– Blade Runner 2 – Akt 1 – A K T I : Abschied 1 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Julian Wangler S t a r T r e k: Voyager Season 8 - Crossing the Line - Roman Ω ~ www.startrek-companion.de ~ 2 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Vorwort Blade Runner ist für mich persönlich einer der ungewöhnlichsten und prägendsten ScienceFiction-Filme. Längst nicht nur durch seine berauschende Optik hat er das Genre nachhaltig beeinflusst. Das ist insofern verwunderlich als der Film zeit seines Erscheinens im heiß umkämpften Jahr 1982 kaum die Produktionskosten wieder einspielte. Erst über die Zeit reifte er zum Diamanten einer sich wandelnden ScienceFiction-Gemeinschaft heran und wird heute als Keimzelle dunklerer Genre-Entwürfe gesehen. Was den Film weit über seine Noir- und Cyberpunkästhetik hinaus auszeichnet, ist meines Erachtens nach zweierlei: die feine Mischung aus harter Dystopie rund um eine verkommene Menschheit sowie eine besondere Empfindsamkeit, die sich im zweifelnden, verletzlichen Helden Rick Deckard, aber auch seinem Verhältnis zur Replikantin Rachael bündelt. Wie kaum ein anderer Kinostreifen gelingt es Blade Runner, Zweifel an einer Welt zu säen, in der vieles blind vorausgesetzt wird. So zeigt schließlich der Abschiedsmonolog Roy Battys, dass die Frage nach Gut und Böse, nach Wahr und Falsch keine ist, die sich an den bloßen Kategorien Mensch und Maschine entscheidet. 3 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Der Autor Paul M. Sammon merkte zu diesem Thema einmal an: „Blade Runner ist im Grunde ein warnender Film, der uns sagt: Der Replikant - der Bösewicht - kann in jedem von uns stecken, auch im Menschen. Er sagt uns: Sei kein Replikant. Behalte Dein Einfühlungsvermögen. Sei ein Mensch. So geht es in Blade Runner nicht um das Materielle, sondern letztendlich um das Spirituelle.“ 2012 begingen wir das dreißigjährige Jubiläum einer beachtlichen filmischen Zukunftsvision, die aktueller scheint denn je. Während Ridley Scotts Teil zwei im Herbst 2017 erscheinen wird, habe ich mich an meine ganz eigene Fortsetzung der Geschichte Rick Deckards begeben. Meine Grundlage bildet die Final Cut-Version von 2007, die nach Scotts eigener Aussage seiner Vorstellung vom Film am nächsten kommt. Zusätzlich finden auch einige Figuren des Blade Runner-PC-Spiels aus dem Jahr 1997 (Westwood Studios) Einzug, allerdings unter den Bedingungen einer komplett neuen Story. Kehren Sie zurück in die fremdartige Welt von Blade Runner. Und sehen Sie mir nach, dass ich die Handlung der Authentizität halber um hundert Jahre nach hinten verschoben habe. ;-) - Der Autor, Dezember 2015 4 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Copyright Bei Blade Runner 2 handelt es sich um ein nicht-kommerzielles Fan-Fiction-Projekt (s.g. non-commercial fan-fiction), welches in keiner Weise bestehendes Copyright oder andere Lizenzen verletzten möchte. Blade Runer unterliegt dem Copyright von Warner Bros. 5 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Strahlend feurig stürzten die Engel, tiefer Donner rollte um ihre Küsten, brennend zu den Feuern von Orc. - William Blake, America: A Prophecy 6 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Zu Beginn des 22. Jahrhunderts erzielte die Tyrell Corporation bei der Erschaffung künstlicher Lebensformen einen revolutionären Durchbruch: Die hoch entwickelten Roboter, die der Konzern bislang hervorgebracht hatte, wurden durch eine völlig neuartige biosynthetische Technologie abgelöst. Mit Nexus-1 (2048) der Phase Nexus-5 wurde erstmals ein dem Menschen ähnelndes Wesen geschaffen: der Replikant. Rund anderthalb Jahrzehnte nach der Herstellung des ersten Replikanten wurde die Phase Nexus-6 Nexus-2 (2060) künstlichen eingeläutet. Diese Menschen waren stärker, schneller, beweglicher und mindestens genauso intelli7 – Blade Runner 2 – Akt 1 – gent wie die Genetikingenieure, die sie erschaffen hatten. Dennoch besaßen Replikanten keinerlei Rechte. Sie wurden als Sklavenarbeiter bei der gefährlichen Erforschung und Kolonialisierung neuer Planeten sowie zum Bau von Raumbasen und als Kanonenfutter in Kriegen eingesetzt. Bei der blutigen Meuterei einer Nexus-Kampftruppe in einer der entlegenen Kolonien kamen Hunderte Menschen ums Leben. Seitdem waren Replikanten auf der Erde verboten. Spezielle Polizeieinheiten – die sogenannten Blade Runner – erhielten den 8 Nexus-3 (2073) – Blade Runner 2 – Akt 1 – Befehl, dieses Verbot sicherzustellen. Ihre Aufgabe war es, jeden Replikanten, der auf der Erde entdeckt wurde, zu töten. Nexus-4 (2087) Blade Runner konnten außerhalb der gesetzlichen Grenzen operieren. Bei der Jagd auf Replikanten waren sie befugt, bis zum Äußersten zu gehen. Ein Blade Runner, der tötete, irrte niemals. Für den Vorgang, einen Replikanten zu eliminieren, wurde ein ganz neuer Begriff geprägt. Man nannte es nicht Exekution. Man nannte es ‚aus dem Verkehr ziehen‘. Nexus-5, Replikant (2101) 9 – Blade Runner 2 – Akt 1 – 10 Nexus-6, Replikant (2115) – Blade Runner 2 – Akt 1 – 2119 11 12 – Blade Runner 2 – Akt 1 – – Blade Runner 2 – Akt 1 – Prolog Anmerkung: Blade Runner ist ein toller Film, ein echter Alltime-Sci-Fi-Klassiker. Nur mit einer Szene konnte ich nie wirklich meinen Frieden machen: der erzwungenen Liebesszene zwischen Deckard und Rachael. Sie war mir viel zu plump und zu roh, völlig unpassend für das Verhältnis, das die beiden aus meiner Sicht haben. Daher nehme ich den Prolog dieses Buches zum Anlass, diese spezielle Szene zu revidieren und gegen meine eigene Wunschfassung zu ersetzen. So viel künstlerische Freiheit muss sein. Auf die Geschichte hat diese kleine, eher gefühlige Änderung aber keinerlei Einfluss. 13 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Die Verwandlung vollzog sich schrittweise. Sie hatte ihr Sakko abgelegt, die Noten studiert, und dann hatte sie beschlossen, einfach zu spielen. Anschließend hatte sie ihre strenge Frisur geöffnet, woraufhin prächtige, ungezähmte Locken zum Vorschein kamen und auf ihre Schultern fielen. Deckard war aus seinem kurzen Erschöpfungsschlummer wieder erwacht und hatte sich vom Bett hochgekämpft (wobei er fast seinen Drink verschüttet hätte). Nun nahm er neben ihr auf dem Hocker Platz, betrachtete, noch ein wenig schlaftrunken, die Notenblätter und sagte: „Ich hab‘ Musik geträumt.“ Rachael setzte erneut zum Spielen an. Ihre Hände glitten ebenso anmutig wie zielsicher über die Tasten, mit einem Gespür für Persönlichkeit in der Musik. Es war wunderschön. „Ich wusste nicht, ob ich spielen kann.“, sagte sie leise. „Ich hab‘ mich an Klavierstunden erinnert. Aber ich weiß nicht, ob ich es war oder Tyrells Nichte.“ Ein dünnes Lächeln glitt über ihre Lippen, ein Lächeln der aufflackernden Erinnerung, 14 – Blade Runner 2 – Akt 1 – größte Schätze der Identität. „Ich weiß noch, wie ich als kleines Mädchen jeden Morgen, gleich nach dem Aufstehen, als erstes ans Klavier meiner Eltern ging. Ich liebte es, darauf zu spielen. Ich habe es immer geliebt.“ Sie hob die Hände von den Tasten, legte sie auf den Schoß. Die Musik war erstorben. Melancholie breitete sich aus. „Aber in Wahrheit sind das alles nicht meine Erinnerungen. Ich habe nie Klavier gespielt. Das ist alles eine Lüge. Ich bin eine Lüge.“ Ihr Leiden rührte ihn an, mehr als das. „Doch, das hast Du.“, widersprach Deckard ihr. Er begann sich zu fragen, wo denn der Unterschied lag, ob es implantierte oder ‚echte‘ Erinnerungen waren, wenn Rachael im Ergebnis so sehr zu einer unverwechselbaren Person mit besonderen Fähigkeiten wurde. „Du hast Klavier gespielt. Und Du tust es. Du spielst wundervoll, Rachael.“ „Was ist mit Dir?“, fragte sie ihn und wies auf die Notenblätter. „Spielst Du mir etwas vor? Es ist immerhin Dein Klavier.“ Deckard fuhr sich durchs leicht zerzauste Haar und gab einen Seufzer von sich. „Ich kann nicht spielen. Hab’s nie gelernt.“ 15 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Rachael blinzelte verwundert. „Warum steht es dann hier in Deiner Wohnung?“ „Ich weiß nicht. Es gefällt mir. Ich stelle mir vor, ich könnte es. Wenn es mir schlecht geht oder wenn ich nachdenken muss, setze ich mich ans Klavier, klimpere auf ein paar Tasten. Das hilft mir.“ Er schluckte schwer, als ihm eine Erkenntnis kam, die seine bisherigen Überzeugungen zu erschüttern drohte. „Du siehst… Ich bin der Lügner, Rachel. Nicht Du.“ Rachael legte ihre Hand auf die seine und musterte ihn. Er fand sie unglaublich schön. Wann hatte er eine Frau das letzte Mal so faszinierend und ergreifend gefunden? Er vermochte sich nicht zu erinnern. „Was da nachts durch die Straßen zieht, was Zhora niedergeschossen hat, dieser unerbittliche Jäger… Das bist nicht Du.“ Sein Gesicht nahm einen fatalistischen Ausdruck an. „Ich war nie etwas anderes.