geschaffen durch hoch entwickelte
holografische Projektoren. Wenn man hier
war, war es so leicht, die Welt dort draußen
zu vergessen. Man konnte sich ganz verlieren.
„Ich bin hier, Vater.“
Gewogen im Schutz zweier breiter Eichen
ruhte Eldon Tyrell. Das Grab aus reinem
Marmor war noch ganz frisch, und doch
kam es Anna, als sie näher trat, vor, als sei
die Beerdigung nicht erst am gestrigen
Vormittag gewesen. Als wäre sie schon länger her. Doch das stimmte nicht.
60
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Eine Weile schwieg sie. Dann brachte sie
ein geseufztes „Du fehlst“ hervor.
Es war die Wahrheit. Alles an ihm fehlte
ihr: Ihre Gespräche über Gott und die Welt,
die Pläne für die Zukunft, die sie zum Wohle
der Menschheit als unschlagbares Team
schmiedeten, ja selbst die regelmäßigen
Schachpartien. Sie vermisste den Mann
schmerzlich, der sich nach dem Tod ihrer
Eltern der kleinen, damals gerade fünf Jahre alten Anna angenommen hatte…und ihr
Vater geworden war.
Der Mann, der in ihr die Begeisterung für
künstliches Leben schuf, der ihr alles beibrachte. Der Mann, der ihr wissenschaftlicher Partner wurde. Natürlich maßte sie
sich nichts an. Er, Eldon, hatte die entscheidende Arbeit geleistet; sie hatte ihre bescheidenen Beiträge geleistet, wo sie konnte.
So ging aus ihrem gemeinsamen Wirken
schließlich Nexus-6 hervor.
Anna wusste genau, wie sehr er sie geliebt
hatte. Als Beweis dieser Liebe hatte er den
Rachael-Prototypen nach ihrem Antlitz
entworfen, und er hatte sie mit ein paar ihrer Kindheitserinnerungen ausgestattet,
einschließlich der musischen Begabung,
61
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
durch die Anna sich stets ausgezeichnet hatte7. Wenn die Schwelle zwischen Maschine
und Menschsein genommen würde, hatte er
gesagt, so solle der Fortschritt ihr Gesicht
tragen.
Es bestand kein Zweifel: Sie stand tief in
seiner Schuld. Sie hatte ihm alles zu verdanken, was sie heute war, denn er hatte sie
an seinem einzigartigen Leben teilhaben
lassen. Zumindest an seinem Leben als Ikone der Biosynthetik und an den meisten anderen Dingen, die ihn ausmachten. Niemand war ihm so nah gewesen wie sie.
Doch trotz des innigen Verhältnisses, das
sie beide teilten, hatte Anna stets gewusst,
dass Eldon seine gut gehüteten Geheimnisse
besessen hatte. Seine ganz eigenen Gedanken, in die er niemanden einweihte. Sie hatte stets vermutet, dass einige dieser Gedan7
Rachael war von Anna ferngehalten worden, um nicht zu
erfahren, dass sie eigentlich die künstliche Nachahmung eines
Menschen war. Seit ihrer Aktivierung war von Eldon Tyrell um
sie herum die perfekte Illusion erzeugt worden, sie sei eine
seiner Assistentinnen. Dies war Teil seines Experiments gewesen. ‚Wie kann es nicht wissen, was es ist?‘, sollte Deckard
Tyrell später einmal fragen, verblüfft darüber, dass dieser einen
Replikanten geschaffen hatte, der nicht nur menschlicher daherkam als alle zuvor dagewesenen Replikanten, sondern der
sich auch selbst für einen Menschen hielt.
62
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
ken mit dem Umstand zusammenhingen,
dass er in fortgeschrittenem Alter umtriebig
wie nie zuvor geworden war, was sein Schaffenswerk anbelangte. Nach zahllosen Innovationen hatte er unbedingt alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen, einen
Quantensprung in Sachen Replikantenevolution hervorbringen wollen. Das war Nexus-6 geworden, bis hin zu Rachael.
Dieser unglaubliche erfinderische Vorgang, mutmaßte Anna, hatte jedoch nicht
mehr einzig zum Ziel, die Menschheit mit
einer visionären Segnung des Fortschritts zu
beglücken, oder den Marktwert der Tyrell
Corporation um ein weiteres Mal zu vervielfachen – so etwas waren nur nützliche Nebeneffekte. Nein, diesmal, so glaubte sie,
war es ihm um etwas anderes gegangen. Um
etwas Persönliches.
Manchmal waren die Dinge ganz einfach.
Eldon war ein großer Mann gewesen, und
wie bei großen Männern üblich, taten sie
sich schwer mit der Vorstellung, eines Tages
zu verschwinden. Eldon hatte nicht verschwinden wollen. Er liebte seine Adoptivtochter aufrichtig, aber zu Lebzeiten war es
nie für ihn in Frage gekommen, zur Seite zu
63
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
treten und ihr das Zepter zu übergeben. Er
hatte die Arche Tyrell Corporation, vor sieben Jahrzehnten von seinem Vater gegründet, stets gelenkt. An seiner Autorität hatte
er nie einen Zweifel gelassen. Aber da die
Zeit flüchtig war und für ihn ein noch knapperes Gut, musste er etwas unternehmen.
Eldon hatte nie darüber gesprochen, doch
Anna hatte seit einigen Jahren einen Verdacht gehegt: dass er in einem gut abgeschirmten Winkel seines Selbst mit dem
noch vagen Gedanken spielte, zu gegebener
Zeit sein gesamtes Wissen und seine Persönlichkeit in einen ihm selbst perfekt
nachempfundenen Replikanten zu überspielen und diesen an seiner statt weitermachen
zu lassen. Er hatte gewusst, dass er aufgrund des Diordna-Syndroms, das bei ihm
im Frühstadium diagnostiziert worden war,
nicht mehr sehr lange zu leben haben würde. In der Öffentlichkeit hatte er es geheim
gehalten, und auch im Privaten hatte er so
gut wie kein Wort darüber verloren. Wenn
Anna ihn darauf ansprach, so hatte er abgeblockt oder sich rasch in ein anderes Thema
geflüchtet.
Anna hing einen Augenblick der Vorstellung an, irgendwann wäre eine makellose
64
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Kopie ihres Vaters durch die Flure der Firma gelaufen, ohne dass jemand davon wusste. Eine bizarre Vorstellung.
Egal, was Eldon tatsächlich vorgehabt hatte oder nicht: Das Ende war in jedem Fall zu
früh für ihn gekommen. Er hatte seine Arbeit nicht abschließen können. Wenn es
denn überhaupt den Zeitpunkt gab, ein
solch überragendes Werk jemals abzuschließen.
Es war seltsam. Jetzt, wo Eldon Tyrell
nicht mehr lebte, schien ihm diese Stätte
eine Ruhe zu vergönnen, die ihm zeit seines
Lebens voller Selbstdisziplin, Pflichten und
großer Schicksalstaten nur selten geschenkt
worden war. Anna wollte gerne glauben,
dass er hier frei war von all den Sorgen, all
dem Druck seiner irdischen Existenz, in der
er andauernd gekämpft hatte und nie zufrieden mit sich gewesen war. Das Dasein
eines stets suchenden und strebenden Wissenschaftlers, den eine Vision beseelt hatte,
welche die Menschheit nachhaltig veränderte. Hier konnte er endlich loslassen.
Anna ließ den Blick schweifen. Eine gewaltige Engelsstatue prangte über dem Grab.
Sie bot dem Betrachter einen Spruch preis:
65
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Ich ward aus Staub und Nebel geboren,
und in den Staub und Nebel kehrte ich zurück, doch zuvor wollt‘ ich den Glanz des
Himmelslichtes spüren.
Das stammte aus einem seiner Gedichte.
Es passte zu dieser Stadt, der Eldon stets die
Treue gehalten hatte. Trotz unzähliger Empfehlungen aus dem Aufsichtsrat, den Sitz
der Corporation auf eine der Kolonien zu
verlegen, war das hier seine Wirkenssphäre
gewesen, vom Anfang bis zum Schluss.
„Du bist hier in Sicherheit, Vater.“, sprach
sie sanft. „Ich werde mich um Dein Vermächtnis kümmern. Ich werde es in Ehren
halten. Das verspreche ich.“
Sie konnte das Genie Eldon Tyrells niemals ersetzen, aber als neue Vorstandsvorsitzende der Tyrell Corporation würde sie
alles tun, um das Himmelslicht zu bewahren, das er über die Menschheit gebracht
hatte. Er hatte geahnt, dieser Tag mochte
kommen. Und er hatte ihr genug beigebracht, um sie auf darauf vorzubereiten. Zusammen mit den Leuten, die unter ihrem
Onkel gearbeitet hatten, würde sie weitermachen.
66
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Doch dazu war es unerlässlich, den Rachael-Prototypen zurückzubekommen. Sie
hatte sich Bryant gegenüber sehr deutlich
ausgedrückt. Koste es, was es wolle.
Schweigend, umweht vom süßen Duft des
falschen und doch so richtig wirkenden
Idylls um sie herum, leistete Anna ihren
Schwur. Dann war sie bereit, ihren Onkel
wieder seinem Frieden zu überlassen.
Gerade wollte sie wegtreten, da fiel ihr auf,
dass jemand eine schwarze Rose an Tyrells
Grab gelegt hatte. Kalt und dunkel wie die
ewige Nacht über den Straßen von L.A.,
aber wunderschön.
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
05
[BR-61661, melden Sie sich im Hauptquartier. Code drei, wiederhole, Code drei.]
Ray McCoy hätte fast den Coffee-to-go
verschüttet, den er sich von Ho-Chis Nudelbar mitgenommen hatte und der ihm dabei
half, die Zwölf-Stunden-Streife zu überstehen. In dem Moment, als der Ruf unerwartet durchs Interkom seines Spinners drang,
nippte er gerade an dem Heißgetränk, die
andere Hand eher lässig am Steuer.
Kaum wurde sein Griff locker und rutschte
der Becher, vernachlässigte er auch seine
Aufmerksamkeit hinsichtlich des Verkehrs.
Der Skimmer brach aus der vorgesehenen
Spur aus und hätte beinahe ein entgegenkommendes Fahrzeug gestreift.
Eine grelle Hupe schallte vorüber. Adrenalin pulste in seiner Magengrube.
69
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Schätze, jetzt bin ich wieder wach. McCoy
stellte den Kaffee wieder in den Getränkehalter und fragte sich, ob er gerade richtig
gehört hatte. Code drei? Das konnte doch
nicht möglich sein.
Er dachte zurück. Code drei hatte er nicht
mehr bekommen, seit irgendeine Nutte Bryants Schreibtisch vollgekotzt hatte…und er
die Säuberungsaktion leiten durfte. In den
anderthalb Jahren bei den Blade Runners
war das immer noch einer der dreckigsten
Jobs gewesen, obwohl McCoy trotz seiner
nach wie vor jungenhaften Erscheinung
auch kein unbeschriebenes Blatt mehr war.
Wenigstens glaubte er das gerne.
Er versuchte es positiv zu sehen. Dieser
Ruf mochte eine willkommene Abwechslung
sein, denn das Aufregendste, was er in den
letzten Wochen gesehen hatte, war eine
schizoide Roma, die in ihrer Unterwäsche
Tänze aufgeführt hatte. Die Streifen waren
wirklich das Schlimmste.
Eilig ging er auf neuen Kurs und steuerte
das Hauptquartier an. Nach einer halben
Stunde schwoll der riesige, graubraune
Turmbau aus dem Dunst des nächtlichen
70
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
L.A., ein beleuchteter, zylindrischer Monolith, um den herum rege Flugaktivität
herrschte. McCoy ließ sich von der Flugleitung einen freien Landeplatz zuweisen und
brachte den Skimmer mit einigen routinierten Handgriffen herunter.
Eine Viertelstunde später saß er in Lieutenant Guzzars Büro und betrachtete den
Bären von einem Mann, der gerade hinter
seinem Schreibtisch Platz nahm und einen
Zigarettenstummel im dafür vorgesehenen
Aschenbecher ausdrückte.
McCoy kannte ihn nicht sonderlich gut,
aber er wusste, dass Guzzar einer der alten
Hasen war, die auch die hässlichen Sachen
in den Straßen gesehen hatten. Trotz der
ansehnlichen Narbe, die seine Wange zierte
– und die, wie man munkelte, aus seinen
Jahren als Berufsanfänger stammte – wirkte er zumeist umgänglich, doch wenn man
kein Freund von ihm war, musste man sich
besser vorsehen. Steele hatte ihm vor einer
Weile anvertraut, man könne es sich schnell
mit Guzzar verscherzen, und als ehrgeiziger
Einsteiger bei der LAPD wollte McCoy besser nichts riskieren.
71
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Der Andere räusperte sich. „Also… Sie haben das Recht und die verdammte Pflicht,
alles, was wir hier besprechen, für sich zu
behalten, Bürschchen.“
Wie immer stand keine Widerrede im
Raum. „Ist klar, Sir. Ich bin für alle Schandtaten zu haben.“
„Schandtaten, gutes Stichwort. Ich hoffe
doch, Sie haben die freie Zeit genossen…“,
nuschelte sein Gegenüber und schaute ihn
aus zu Schlitzen gekniffenen Augen an.
„Denn jetzt kann’s wirklich unangenehm
werden.“
„Code drei. Also, da scheint ja wirklich die
Bude zu brennen.“ McCoy kratzte sich am
Hinterkopf. „Ich nehm‘ an, es geht um einen
frei herumlaufenden ‚Hautjob‘?“ Beim Gedanken, sich endlich mit einem erlegten Rep
die entscheidenden Sporen zu verdienen,
lief ihm schon das Wasser im Mund zusammen.
„Schlimmer.“, sagte Guzzar. „Diesmal ist
es unser Haus, das brennt. Jemand ist uns
von der Stange gegangen. Bryant ist außer
72
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
sich. So was ist ihm in seiner Dienstzeit
noch nie passiert.“
„Außer sich? Wieso?“
Guzzar blähte die Nüstern seiner breiten
Nase. „Es sieht ganz danach aus, als hätte
Deckard ein doppeltes Spiel mit uns getrieben. Er ist zusammen mit dieser Nexus-6Schlampe verschwunden. Rachael oder
so…“ Der Lieutenant schnitt eine Grimasse.
„Ich finde es widerlich, dass man dazu
übergegangen ist, den Scheißteilen menschliche Namen zu verpassen. Das nur nebenbei angemerkt.“
McCoys Gedanken ratterten. Was er da zu
hören bekam, klang unfasslich und zudem
nicht gerade logisch. Ein Blade Runner, der
sich mit einem Rep verbrüdert hatte? Und
dann noch eine lebende Legende des Ausdem-Verkehr-Ziehens wie Deckard? Das
schien bereits ein Widerspruch in sich zu
sein.
„Deckard und die Replikantin? Das klingt
ziemlich… Ähm… Ist diese Information gesichert?“
73
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Guzzar zog einen Mundwinkel hoch und
entblößte einen schiefen, blitzenden Zahn.
„Sagen wir, wir sind uns zu achtundneunzig
Prozent sicher – nachdem wir Deckards
Saustall von einer Wohnung ins Visier genommen haben. Noch gibt es zwar keine
absoluten Beweise, aber dafür aussagekräftige Hinweise. Und die gefallen Bryant ganz
und gar nicht.“
McCoy warf die Stirn in Falten. „Eine Sekunde. Warum sollte Deckard mit einer
Replikantin das Weite suchen? Das alles
ergibt doch keinen Sinn.“
Guzaar hob und senkte seine mächtigen
Schulterblätter. „Fragen Sie mich ‘was
Leichteres, Bürschchen. Aber egal, wie
man’s dreht und wendet: Diesmal ist Deckard zu weit gegangen.“ Ein erhobener Zeigefinger spreizte sich vom Handballen des Lieutenants. „Er wird dafür seinen Kopf hinhalten müssen. Bryant hat mich mit der Sache beauftragt. Er will, dass Sie und Steele
mich unterstützen. Wir werden ein Team
bilden.“ Ein herausfordernder, leicht hämischer Blick entstand auf Guzzars Gesicht.
„Jetzt können Sie beweisen, dass Ihre Ausbildung die ganze Staatsknete wert war,
74
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Kleiner. Jetzt können Sie den Blade Runner
wirklich ‘raus lassen.“
Hat da jemand Erwartungen an mich?
McCoy blickte zur Seite; der Stuhl neben
ihm war immer noch unbesetzt. „Apropos:
Wo ist Steele eigentlich?“
Guzzar fingerte eine neue Zigarette hervor
und zündete sie sich an. „Ist noch an einem
Sonderauftrag in New York dran. Müsste
aber in einem halben Tag oder so wieder
zugegen sein. Sie können die Zuckerschnecke zu mir schicken, wenn sie Ihnen über
den Weg läuft.“
Was er soeben gehörte hatte, ließ McCoy
nicht los. „Wo könnte Deckard nur mit ihr
hingehen? Ich meine, mit der Replikantin.“
„Das ist völlig offen.“ Guzzar rieb sich
grüblerisch über den Dreitagebart. „Tyrell
ist mucksmäuschentot, und Rachael war ein
spezieller Prototyp, der vor Ort arbeitete
und später Reißaus nahm, als sie die Wahrheit über sich erfuhr… Wegen dieser ganzen
Erinnerungsscheiße. Die ganzen Einzelheiten kriegen Sie noch in einem separaten
Memo. Ich glaube aber nicht, dass sie – an75
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
ders als dieser ausgebuffte Roy Batty – versuchen wird, in die Corporation zurückzukehren. Das Erste, was wir tun müssen, ist
dort anzufangen, wo alles begann. Wenn wir
‘rausfinden wollen, was Deckard vorhat,
müssen wir diese letzte ‚Hautjob‘Geschichte, mit der er beauftragt war, genauestens unter die Lupe nehmen. Was ist
dort passiert? Was hat seine Sicht der Dinge
geändert? Ist er bestochen worden? Hat ihm
jemand ‘ne gottverdammte Gehirnwäsche
verpasst? Solche Fragen interessier’n uns.“
„Okay, Lieutenant.“, sagte McCoy. „Wird
Holden eigentlich auch bei uns mitmachen?“
Guzzar offenbarte ein zynisches Grinsen.