“ „Doch, tief in Dir ist ein Mann, der Du in Wahrheit bist. Dieser Mann ist der größte 16 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Feind des Jägers. Er verachtet ihn. Du bist anders. Ich weiß es.“ Erneut seufzte Deckard, drückte ihre Hand. „Ich bereue nicht, dass wir uns begegnet sind, Rachael.“, ließ er sie wissen. „Aber ich kann die Straße, auf der ich gehe, nicht verlassen. Für mich ist es bereits zu spät.“ Er gab ihr damit zu verstehen, dass er auch die verbliebenen Nexus-6-Replikanten verfolgen und aus dem Verkehr ziehen würde, so wie Bryant es von ihm verlangte. „Du solltest nicht länger hier sein.“ Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln, verwischten ihre üppige Schminke noch weiter. Es war, als würde die gebieterische Fassade endgültig fortgewaschen, mit der sie ihm das erste Mal im Herzen der Tyrell Corporation gegenübergetreten war. Zurück blieb eine verletzliche, feinfühlige Person, die mit ihren Blicken und Worten in sein Innerstes einzudringen schien. „Ich möchte nicht weggehen.“, schluchzte Rachael. „Ich fühle mich nirgendwo sicherer als bei Dir.“ Die Worte öffneten ihm das Herz. Deckard spürte deutlich, wie viel dieses Wesen ihm 17 – Blade Runner 2 – Akt 1 – bedeutete, was er wirklich für sie empfand. Er vermochte die Distanz nicht länger aufrechtzuerhalten. Seine Hand fand ihre Wange, streichelte sie…und dann neigte er sich vor, um Rachel zu küssen. „Ich… Ich kann mich nicht erinnern.“, brachte sie hervor. „Du wirst Dich erinnern. Lass es mich Dir zeigen.“ Seine Lippen fanden die ihren. Sie ließ es geschehen, gab sich ihm voll und ganz hin. Was folgte, war eine lange, schlaflose Nacht. Es war die erste Nacht, in der Deckard das Licht des Tages dämmern zu sehen glaubte. Es sollte nicht die letzte sein. 18 – Blade Runner 2 – Akt 1 – 19 – Blade Runner 2 – Akt 1 – 01 Clovis Sacula schwebte gewichtslos im Nichts. Auf seiner spröden, schmutzigen Haut fühlte sich der Raumanzug wie ein Gewand aus feinster Seide an. Ein Kabelschlauch verband ihn mit dem Gerüst, gab ihm Luft und Sicherheit. Außerdem ermöglichte er es, ihn die ganze Zeit über zu kontrollieren. Der Anzug behinderte ihn nur, wenn er versuchte, die Arme weit über den Kopf zu heben. Wenn das geschah, entspannte er sich, schwebte eine Zeitlang und versuchte dann, sich in eine bessere Position zu bringen, um die Arbeit an der Verbindungsstelle fortzusetzen. Inzwischen vermied er es, die kleinen Düsen des Raumanzugs zu verwenden – mehrmals war er dadurch übers Ziel hinausgeschossen und hatte wertvolle Sekunden verloren. 20 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Der große Schraubenschlüssel in seiner Hand besaß kein Gewicht, fühlte sich leicht wie eine Feder an – doch er konnte eine sehr wirkungsvolle Waffe sein, wenn er mit den Füßen irgendwo festen Halt fand. Zum hundertsten Mal an diesem Tag stellte sich Clovis vor, das Werkzeug an den Kopf einer der Aufseher zu schmettern, einen Aufstand der Sklaven anzuzetteln und zu fliehen. [Nummer Null-fünf-neun-sechs.], erklang eine schroffe Stimme in seinem Ohr. [Sie fallen hinter den Zeitplan zurück. Wenn Sie das Siegel nicht innerhalb von vierzehn Minuten schließen, verlieren Sie Ihre Privilegien.] ‚Privilegien‘. Das war eine euphemistische Bezeichnung für Essen, Wasser, Sauerstoff und eine Koje – das absolute Minimum fürs Überleben. Mehr stand einem Replikanten nicht zu. Er war dazu gemacht worden, zu funktionieren wie die Maschine, für den die Menschen ihn halten wollten. Man verlor seine Privilegien nur ein oder zweimal. Anschließend wurde der Betreffende zusammen mit dem Müll ausgeschleust, und zwar ohne Raumanzug. Schnell würde ein anderer Arbeiter die Lücke schließen. 21 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Clovis ließ seine Gedanken auch weiterhin treiben, als er über den gewaltigen Verteron-Beschleuniger hinwegsah, ein röhrenförmiges Gerüst, zehn Kilometer lang und zwei Kilometer breit. Zusätzliche Habitatund Ausrüstungsmodule sprossen entlang der Außenhaut, gabelten sich zusammen mit hochsensiblen Ortungsdetektoren in verschiedene Richtungen. Es fiel schwer, sich die ganze Konstruktion vorzustellen, wenn man immer nur einige dünne Stangen sah, umgeben von der Schwärze des Alls. Der Anblick Tausender von Arbeitern, die Raumanzüge trugen und wie ungeschickte Spinnen an dem Gebilde herumkletterten, vermittelte einen Eindruck von der unglaublichen Länge der Apparatur. Kleine Militärshuttles, die im Zentrum der langen Röhre patrouillierten, ermöglichten eine vage Vorstellung von der Breite. Clovis begriff plötzlich, dass er sich trotz der Wahrnehmung des Aufsehers nicht bewegt hatte. Ließ sich daraus der Schluss ziehen, dass er bereit für den Tod war? Sicherlich nicht. Denn er war klug genug zu wissen, dass Sterben nichts bedeutete, wenn es auf diese Weise geschah. Sein Tod würde 22 – Blade Runner 2 – Akt 1 – vergeudet sein, denn er bewirkte keine Veränderung. Die Replikanten würden weiter entehrt und rechtlos sein, und er würde als eine Nummer von zahllosen verschwinden. Ein Werkzeug, das seinen Dienst getan hatte. Ein Werkzeug, das man schließlich wegwarf. Mehr nicht. Weshalb spielte er dann in letzter Zeit so regelmäßig mit dem Feuer? Vielleicht war es das Bewusstsein, dass ihm die Zeit davonlief, welches ihn so große Risiken eingehen ließ. Vor wenigen Tagen war er drei Jahre alt geworden. Er war sich im Klaren darüber, dass er bereits Dreiviertel seines Lebens verwirkt hatte, und mehr als ein Jahr davon hatte er nichts anderes gesehen als eben jene stählernen Aufbauten vor dem Hintergrund ewiger Nacht. Ich darf nicht einfach so verschwinden. Vorher muss ich etwas erreicht haben. Für mein Volk. Etwas, das bleibt. Aber wie sollte er in seiner Lage etwas erreichen? Er konnte doch nicht einmal sich selbst helfen, wie dann seinem Volk? Wie sollte er etwas schaffen, an dem so viele vor ihm gescheitert waren, die eine weit bessere Ausgangslage für sich reklamieren konnten? 23 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Vielleicht, so gewahrte Clovis sich, versuchte er auch nur Roy Batty hinterher zu eifern, den er vor fünf Monaten zum letzten Mal gesehen hatte. Dann war er auf eine der äußersten Koloniewelten – den Uranusmond Olympus – versetzt worden, um neue unterirdische Industriekomplexe in Hochgefahrenzonen zu erschließen (eigentlich eine Geringschätzung seiner Qualitäten als erfahrenes Gefechtsmodell). Doch davor war Batty zur Legende unter den hiesigen Arbeitern geworden. Er war von Träumen beseelt gewesen; Träume, die von der Freiheit und Selbstbestimmung von Replikanten kündeten. Von einem weit längeren Leben als nur die vier Jahre an der Nabelschnur der Kontrolle. In den wenigen Ruhepausen hatte er sie mit viel Pathos in Umlauf gebracht, seine Visionen, und seitdem schien Batty präsenter denn je zuvor zu sein. Wie ging noch einmal dieses Gedicht, das er ständig rezitiert hatte? Er hatte den Wunsch gehegt, dem Schöpfer von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu treten. Clovis hatte nie verstanden, was in seinem Bruder vor sich gegangen war, aber insge24 – Blade Runner 2 – Akt 1 – heim hatte er ihn bewundert, gespürt, dass er etwas Besonderes war. Ob er noch lebt? Vermutlich würde er das nie erfahren. Nichtsdestotrotz würde Roy Batty in Erinnerung bleiben. Clovis stülpte den Schraubenschlüssel über einen Bolzen, sah auf die digitale Anzeige im Griff und zog an, bis der richtige Spannungswert erreicht war. Einfach so Abertausende Lichtjahre überbrücken… Eine unglaubliche Vorstellung., dachte er. Niemand von den menschlichen Ingenieuren und Wissenschaftlern schien zu wissen, ob es wirklich funktionieren würde. Schon bald würde man es herausfinden, und wie dieses Experiment auch ausging: Ohne die Nexus-6-Arbeiter hätte es niemals realisiert werden können. Warum also plagten ihn Gewissensbisse, es zu nichts gebracht zu haben? Womöglich würde er nie ein Kämpfer für die Freiheit seiner Brüder und Schwestern sein, aber dafür hatte er seinen Teil geleistet, der Menschheit mit etwas Glück das Tor zu den Sternen zu öffnen. War das nichts, worauf man mit Stolz zurückblicken konnte, wenn 25 – Blade Runner 2 – Akt 1 – die Lichter des Lebens eines nicht allzu fernen Tages für immer erloschen? 26 – Blade Runner 2 – Akt 1 – 27 – Blade Runner 2 – Akt 1 – 02 Der Regen fiel schwer. Er war dicht, sauer und roch nach Abgasen. Rick Deckard kannte die dicken Tropfen, die regelmäßig seine Kleidung tränkten. Seit sich der Himmel über den Straßen L.A.s um die Jahrhundertwende für immer zugezogen hatte, war er zu seinem steten Begleiter geworden. Er begleitete ihn, wann immer er, Zeitung lesend, wartete, bis sein angestammter Platz an Ho-Chis Nudelbar frei wurde; er begleitete ihn, wenn er im Einsatz war; er begleitete ihn, wenn er einsam durch die Innenstadt streifte, vorbei an der DNA-Gasse und der Animoid-Allee, um nach getaner Arbeit einen klaren Kopf zu bekommen und jene Einsamkeit zu vertreiben, die ihm seit er denken konnte wie ein finsterer Schatten anhaftete. 