„Holden ist derzeit ganz gut damit beschäftigt, sein Essen durch einen Strohhalm zu
saugen. Nein, wir werden ein Trio Infernale
bilden, und dazu noch eines, das die Klappe
zu halten versteht… Selbst im Präsidium.
Klar?“
„Klar wie Kloßbrühe, Sir.“
Guzzar begann in einem der Papierstapel
zu kramen, die die Hälfte seines Schreibti76
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
sches bedeckten. „Der Auftrag lautet, die
Replikantin zur Tyrell Corporation zurückzubringen…und Deckard festzunehmen, tot
oder lebendig. Aber die letztere Entscheidung überlassen Sie besser mir.“ Im nächsten Moment sah sich McCoy mit einer
faustdicken Mappe konfrontiert. „Hier ist
die Akte von Deckards letztem ‚Hautjob‘Fall. Der Rest ist im Großrechner von Esper
gespeichert. Machen Sie sich damit vertraut,
und zwar dalli.“
„Ja, Lieutenant.“ McCoy erhob sich und
ging auf die Bürotür zu.
Hinter ihm räusperte sich Guzzar hörbar.
„Sagen Sie, McCoy, haben Sie Deckard jemals kennengelernt?“
„Ähm, nein, Lieutenant. Als ich kam, hatte
er sich gerade wegversetzen lassen.“
Tiefes, bösartiges Gelächter stieg aus der
Brust des Lieutenants auf. „Na dann haben
Sie ja noch ‘was vor sich. Man sieht sich,
Kleiner.“
Guzzar schien eine persönliche Geschichte
mit Deckard zu verbinden. McCoy tippte
77
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
darauf, dass er sie früher oder später erfahren würde.
Mit Deckards Akte unter dem Arm kehrte
McCoy auf das Dach des Hauptquartiers
zurück. Der Plan war simpel: Er würde den
Skimmer nehmen, sich für ein paar Stunden
in die wohlverdiente Falle hauen, und morgen würde ein neuer Tag beginnen. Auch,
wenn er noch nicht wusste, was ihn da erwarten würde. Gut, um genau zu sein, wusste er es schon, aber...
„Machst Du heute Nacht blau, Cowboy?“
Eine Stimme war aus der Dunkelheit gekommen; eine Stimme, die zu viele Zigaretten gesehen hatte. McCoy drehte sich um
und sah zuerst Chrystal Steeles blitzende
Sonnenbrille. Er hatte nie recht verstanden,
warum jemand in einer Stadt, die die Sonne
zuletzt vor anderthalb Jahrzehnten gesehen
hatte, einen Lichtschutz tragen musste,
doch darum schien es Steele auch gar nicht
zu gehen. Die Brille war ein Stilelement, ein
angestammtes Markenzeichen. Sie passte zu
78
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
ihrem düsteren Lederaufzug mit dem kurzen, ebenholzfarbenen Haar.
Steele hatte es faustdick hinter den Ohren.
Hatte sie die Lizenz zum Töten, knallte sie
alles über den Haufen, was nicht bei drei auf
den Bäumen war. Sie war eine gottverdammte Killermaschine. Er hatte sie zwar
noch nicht in Aktion erlebt, aber auf der
Wache erzählte man sich so einiges. Und
eines dieser Gerüchte besagte, dass Steele
eiskalt vorging, ohne mit der Wimper zu
zucken. Ihre Zielobjekte schlachtete sie
gnadenloser ab als ein meuternder Rep.
„Steele.“, sagte er und versuchte, sich den
anfänglichen Schrecken nicht allzu sehr
anmerken zu lassen. „Ich dachte, Du hast
einen Sonderauftrag in New York?“
Sie winkte ab und legte eine Hand in ihre
schlanke Hüfte. „Ach, die Jungs und Mädels
dort brauchten wieder mal etwas Schützenhilfe. War nichts Besonderes, nachdem ich
die Wickser weggeblasen hatte.“
„Was ist passiert?“
79
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
„Ein paar Reps haben sich bei Kaiser als
Fibroplastarbeiter ausgegeben. Ich hab‘
mich als Krankenschwester verkleidet. Sie
hatten keine Chance.“
McCoy schluckte. „Kann ich mir vorstellen. Hast Du den Test gemacht?“
„Ach, quatsch.“ Mit der Zigarette in der
Hand vollführte sie eine kreisende Bewegung. „Ich fühl‘ da diese Intuition in meinem Bauch, und die hat mich noch nie im
Stich gelassen. Wenn Du die entwickelst,
hast Du ‘ne glänzende Karriere vor Dir.“
„Okay,“, meinte McCoy, „ich arbeite dran.“
„Jetzt, da die Hurensöhne Kleinholz sind,
dürfte es keine frei herumlaufenden
‚Hautjobs‘ von Ganymed mehr geben. Ich
sag‘ Dir: Nach der ganzen Scheiße, die uns
diese irrlichternden Wahnsinnigen von
CARS da eingebrockt haben, könnt‘ ich echt
‘nen Erholungsurlaub gebrauchen. Diese
gottverdammten Reps…“, fluchte Steele.
„Ich sag‘ Dir: Man sollte diesen Tyrell in einen Leichensack stecken und zum nächsten
Stern schießen.“
80
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
„Er steckt in einem Leichensack.“
Steele klopfte sich gegen die Schläfe.
„Stimmt ja. Das verlorene Schaf von Olympus kehrte heim zum Hirten.“
„Und vergiss nicht…“, fuhr McCoy fort.
„Wenn es ihn und sein Vermächtnis nicht
gäbe, gäbe es auch uns nicht.“
Steele ging nicht darauf ein. Stattdessen
trat sie näher an ihn heran und blies ihm
eine Rauchwolke ins Gesicht. „Als Platon
unterm Olivenhain machst Du ‘ne gute Figur, Cowboy. Aber wie steht’s mit Deinen
Reflexen beim Coltzücken?“
„Ich denke, ich werde immer besser.“
„Ach ja?“
„Jedenfalls komme ich am Schießstand
Deinem Ergebnis immer näher.“
„Ich rede nicht vom Schießstand. Ich rede
vom wirklichen Leben. Guzzar hat sich gerade bei mir gemeldet. Er will, dass ich Euch
bei irgendwas unter die Arme greife.“
81
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
„Sieh einer an.“, stellte McCoy fest und
wusste nicht recht, ob er begeistert sein sollte. „Dann sind wir jetzt ja Partner, wie’s
scheint.“
„Ja, reizend, was? Code drei. Sag bloß, ich
muss irgendwelche Kotze wegwischen?“
Eine Gruppe Polizisten huschte an ihnen
vorüber. „Ich glaub‘ eher nicht. Guzzar wird
Dich aufklären.“
Über ihrer Sonnenbrille wölbte Steele die
dünn gezupften Brauen. Sie ließ die Zigarette zu Boden fallen, trat sie lässig aus und
setzte sich in Richtung Lift in Bewegung.
McCoy sah ihr nach.
„Du kannst jetzt übrigens aufhören, mir
auf den Arsch zu glotzen.“
„Sag mal, hast Du Augen, von denen ich
nichts weiß?“
Nachdem sie in den Fahrstuhl eingetreten
war, drehte sie sich um. „Du brauchst nur zu
fragen, Cowboy.“ Die Tür schloss sich mit
einem Knall.
82
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
McCoy blieb allein. Sein Blick ging zur
Mappe, auf der eine Codenummer stand:
26354. „Tja, ich schätze, die Jagd ist jetzt
eröffnet.“, hauchte er.
Es klang irgendwie gewöhnlich, doch das
war es nicht. Diesmal jagten sie einen der
Ihren. Sie jagten einen Blade Runner.
83
84
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
06
LAX-Airport.
Das riesige Zentralterminal des gewaltigen
Komplexes hallte von Startaufrufen, Durchsagen von Abflug- und Ankunftszeiten,
Suchrufen nach verlorengegangenen Kindern, Werbedurchsagen in verschiedenen
Sprachen wider. Die Luft war überladen mit
sich vermischenden Aromen – von der präzisen Härte der gefilterten und wiederaufbereiteten Luft über die exotischen Gewürze
der Schnellimbisse bis hin zur komplexen
Tapisserie der Ausdünstungen der sich
durch die Hallen wälzenden Menschen.
Eine der Abflughallen zu verlassen hieß,
mit einem Suborbitalflug in weniger als fünf
Stunden jeden Ort auf der Erde erreichen zu
können – theoretisch jedenfalls, denn viele
Lufträume waren infolge des Dritten Weltkriegs immer noch geschlossen oder nur
85
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
sehr eingeschränkt passierbar; es kam häufig zu Verspätungen und uneingeplanten
Zwischenstopps.
Es lag, wie man finden konnte, eine gewisse Ironie darin: Nie war die Menschheit in
der Lage gewesen, Personen so schnell an
andere Orte zu befördern, und jetzt, wo sie
es vermochte, verhinderten Fragen der
Umweltkontamination, militärischen Sicherung oder internationalen Freizügigkeit –
Dinge, die früher selbstverständlich gewesen waren –, dass längst nicht alle Orte von
den modernen Suborbitalmaschinen angesteuert werden konnten.
Der Mensch war auf der Entwicklungsleiter der sogenannten zivilisatorischen Evolution emporgestiegen, aber im Grunde war er
im gleichen Maße auch ein unglückliches,
unerfülltes Wesen geworden, denn das soziologische Wissen hatte mit dem technologischen nicht Schritt halten können: Politik
und Terroristen hatten mit neuen Kriegsspielzeugen langwierige und tiefgreifende
Konflikte ausgelöst, korrupte, bloß auf Eigennutz bedachte Industrien das letzte Bisschen der natürlichen Ressourcen ausgeplündert, und in Folge dessen waren zahl86
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
reiche Gebiete chemisch oder gar nuklear
verseucht. Auf diese Weise war der Globus
ein Flickenteppich der Krisengebiete geworden, die weiterhin große Unberechenbarkeiten für den internationalen Personenund Warenverkehr bereithielten.
Man konnte natürlich auch vom LAX in
Richtung einer der Kolonien aufbrechen. Im
Gegensatz zu den Suborbitalflügen waren es
hier nicht die externen, sondern die internen, sprich individuellen Limitierungen, die
eine Rolle spielten: Erbanlagen, Gesundheit,
verfügbares Einkommen und so weiter. Auf
den omnipräsenten Reklameschildern und
über die Lautsprecherdurchsagen wurden
die Koloniewelten wie ein zweites Walhalla
angepriesen – vollmundig wurden Abenteuer und goldene Gelegenheiten versprochen,
die Chance, ganz neu anzufangen in einem
Land, wo Milch und Honig fließen.
Die traurige Wahrheit jedoch lag allzu
deutlich auf der Hand: Eine zweite Erde war
weit und breit weder in Sicht noch erreichbar. Im Angesicht des unaufhaltsamen Niedergangs ihrer Wiege hatte die Menschheit
begonnen, verzweifelt umherzutreiben und
einige Felsen im Sonnensystem gesucht, an
87
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
denen sie sich festhalten konnte, um Atem
zu holen. Selbst all die fortschrittliche Technologie und die unermüdliche Arbeit von
Replikantensklaven, all die Anstrengungen,
die Illusion einer neuen Heimat zu erschaffen, nützten da nur sehr begrenzt etwas. Es
war ein offenes Geheimnis, dass keine einzige der insgesamt zwölf Kolonien auch nur
ansatzweise dazu in der Lage war, einen beträchtlichen Teil der Erdbevölkerung aufzunehmen8.
Also hatte man ein Geschäftsmodell für
die Reichen daraus gemacht. Unter der Ägide von renditehungrigen Lobbyisten und
Bessermensch-Ideologen war in den meisten Kolonien ein völlig neues Ausmaß an
Segregation etabliert worden. Kranke und
sozial Schwache hatten dort keinen Platz.
Die wenigen Privilegierten waren in der
schönen, neuen Welt unter sich, wo sie ein
Heer von Replikantendienern zu ihrer Verfügung hatten – von Wächtermodellen, über
8
Auf allen Kolonien zusammen genommen lebten bis dato
rund 19,5 Millionen Menschen – eine verschwindend geringe
Zahl angesichts der 8,6 Milliarden, die auf der Erde verblieben
waren. Es handelte sich neben den Reichen, Wissenschaftlern
und kreativen Unternehmern vornehmlich um kolonialen Ingenieure und Architekten sowie Industriearbeiter, die die Replikanten befehligten.
88
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Haushaltsmodellen bis hin zu Lustmodellen.
In ihrem Verlangen nach noch mehr
Reichtum und Macht hatten einige der Kolonien den Hals nicht voll bekommen können und in den letzten Jahren damit begonnen, sich zu befehden. Privat- und Söldnerarmeen waren neben dem regulären Militär
hochgezogen worden, regelrechte Blitzgeschwader. Man versuchte einander das
Wasser abzugraben. Das hatte den Bedarf
nach neuen, spezialisierten Replikanten in
die Höhe schnellen lassen. Besonders Meuchelmord- und Gefechtsmodelle mit hohem
Unabhängigkeitsgrad erfreuten sich einer
rasant steigenden Nachfrage. Krieg war gut
fürs Geschäft. Einmal mehr hatte sich Tyrell
seine schmierigen Hände reiben können.
Nun war der hektische Flughafen bloß
noch eine bedeutungslose Zwischenstation
für Deckard. Ein letzter Halt, ein letztes
Hindernis, das er überwinden musste, bevor
er endlich mit dem beginnen konnte, was er
tun musste. Rachael eine neue Lebenschance zu schenken…und sich gleich mit. Die
Erde würde in seine Erinnerungen rücken
und allmählich zu verblassen beginnen.
89
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Deckard drehte das Origami-Einhorn in
der Hand, betrachtete es. Er hatte es mitgenommen, als er seine Wohnung zum letzten
Mal verließ. Gaff hatte es auf die Schnelle
aus einer Kaugummifolie gebastelt, so wie
er immer zu basteln pflegte. Miniaturfiguren. Er bastelte alles Mögliche, seine persönliche Form des Zeitvertreibs. Er ließ diese Figuren gerne mal an Orten zurück, die
er besucht hatte, um zu dokumentieren,
dass er da gewesen war.
Das Einhorn hatte er zusammengefaltet,
als er Deckard vor zwei Tagen an seiner Tür
einen Besuch abstattete, um ihm wieder
einmal eine Nachricht von Bryant zu überbringen plus ein paar Unterlagen anlässlich
seiner abrupten Wiedereinsetzung sowie
den Esper. Die Figur war zu Boden gefallen
und dort liegen geblieben – bis zu jenem
Moment, als Deckard den Entschluss fällte,
mit Rachael wegzugehen. Sie hatte den Lift
betreten, er war noch einmal zurückgekehrt,
weil ihm etwas Funkelndes aus dem Augenwinkel aufgefallen war.
Das Verrückte war, dass Deckard von einem Einhorn geträumt hatte, kurz nachdem
Rachael zum ersten Mal seine Wohnung
90
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Hals über Kopf verlassen hatte. Es hatte genauso ausgesehen.
Ein Jammer, dass sie nicht leben wird.
Aber wer tut das schon? Das hatte Gaff gesagt, nachdem er sich davon überzeugte,
dass Deckards Mission abgeschlossen war
und Roy Batty keine Bedrohung mehr darstellte.
Die Worte hatten in Deckard gearbeitet.
Auf dem Rückweg nachhause hatte er gedacht, dass es doch im Grunde keine Rolle
spielte, von wo jemand seine Erinnerungen
hatte – entscheidend war, dass man mit diesen Erinnerungen eine vollwertige Person
war. Eine eigenständige Persönlichkeit, die
sich auf ihre Weise entfalten konnte; die
nicht richtiger oder falscher als jede andere
auch war.
Ihm war vollends bewusst geworden, dass
er diese Frau liebte; dass sie sich richtiger
anfühlte als alle anderen Frauen, obwohl
alle Welt ihm doch sagte, sie sei nicht einmal eine Frau, sondern etwas Künstliches,
Falsches. Etwas Unmenschliches, das niemals so denken und fühlen konnte wie eine
Person aus Fleisch und Blut, und im
schlimmsten Fall etwas Bösartiges. Wie Roy
91
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Batty und die anderen Replikanten, die er
einer nach dem anderen kaltblütig aus dem
Verkehr gezogen hatte, nur um am Ende zu
begreifen, dass sie die Schwelle von allem,
was für das Menschsein stand, längst überschritten hatten.
Gaff hatte mit seiner Origami-Bastelei und
seiner rätselhaften Bemerkung diese Erkenntnis befeuert, und als sie wie ein
Schwall eiskalten Wassers über Deckard
kam, waren Konsequenzen unvermeidlich
geworden. Er hatte seinem Gewissen und
seinem Herzen folgen müssen.
Nun fragte Deckard sich, wieviel Absicht
wirklich hinter Gaffs Verhalten steckte.
Vermutlich überhaupt keine. Deckard hatte
schlicht und ergreifend vom Einhorn geträumt, nachdem er damals die Tür geöffnet
und Gaffs kleines Kunstwerk gesehen hatte.
Es war ihm in Erinnerung geblieben. Als
Kind hatte er Einhörner immerhin geliebt.
Sie hatten für eine bessere Welt gestanden,
für in Erfüllung gehende Träume, für eine
Flucht aus Schmutz, Dunkelheit und
Schuld. Dann hatte er für eine verdammt
lange Zeit nicht mehr an sie gedacht. Weil er
keine Träume mehr gehabt hatte? Weil er in
92
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
dieser Welt einfach nur noch funktionierte
wie eine Maschine, so wie er, einer Maschine gleich, viele Jahre Replikanten gejagt
und liquidiert hatte?
Und was diese auf Rachael gemünzte Bemerkung zum Schluss anging… Wahrscheinlich hatte ihm Gaff nur durch die
Blume sein Bedauern versichern wollen.
Deckard hatte alle Replikanten, die von außerhalb gekommen waren, eliminiert, genau
wie von Bryant gewünscht. Übrig blieb nur
noch Rachael. Sie war aus der Tyrell Corporation geflohen und damit nach geltender
Gesetzeslage auf den Straßen Freiwild für
Blade Runner. Rachael hatte nichts verbrochen, sie hatte keine Menschen auf dem
Gewissen, und doch machte man auf der
Erde keinen Unterschied zwischen ihr und
dem größten Killer-Rep. War das Gaffs
Jammer darüber, dass sie nicht leben werde? Oder bezog es sich auf die kurze Lebensspanne, die Rachael unerbittlich einholen würde, selbst, wenn es ihr gelänge, sich
zu verstecken? Wie hatte Gaff das gemeint?
Womöglich hatte aus ihm auch ein Fatalismus gesprochen. Vielleicht wollte er zum
Ausdruck bringen, dass – selbst, wenn Rep93
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
likanten durch begrenzte Lebenszeit oder
vorzeitigen ‚Ruhestand‘ starben – Menschen
deshalb nicht unbedingt am Leben waren.
Hatte ein bekannter Schriftsteller nicht vor
einigen Jahren geschrieben, die Menschheit
wäre schon längst nicht mehr dabei, sich die
Hölle zu schaufeln, sondern lebe seit geraumer Zeit darin? Man musste sich diesen
Planeten doch nur einmal ansehen. In der
Hölle saß jedenfalls niemand, der lebendig
war.
Vor Interpretationen schmerzte einem der
Kopf. Gaff hat fast nie gesagt, was ihm
durch den Kopf ging. Er hat es immer geliebt, den Geheimnisvollen zu spielen. Das
war sein Markenzeichen., dachte Deckard.
Konnte es also nicht möglich sein, dass auch
noch ein anderer Cop insgeheim Zweifel an
der Ordnung der Welt hegte? Daran, dass es
angeblich so gerecht war, jeden Replikanten
– egal, um wen es sich handelte – wie Vieh
zu jagen und umzulegen? Vielleicht hatte
Gaff Deckard bloß seine Anteilnahme bekunden wollen, ohne allzu deutlich zu werden.
In einem Affekt griff Deckard nach seiner
Waffe. Er betrachtete den Blaster, drehte
94
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
ihn um. Da fiel ihm auf, dass es gar nicht
seine Waffe war. Er erkannte es an der Registrierungsnummer. Nein, das hier war
Gaffs Waffe.
Adrenalin schoss in seine Magengrube. Ja,
natürlich. Gaff hat mir seine Waffe zugeworfen. Meine habe ich im BradburyGebäude verloren.
Plötzlich kam Deckard ein neuer Gedanke,
er mutete fast verrückt an. Hatte Gaff etwa
davon gewusst oder zumindest geahnt, dass
er die flüchtige und überall gesuchte Rachael heimlich in seiner Wohnung untergebracht hatte? Falls ja, warum hatte er dann
nicht längst dafür gesorgt, dass sie in Gewahrsam genommen wurde? Deckard war
im Einsatz gewesen; er hätte sie nicht schützen können.
Die Tür zu seiner Wohnung war bei seiner
Rückkehr nur angelehnt gewesen, hatte
nicht ins Schloss geschnappt. Deckard hatte
natürlich sogleich geargwöhnt, ob Gaff dort
gewesen war. Ein paar Minuten später hatte
Rachael ihm gesagt, sie sei es gewesen, die
die Tür geöffnet habe – weil sie kurzzeitig
erwogen habe, wegzugehen. Weil sie ihn
nicht in noch größere Schwierigkeiten brin95
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
gen wollte. Doch dann habe sie eingesehen,
dass sie ihn nicht verlassen könne und auf
der Türschwelle Kehrt gemacht9. Sie habe
die Tür höchstwahrscheinlich nicht richtig
zugezogen.
Nein, Gaff kann es nicht gewusst haben.
Es sei denn… Er wollte mir die Möglichkeit
geben, mit ihr zu entkommen. Aber auch
das schien absurd. Was sollte Gaff, dieser
Kriecher Bryants, davon haben, ihm die
Flucht mit einer Replikantin zu ermöglichen? War das vielleicht eine Art von Rache? All die Jahre hatte Deckard nie das Gefühl gehabt, dass Gaff ihm sonderlich zugetan gewesen war. Hatte er ihn bewusst zur
Flucht mit Rachael bewegt, um ihn am Ende
ein für allemal aus Bryants Abteilung zu
entfernen? Gewährte er ihm diesen Vorsprung vielleicht nur, um ihn am Ende umso erbarmungsloser zu verfolgen, damit sein
Sieg umso größer ausfiel? Konnte man Gaff
ein solch sadistisches Verhalten zutrauen?
Deckard schluckte. Führte dieser Kerl nun
etwas im Schilde, oder war es reine Zeitver9
Anschließend hatte Rachael sich unter einer Decke in seinem
Schlafzimmer versteckt und war für mehrere Stunden eingeschlafen.
96
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
schwendung, weiter über ihn und seine
vermeintlichen Beweggründe nachzudenken?
„Deckard?“
Er steckte den Blaster weg. Gedankenverloren wandte er sich zu Rachael um, die sich
einen altmodischen Damenhut aufgesetzt
hatte. Zusammen saßen sie, mit dem wenigen Gepäck, das sie besaßen, in einem kleinen Wartebereich in der Eingangshalle.
„Ja?“
„Glaubst Du, wir werden es schaffen?
Glaubst Du, wir werden durch die Sicherheitskontrollen kommen?“ Ihre Stimme zitterte, selbst, wenn sie dagegen ankämpfte.
„Mach Dir keine Sorgen.“
Im Zuge der kolonialen Eugeniegesetze
wurde bei den Kontrollen akribisch auf jegliche Art von chronischer Erkrankung, Behinderung oder genetischer Fehlbildung geachtet. Komplexere Scans nach Replikanten
konnte man in Anbetracht der Menschenmassen gar nicht leisten; der gesamte Reisebetrieb wäre schlagartig zum Erliegen gekommen.
97
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Maschinen der ersten vier NexusGenerationen wurden aufgrund ihrer noch
robotischen Beschaffenheit von den Geräten
erkannt, alles darüber hinaus war oberflächlich vom Menschen nicht mehr zu unterscheiden und bedurfte eines ausführlichen
Voight-Kampff-Tests auf Empathie. Rachael selbst jedoch hatte diesen Test bei ihrer
ersten Begegnung beinahe für Null und
nichtig erklärt, also nahm Deckard nicht an,
dass es Probleme geben würde.
Trotzdem machte er sich keine Illusionen:
Es würde nicht einfach werden. Die Blade
Runner würden kommen. Bryant hatte bestimmt schon Kenntnis von seiner Flucht.
Er besaß nur einen geringen Zeitvorsprung,
und den musste er nutzen. Er musste jetzt
unberechenbar sein, wollte er eine Chance
haben.
Ein schmales Lächeln huschte über Rachaels Gesicht. Es kündete von Hoffnung.
„Wir fliegen in den Himmel. Und diesmal
werden die Erinnerungen, die wir uns schaffen, unsere eigenen sein.“
Deckard betrachtete sie fasziniert, gebannt
von ihren Worten. Sie hatte nicht nur von
sich gesprochen, von Erinnerungen, die
98
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
nicht ihr selbst gehörten, sondern ihn, den
Menschen Rick Deckard, bewusst einbezogen. Sie hatte ihm schon immer in die Seele
geblickt, die Unfreiheit seines Lebens und
seinen inneren Kampf erkannt. Ohne sie
hätte er die Fesseln, die ihn hielten, niemals
sprengen können.
Rachaels Botschaft an ihn war klar: Von
nun an nahmen sie ihr Leben in die eigenen
Hände, selbst wenn es vielleicht nicht lange
währen würde.
Da glaubte er es auf einmal zu erkennen.
Sie war das Einhorn. Das Einhorn, das in
seine Träume zurückgekehrt war. Es hatte
ihn von einem stummen Fluch erlöst.
Deckard schöpfte neue Kraft. „Ich liebe
Dich.“
„Ich weiß.“, sagte Rachael mit fester
Stimme.
Er nahm ihre Hand, und gemeinsam
schritten sie zur Passkontrolle. Der Koffer
rollte ihnen stoisch hinterher.
99
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Eine beachtliche Erfahrung, in Furcht leben zu müssen. So fühlt es sich an, ein Sklave zu sein.
Worte, die von Roy Batty ausgesprochen
worden waren, während Deckard über dem
Abgrund der Stadt baumelte. Warum kamen
sie ihm mit einem Mal in den Sinn? Weil er
selbst dabei war, Battys Rolle anzunehmen?
Weil er nun der Geächtete, der Vogelfreie,
der Todgeweihte war? Es stimmte. Die
Grenzen lösten sich tatsächlich auf…und mit
ihnen alte Gewissheiten.
Aber was immer ihn erwartete: Deckard
hatte schließlich erkannt, dass das Leben,
welches er führte, selbst eines war, das unter Kontrolle stand. Ja, sicherlich war es
freier als das der Replikanten, aber es war
kein Leben in Freiheit. All die Jahre hatten
Bryant und die übermächtige LAPD ihn
nach Belieben gesteuert, und er hatte gespurt, hatte sich bereitwillig zum Werkzeug
gemacht, sich einredend, er habe eine Wahl.
Und all das, um ein klägliches Leben im
kleinen Karo weiterzuführen, das auf nichts
zusteuerte, das dieselben gleichgültigen
Rhythmen wiederholte, bis es eines Tages
endete.
100
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Doch die traurige Wahrheit lautete: In
dem Gefüge, in dem er gelebt und sich eingerichtet hatte, war die Vorstellung, eine
Wahl zu haben, eine sorgsam genährte Illusion, mehr nicht. Nein, die ganze Zeit über
war er doch nicht viel mehr gewesen als eine
Drohne, betraut mit einer hässlichen Aufgabe, die zu erfüllen man von ihm ohne ein
Murren erwartete. Er war der Vertreter einer Arbeiterklasse gewesen, ohne Aussichten, irgendwann aus dem Gefängnis des
Systems, das sie beherrschte, ausbrechen zu
können.
Vielleicht war es also gar keine Sklaverei,
die vor ihm lag, sondern die Sklaverei lag
vielmehr hinter ihm. Deckard wusste nicht,
ob diese Gedanken irgendetwas bedeuteten.
Er wusste nur, dass er keine Angst mehr
hatte, über diese Kante zu treten…und zu
springen.
Das System konnte ihn mal.
101
102
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
07
[Zhora war der erste Nexus-6er, dem ich
begegnet bin. Es war etwas in ihrem Blick,
das sie selbst noch in ihren Tod zu begleiten
schien. Ein beinahe menschliches Verlangen
nach Leben. All die Jahre habe ich 4er und
5er gejagt, und die hatten genau gewusst,
wann es vorbei war. Wann es sich nicht
mehr lohnte, zu kämpfen. Aber diese 6er,
die haben echt mehr drauf. Von diesem
Standpunkt aus kann ich Tyrells Kontrollwahn sogar nachvollziehen, dass er entschied, ein Fail-Safe-System einzubauen.
Vier Jahre Lebenserwartung…]
[Wenn der Prototyp erfolgreich ist – und
darauf deutet zurzeit alles hin – werden wir
das nächste Nexus-6-Modell serienmäßig
mit einer Vergangenheit ausstatten können.
Nehmen Sie Rachael. Ich habe ihr die Reinheit und die Unschuld der Kindheit geschenkt – und damit die Freuden und das
103
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Leid, die zu einer echten Existenz gehören.
Dieser Grad an Lebendigkeit ist erforderlich, damit uns die Replikanten noch besser
dienen können. Dies ist ein entscheidender
Durchbruch. Meine sehr verehrten Damen
und Herren, vertrauen Sie mir: Der Segen
der Erinnerung ist der letzte Baustein auf
dem Weg zu den wahrhaft perfekten Dienern für die Menschheit…]
Ray McCoy hatte sich eigentlich für ein
paar Stunden aufs Ohr hauen wollen. Aber
als er Deckards Akte aufschlug, war die restliche Nacht für ihn gelaufen. Er hatte sich
einen Bourbon eingeschenkt und über den
Berichten, Kia-Audioaufzeichnungen und
Memos gebrütet, hatte sich bemüht, jedes
Detail von Deckards Ermittlungen nach den
Reps nachzuvollziehen, einschließlich der
wilden Jagd- und Kampfszenen, die sich
ergeben hatten. Als wäre dem nicht schon
genug, hatte er sich obendrein noch ein paar
beiliegende Reden von Eldon Tyrell angehört, die Deckard zusammengetragen hatte.
Stunden, nachdem McCoy die Akte geöffnet hatte, konnte das Resultat nicht eindeutiger sein: Soweit es die offiziellen Informationen betraf, deutete nichts darauf hin,
104
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
dass Deckard seine Pflichten in irgendeiner
Weise vernachlässigt hatte oder im Laufe
seines Falls vom Kurs abgekommen war.
Das zog eine entscheidende Frage nach sich:
Was war hinter den Kulissen vorgefallen?
Was brachte einen gestandenen Blade Runner dazu, Hals über Kopf mit einer Replikantin durchzubrennen, und zwar nachdem
er geschlachtet hatte wie ein Berserker?
Etwas anderes war allerdings sicher: Diese
neue Replikantengeneration, diese Nexus6er, stellten die besten Instrumente der
Rep-Detects bitter auf die Probe. Der
Voight-Kampff-Test stieß an seine Grenzen.
Deckard hatte dokumentiert, wie viele Fragen in anspruchsvollster Kreuzkombination
er Rachael stellen musste, um sie ihrer wahren Identität zu überführen – es war mehr
oder weniger Glück gewesen, dass die Frage
mit dem gekochten Hund sie überführte.
Der alte Tyrell schien sich darüber köstlich
amüsiert zu haben; darüber, Replikanten
geschaffen zu haben, die äußerlich und im
Hinblick auf ihr messbares Verhalten vom
Menschen kaum noch unterscheidbar waren. Die Grenzen zwischen Mensch und Ma-
105
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
schine waren verwischt worden10. Gewissermaßen hatte Tyrell später aber den Preis
dafür gezahlt. Beseelt von einem beinahe
menschlichen Wunsch nach Leben, war dieser Roy Batty in seinen über der sterblichen
Welt thronenden Technologietempel eingebrochen. Er hatte nach einer Möglichkeit
verlangt, seine Existenz zu verlängern. Da
Tyrell ihm diesen Wunsch nicht erfüllen
konnte, hatte Batty seinen Schöpfer getötet
– kaltblütig und äußerst pervers ermordet,
indem er ihm die Augen in den Schädel
drückte.
McCoy hatte noch nie von Replikanten
gehört, die derart sadistisch töteten. So
mordeten nur Menschen, und zwar die von
der schlimmsten Sorte. Nicht einmal den
Genetikdesigner J.F. Sebastian, der ihm
noch geholfen hatte, die Tyrell Corporation
zu betreten, hatte Batty am Leben gelassen.
Ganz zu schweigen von den zwei Dutzend
10
Einige munkelten hinter vorgehaltener Hand, Tyrell habe den
Prototypen namens Rachael Francis nur deshalb entwickelt, um
den Voight-Kampff-Test zu unterwandern – und so sein Ziel zu
erreichen, Replikanten auf der Erde einzusetzen, ohne dass
man sie ohne weiteres noch erkennen konnte. Das waren aber
nur Verschwörungstheorien. Die Corporation war darauf angewiesen, dass Replikanten in aller Öffentlichkeit arbeiten
konnten, alles andere unterlief ihr Geschäftsmodell.
106
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Personen, die er und seine Bande auf dem
Gewissen hatten, seit sie ihren kleinen Ausbruch auf Olympus inszenierten und einen
Pendler kaperten.