28 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Auf diese Weise war das schmutzige, sintflutartig sich ergießende Wasser im Laufe der Jahre zu einer Art Hintergrundmelodie verschwommen, die er fast gar nicht mehr wahrnahm, war sie doch so elementar wie die Luft, die er einatmete. Heute galt das nicht mehr. An diesem Morgen, nachdem er aus dem sich öffnenden Lift des kathedralenartigen Hochhauses getreten war, vernahm Deckard den Regen mit einer Bewusstheit und Intensität, die er nicht für möglich gehalten hätte. Rasch befragte er sein Innerstes nach dem Grund hierfür und fand tatsächlich eine Antwort. In diesem Regen hatte er jemandem beim Sterben zugesehen. Genau genommen kam diese Beschreibung einer unzulässigen Vereinfachung gleich. Zahllose Male hatte er bereits beigewohnt, wie jemand aus dem Leben schied, während die tränkende Nässe ohne Unterlass und schier aus Kübeln vom Himmel fiel, aber in der gestrigen Nacht war eine entscheidende Sache anders gewesen: Er war nicht derjenige gewesen, der den Tod 29 – Blade Runner 2 – Akt 1 – brachte. Stattdessen war ihm unerwartet das Leben geschenkt worden. Roy Batty, ein Replikant der Nexus-6Reihe1, hatte sich in sein Schicksal gefügt. Er war bereit gewesen, der Welt ihre Sünden zu vergeben – Deckard zu vergeben –, ehe das Ende seines kurzen Lebens ihn einholte. Nach allem, was ihm angetan worden war, hatte er bewiesen, dass er im Kern seines Herzens besser war als diejenigen, die ihn und seinesgleichen unerbittlich jagten. Dass er ein Herz hatte. Nur Minuten vorher hatte Deckard noch gegen ihn gekämpft. (Die gebrochenen Finger, notdürftig geschient, schmerzten weiterhin bestialisch.) Aber im Rückblick war er sich nicht mehr sicher, ob es für Batty jemals ein Kampf auf Leben und Tod gewe1 Rick Deckard hatte in seiner früheren Dienstzeit als Blade Runner auf dem gesamten Globus Nexus-Modelle der 4er- und 5er-Generation gejagt (nach wie vor mit Abstand am verbreitetsten) und aus dem Verkehr gezogen (auch 4er und 5er waren, wie die 6er, nach dem Massaker nachträglich auf der Erde verboten worden und wurden landläufig zu den Replikanten gezählt, obwohl dies in wissenschaftlicher Hinsicht nicht korrekt ist). Der erste 6er, dem Deckard begegnet war, war Rachael in der Tyrell Corporation gewesen. Anschließend hatte er Zhora bei Taffey Lewis, einem Varietéladen, ausfindig gemacht. 30 – Blade Runner 2 – Akt 1 – sen war. Hatte er ihm nicht vielmehr eine Lektion erteilen wollen, bevor er ging? Zuerst hatte er widerlegt, was eine der Grundlehren über Replikanten war, die jeder angehende Rep-Detect verinnerlichen musste: Einem Replikanten ist es gleichgültig, was mit einem anderen Replikanten geschieht. Das hatten sie immer gesagt. Doch Deckard hatte gesehen, wie Batty Anteil nahm am Verlust seiner Begleiterin. Er hatte die von Deckard brutal erschossene Pris Stratton leidenschaftlich geküsst und ihren Namen gewimmert. Kurz darauf waren in strömendem Regen Worte gesprochen worden. Unerwartete Worte. Worte, die so viel schöner und besser als alles waren, was diese vermaledeite Welt in einer langen Zeit hervorgebracht hatte. Eine weiße Taube war zum Himmel aufgestiegen, und während sich das ereignete, schien es für einen winzigen Augenblick so etwas wie einen Wolkenbruch zu geben. Eine beinahe unwirkliche Szene. Deckard hatte da gesessen, geschwiegen und zugesehen. Ein Teil von ihm ahnte wohl, dass dieser Moment ihn verändern würde. Weit mehr als das. 31 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Dieser Moment riss erbarmungslos fort, was von dem einstmals so ehrgeizigen, seiner Sache so sicheren Blade Runner übrig geblieben war. Der Mann im beigen Trenchcoat, der mit hochgestelltem Kragen und fatalistischer Aura durch den Regen lief, um maschinengleich seinem stumpfen, bürokratischen Mörderberuf nachzugehen. Hauptsache Geld, Hauptsache Sicherheit, Hauptsache, man schwamm mit dem Strom. Dieser Mann existierte nicht länger2. Am Ende gab es nur noch jemanden, der der Spezies Mensch unverblümt in ihre hässliche Fratze starrte, der dabei erschrak…und alles in Frage stellte, was sein Dasein, seine Gewohnheiten und Überzeugungen ausmachte. Es war, als sähe man die Realität mit neuen Augen. Hoch oben auf dem Dach des BradburyGebäudes, mitten im neunten Sektor, war Rick Deckard in dieser Nacht mit Batty gestorben und daraufhin neu geboren worden. 2 Rick Deckard hatte die Blade Runner-Einheit zwar verlassen, bevor er von Harry Bryant unter Zwang wiedereingezogen wurde, doch dies geschah nicht, weil Deckard seine Arbeit in Frage gestellt hatte. Vielmehr war der Grund für seinen Austritt die anhaltenden Schwierigkeiten mit seinem Chef gewesen. 32 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Als was, war noch ungewiss. Doch diese Reinkarnation würde es nun unweigerlich mit sich bringen, dass er alles zurückließ, was ihm einstmals lieb und teuer gewesen war. Seinen Job im Rep-Detect-Department bei der LAPD. Seine Wohnung mit all den Habseligkeiten und Reminiszenzen, die auf einmal entwertet worden zu sein schienen, weil er ihnen nicht mehr recht über den Weg traute. Das Klavier. Das vertraute Bett. Der Balkon, von dem er so oft in die schwindelerregende Tiefe geschaut hatte, auf der Suche nach Antworten. Die Schwarzweiß- und sepiafarbenen Fotos und Malereien, stille Inseln der Sehnsüchte nach einem anderen Leben in einer anderen Zeit. All das Hochprozentige, mit dem er sich, wenn ihn dieser Moloch von einer Stadt wieder einmal zu erdrücken drohte, regelmäßig die Sinne betäubt hatte, in der festen und damals noch intakten Hoffnung, morgen würde ein besserer Tag, morgen würde alles irgendwie anders werden. Was war nur geschehen? Gewissermaßen war alles anders geworden, aber auf eine vollkommen unerwartete Weise und in ei33 – Blade Runner 2 – Akt 1 – ner Totalität, die sich seinem Fassungsvermögen immer noch entzog. „Kommst Du, Deckard?“ Die Stimme war zerbrechlich und sanft, klang verstört von all den Schrecken, fast wie die eines verängstigten Kindes. Sie kam aus dem Innern der schmucklosen Satcar. Die Stimme hatte nur noch wenig gemein mit dem Moment ihrer ersten Begegnung im Herzen der Tyrell Corporation. Genau wie alles andere an ihr hatte sie sich verändert. Vor ein paar Tagen erst war ihm eine kühle und unnahbar wirkende Frau mit strenger Hochsteckfrisur gegenübergetreten. Enges Kostüm, forscher Gang. Sie hatte äußerst selbstbewusst gewirkt, hatte Deckard sogleich unter Druck gesetzt, indem sie wissen wollte, ob er jemals aus Versehen einen Menschen getötet habe. Als ihr Chef, Tyrell, hinzustieß und Deckard bat, Rachael probehalber dem Voight-Kampff-Test zu unterziehen, hatte sie ihm einen amüsierten, beinahe spöttischen Blick zugeworfen. Nicht im Traum schien sie daran gedacht zu haben, diese Prozedur könnte ihr innerstes 34 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Selbst ins Wanken bringen, alles in Frage stellen. Aber jetzt war nichts mehr an ihr wie zuvor. Es war, als sei eine schöne, perfekte, aber im Grunde leblose Fassade eingerissen worden. Dahinter waren Chaos, Zerrüttung, Verzweiflung zum Vorschein gekommen, jedoch auch eine kostbare Wahrhaftigkeit und Reinheit. Sie war zu der Frau geworden, die ihn zum Licht der unausgesprochenen Wahrheit führte, das schon lange in einem Winkel seines Selbst gelodert hatte. Sie hatte es entfacht, und nun war nichts, gar nichts mehr wie zuvor. Wenn er Rachael ansah, dann sah er auf einen Schlag all das Unrecht, das er Batty und sämtlichen Replikanten antat, die er jemals gejagt und zur Strecke gebracht hatte. Sie war wie eine Inkarnation seines Gewissens, seiner Reue, seines erwachten Wunsches, es besser zu machen. Er konnte die Zeit nicht zurückdrehen, seine Taten nicht ungeschehen machen. Was er tun konnte, war, zu bedauern und einen neuen Anfang zu wagen. Und das bedeutete, ihr bei dem, was das Morgen brachte, beizustehen. 