McCoy glaubte, die Dinge sehr klar zu sehen: Mit diesen neuen ‚Hautjobs‘ war ein
Geist aus der Flasche gelassen worden, der
sich nicht wieder ohne weiteres einfangen
ließ. Nexus-6er gab es erst seit einigen Jahren, aber sie verbreiteten sich rasend schnell
auf den Kolonien. Rachael und Batty waren
die neuesten Modelle gewesen, gewissermaßen die Speerspitze der Replikantenevolution mit einem bislang unerreichten Grad an
Intelligenz, emotionalem Entwicklungspotenzial und Unabhängigkeit. Und sie schienen eine ganz neue Bedrohungslage für die
Menschheit zu bedeuten.
Eigentlich müsste die Politik diesen Konzern mal an die kürzere Leine nehmen.
Wenn McCoy ehrlich war, wusste er, dass
das illusorisch war. Die Tyrell Corporation
hielt ein gigantisches, extrem verzweigtes
Industrieimperium, an dessen Tropf die
globale Wirtschaft hing – und weit darüber
hinaus. Sie besaß sämtliche Druckmittel, die
sie brauchte. Verschärfte Gesetze in Bezug
107
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
auf die Herstellung und Verwendung neuer
Replikantenmodelle waren nicht zu erwarten. Man würde es auf die Blade Runner
abwälzen, die mal wieder zusehen konnten,
wie sie die Scheiße ausbadeten. Tyrell hatte
sich in aller Seelenruhe darauf verlegt, in
seinen Pyramiden Gott zu spielen, und die
Welt war der Gekniffene.
Es gab ein Sprichwort unter den alten Hasen der Rep-Detect-Departments: Was passiert einem Replikanten, wenn er falsch geparkt hat? – Er wird aus dem Verkehr gezogen. Dieses Sprichwort wahr werden zu lassen, würde nach Lage der Dinge in Zukunft
eine größere Herausforderung werden als
bislang.
McCoy seufzte, verließ seinen Schreibtisch
und kehrte in die Küche zurück, wo er sich
etwas Bourbon nachgoss. Draußen schüttete
es wie aus Kübeln, und blaue Blitze verästelten sich über der Stadt, gefolgt von Donnergrollen. Das übliche Sauwetter. McCoy
schaltete den 24 Stunden in L.A.Nachrichtenkanal ein und lauschte den
Neuigkeiten. Nach den vielen Streifen und
unregelmäßigen Dienstplänen hatte er seine
Allgemeinbildung in letzter Zeit stark ver108
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
nachlässigt. Er war kaum noch auf dem
Laufenden.
[Während seiner letzten Wahlkampfveranstaltung versprach Gouverneur Colwig,
kühne und neue Pläne zum Schutz der Stadt
in die Tat umzusetzen. Nachdem das Justizministerium einen Anstieg der gewalttätigen Straßenkriminalitätsdelikte um schwindelerregende sechsundzwanzig Prozent gegenüber dem Vorjahr einräumen musste,
sagte Colwig, er führe diese dramatische
Zunahme auf die wachsende Zahl der ‚Sonderfälle‘ zurück – halblegale Migranten, die
sich in den Randbezirken der Stadt ansiedeln. Colwig versprach im Fall seiner Wiederwahl die rasche Einführung härterer Bedingungen bei den Zuwanderungsgesetzen
der Stadt innerhalb der nächsten sechs Monate. Zudem wolle er in den schwer betroffenen Randgebieten den hochgiftigen
Müll beseitigen, den sogenannten Kippel.
Nun, wie weit fortgeschritten sind diese
Pläne? Wir sprachen mit dem Gouverneur
kurz vor seinem wöchentlichen Treffen mit
dem Stadtrat.
‚Unsere Studien haben gezeigt, dass die
Auswirkungen des Kippels auf Los Angeles
109
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
sehr gering sind. Sowohl der radioaktive als
auch der giftige Müll konzentriert sich auf
relativ kleine Bereiche, und das einige Meilen vom Stadtzentrum entfernt. Ich bin allerdings der Meinung, dort draußen aufzuräumen, wäre ein lohnendes Ziel. Vor allem
in Anbetracht der Abertausenden von ‚Sonderfällen‘, die am Stadtrand leben. Im Augenblick kann ich nur so viel sagen: Wir
prüfen verschiedene Möglichkeiten und
Vorschläge. Und ich bin sicher, dass unser
endgültiger Beschluss zur Zufriedenheit aller sein wird.‘]
Der Kippel ja, natürlich. Die Sache hatte
Tyrell in den letzten Monaten umgetrieben.
Er hatte ein neues Geschäftsmodell gewittert: Replikanten den hochgiftigen Abfall
beseitigen zu lassen, der sich um L.A. herum
auftürmte. Doch dazu bedurfte es einer veritablen Gesetzesänderung – Replikanten
müssten in bestimmten Arbeitsbereichen
auf der Erde zugelassen, das generelle Verbot ein Stück gelockert werden. Es war eines
der letzten Tabus gewesen, gegen das sich
Colwig und die Politik vehement wehrten,
egal, was Tyrell unternahm. Und jetzt, da er
tot war, standen die Chancen, dass in ab-
110
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
sehbarer Zeit Reps auf der Erde eingesetzt
werden durften, gleich Null. Gut so!
[Nun zu einer weiteren wichtigen Meldung. Die anonymen Befreier der CobaltinErzschürfungsmine auf Ganymed stehen
seit gestern Abend fest. Bekannt hat sich die
auf der Erde inzwischen verbotene Organisation CARS – Bürgerarmee gegen die Replikantensklaverei. CARS gilt als militantanarchistischer Arm der ReplikantenFreiheitsbewegung, obwohl ihr Anführer,
Spencer Grigorian, in öffentlichen Statements immer wieder entschieden dementiert, dass eine wie auch immer geartete
Verbindung besteht.
Seit Beginn des letzten Jahres ist CARS für
die gewaltsame Erstürmung von vier industriellen Arbeitszentren auf verschiedenen Kolonien verantwortlich, in denen Replikanten eingesetzt werden. Im Zuge dieser
illegalen Aktionen kamen wenigstens achtzehn Industriearbeiter auf freien Fuß, die
im Anschluss unter großem Aufwand von
Blade Runnern gejagt und zur Strecke gebracht werden mussten.
Der letzte Angriff von CARS hat sowohl
die Politik als auch die Sicherheitsbehörden
111
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
aufgeschreckt. Die selbst erklärten ‚menschlichen Sympathisanten des künstlichen Lebens‘ haben unter Beweis gestellt, dass sie
inzwischen über mächtige Waffen wie außerplanetare Schnellfeuerblaster, EnderGewehre und Photonen-Granaten verfügen.
Und noch mehr als das: Sie bewaffnen die
von ihnen befreiten Replikanten und helfen
ihnen, sich zu verstecken.
Vor wenigen Stunden hat die Chefin der
New Yorker Blade Runner-Einheit, Samantha Davenport, die jüngsten Geschehnisse auf Ganymed zum Anlass für einen
Vorstoß in eigener Sache genommen. Davenport hat sich dafür ausgesprochen, angesichts der nicht mehr tolerierbaren Bedrohung für die öffentliche Sicherheit, die inzwischen von CARS ausgehe, die Blade
Runner nicht nur auf Replikanten, sondern
auch auf Anhänger dieser extremistischen
und fehlgeleiteten Organisation Jagd machen müssten. Wer mit Replikanten sympathisiere, für den dürfe es weder Nachsicht
noch Gnade geben…]
Es klingelte. McCoy schaltete das Radio ab
und ging zur Tür. Es war Gaff. Der Kerl sah
fast noch etwas übellauniger aus als sonst,
112
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
was gewiss mit dem Umstand zu tun hatte,
dass McCoy ihn um diese unselige Stunde
zu sich gebeten hatte. Er sollte gefälligst
dankbar sein. So bekommt er wenigstens
mal ein bisschen Abwechslung als ständig
wie ein Untoter durchs Präsidium zu laufen.
Gaff. Es hatte ihn schon gegeben, lange
bevor McCoy zu Bryants Team stieß. Seine
strahlend blauen Augen, grell und kalt wie
ein Aquamarin, waren unglaublich durchdringend. Sie schienen ständig alles und jeden genauestens zu sondieren. Es war, als
suche dieser Typ nach Zielen. Gaff war extravagant und eitel, was nicht nur sein Bart,
sondern auch sein skurriler Modegeschmack dokumentierten. Sein Look erinnerte an einen wohlhabenden lateinamerikanischen Drogendealer. Vor allem aber
wirkte er schlau und verschlagen.
Heute nahm er eine Sonderrolle in der
Blade Runner-Einheit ein. Vor ein paar
Jahren, hatte McCoy sich erzählen lassen,
war er im Kampf mit einem Rudel
‚Hautjobs‘ schwer verletzt worden. Ungefähr die Hälfte der Knochen in seinem Körper waren von den Schweinehunden zer113
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
trümmert worden, bevor Verstärkung anrückte und ihnen das Licht ausknipste. Gaff
hatte sich hartnäckig zurück nach oben gekämpft, doch trotz aller Bemühungen der
Ärzte trug sein linkes Bein bleibenden
Schaden.
Seitdem benutzte er den goldenen Stock,
machte – nicht zuletzt dank seiner vielfältigen Beziehungen und seines Sprachtalents11
– Hintergrundarbeit für Bryant und sorgte
dafür, dass die anderen tunlichst ihre Arbeit
machten. In der Regel wusste niemand so
genau, womit sich Gaff gerade beschäftigte.
Er war ein Geheimniskrämer erster Güteklasse und schien immer mehr zu wissen,
als er preisgab.
Eines war aber klar: Mit ihm nicht gut zu
stehen, bedeutete, dass man nicht lange im
Rep-Detect-Department überlebte. Wenn er
den Daumen senkte, waren Hopfen und
Malz bei Bryant verloren. Angeblich hatte
Gaff schon so manchen Neuling vom Hof
gejagt, aber solche Dinge wusste man lieber
11
Gaff war ein Meister des sogenannten Cityspeak, einer wilden Mixtur aus Japanisch, Spanisch, Chinesisch, Ungarisch,
Koreanisch, Englisch, Deutsch und Französisch, die nicht nur
in L.A., sondern in zahlreichen Metropolen der Welt zu einer
Art Global-Village-Straßensprache geworden war.
114
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
nicht allzu genau, wenn man ebenfalls noch
zu den jüngeren Jahrgängen bei der LAPD
gehörte.
„Ah, Gaff.“, sagte McCoy leicht übermelodisch. „Danke, dass Sie sich herbemüht haben.“
„Hätten wir das nicht über das Terminal
besprochen können?“, fragte der Andere
griesgrämig, trat ein und legte seinen nassen Hut auf einer nahe stehenden Kommode ab. „Ich hoffe, es ist wichtig.“
McCoy schloss die Wohungstür. „Na ja, für
mich schon. Denke ich.“
„Denken Sie?“, wiederholte Gaff und maß
ihn mit skeptischem Blick. „Nicht gerade
eine überzeugende Antwort für einen Blade
Runner.“
Wieder mal gab er den harten Hund.
„Denken hat noch nie geschadet, würde ich
sagen.“, konterte McCoy.
Gaff schüttelte andeutungsweise den Kopf
und gab sein dünnes, vielwissendes Lächeln
zum Besten. Es war ein eisiges Lächeln.
Wenn er einen so ansah, wurde einem das
115
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
überdeutliche Gefühl zuteil, dass er Trümpfe gegen einen in der Hand hielt, von denen
man nicht einmal etwas ahnte. Seinen intriganten Intellekt zu unterschätzen, wäre töricht gewesen. „Ein Blade Runner denkt
nicht.“, stellte Gaff klar. „Er handelt…und
zwar wie eine Naturgewalt und zugleich mit
tödlicher Präzision. Wenn Sie das nicht beherzigen, sind Sie falsch in diesem Geschäft,
Freund.“
Erinnert mich schwer an Steeles Bauchgefühlgelaber, nur etwas stilvoller ausgedrückt., dachte McCoy und verkniff sich jegliche Gegenrede. „Werd’s mir merken.“
McCoy führte Gaff in die Küche, wo er ihn
bat, auf einem der Hocker vor dem kleinen
Tresen Platz zu nehmen.
„Also, worum geht es?“, wollte der gebürtige Mexikaner wissen und faltete die Hände.
„Ähm… Wollen Sie ‘was trinken?“
„Damask-Tee.“
„Sorry, damit kann ich leider nicht dienen.
Hab‘ nur Hochprozentiges da.“
116
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Gaff verdrehte angewidert die Augen.
„Dann nichts.“ Er war ein Ganz-oder-garnicht-Typ.
McCoy verzichtete darauf, sich ein neuerliches Glas Whiskey zu genehmigen; er hatte
bereits zu viele gehabt. Stattdessen setzte er
sich neben Gaff auf den anderen Hocker.
„Sagen Sie…“, räusperte er sich. „Sie hatten
doch als letzter Kontakt mit Deckard. Sie
waren auf dem Dach des BradburyGebäudes.“
Gaff nickte knapp.
„Wenn ich mir die Frage erlauben darf:
Was haben Sie dort oben mit ihm besprochen?“
Gaff sah zum Fenster hinaus, als ein greller Blitz aufzuckte, wandte sich dann mit
einem Gespür für Dramaturgie zu McCoy
und wartete den Donner ab, ehe er antwortete. „Das kann ich Ihnen sagen: Ich habe
ihn gefragt, ob er seinen Job erledigt hat.
Sie wissen doch, wie ungeduldig unser Chef
wegen dieser frei herumlaufenden Reps
war. Es sei denn, Sie haben nicht aufgepasst. Das wäre allerdings schlecht.“
117
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
McCoy legte den Kopf an. „Und was lief
sonst noch so mit Deckard?“
„Nichts. Es lief überhaupt nichts. Er hat
bestätigt, was ich vermutete, und ich bin
wieder gefahren, um Bryant Bescheid zu
geben.“
„Ist Ihnen irgendetwas an ihm aufgefallen?“
„Aufgefallen?“
„Ja, irgendetwas Merkwürdiges.“
Gaffs ernster Blick glitt kurzzeitig ab, bevor er wieder zu McCoy zurückkehrte. „Er
wirkte urlaubsreif. Ja, er sah verdammt fertig aus, um’s genau zu sagen. Kommt nicht
alle Tage vor, dass man so viele hochkarätige ‚Hautjobs‘ auf einmal erledigt. Davon
können Sie sich ‘ne Scheibe abschneiden.“
„Ja, sicher.“ Mit einem spitzbübischen
Ausdruck lächelte McCoy den Umstand
weg, dass er bislang zwar eine ansehnliche
Zahl anderer Delikte mit durchaus großem
Erfolg bearbeitet hatte, aber mit Reps war er
bis zum heutigen Tag noch nicht in Berührung gekommen. Was, wie sich von selbst
118
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
verstand, in einer Rep-Detect-Einheit früher
oder später zum Problem wurde. Deswegen
hatte Bryant vermutlich auch gehandelt,
indem er McCoy Guzzar zugeteilt hatte.
Zweifellos war sein Chef darauf aus, ihm
seine Rep-Jungfräulichkeit zu nehmen.
Was McCoy anging, konnte er es kaum
erwarten. Er hoffte nur, dass die draufgängerische Steele ihm das Ganze nicht vermasselte oder alle Lorbeeren für sich einheimste.
Lediglich der Gedanke, jetzt einen Blade
Runner verfolgen zu müssen – und obendrein nicht irgendeinen, sondern noch dazu
Deckard –, hatte das Potenzial, McCoy den
Appetit auf den bevorstehenden Einsatz einigermaßen zu verderben. Aber das war nun
einmal die Realität. Die Welt hatte schon
lange aufgehört, einem alles recht zu machen. Man musste eben sehen, wo man
blieb. Deckard trug seine Verantwortung. Er
hatte seine Entscheidung getroffen, als er
mit der Replikantin das Weite suchte. Zweifellos hatte er gewusst, dass er auf der Abschussliste seiner alten Abteilung ganz oben
landen würde.
119
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
„Noch was.“, meinte McCoy nach kurzer
Pause, griff zu seinem nahe liegenden
Diensttablet und öffnete eine Bilddatei, welche er Gaff vorlegte. „Wir haben inzwischen
eine Kameraaufzeichnung von der Verkehrskamera vor Deckards Wohnhaus. Sehen Sie, darauf sind beide zu erkennen.“
„Ja, und?“
McCoy umrahmte mit dem Finger einen
Bildausschnitt, woraufhin dieser in mehreren Zoomschritten vergrößert wurde. „Mir
ist aufgefallen, dass Deckard eine Waffe bei
sich trägt.“
Gaff sah den Punkt nicht. „Wollen Sie
mich verarschen, McCoy?“, fragte er. „Seit
wann ist es ungewöhnlich, wenn ein Cop ‘ne
Waffe trägt?“
„In diesem Fall ist es ungewöhnlich.“, beharrte McCoy. „Officer Debol fand in den
Tiefen des Bradbury-Gebäudes einen Blaster. Und zwar den, der auf Deckards
Dienstnummer registriert ist. 26354. Debol
hat ihn mitgenommen. Liegt jetzt unter
Verschluss im Department.“
120
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
„Die Waffe, mit der er versucht hat, Batty
zu erschießen.“, raunte Gaff und strich sich
über den schwarzen Schnäuzer.
„Vermutlich. Ich schätze mal, Batty hat sie
ihm aus der Hand geschlagen, oder sie ist
ihm auf anderem Weg verloren gegangen.
Aber eines frag‘ ich mich: Wenn wir seine
eigentliche Dienstwaffe bei uns im Labor
haben – welche Waffe trägt er jetzt mit sich
herum?“
Gaff zuckte mit den Schultern. „Woher soll
ich das wissen? Er muss eine Ersatzwaffe
gehabt haben. Wahrscheinlich irgendwo in
seiner Wohnung. Oder er hat sie aus dem
Präsidium mitgehen lassen.“
„In diesem Fall könnten Deckards Anklage
einen weiteren Punkt hinzufügen. Illegaler
Waffenbesitz. Ach so, und das illegale Anzapfen des Großrechners und das Herunterladen von Rachaels streng geheimer Akte
kommt auch noch dazu.“
„Kleinvieh macht auch Mist.“, kommentierte Gaff sardonisch.
121
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
„Apropos: Wo ist eigentlich Ihr Blaster?“
Schon beim Hereinkommen war McCoy der
leere Holster an Gaffs Gürtel aufgefallen.
„Wurde mir abgezogen von so einem findigen Schlitzauge in der Animoid-Allee.
Verdammte Kleptomanen. Bryant weiß
schon Bescheid.“
„Verstehe.“ McCoy verschränkte beide
Arme. „Sagen Sie, Gaff, wie lange kennen
Sie Deckard eigentlich schon?“
Er saß da wie eine bedrohliche Statue. Wie
ein Golem, der gleich zum Leben erwachte.
„Wozu die Frage?“, fragte er, ohne auch nur
zu blinzeln. Gaff konnte es nicht leiden,
wenn man ihn mit Fragen löcherte, das war
keine große Überraschung.
„Ich hab‘ zwar viel von ihm gehört, bin
ihm aber nie wirklich begegnet.“ McCoy
machte eine etwas unkommode Geste, fuchtelte mit der Hand in der Luft. „Ich muss
mich mit ihm etwas vertraut machen.“
„Da gibt es nicht viel, womit man sich vertraut machen muss.“ Gaff gab einen verächtlichen Laut von sich, senkte die Lider
auf Halbmast und schob das Kinn vor. „Un122
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
ter uns gesagt: Ich hasse Deckard. Ich habe
ihn immer gehasst. Sogar noch mehr als
Guzzar und seine vorlaute Klappe.“
Und das will ‘was heißen., dachte McCoy
beeindruckt.
„Deckard mag jahrelang den Topscore der
abgeknallten Reps angeführt haben, aber
dafür hat er mit seiner Art die halbe Abteilung durcheinander gebracht. Hat sich mit
jedem angelegt, auch mit Bryant. Er kann
sich nicht unterordnen. Deshalb ist er am
Ende auch gegangen. Ich war heilfroh darüber.“ Gaff leckte sich die Lippen. „Dass er
eines Tages mit seiner rebellischen Ader
wieder für Ärger sorgen würde, hab‘ ich
immer gewusst. Die Frage war nur, wo und
wann. Mich wundert nicht, was jetzt geschehen ist. Das musste früher oder später
passieren. Wenn Sie mich fragen: Es war ein
Fehler, dass Bryant ihn zurückgeholt hat.
Ich war immer dagegen. Aber wollte er auf
mich hören? Und das müssen wir jetzt alle
zusammen ausbaden.“
[McCoy, kommen, hier ist Guzzar.]
Reflexartig fingerte McCoy seinen Dienstkommunikator hervor, ein kompaktes, klei123
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
nes Gerät mit einer kaum überschaubaren
Vielzahl von Funktionen. „McCoy hier.“,
sprach er hinein.
[Gute Neuigkeiten, Kleiner.] Guzzars
Stimme klang beinahe triumphal. [Wir sind
Deckard auf den Fersen, und zwar so was
von… Er wurde am LAX gesichtet. Zieh’n
Sie sich ‘was an und machen Sie sich auf’n
Weg. Wir sehen uns in einer halben Stunde
am Flughafen.]
Als Guzzar den Kanal schloss, schaute
McCoy in Gaffs blitzende, schakalgleiche
Augen. „Guzzar scheint ‘ne persönliche
Rechnung mit Deckard offen zu haben. Wissen Sie, worum es dabei geht?“
„Stellen Sie sich vor: Das hab‘ ich schon
wieder vergessen. Und jetzt: Gehen wir.“,
sagte er bloß.
124
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
# 125
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
08
Anna Tyrell stand vor der gewaltigen Fensterfront im Konferenzsaal des TyrellKomplexes. Es war jener Ort, an dem ihr
Onkel sich des Öfteren aufgehalten hatte.
Eldon hatte den Raum geliebt und die ehrfurchtgebietende Atmosphäre, die er verströmte.
Alles war hier sorgsam inszeniert worden,
um Besucher zu beeindrucken. Die tempelhafte Anmutung mit den massiven Säulen,
die hoch aufragende Decke, der dunkle,
leicht spiegelnde Marmorboden, die spartanisch-klassische Einrichtung mit dem lang
gezogenen Besprechungstisch, das Panorama mit der zweiten Pyramide, nicht zu vergessen die künstliche Eule. Zu höchst offiziellen Anlässen und in informellen Zirkeln
hatte Eldon hier mit Gästen aus Politik,
Wirtschaft und Gesellschaft zusammengesessen. Gelegentlich auch mit Vertretern der
126
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Sicherheitsbehörden wie jüngst diesem Blade Runner – Rick Deckard –, der wenig später abtrünnig geworden war und Rachael
gestohlen hatte. Er würde für sein Vergehen
bezahlen, früher oder später.
Die trüben Strahlen der Sonne streiften
Annas Gesicht – ein zarter Hauch, kaum
spürbar auf der Haut –, während sich unter
ihr die Häuserschluchten L.A.s erstreckten.
Jedes Mal, wenn sie dieses Licht vernahm,
war sie sich ganz und gar des enormen Privilegs bewusst, in dessen Gunst sie kam.
Heute war es nicht anders. Eines Tages,
sagte sie sich, werden unsere technologischen Fähigkeiten genügen, um die Sonne
zurückzuholen – für alle Menschen. Die Lebensqualität wird unglaublich steigen. Und
dieser Konzern wird dabei eine maßgebliche Rolle spielen.
Überhaupt war Anna der Meinung: Wenn
die Tyrell Corporation die Politik unmittelbar gestalten könnte und nicht auf Umwegen Einfluss nehmen müsste, hätte sich vieles schneller und vor allem besser entwickelt, im Interesse der ganzen Menschheit.
Politiker waren ein zähes Pack. Sie interessierten sich in erster Linie dafür, wer ihre
127
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Wahlkampagnen finanzierte und schlugen
sich allzu oft mit Skandalen in den Medien
herum. Dreiviertel ihrer Zeit ging auf
Imagepflege, öffentliches Gefasel, Parteigerangel und Symbolpolitik, was allesamt
vollkommen belanglos war. Gleichzeitig
konnte man dem Fachverstand der meisten
Politiker nur ein Armutszeugnis ausstellen.
Demokratie. Eine zutiefst ineffiziente Art,
regiert zu werden. Stattdessen, fand Anna,
müsse man sich von der Wissenschaft leiten
lassen. Und die Tyrell Corporation hielt
nun mal den Gral der Wissenschaft. Nebenbei verstand sie es, profitabel zu sein, wirtschaftliche Lösungen zu suchen, Märkte zu
schaffen. Sie vereinte das Beste aus verschiedenen Welten, und mehr brauchte die
Erde nicht, um von ihrer derzeitigen Krankheit zu genesen.
Anna konzentrierte sich wieder aufs Hier
und Jetzt. Sie bemühte sich darum, ihre Gedanken zu ordnen. Nach dem, was sie kürzlich erfahren hatte, half ihr der prächtige
Ausblick aus dem Konferenzsaal dabei, einen klaren Kopf zu finden. Er hatte etwas
Beruhigendes. Beruhigung war gut angesichts der Erkenntnisse, zu denen die Wis128
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
senschaftler in Abteilung siebenundvierzig
gelangt waren. Vor einer halben Stunde hatte der Teamleiter ihr einen ausführlichen
Bericht abgeliefert.
Abteilung siebenundvierzig war von ihr
damit beauftragt worden, den vom Dach des
Bradbury-Gebäudes geborgenen und nun
leblosen Batty auseinanderzunehmen und
ausführlich zu studieren. Anna hatte wissen
wollen, was dazu geführt hatte, dass Batty
sich zum Anführer einer kleinen Privatrebellion aufschwang, unter hohem Risiko bis
in die Hallen der Schöpfung zurückkehrte,
um dort brutalen Mord an seinem Erschaffer zu begehen. Sie hatte keine genaue Vorstellung davon gehabt, wonach die Biosynthetiker und Implantationsexperten suchen
sollten – jeder Hinweis mochte wichtig sein.
Wenn die Gefahr bestand, dass die neuesten Nexus-6er einen Hang zum Revoluzzertum entwickeln konnten, wenn es eine Anfälligkeit gab, dass sich vielleicht weitere
von ihnen eines Tages zur Erde aufmachten,
um in den Konzern einzudringen oder
schlicht Terror zu verbreiten, so musste
129
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
frühzeitig
vorgesorgt
werden12.
Im
schlimmsten Fall würde die komplette Produktionslinie zurückgerufen und über neue
Maßnahmen der Kontrolle nachgedacht
werden müssen. Eine Rückrufaktion würde
jedoch enorm kostspielig werden, und Anna
sah bereits die Schadensersatzforderungen,
mit denen die Erschließungs- und Bauunternehmen auf den Kolonien die Tyrell Corporation überzogen. Dem Aktienkurs würde
das nicht gut tun. Nein, wenn es einen Weg
gab, dieses Worst-Case-Szenario zu verhindern, dann musste er ergriffen werden.
12
Immerhin hatte der bedauerliche Vorfall mit einer Nexus-6Kampftruppe vor mehreren Jahren erst zum generellen Verbot
von Replikanten auf der Erde geführt. Damals war das Image
der Tyrell Corporation angekratzt worden, nachdem sich Politiker und Medienleute das Maul darüber zerrissen, ob von den
Replikanten nicht eine immense Bedrohung ausging. Zähneknirschend hatte Eldon Tyrell damals die Einführung neuer
Gesetze auf der Erde akzeptiert. Zugleich hatte er sich geschworen, diese Gesetze überflüssig zu machen, indem er aller
Welt bewies, dass die blutige Meuterei nur ein bedauerlicher
Einzelfall gewesen war. Was nun kürzlich mit Batty und seinen
Anhängern geschehen war, bedeutete in jedem Fall einen herben Rückschlag für die Bemühungen des Konzerns. Bryant war
es nicht gelungen, die Angelegenheit diskret zu regeln; die
Öffentlichkeit hatte Notiz davon genommen. Leute, die Replikanten als Gefahr ansahen, fühlten sich zweifellos in ihren
Vorurteilen bestätigt, und die Politik reagierte auf derlei Stimmungen.
130
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Anna wollte sich einstweilen hoffnungsvoll
geben, dass eine singuläre Erklärung für das
gefunden werden konnte, was mit Batty geschehen war; etwas, das nachvollziehbar
machte, warum er sich von Olympus auf
den weiten, beschwerlichen Weg zur Erde
begeben hatte. Die Kameraaufzeichnungen
in Eldons Gemächern hatten belegt, was
auch andere über Batty ausgesagt hatten,
wie zum Beispiel der Subunternehmer Hannibal Chew in der DNA-Gasse, seines Zeichens Kreationist von Replikantenaugen.
Augenscheinlich war es Batty um die Verlängerung seines Lebens gegangen ebenso
wie des Lebens seiner Begleiter.
Doch was in Himmels Namen führte einen
Replikanten dazu, länger leben zu wollen?
So etwas war noch nie vorgekommen. Irgendwo in Battys Innenleben musste die
Antwort darauf verborgen sein. Anna war
einigermaßen zuversichtlich gewesen, bald
nicht mehr im Nebel zu stochern.
Aber dann war der Teamleiter zu ihr gekommen und hatte sie mit bleichem Gesicht
wissen lassen, was nachgerade unfassbar zu
sein schien. Die Sache sei ihm ein Rätsel,
fing der Mann an, nachdem sie ihm zur Be131
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
ruhigung eine Zigarette gereicht hatte. Es
war ihm und seinen Leuten nicht gelungen,
sich einen Zugang zum bioneuralen Prozessor und zum Erinnerungsspeicher zu bahnen. Anna hatte natürlich nach dem Grund
hierfür gefragt. Offenbar, so der Teamleiter,
waren beide Zentralkomponenten mit einem fraktalen Verschlüsselungsmechanismus versehen worden. Sie waren hochkomplex codiert und damit bis auf weiteres unzugänglich. Er habe eine derartige Chiffrierung noch nie gesehen. Battys Gedanken
und Erinnerungsengramme blieben damit
vorerst ein Geheimnis.
Anna hatte erst einmal nach dem Wasserglas in ihrer Nähe gegriffen und mehrere
große Schlucke genommen. Wie sei so etwas
möglich, hatte sie gefragt. Replikanten waren doch nicht mit derartigen Fähigkeiten in
die Welt gesetzt worden. Der Teamleiter
hatte zunächst geschwiegen, war im Büro
auf und ab gegangen wie ein nervöses Tier,
und dann hatte er – in Ermangelung einer
nahe liegenderen Erklärung – eine ziemlich
verwegene Theorie geäußert.
Mutation. Im weit kleinerem Maßstab sei
so etwas schon vor einigen Jahren bei den
132
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
alten Nexus-5ern beobachtet worden, den
ersten Produkten auf umfassender biosynthetischer Basis. Damals hatten einige Replikantenmodelle irgendwie gelernt, einzelne
Prozesse in ihrem künstlichen Gehirn vor
den Scannern der Ingenieure abzuschirmen.
Wie eine Art Tarnmantel im Gehirn, beschrieb es der Teamleiter. Es waren nur
zwei oder drei Fälle gewesen – kaum der
Rede wert –, und bei den abgeschirmten
Daten hatte es sich weder um Gedanken
noch Erinnerungen gehandelt.
Bei Batty war die Sache jedoch anders gelagert. Offensichtlich hatte er seine ursprüngliche Programmierung überwunden,
Fähigkeiten entwickelt, die über seine physischen Parameter eindeutig hinausgingen.
Die Analyse belegte es ohne jeden Zweifel:
In seinem Hirn waren neue, bei Replikanten
noch nie zuvor beobachtete Neuronen ausgebildet worden. Die gesamte Struktur der
kognitiven Bahnen war verändert worden.
Irgendwie musste dies mit der Fraktalverschlüsselung seiner Zentralkomponenten in
Zusammenhang stehen.
Was mit Batty geschehen war, war auf
Grundlage der Konstruktion der Replikan133
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
tenanatomie nicht mehr erklärbar. Auch,
wenn er sich viel mit Dingen wie DNSNeukombination und künstlichen neuronalen Netzen beschäftigt hatte, bezweifelte
Anna, dass er zu einem solch dramatischen
Umbau seiner eigenen Hirnfunktionen in
der Lage gewesen wäre. Etwas Derartiges
brachten doch nicht einmal seine Erbauer
zustande. Es konnte also nicht bewusst vorgenommen worden sein. Nein, im Laufe
seines Lebens hatte er – wie der Teamleiter
sagte – irgendeine Mutation, eine Transformation, durchlaufen, die jetzt in der Tyrell Corporation für Erstaunen sorgte. Und
für Probleme.
Als wäre er mehr als die Summe seiner
Teile., dachte Anna flüchtig und verwarf den
Gedanken gleich wieder. Das war doch widersinnig. Replikanten mochten noch so
weit entwickelt sein – sie waren industriell
hergestellte Produkte. Jedes Teil, jede
Komponente hatte eine Aufgabe, die klar
umschrieben war. Es gab für alle eine Erklärung.
„Wenigstens in einem Punkt kann ich aber
für Klarheit sorgen, Ma’am.“, war der Teamleiter fortgefahren. „Aber da, fürchte ich,
134
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
sind wir genauso überrascht wie über die
Fraktalverschlüsselung und die neu geknüpften Nervenbahnen. Unsere anfängliche Vermutung hat sich als falsch erwiesen:
Batty ist nicht eines natürlichen Todes gestorben.“
„Aber seine Lebenszeit war doch beinahe
aufgebraucht, als er den Pendler kaperte.“,
wandte Anna verwirrt ein. Laut Akte war er
zu diesem Zeitpunkt drei Jahre und
zehneinhalb Monate alt gewesen.
„Das ist korrekt. Trotzdem: Es ist kein übliches Systemversagen eingetreten. Offenbar
hat er sich selbst abgeschaltet. Aus dem Betrieb genommen. Wie immer wir es nennen
wollen.“
Absurd! Das war absurd. Ein Replikant
war nicht in der Lage, sich selbst in den Ruhestand zu versetzen. So etwas lag weit außerhalb seines Vermögens. „Sie wollen mir
sagen, es war eine Art Freitod? Wie soll das
möglich sein?“, ächzte sie.
„Durch einen Energieimpuls. Wir denken,
ein massiver Nadionstoß führte in Sekundenschnelle zu einem biochemischen
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Schock. In ein paar Stunden werden wir
hundertprozentig sicher sein.“
Anna konnte kaum glauben, was sie gehört hatte. „Er ist nur eine Maschine.“, hatte
sie, beinahe etwas hilflos klingend, von sich
gegeben. „Eine Maschine, die wir gebaut
haben. Die wir bis in jede Einzelheit kennen. Er müsste für uns lesbar sein wie ein
offenes Buch.“ Sie pausierte und schüttelte
den Kopf. Dachte über das Gesagte nach.
Zündete sich nun selbst eine Zigarette an.