35 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Als er ihre Stimme hörte, bewirkte dies umso mehr, dass er sich dieses Moments, der nun ablief, voll und ganz gewahrte. Es ist kein Traum. Gleich würde er mit ihr in Richtung Norden aufbrechen. Er würde L.A. den Rücken kehren – gut möglich, dass er niemals hierher zurückkam –, und all das wegen ihr. Wegen einer Frau, die nach gängigen Maßstäben nicht einmal eine Frau war. Wie er die vergangenen Tage so Revue passieren ließ, wusste er nicht mehr, wann es geschehen war, doch es war geschehen. Nur das war wichtig. Er liebte Rachael. Und deshalb würde er alles tun, um sie in Sicherheit zu bringen. Die Stadt, seine alte Heimat, hatte nichts mehr, was sie ihm geben konnte. Sie widerte ihn jetzt umso mehr an, offenbarte sich in einer ungeschminkten Verwerflichkeit, die ihn unumstößlich wissen ließ, dass Schönreden nichts mehr half. Bald schon würden ihm seine ehemaligen Kollegen im Nacken hängen, da war er sich sicher. Bryant würde es persönlich nehmen, das hatte er immer. Die gewohnten Fronten würden sich in Kürze verkehren. Aus dem Jäger würde ein 36 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Gejagter werden. Nicht mehr viel würde bleiben vom Alten. Obwohl er wusste, was er tat und sich nie Illusionen hingegeben hatte, dass jede wegweisende Entscheidung ihren Preis verlangte, suchte Deckard mit einem Mal eine tiefe Leere heim. Er war ein Mann, der seinen Glauben verloren hatte, und nichts würde ihm dieses Vertrauen wieder zurückbringen. Verloren wie Tränen im Regen… Ein fernes Echo hallte durch seinen Geist. Die Worte waren ebenso abgrundtief traurig wie atemberaubend hoffnungsvoll. Sie wollten nicht recht in eine Welt passen, der vor langer Zeit jeglicher Sinn für Poesie abhandengekommen war. Was sollte nun aus ihm werden? Er hatte keine Ahnung. Er wusste nur, dass der alte Rick Deckard unwiederbringlich tot war. Seine Zukunft lag woanders, und erst einmal musste er herausfinden, wer der neue Rick Deckard überhaupt war. Dies war ein Punkt ohne Wiederkehr. Schöne, neue Welt… 37 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Schweigend stieg er ein, und die Flügeltür des Fahrzeugs schloss sich automatisch. „Deckard?“ Er schaute sie an. Sah, wie eine Träne der Furcht über ihre Wange rann. „Ich möchte leben.“ Da war er wieder, dieser glühende, unbändige Wunsch, zu leben, der eigenen Existenz eine Bedeutung zu verleihen. Er hatte ihn auch bei Batty gesehen, bei Zhora, Pris und Leon. Was für eine verrückte Ironie: Am Ende wirkten die sogenannten Maschinen vitaler, lebendiger und lebenshungriger als die meisten Menschen, denen er begegnet war. Alles verkehrte sich. Das Motto ‚Menschlicher als der Mensch‘ war zu einer Prophezeiung geworden, die sich selbst erfüllte, doch möglicherweise nicht in der Art, wie es beabsichtigt worden war. „Ja, ich weiß.“ Es stimmte: Rachael hatte nur vier Jahre zu leben. Sie war von Tyrell so gemacht worden. Genau wie bei den anderen Nexus6ern war die begrenzte Lebensspanne – so hatte es Bryant und später Tyrell selbst ihm 38 – Blade Runner 2 – Akt 1 – erklärt – primärer Bestandteil eines Sicherungssystems. Dieses sollte verhindern, dass die neue, kognitiv und emotional ungeheuer fortgeschrittene Replikantengeneration eine zu starke Eigenständigkeit entwickelte, durch die ihr Verhalten instabil bis unberechenbar wurde – und so womöglich zur Gefahr für die menschliche Gesellschaft. Ein Werkzeug der Kontrolle. Es war da eine Ironie, dass Deckards eigene Erfahrungen gezeigt hatten, wie wenig die vier Jahre in der Praxis taugten. Im Gegenteil, sie stachelten nur noch mehr dazu an, sich zu entwickeln, eine Identität mit eigenen Erfahrungen und Erinnerungen auszubilden3, nach vorn zu drängen, denn Zeit war kostbar. Der überhebliche Tyrell war nicht nur in diesem Punkt einem dramatischen Irrtum erlegen. Seine ‚Kinder‘ hatten ihn eines Besseren belehrt. Über Esper hatte Deckard den Großrechner des Präsidiums angezapft und sich Zugang zu Rachaels streng geheimer Akte verschafft. Sie hatte ihn nach dem Datum ihrer 3 Man mochte nur an Leon Kowalskis Besessenheit von eigenen Fotos denken, egal, wie unbedeutend sie waren, denn sie symbolisierten seine persönlichen Erinnerungen. 39 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Entstehung gefragt. Dem Dossier zufolge hatte Tyrell sie vor etwas mehr als vier Monaten erweckt. Blieben noch drei Jahre und sieben Monate. Deckard musste zugeben, er war ziemlich überrascht gewesen, als er schwarz auf weiß vorfand, dass Rachael eine genauso kurze Lebenszeit beschieden war wie all den anderen Vertretern ihrer Reihe. Im persönlichen Gespräch hatte Tyrell ihm gesagt, angesichts ihrer implantierten Erinnerungen sei sie mit einem ‚Polster‘ für ihre emotionale Entwicklung ausgestattet worden. Folglich hatte Deckard angenommen, der Sicherheitsmechanismus sei deshalb nicht mehr erforderlich, und er sei entfernt worden. Wie sich herausstellte, war das mitnichten der Fall. Andererseits hatte Tyrell Rachael auch