„Die Sache mit der fraktalen Verschlüsselung und dann dieser Nadionstoß, mit dem
er seiner Existenz ein Ende setzte. Das kann
kein Zufall sein. Er muss irgendwie Kontrolle über seine Körperfunktionen gewonnen
haben – weit über das hinaus, was wir für
möglich hielten.“
Sind die neuen Nexus-6er dabei, ein Eigenleben zu entwickeln?, fragte sie sich
jetzt. Annas Blick führte hinauf zur Spitze
der Pyramide, die vor ihr im Fenster aufragte. Dorthin, wo Eldons Gemächer gewesen
waren. Wo er den Tod gefunden hatte. „Was
würdest Du jetzt dazu sagen, Vater?“, fragte
sie kaum hörbar. „Was würdest Du tun?“
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Plötzlich kam ihr eine Eingebung. Vielleicht gibt es einen Weg, Antworten zu bekommen. Galloway. Eldon und er haben
sich nicht gerade in bestem Einvernehmen
getrennt, aber er könnte mir womöglich
weiterhelfen. Immerhin war er ein Querdenker. Das hatte ihm seine Arbeit im Konzern zum Verhängnis gemacht, aber es war
genau das, was sie jetzt benötigte.
Anna fackelte nicht mehr lange. Sie musste nach Phobos. Sie würde sich selbst auf
den Weg dorthin machen. Zusammen mit
dem, was von Roy Batty übrig geblieben
war.
137
138
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
09
Das ambossförmige Passagierschiff glitt mit
euphemistischer Gelassenheit der zerklüfteten Oberfläche des Mondes entgegen – ein
riesiger, pockennarbiger, hellgrauer Ball,
dessen Anblick längst vom Himmel L.A.s
verschwunden war. Menschen früherer
Epochen, erzählte man sich, hatten oft ein
verquollenes Gesicht erblickt, wenn sie den
Mond betrachteten, das sogenannte Mondgesicht. Eigentlich hatte dieser Eindruck
nichts mit der Laune des Trabanten zu tun,
sondern mit Maren: rasch abfallende Tiefebenen, welche einst mit Lava gefüllt waren.
Seit mit Neil Armstrong der erste Mensch
ihn betreten hatte – in einer Epoche namens Kalter Krieg, da ihm nur der Status
eines öden Felsbrockens mit Prestigecharakter beigemessen worden war –, war der
Mond nachhaltig in seinem Wert für die
Menschheit gewachsen. Es lag am reichhal139
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
tigen Helium-3-Vorkommen, das Mitte des
21. Jahrhunderts entdeckt worden war. Helium-3 hatte für die nach Ressourcenraubbau, Drittem Weltkrieg, Klima- und Umweltkatastrophen völlig ausgeblutete Erde
die Rettung bedeutet. Es war das neue Öl,
Schmiermittel der Weltwirtschaft. Mit der
richtigen Raffinierung ließ sich damit der
Energiehunger ganzer Megametropolen decken.
Die Bergbaukolonie war bereits aus größerer Entfernung klar und deutlich zu erkennen. Sie saß wie ein großer Tumor auf der
Mondoberfläche, ihre Form grotesk und buckelig. Gewaltige Schlote, Industriekomplexe und Atmosphärenkuppeln türmten sich
in die Höhe. Es gab Lastenaufzüge, die über
zig Kilometer in die Kreisbahn fuhren, bis
zum unteren Ende jener pilzförmigen
Raumstation, von der das raffinierte Helium-3 in Richtung Erde abtransportiert
wurde.
Das hellste Licht ging aber nicht von der
Kolonie oder der darüber gelegenen Station
aus, sondern von den Grabungsstätten –
Mondlandschaften in der Mondlandschaft.
Hier arbeiteten ohne Unterlass Dutzende
140
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
von Minenmaulwürfen; gewaltige, gefräßige
Maschinen, die wie Kegel mit abgeschnittener Spitze aussahen. An der Unterseite war
ein massiver Kranz von Plasmatriebwerksdüsen angebracht, die vor allem als Bohrer
dienten. Diese Plasmabrenner konnten mit
jedem nur denkbaren Material fertigwerden. Mit ihrer Hilfe wurde das Gestein zertrümmert, das kostbare Helium-3 freigelegt
und dann eingesammelt.
Die Minenmaulwürfe waren zum Einsatz
an der Oberfläche ausgelegt. Hier war es
noch am dankbarsten, Helium-3 abzuernten. Die wirklichen Knochenjobs fanden kilometertief in der Kruste des Mondes statt,
wo vier Fünftel des energiedeckenden Rohstoffs lagerte.
Die Arbeitsbedingungen auf dem Mond
galten als besonders hart. Der Lohn fiel mager aus, und der Gesundheitsschutz war so
gut wie gar nicht vorhanden. Die armen
Schweine, die hier ihre Tage zubrachten,
waren überwiegend Saison- und Zeitarbeiter. Vermutlich waren die meisten von
ihnen trotzdem froh und dankbar, Jobs zu
haben, mit denen sie ihre Familien auf der
Erde ernähren konnten. Die Geißel der
141
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Massenarbeitslosigkeit und der weitgehende
Zusammenbruch der Sozialsysteme hatten
selbst aus tagelöhnenden Mondarbeitern
durchaus beneidenswerte Leute gemacht13.
Rick Deckard hatte dem Panorama des
anschwellenden Mondes in der Cockpitscheibe keine sonderliche Beachtung geschenkt. Stattdessen hatte er seine Aufmerksamkeit dem kleinen Tablet auf seinem
Schoß gewidmet. Er hatte das Gerät kurz
vor ihrem Abflug am LAX erstanden. Sie
saßen in einer der hinteren Reihen des Passagierbereichs, wo viele Sitze unbelegt waren. Flüge zum Mond gehörten nicht unbedingt zu den beliebtesten Reisen. Rachael
hatte den Kopf gegen seine Schulter gelehnt
und die Augen geschlossen. Währenddessen
hatte sich Deckard weiter durch das Interstellar-Net gewühlt, hatte Schlagworte eingegeben, digitale Zeitungsartikel und dergleichen mehr durchforstet. Er war recht
zufrieden mit seinen Fortschritten.
Nun hob er den Kopf und schaute für einen Moment aus dem bullaugenförmigen
Fenster. Der Mond, dachte er sich, würde
13
Replikanten durften auf dem Mond nicht eingesetzt werden,
da dieser dem auf der Erde geltenden Recht unterlag.
142
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
nur eine Zwischenstation bleiben. Er war
viel zu nah an der Erde, und dort waren die
Möglichkeiten, sich vor Bryant und seinen
Bluthunden zu verstecken, äußert überschaubar. Trotzdem bereute Deckard nicht,
dass sie einen Direktflug zum Mond genommen hatten. Je verschlungener und
kleinteiliger ihre Route war, desto besser.
Sie gewannen dadurch an Unberechenbarkeit.
Das nächste Ziel stand bereits fest, ehe sie
die Luna-Kolonie überhaupt betreten hatten: Sie würden einen weiteren Flug chartern und den Mars ansteuern. Erst von dort
bot sich voller Zugang zum weit verzweigten
Transportnetzwerk in beinahe alle Koloniewelten.
Die etwas übermelodische Stimme der
Stewardess drang aus dem Lautsprecher:
[Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten beginnen wir mit unserem Landeanflug auf den Raumhafen der Mondkolonie.
Wir bitten Sie, sich wieder auf Ihre Plätze zu
begeben und sich anzuschnallen…]
Aufgeweckt von der Durchsage, zuckte
Rachael zusammen, und ihr Kopf fuhr nach
oben. Deckard betrachtete sie. Sie hatte sich
143
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
dazu entschlossen, ihr lockiges Haar offen
zu tragen, um weniger Ähnlichkeit mit ihrem früheren Selbst zu haben und so eine
Detektion zu erschweren. Ein Schuss Rot lag
auf ihren Wangen. Sie war wirklich wunderschön.
Sie rieb sich die Augen. „Hab‘ ich lange
geschlafen?“
„Höchstens ein paar Minuten.“, erwiderte
er und schenkte ihr ein schmales Lächeln.
„Ich glaube, ich weiß jetzt, wo wir hinfliegen
können.“
„Und wohin?“
„Ich hab‘ ein wenig recherchiert, nachdem
ich mich an etwas erinnert hab‘. An jemanden, der mal in L.A. gearbeitet hat.“
„Für Tyrell?“
„Mhm.“
Ein Schatten huschte über ihr Gesicht.
„Deckard, ich glaube, das ist keine so gute
Idee –…“
„Ist nicht so, wie Du denkst.“, unterbrach
er sie. „Er hat alle Brücken zu Tyrell abge144
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
brochen, schon vor vielen Jahren. Er hat
sich der Replikanten-Freiheitsbewegung
angeschlossen.“ Deckard erntete ihr verblüfftes Blinzeln. Personen, die dieser Bewegung angehörten, wurden auf der Erde
wie Aussätzige behandelt. „Der Typ heißt
Liam Galloway. War früher mal Subunternehmer in der DNA-Gasse, so wie Sebastian, Chew, Moraji und all die anderen. Sein
Schwerpunkt war das Zentralnervensystem.
Ist vor einer Weile nach Phobos gezogen.
Frag mich nicht, warum gerade auf diesen
öden Felsklotz. Vermutlich wollte er seine
Ruhe haben.“
Deckard unterschlug, dass er an einem
Punkt in der Vergangenheit auch persönlich
mit Galloway zu tun gehabt hatte. Sie waren
aneinandergeraten, ziemlich heftig sogar.
Dann hatte er ihn aus den Augen verloren,
seine Spuren hatten sich verflüchtigt. Jetzt
konnte er nur auf das Prinzip Hoffnung setzen. Er wollte daran glauben, dass die Zeit
Wunden heilte. Wenn Galloway ihn sah,
würde er schnell erkennen, dass einige Dinge sich seit ihrer letzten Begegnung entscheidend geändert hatten.
„Ich habe nie von ihm gehört.“
145
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Deckard legte ihr eine Hand auf den Arm.
„Vertrau mir. Phobos liegt für uns sowieso
mehr oder weniger auf dem Weg. Wir werden uns ganz langsam an den Kerl herantasten. Ich verspreche Dir: Ich werde nicht auf
Risiko spielen. Aber wenn die Chance besteht, dass er uns helfen kann, dann müssen
wir es zumindest versuchen.“
Rachael nickte langsam nach anfänglichem Zögern. „Ich vertraue Dir…“ Dann
verzog sie das Gesicht und fasste sich an die
Schläfe. Sie sah äußerst besorgt aus. „Was
beschäftigt Dich, Rachael?“
Sie sah so aus, als traue sie sich selbst
nicht ganz über den Weg. „Ich hatte einen
Traum. Einen wirklich merkwürdigen
Traum. Er war…sehr real.“
„Willst Du mir davon erzählen?“
„Ich hatte ihn nicht zum ersten Mal. Aber
mit jedem Mal wird dieser Traum…“ Sie
kniff die Brauen zusammen. „Er wird intensiver. Ich kann mich besser an ihn erinnern,
an manche Details. Das erste Mal hatte ich
ihn, nachdem Du die Wohnung verlassen
hattest und ich auf Deine Rückkehr gewartet habe.“
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
„Was für ein Traum?“, wollte er wissen.
„Ich glaube, ich stand direkt vor dem
Bradbury-Gebäude. Das alte, verlassene
Haus, in dem J.F. Sebastian gewohnt hat.
Und das ist noch nicht alles. Jemand war
bei mir.“
„Wer?“
Sie zögerte kurz. „Ich glaube, es war Roy
Batty.“
Deckard schluckte schwer. Für eine Sekunde glaubte er, er hätte sie verhört. „Was
sagst Du da?“, brachte er alarmiert hervor.
„Dort ist er gestorben. Ich war dabei.“
Er hatte Rachael nie erzählt, dass sie dort
miteinander gekämpft und was sich auf dem
Dach des Hauses abgespielt hatte. Er hatte
ihr nur eröffnet, dass Batty nicht mehr am
Leben war, und sie hatte auch keine weiteren Fragen gestellt.
„Ja, ich weiß, dass er dort gestorben ist.“
Gedanken durchzuckten ihn wie Stromschnellen. Wie kann sie das wissen? Niemand hat mit ihr gesprochen. Sie hatte
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
auch sonst keine Möglichkeit, an diese Information zu gelangen.
Rachaels Blick schweifte ab. „Er hatte einen eigentümlichen, rötlichen Glanz in den
Augen. Er sagte etwas. Irgendetwas…“
Rachael warf die Stirn in Falten. „Ich
wünschte, ich wüsste noch, was es war. Auf
jeden Fall hat er zum Himmel gezeigt. Was
immer er wollte, ist irgendwo dort draußen.
Zwischen den Sternen.“
148
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
10
Sie saßen in einer Sitznische in einer der
vielen heruntergekommenen Raumhafenbars auf dem Mond. Zurzeit trieben sich
hier nur ein paar Durchreisende herum, die
auf ihren Weiterflug warteten – genau wie
sie auch.
Rachael betrachtete die zähe, schleimige
Substanz auf dem Teller vor sich, und ein
skeptischer Ausdruck huschte über ihr Gesicht hinweg. Daraufhin schaufelte sie ein
wenig der Masse auf den Löffel und schob
diesen in den Mund. Sie schüttelte sich beinahe, als sie den Bissen herunterkämpfte.
„Ich sag’s nur sehr ungern, Deckard.“
„Was?“, fragte er, eifrig beschäftigt, seine
eigene Portion zu vertilgen.
„Das ist wirklich das Ekelhafteste und Abscheulichste, das ich je gegessen habe.“
150
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Deckard zog einen Mundwinkel hoch. Sie
war wirklich süß, wenn sie sich so zierte.
„Wenn es stimmt, dass Du erst vor ein paar
Monaten aktiviert wurdest,“, gab er zu bedenken, „dann kannst Du noch gar nicht so
viel gegessen haben, um den Vergleich zu
haben.“
Rachael verdrehte die Augen, während sie
den Teller von sich wegschob. „Dann ist es
zumindest das Ekelhafteste, an das ich mich
erinnern kann.“
Wer sind wir schon ohne unsere Erinnerungen?, dachte Deckard.
In Rachaels Fall reichten ihre Erinnerungen viel weiter zurück als der Zeitpunkt ihrer Entstehung. Sie füllten Jahre. Er selbst
hatte ihr einige dieser Erinnerungen präsentiert, als sie ihm das erste Mal vor seiner
Wohnung aufgelauert hatte: die Doktorspiele mit ihrem Bruder in einem verbotenen
Gebäude, die Spinne vor dem Fenster, die
von ihren Babys aufgefressen wurde. Er hatte sie als Implantationen entlarvt, als selektiv eingepflanzte Kopien von Engrammen,
deren Originale im Kopf von Tyrells Nichte
waren.
151
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Deckard hatte Rachael auf brutale Weise
klarzumachen versucht, dass diese Bilder
und Stimmen in ihrem Kopf nicht ihr selbst
gehörten, sondern jemand anderem, dass es
keine ‚wirklichen‘ Erinnerungen seien.
Dann jedoch begann er zu erkennen, dass es
so etwas wie ‚wirkliche‘ und ‚falsche‘ Erinnerung nicht gab. Rachael hatte es bewiesen.
Für sie waren der Bruder und die Spinne
genauso real wie für Anna Tyrell. Aber das
war noch nicht einmal der entscheidende
Punkt: Rachael hatte jene Reminiszenzen,
die ihr gegeben worden waren, nicht eins zu
eins übernommen, sondern etwas ganz Eigenes aus ihnen gemacht. Sie hatte sie in
ihre Individualität integriert, zu einem Teil
von sich selbst kultiviert.
Es spielte keine Rolle mehr, dass es ursprünglich Implantationen gewesen waren.
Sie waren nicht länger Fremddaten, die man
irgendwo einspeiste. Nein, diese Erinnerungen gehörten nun zu Rachaels Charakter
und Erfahrungsschatz. Sie hatten Rachael
geprägt, und Rachael hatte diese Erinnerungen geprägt in der Art, wie sie sie auf-
152
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
griff, mit ihnen umging und wie sie sich von
ihnen leiten ließ.
Tyrell hatte genau gewusst, was er tat. Er
wusste, dass er ein Wesen mit Bewusstsein
und Gefühlen, mit einem eigenen Bezug zu
sich selbst, erschuf; ein Wesen, das menschliches Verhalten nicht imitierte, sondern
hervorbrachte. Aber er war nie bereit gewesen, etwas anderes in ihm zu sehen als ein
weiteres Produkt, das vom sprichwörtlichen
Fließband seiner Firma rollte, so wie vor
siebzig Jahren die Nexus-1-Roboter.
Deckard kämpfte seine Nachdenklichkeit
herunter. „Gute Antwort.“, meinte er und
verputzte den Rest auf seinem Teller. Dabei
sagte er: „Es heißt übrigens Ju-Such. Ist,
soweit ich weiß, ‘ne Mischung aus Soja und
Außenweltalgen.“
Rachael rümpfte die Nase und betrachtete
das Zeug wie einen Todfeind. „Also, für
mich sieht es aus, als könnte es jederzeit
Beine kriegen und weglaufen.“
Deckard grinste, nachdem er sich den
Mund mit einer Serviette abgewischt hatte.
„Für jemanden, dessen Vorfahren sich noch
von Maschinenfett und Silikonflüssigkeit
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
ernährt haben, bist Du verdammt anspruchsvoll. Wenn Du jetzt schon meckerst,
dann wart erst mal ab, was Du auf dem
Mars vorgesetzt bekommst.“
„Was gibt es denn dort?“, fragte Rachael in
böser Vorahnung.
„Jedenfalls nichts, das sich so leicht verdauen lässt wie Ju-Such. Sei froh, dass Du
kein Mensch bist.“
„Also, wenn Du meinst, dass Replikanten
keine Magen-Darm-Probleme bekommen
könnten…“
Er hob die Hand, und sie sprach nicht weiter. „Vertiefen wir das ein andermal, okay?“
Deckard warf einen Blick auf seinen Armbandchronometer. „Unser Flug geht in einer
Stunde. Wir sollten schon mal in die Abflughalle gehen.“
„So eine schöne Dame.“ Eine gespielt
freundliche, geradezu penetrant aufdringliche Stimme war plötzlich erklungen. „Also,
ich finde, eine so bezaubernde, junge
Schönheit hat in jedem Fall einen Beweis
verdient, wieviel sie demjenigen wert ist,
der ihr Herz halten darf.“
154
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Ehe Deckard sich versah, stand ein dunkelhäutiger Mann mit Rasterlocken,
Sparrow und aufgesetztem Grinsen vor
ihnen. Einen Augenblick beschlich ihn der
Eindruck, ihm komme diese Visage irgendwie bekannt vor. Dann verlagerte sich seine
Aufmerksamkeit auf den urgewaltigen Rosenstrauß, den der Mann bei sich hatte.
„Eine wunderhübsche Marsrose zum Beispiel.“, setzte er hinterher.
„Verschwinde, Mann.“, fauchte Deckard
instinktiv. Diese Störung war ihm überhaupt nicht recht, und das nicht nur, weil
sie gerade hatten gehen wollen.
„Hey, Freund.“, erwiderte der Rosenverkäufer und verwies in Rachaels Richtung.
„Wenn Du mit ihr so umspringst, musst Du
Dich nicht wundern, wenn Du bald allein
dastehst. Irgendwie siehst Du auch so aus,
als wärest Du zu viel allein gewesen. Deshalb hast Du keine Manieren.“
Deckard ballte eine Faust und spreizte den
Daumen. „Mach ‘nen Abgang, na wird’s
bald.“
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
„Das sind interessante Blumen.“, sagte
Rachael plötzlich. Fasziniert betrachtete sie
die violetten, üppigen Blüten in der Umarmung des Verkäufers.
„Nicht wahr?“, griff dieser auf, zufrieden,
dass seine Strategie aufzugehen schien. „Sie
stammen aus den terrageformten Regionen
am Hang des Olympus Mons. Handgezüchtet. Eine wahre Rarität, herrlich anzusehen
und sehr…kostbar.“, intonierte er mit einem
wilden Augengeklimper.
„Verarschen kannst Du Dich selbst, Junge.“, blaffte Deckard. „Die Rose ist nicht
echt, das sieht doch jedes Kind.“
„Ich bitte Sie.“, brachte der Mann eingeschnappt hervor. „Wo zum Teufel findet
man heute noch echte Rosen? Haben Sie
denn einen solchen Mangel an Fantasie,
dass Sie sich nicht für einen Moment vorstellen könnten, sie wäre echt?“
Deckard stieß einen leisen Fluch aus. „Wir
haben keine Zeit dafür. Komm jetzt, Rachael.“
156
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
„Halt, Deckard.“ Sie sah ihn mit den Augen eines kleinen Mädchens im Spielwarenladen an. „Ich möchte eine.“
Der Rosenverkäufer sprühte geradezu vor
Enthusiasmus. Er witterte, dass er beinahe
am Ziel angelangt war. „Ich will Ihnen raten, dieser selbstbewussten, jungen Dame
Ihren Wunsch nicht zu verwehren, Freund.
Das geht niemals gut aus. Glauben Sie mir:
Ich spreche aus Erfahrung.“
„Klappe.“, zischte Deckard. Bevor er länger darüber nachdenken konnte, was er da
überhaupt tat – einer künstlichen Frau eine
falsche Rose kaufen – kramte er eilig in seiner Tasche und zog ein paar Credits heraus,
die er dem Verkäufer zusteckte. „Reicht
das?“
„Oh, wie großzügig. Monsieur hat heute
seinen spendablen Tag, wie es scheint.“
„Und jetzt zieh Leine. Na los.“
„Sehr wohl. Ich wünsche einen herzallerliebsten Tag.“ Der Mann verneigte sich andeutungsweise und wich davon. Er hatte,
was er wollte.
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Als sie wieder unter sich waren, seufzte
Deckard gequält. „Beim nächsten Mal lässt
Du das bleiben.“
„Aber sie ist wirklich sehr, sehr schön.“ Sie
führte die wirklich gewaltige Rose zur Nase
und roch daran. Ein Lächeln entstand in
ihrem Gesicht. Sie wollte die Blüte auch
Deckard unter die Nase halten, doch der
winkte ab.
„Damit das klar ist: Wir sind hier nicht auf
einem Wohltätigkeitstrip.“, brummte er.
„Jeder Kontakt, den wir hier mit irgendwem
haben, könnte Bryants Leuten verraten, wo
wir sind. Und das wäre dann großes Pech
für uns.“
Ein gedrückter Ausdruck entstand in ihrem Gesicht. „Also glaubst Du, dass unsere
Chancen schlecht stehen?“
„Sag mir nie, wie meine Chancen stehen.
Und jetzt komm endlich.“ Deckard griff
nach ihrer freien Hand und zog sie von ihrem Platz. Anschließend half er ihr in ihren
Mantel, und sie verließen die Bar.
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Irgendwie, ging es ihm durch den Kopf,
würde er sich schon viel besser fühlen, wenn
sie den Mond erstmal verlassen hatten.
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
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Guzzar hatte der Heißhunger überkommen,
und wie es so seine Art war, hatte er sich
dem erstbesten Imbiss verschrieben, den er
am lunaren Raumhafen hatte finden können. Nun drückte er mit der einen Hand
seinen Kommunikator ans Ohr, um Bryant
einen Statusbericht zu geben, während er
sich zeitgleich mit der anderen Hand das
wohl fragwürdigste Analog-Algenhotdock
reinschob, das man im ganzen Sonnensystem auftreiben konnte.
Gaff hatte bis vor kurzem noch direkt neben ihm gestanden, die Umgebung allenthalben nach Zielen sondierend, jetzt trieb er
sich irgendwo anders herum. McCoy hatte
ihn aus den Augen verloren. Dass er immer
wie ein Geist auf eigene Faust überall herumschleichen muss… Vermutlich hatte der
Kerl von seiner Narrenfreiheit, die ihm Bryant gewährte, wieder mal Gebrauch ge161
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
macht und sich irgendeinen Aussichtspunkt
gesucht, von dem aus er die Menschenmassen im Auge behalten konnte. Er würde
schon Bescheid geben, wenn ihm irgendetwas auffiel.
„Das ist doch Bockmist.“, blaffte Steele,
nachdem sie sich eine weitere Zigarette angezündet hatte. Zusammen mit McCoy
stand sie einige Meter abseits auf einer der
Promenadengalerien des Spaceports, wo
sich zu ihrer Linken und Rechten ein heilloses Getummel aus Händlern, Arbeitern und
Durchreisen ohne Unterlass dahinwälzte.
„Der pflegt sich hier seinen Rettungsring,
und wir verlieren kostbare Minuten, um unsere Beute einzufangen.“
„Vergiss nicht, dass Bryant am Hörer ist.“,
gab McCoy zu bedenken.
„Ach was, der kann mich mal.“ Sie entließ
eine Qualmwolke aus ihren Nüstern. „Wir
haben einen Job zu erledigen.“
„Hast ja Recht…“
Steele stemmte die Hände in die Hüften
und spie verächtlich: „Weißt Du was? – Ich
hasse den Mond! Das ist ein Loch!“
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
McCoy grinste spitzbübisch. „Und L.A. ist
keines oder was?“
„Woher zum Teufel. L.A. ist schön. Etwas
morbide manchmal, aber schön.“
„Aber sicher.“
Steele wandte sich ihm zu, und er erblickte
sein Spiegelbild in ihrer Sonnenbrille. „Hey,
Cowboy, Du ziehst ein Gesicht, als hätte Dir
Mami den Lolli weggenommen. Ein bisschen enthusiastischer, wenn ich bitten darf.
Dann geb‘ ich Dir vielleicht sogar ‘nen kleinen Anteil von meiner Prämie ab.“
„Wie ungeheuer großzügig von Dir.“
Er zweifelte keine Sekunde daran, dass
Steele alles daran setzen würde, dass sie diejenige war, die den entscheidenden Treffer
landete. Falls es dazu kommen sollte. Andererseits freute sie sich vielleicht zu früh.
Immerhin war noch völlig offen, wie hoch
die Prämie für einen liquidierten Ex-Blade
Runner ausfallen würde. Für sowas gab es
keinen Präzedenzfall.
Immerhin hatte Guzzar inzwischen eine
klare Ansage gemacht. Er hatte seine Er163
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
laubnis gegeben, Deckard beim kleinsten
Anzeichen von Schwierigkeiten zu erledigen. Und Rachael durfte, falls sie floh, auf
die Kniescheiben geschossen werden. Die
Tyrell Corporation war ausschließlich an
ihrem Gehirn interessiert.
„Vielleicht seh‘ ich mich mal bei den örtlichen Waffenhändlern um, wenn ich Zeit
hab‘.“, sagte Steele.
„Wieso das?“
„Das ist jetzt off the record, klar?“ Mit gedämpfter Stimme sprach Steele weiter:
„Meiner Meinung nach taugen unsere Standardpatronen ‘nen Scheiß. Wenn Du einen
Rep umpusten willst, brauchst Du Schlagkraft. Auf dem Mond sind sie traditionell
etwas einfallsreicher, wenn‘s darum geht,
Deiner Wumme etwas mehr Potenz zu verpassen.“ Ihr Kichern war mehr Krächzen.
„Bei Dir könnt‘ ich mir fast vorstellen, dass
Du auch im Urlaub durch Waffenläden
streifst.“
Steele bleckte die Zähne, ehe sie wieder an
ihrer Zigarette zog. „Schätzchen, kapier’s
endlich: Der beste Urlaub, den ich mir vor164
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
stellen kann, ist Reps abzuknallen – und
mir mit meinen Prämien den Arsch vergolden zu lassen. Dafür bin ich geboren. Warst
ganz schön schweigsam auf dem Flug.“,
meinte Steele. „Was hast Du schon wieder
ausgefressen?“
„Ach nichts.“, winkte er ab.
„Spuck’s schon aus.“
„Ich frage mich einfach, warum Deckard
entschieden hat, mit ihr zu fliehen.“
Steele verzog das Gesicht. „Spielt das etwa
‘ne Rolle? Der Schlappschwanz ist ein Verräter. Er hat seine Dienstmarke besudelt.
Wir werden ihn dafür kaltmachen. Schluss,
aus, Ende.“
„Steele,“, sagte er, „Deine Logik war schon
immer enorm auf Praxistauglichkeit ausgelegt.“
Sie bedeutete ihn mit ihrem Glimmstängel. „Deshalb stehe ich heute dort, wo ich
bin, und Du, wo Du bist. Und ich bin zuversichtlich, dass Guzzar, wenn er Bryant in
den nächsten Jahren beerben wird, mich
zum Lieutenant ernennen wird. Du darfst
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– Blade Runner 2 – Akt 1 –
das ‚Sir‘ also gern schon mal üben. Kannst
mir nach getaner Arbeit aber gern auch einen ausgeben. Man kann nie früh genug
damit anfangen, sich bei seinen künftigen
Vorgesetzten einzuschmeicheln.“
McCoy kratzte sich am Kopf und ignorierte Steeles Gepose geflissentlich. „Ich frage
mich ja bloß, welche Motive er für seine
Handlungen hatte. Jeder Handlung liegt ein
Motiv zugrunde, jeder Entscheidung…“
Steele schien der Grübelei überdrüssig zu
werden. Das war wenig überraschend. Sie
hatte schon immer einen Ansatz verfolgt,
der ihr Erfolgsprämien sicherte und nichts
anderes. „Jetzt sag ich Dir mal was, Cowboy: Deckard hatte schon immer Probleme
mit dem Gehorsam. Hast Du ‘ne Ahnung,
wie viel Ärger er Bryant gemacht hat? Du
hast gerade aufgehört, in die Windeln zu
machen, da war dieser Typ schon ein Querulant. Diesmal hat er bewiesen, aus welchem Holz er wirklich geschnitzt ist – er ist
ein beschissener Rep-Sympathisant, das ist
er. Wenn Guzzar uns grünes Licht gibt, pusten wir ihn weg und schnappen uns die Maschine. Umgekehrt wär’s mir lieber, aber so
lauten nun mal die Befehle.“
166
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Ihre schmalen, gegen ihre blasse Haut
blutrot anmutenden Lippen kräuselten sich.
„Mein Gott, jetzt ist es schon so weit gekommen, dass wir einen verfluchten Rep
beschützen und ihn sicher zurück zu Papa
eskortieren müssen.“
„Du meinst zu Mama.“, korrigierte McCoy.
„Wie auch immer. Jedenfalls hat uns
Deckard echt ‘was eingebrockt. Und ich versprech‘ Dir: So schnell wie ich wird er seinen Colt nicht zücken.“
McCoys Blick schweifte zu Guzzar, der
weiterhin telefonierte, aber inzwischen sein
Algenhotdock verdrückt hatte, und zurück
zu Steele. Dabei strich er sich über den gepflegten Dreitagebart. „Hast Du Dich jemals
gefragt, ob die Replikanten vielleicht wirklich intelligent sind? Ich meine, dass sie so
sind wie wir? Dass sie so ähnlich empfinden
und all das Zeug?... Immerhin scheint einiges darauf hinzudeuten, dass Nexus-6 so
etwas wie ein Wendepunkt war.“
Er guckte verdutzt drein, als Steele verächtlich lachte. „Ich glaub, ich hör‘ nicht
recht. Jetzt klingst Du fast schon wie einer
von diesen ‚Freiheit für die Reps‘-Idioten.“
167
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Ihre Hand ging auf seiner Schulter nieder.
Nur eine Sekunde blickte McCoy auf ihre
schwarz lackierten Nägel. „Hör mal, Cowboy, ab dem Moment, wo Du beginnst, etwas für die zu empfinden, bist Du verloren.
Mitleid ist der größte Fehler, den man begehen kann. Das sind Maschinen, mehr nicht.
Instrumente, Batterien, die wir wegwerfen,
wenn sie leer sind – oder wenn wir Bock
drauf haben, sie wegzuwerfen. Und wenn’s
nach mir geht, könnten diese ‚Hautjobs‘ alle, wie sie da sind, in den Hochofen wandern. Mich würde es nicht jucken, wenn jeder Einzelne von ihnen krepieren würde.
Am besten durch eine Kugel aus dem Lauf
dieses Babys hier.“ Mit der freien Hand
klopfte sie sich gegen den Blaster in ihrem
Gürtelholster. „Stell Dir mal meine Prämie
vor.“
„Du hättest wohl für den Rest Deines Lebens ausgesorgt.“, vermutete McCoy.
Steele warf den Zigarettenstummel zu Boden und trat ihn mit ihrem Stiefel aus. „Ich
sag Dir was, Cowboy. Ich hab‘ schon oft
Reps gejagt. Auf den orbitalen Stationen,
hier auf dem Mond, und auch auf der Erde
zu Genüge. Und ich hab‘ nie irgendwas
168
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Menschliches in ihnen gesehen, in keinem
einzigen. Nur ein paar durchgebrannte
Drähte, die diese Blechbüchsen Amok laufen ließ. Und dafür haben sie bezahlt.“
Endlich stieß Guzzar zu ihnen. Gaff, der
wie aus der Versenkung wiederaufgetaucht
war, folgte ihm wie sein zweiter Schatten.
„Wurde auch langsam Zeit, Sir.“, genehmigte sich Steele.
„Ich hab‘ gute Neuigkeiten, Leute.“, sagte
der Lieutenant und putzte sich mit einer
Serviette die fleischigen Finger ab. „Sie
wurden auf dem Weg nach Abflughalle
sechs gesichtet.“
Steele entblößte blitzend weiße Zähne. „Na
dann – nichts wie los. Je schneller wir von
diesem staubigen Helium-3-Ball weg sind,
desto besser.“
Guzzar lachte verdrießlich. „Sie nehmen
mir die Worte aus dem Mund, Zuckerschnecke.“
169
170
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
12
Hand in Hand standen sie auf einer gefühlt
kilometerlangen Rolltreppe, die sie mit träger Gleichgültigkeit ihrer Abflughalle entgegentrug. Durch das transparente Glas erhielt man einen Blick auf das gesamte Terminal. Von hier aus erkannte man deutlich,
wie hastig und planlos der lunare Raumhafen gewachsen war – ein Prozess, der in Anbetracht der steigenden Bedeutung des
Mondes ungebremst anhielt. Bald sah
Deckard die vielen Leute, die sich im Promenadenbereich tummelten, nur noch als
kleine, dunkle Punkte.
Wir sind so gut wie weg von hier…,
sprach er sich Mut zu. Die falschen Identitäten, die er ihnen beiden verschafft hatte,
würden funktionieren. Und sobald sie erst
einmal den Mond verlassen hatten, würde
vieles einfacher werden.
171
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
„Ich habe nachgedacht, Deckard.“, sagte
Rachael in diesem Moment. Nach wie vor
hielt sie die Marsrose in der Hand.
„Worüber?“
„Über diesen Traum, den ich hatte. Mir
sind einige wichtige Dinge eingefallen. Ich
weiß jetzt, was Batty sagte. Er sprach von
einem Tor. Er nannte es Tannhäuser Tor.
Ja, genau. Das war das Wort.“
Deckard spürte einen Stich in der Magengrube. Für einen Augenblick glitt er fort aus
der Gegenwart. Er erinnerte sich an die letzten Sekunden, bevor Batty aus dem Leben
schied. Was er dort, auf dem Dach des
Bradbury-Gebäudes, von sich gegeben hatte, hatte wundersam geklungen. Wie nicht
von dieser Welt. Es hatte etwas in Deckard
berührt, obwohl er so gut wie nichts davon
verstanden hatte. Verstanden hatte er in
diesem Augenblick nur, dass in diesem
künstlichen Mann, den alle für eine Bestie
hielten, eine Seele steckte. Eine unschuldige
Seele. Der Begriff ‚Tannhäuser Tor‘ – was
immer sich dahinter verbarg – war ebenfalls
in Battys Abschiedsrede gefallen.
172
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Deckard hörte den Widerhall der Worte in
seinem Geist; dort waren sie unsterblich
geworden. Ich habe Dinge gesehen, die Ihr
Menschen niemals glauben würdet. Gigantische Schiffe, die brannten, draußen vor
der Schulter des Orion. Und ich habe CBeams gesehen, glitzernd im Dunkeln, nahe
dem Tannhäuser Tor…
Nahm man diese Sätze nüchtern für bare
Münze, waren sie der Logik nach geradewegs absurd. Batty war natürlich nie vor der
Schulter des Orion gewesen. Ebenso wenig
wie irgendein menschliches Wesen oder ein
anderer Replikant hatte er jemals das irdische Sonnensystem verlassen. Trotz der
Verheißungen der modernen Raumfahrt
war die Menschheit bis dato nicht über die
Kolonisierung zweier Uranusmonde hinausgekommen.
Stattdessen gab es aber eine sehr klare Akte über die knapp vier Jahre, in denen er
gelebt hatte. Fast die komplette Zeit hatte
Batty an zwei Orten verbracht: überwiegend
auf Titan, wo er gekämpft und gearbeitet
hatte, und in jüngerer Zeit auf Olympus.
Nur die letzten zweieinhalb Wochen vor
seinem Tod verlebte er anderswo, nämlich
173
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
auf der Erde, in dem Versuch, aufzuhalten,
was nicht aufzuhalten schien: das absehbare
Ende eines Nexus-6-Replikantenlebens.
Deckard stockte der Atem. Diesmal lief es
ihm beinahe kalt den Rücken herunter.
„Wie kannst Du das nur wissen?“
„Da ist noch mehr…“ Rachael sah ihn
nachdenklich an. „Ich war dort. Ich meine,
er hat mich gesehen. Er hat mich wahrgenommen. Zu mir hat er gesprochen.“ Rachaels Hände zitterten leicht, und ein Schuss
Blut erfüllte ihre Wangen. „Es mag sich verrückt anhören. Aber irgendwie glaube ich…
Ich glaube, Batty war in meinem Kopf. Er ist
für diesen Traum verantwortlich. Ich glaube, dass er mir eine Botschaft zukommen
lassen wollte.“
„Wie soll so etwas möglich sein? Und um
welche Botschaft sollte es sich dabei handeln?“ Er hatte es nicht beabsichtigt, und
doch fiel ihm auf, wie seine Stimme in gereiztere Lagen abgeglitten war.
Ihr Blick schweifte durch die Glaskuppel,
hinaus in die Mondlandschaft, und dann
flüsterte sie mit veränderter Stimme: „‚Das
Tannhäuser Tor, Rachael. Es wartet darauf,
174
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
gefunden zu werden. Mit meiner Hilfe
kannst Du es finden. Führe fort, was ich begann.‘“ Worte, die nicht die ihren waren.
„Das hat er mir gesagt.“
Deckard stand die Kinnlade offen; er
starrte sie entgeistert an. Was Rachael ihm
gerade mitgeteilt hatte, beunruhigte ihn zutiefst. Denn es mochte bedeuten, dass das
große Replikantenmysterium weiterging,
das ihn vor einer Weile verschlungen hatte.
Gleichzeitig schien eben jenes Mysterium
genau das, was er sich ausgesucht hatte.
Was seinem Schicksal entsprach.
Rick Deckard war ausgesprochen aus der
Bequemlichkeit seiner Weltsicht. Er hatte
seine Augen und sein Herz für die Wunder
geöffnet. Dinge, die nicht das waren, was sie
zu sein schienen, wenn man es nur fertigbrachte, ihnen nachzugehen, hinter die Fassade zu schauen.
Und ganz egal, wie er sich vor der Dunkelheit des Horizonts fürchtete: Er würde begrüßen, was dahinter lag. Die Schwelle war
bereits überschritten. Für ihn gab es kein
Zurück mehr. Rick Deckard ging vorwärts,
immer nur vorwärts.
175
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Wohin sein Weg ihn führen würde: Er war
entschlossen, ihn zu beschreiten.
Kaum hatten Deckard und Rachael die lange Fahrt mit der Rolltreppe beendet, langten sie in Abflughalle sechs an. Während sie
sich in die Schlange der Wartenden an der
Pass- und Gepäckkontrolle einreihten, bemerkten sie nicht, wie ihnen von der Balkongalerie der nächsten Etage jemand auflauerte.
„Ich kann sie jetzt sehen.“, sagte der Mann
in das kleine, in seinem Ärmel verborgene
Sprechgerät. Dabei hielt er sich eine dunkle
Marsrose an die Nase.
Gar nicht so übel., dachte er. Der Duft war
zwar, genau wie der Rest der Rose, künstlich, aber er fing an, sich daran zu gewöhnen.
176
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
177
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
13
Die Abfertigung der Wartenden an der Passund Gepäckkontrolle verzögerte sich; der
Rückstau war enorm. Dass die ganze Prozedur wesentlich länger als erwartet dauerte,
war einem schmierigen Kerl mit Topffrisur
und Jamaikahemd zu verdanken. Als sein
Koffer über das Band rollte, hatte der Scanner ausgeschlagen. Die Beamten hatten ihm
auf ihrem Schirm das schematische Röntgenbild – ein äußerst verdächtig wirkendes
Bild – gezeigt und ihn gefragt, was er da mit
sich führe. Daraufhin hatte der verunsicherte Mann einen Schweißausbruch erlitten
und die dümmstmögliche Antwort gegeben:
er wisse nicht, was da drin sei, seine Freundin habe den Koffer gepackt.
Ehe er sich versah, war er von Polizisten
umringt gewesen, die sich für den
schlimmsten Fall wappneten. Die Personaldaten des Trägers waren ermittelt, der Kof178
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
fer mit allen erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen behandelt worden. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatten die Uniformierten
es gewagt, ihn mit Spezialausrüstung und
äußerst Vorsicht zu öffnen. Die Erleichterung war selbst ihnen anzusehen, als einer
der Kontrolleure einen überlebensgroßen,
altertümlichen Analogwecker aus den Untiefen des Koffers zog. Dem schlecht frisierten Idioten war der dringende Rat mitgegeben worden, sein Gepäck in Zukunft gefälligst selbst zu packen.
Unter dem Strich hatte die vollkommen
überflüssige Sache so lange in Anspruch genommen, dass der Boardingzeitraum um
beinahe zwanzig Minuten verlängert worden war. Damit würde sich auch der Abflug
nach hinten ziehen.
Rachael und Deckard standen noch immer
an. Deckard spürte, wie er allmählich nervös
wurde. Es war ganz und gar nicht gut, wenn
sie länger als unbedingt nötig auf dem
Mond blieben. Jede Minute zählte.
Zu Deckards Erleichterung war das Ende
ihrer unbehaglichen Warterei bald in Sicht.
Die Abfertigung kam nun spürbar in
Schwung; offenbar hatte jemand beschlos179
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
sen, auf die Tube zu drücken. Nur noch ein
halbes Dutzend Personen befanden sich vor
ihnen in der Schlange. Er konnte es gar
nicht erwarten, den Moment zu erleben,
wenn sich das Passagierschiff von der Dockschleuse löste und abhob. Nicht mehr lang.,
sagte er sich.
Die nächsten Sekunden liefen wie in Zeitlupe für Deckard ab. Rein zufällig senkte er
den Kopf zu Boden. Wahrscheinlich war es
nicht mehr als eine instinktive Reaktion auf
seinen chronisch schmerzenden Nacken.
Mit einer Hand fasste er sich in den Bereich
zwischen Schulter und Hals und knetete die
verspannte Stelle ein paarmal…
…als er plötzlich etwas erblickte. Zunächst
war es kaum mehr als ein beiläufiges Aufblitzen vor dem Hintergrund des blaugrauen, abgetretenen Bodens. Man hätte es beinahe übersehen oder als unwichtig ignorieren können.
Aber nicht Deckard. Er kannte dieses
Funkeln, die charakteristische, glatte Oberfläche des dünnen, beschichtenen Papiers,
von der es rührte. Kaugummipapier. Eine
ganz bestimmte Marke. Andere warfen es
weg, nachdem sie sich den Streifen in den
180
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Mund geschoben hatten, doch einer tat es
nicht. Einer hatte mehr Interesse am Papier
als am Kaugummi selbst.
„Was ist?“, fragte Rachael, als Deckard
neben ihr in die Hocke ging.
Schweigend langte er nach dem kleinen
Objekt und betrachtete es. Eine Origamifigur. Im Laufe der letzten Tage hatte er mehr
davon gesehen, als ihm lieb war. Diese hier
reihte sich ein in die lange Reihe, machte sie
noch länger.
Die Figur zeigte ein Männchen mit gespreizten Beinen. Die Position der Arme
und Beine wies auf Bewegung hin. Zweifellos: Dieses Männchen lief.
Flucht., zuckte es durch Deckards Hirn. Es
symbolisierte Flucht.
„Deckard…“, hörte er Rachaels Stimme,
jetzt zunehmend beunruhigt. „Ich hab‘
schon mal eine Figur gesehen, die so ähnlich war. Bei Dir zuhause, im Flur.“
Adrenalin schoss in seine Magengrube.
Die Pumpe hinter seiner Brust begann augenblicklich zu rasen, ein echter Kaltstart.
181
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Er erhob sich wieder und drehte den Kopf
zu Rachael. „Sie sind hier.“
„Wer? Wer, Deckard?“
Sein Blick glitt nach links und rechts,
durch die Menge der Wartenden. Nichts. Er
sah niemanden, den er kannte. Dann legte
er den Kopf in den Nacken und sah zur Balkongalerie.
Sein Herz drohte stehenzubleiben. Er erblickte eine dunkle Sonnenbrille, blutrote
Lippen, umrahmt von bleicher Haut. Steele,
ans Geländer gelehnt. Und direkt neben ihr
Guzzar und ein jüngerer Kerl mit Dreitagebart, den er nicht kannte. Sie sahen nicht so
aus, als hätten sie Deckard und Rachael bereits ausfindig gemacht; ihre Blicke schweiften umher wie Suchscheinwerfer.
Trotz akuten Personalmangels hetzte ihm
Bryant offensichtlich das Beste hinterher,
was er aufbieten konnte. Und jetzt kam er
seinem Ziel gefährlich nah. Viel näher als
Deckard geahnt hätte.
„Verdammt, sie haben uns gefunden.“,
raunte er. „Wir müssen weg von hier.“
182
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Deckard wusste, dass sie gleich entdeckt
würden, wenn sie nicht zusahen, dass sie
verschwanden.
„Aber unser Flug…“, stöhnte Rachael.
Er zog sie ruckartig aus der Reihe, und sie
traten den Rückweg an. Deckard achtete
darauf, dass sie dicht bei den anderen Leuten in der Schlange blieben, sonst gerieten
sie sofort in Sicht.
Nachdem sie vielleicht sechs Meter überbrückt hatten, fiel ihm auf, dass entlang der
Absperrung eine weitere Origamifigur
stand. Die exakte Kopie des Männchens, das
Deckard aufgehoben hatte. Und weitere drei
Meter ein drittes Männchen. Sie hatten hier
gestanden, aber er hatte sie nicht gesehen.
Gaff. Gaff war hier…
Er kam nicht dazu, länger darüber nachzudenken. In diesem Moment hörte Deckard einen schrillen Ruf: „Dort sind sie! Dort
sind sie!“
Es war Guzzar. Guzzar kochte, hetzte seine
Bluthunde auf sie. Sie waren aufgeflogen.
183
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
„Rachael, Du musst jetzt laufen – schnell!“
Sie brach in Tränen aus, aber tat, wie ihr
geheißen. Gemeinsam setzten sie sich in
Bewegung.
Deckard warf noch einmal den Kopf zurück – und wünschte sogleich, er hätte es
nicht getan. Er sah, wie Steele ihren Blaster
zückte und auf sie anlegte.
„Schnell, Rachael, schnell!“ Er griff nach
ihrer Hand.
Dann erschütterte der Knall des Abschusses die Abflughalle…
184
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
- Fortsetzung folgt 185
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Personae dramatis
Rick Deckard. Ehemaliger,
desillusionierter Blade Runner. Hatte vor kurzem ein
Erweckungserlebnis mit Replikanten, das seinem Leben
eine neue Richtung gab. Rachael. Verbessertes Modell der Nexus-6-Reihe, das
nach der Blaupause von Eldon
Tyrells Nichte erschaffen
wurde. Liebt einen Blade
Runner. Harry Bryant. Skrupelloser
Chef des Rep-DetectDepartments Los Angeles. Hat
einen (vermeintlich) guten
Ruf zu verlieren. Gaff. Bryants rechte Hand
und Blade Runner-Eintreiber
vom Dienst. Aufmerksamer
Beobachter und OrigamiKünstler. 186
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Pete Guzzar. Stellvertreter
von Bryant. Wird mit der Jagd
nach Deckard betraut, mit
dem er noch eine private
Rechnung offen hat. Ray McCoy. Jüngster Zulauf
in der Blade Runner-Einheit.
Hat noch kaum Erfahrung,
dafür aber einen selten gewordenen Idealismus. Chrystal Steele. Prototyp
des eiskalten Blade Runners.
Führt das Ranking erledigter
'Hautjobs' bei der LAPD mittlerweile an. Anna Tyrell. Chefin der
Tyrell Corporation. Leidet
nicht nur seelisch unter dem
Tod ihres Onkels. Hat geschworen, Eldons Erbe weiterzuführen. 187
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Clovis Sacula. Nexus-6Replikant, der an der neuesten
Erfindung der Menschheit
baut. Kannte Roy Batty. 188
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Orte
Los Angeles. Die vielleicht
verkommenste Stadt der Welt,
aber auch ein gutes Abbild des
zivilisatorischen Niedergangs
der Spezies Mensch insgesamt. Im Herzen der Stadt
ragen die Pyramiden der Tyrell Corporation hervor. Nach
Krieg und Umsiedlung hat
L.A. anno 2119 mehr als 12
Millionen Einwohner.
Erde. Im 22. Jahrhundert ist
die ausgeblutete Wiege der
Menschheit längst abhängig
von ihren Kolonien. Giftiger
Regen und Smog verhindern,
dass man vom Boden die
Sonne sieht. Ergebnis von
Kriegen, Globalisierung und
kaputter Umwelt ist die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten und das Aussterben
der meisten Tierarten (Hersteller künstlicher Tiere haben
Hochkonjunktur).
Mond. Nach der Entdeckung
und Nutzbarmachung massiver Vorkommen von Helium-3
ist der irdische Trabant zur
Hauptenergiequelle für die
Erde geworden. Zudem ist er
ein Sprungbrett zu den Koloniewelten.
189
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
190
Koloniewelten. In der Zukunft hat die Menschheit den
Weg zu den Sternen geschafft.
Rund ein Dutzend Koloniewelten konnten mithilfe von
sklavisch gehaltenen Replikantenarbeitern erschlossen
und zivilisiert werden. Ein
Hoch auf den Fortschritt. – Blade Runner 2 – Akt 1 –
Koloniewelten im Jahr 2119
 Mond/Luna
 Mars (zwei separate
Kolonien, Mars I und II
genannt)
 Phobos (Marsmond)
 Deimos (Marsmond)
 Europa (Jupitermond)
 Ganymed (Jupitermond)
 Io (Jupitermond)
 Kallisto (Jupitermond)
191
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
 Titan (Saturnmond)
 Rhea (Saturnmond)
 Gemini (Saturnmond)
 Oberon (Uranusmond)
 Olympus (Uranusmond)
192
– Blade Runner 2 – Akt 1 –
Rick Deckard ist auf der Flucht. Infolge seiner Begegnung mit Roy Batty ist sein brüchiges Weltbild
endgültig in sich zusammengestürzt. Beseelt von der
Erkenntnis, dass er die Replikantin Rachael liebt,
setzt er nun alles daran, seine Begleiterin vor dem
Griff der Tyrell Corporation in Sicherheit zu bringen. Deckard ist klar, dass er dazu die Erde verlassen muss. Doch seine ehemaligen Kollegen aus der
Blade Runner-Einheit sind ihm auf den Fersen…
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