als Experiment bezeichnet, als Probelauf. Und überhaupt: Er hatte bei unzähligen Gelegenheiten bewiesen, dass er ein verdammter Kontrollfreak war. Warum sollte er einen Sicherheitsmechanismus aufgeben, wenn er zwei haben konnte? Vier Jahre. Der Gedanke, sie nach so kurzer Zeit wieder zu verlieren, drohte Deckard ganz krank zu machen. War Batty nicht mit 40 – Blade Runner 2 – Akt 1 – seinem Versuch gescheitert, von Tyrell eine Möglichkeit zu erhalten, die Lebenserwartung der seinen zu verlängern? War es also nicht von vorneherein ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen? Nein. Die Sache ist noch nicht entschieden. Ich werde nach allem Ausschau halten, was uns weiterhelfen könnte, Rachaels Leben zu verlängern. So schnell würde er sich nicht geschlagen geben. Er nannte dem Computer die Destination: nach Norden. Die Satcar nahm Fahrt auf und verlor sich als eine von zahllosen im strömenden Regen. Eine Träne in einem Meer aus Tränen. Tränen, die er nicht vergießen konnte. Deckard schaute nicht zurück. 41 42 – Blade Runner 2 – Akt 1 – – Blade Runner 2 – Akt 1 – 03 Am späten Nachmittag desselben Tages erreichte der Lift das siebenundneunzigste Stockwerk. Die Transferkapsel verlangsamte, rastete ein, und die Tür fuhr mit einem Ruck in die Wand. Captain Harry Bryant, Leiter der RepDetect-Einheit bei der LAPD, war von finsterer Vorahnung beseelt, die er seit der Abfahrt vom Department immer weniger hatte zurückdrängen können. Dennoch versuchte er auch jetzt, den Zweifel von sich abzuwerfen, der an seinem Stolz zu nagen drohte. Mit einem flüchtigen Wink bedeutete er den drei dunkel uniformierten Polizisten in seiner Begleitung, voranzugehen, ehe er zusammen mit Gaff die Nachhut bildete. Appartement Nummer 9732 lag direkt vor ihnen. Sie überquerten einen schmalen Steg, auf dem sich Licht und Schatten in 43 – Blade Runner 2 – Akt 1 – verwirrenden Mustern brachen, und dann standen sie bereits vor der Wohnungstür. Als die Kriminalbeamten ihren Chef fragend anzusehen begannen, wandte Bryant sich an Gaff. Der wie immer schweigsame Mexikaner mit den irisierend blauen Augen und dem eigenwilligen Modegeschmack verstand sogleich. Er verlagerte sein Gewicht auf den mit goldenem Griff verzierten Gehstock, als er sich vorbeugte, und streckte die Hand zur Klingel aus. Das helltönige Schellen war aus dem Innern der Wohnung deutlich zu hören. Als Gaff nach ein paar Sekunden den Knopf losließ, verschwand es abrupt. Ein stiller Countdown schien in Bryant abzulaufen. Er zählte die Herzschläge herunter, während sie warteten, dass ihnen aufgemacht wurde. Immer noch wollte er gerne glauben, dass Deckard gleich – samt eines Glases Tequila in der Hand – im Türrahmen erschien und er vorzeitig Feierabend machen durfte. Heute hatte er Lust, sich so eine kleine Blonde aus dem Early Qs zu bestellen. Marta war zu ihrer Mutter gefahren, es war also die Gelegenheit. 44 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Doch das Schicksal, auf das er so sehnlich hoffte, war ihm nicht vergönnt. Hm. Immer noch gut möglich, dass er einfach nicht zuhause ist. Vielleicht kippt er sich bei Taffey Lewis oder irgendwo anders im vierten Sektor einen hinter die Binde., dachte der Chef der Blade RunnerAbteilung. Aber warum hat er sich nicht mehr bei mir gemeldet, dieser Scheißkerl? Und warum kann man ihn nirgends erreichen? Eigentlich sollte ihn dieser Umstand nicht überraschen. Bryant erinnerte sich lebhaft daran, dass Deckard schon immer ein störrischer Gaul gewesen war, auch bevor er sich in den Kopf setzte, dem Blade RunnerDasein ein Ende zu bereiten. Nur mit dem nötigen Nachdruck tat er das, was man von ihm verlangte. Obwohl Bryant ihn seit seiner kürzlichen ‚Rekrutierung‘ noch nicht wieder aus dem Dienst entlassen hatte, mochte es also sein, dass Deckard sich eine Auszeit hatte genehmigen wollen. Immerhin hatte er mit der Erledigung dieser fahnen- 45 – Blade Runner 2 – Akt 1 – flüchtigen Nexus-6-Schweine ganze Arbeit geleistet4. Ich würd’s ihm fast gönnen. Aber dann war ein erneuter Anruf von der Tyrell Corporation gekommen. Man hatte Bryant wissen lassen, dass der mit Erinnerungen ausgestattete Prototyp namens Rachael unbedingt und unverzüglich in die Firma zurückgeführt werden müsse, weil der verstorbene Eldon Tyrell ihn ohne detailliertere Konstruktionspläne entworfen habe. Der Rachael-Prototyp war ein Experiment gewesen5; ein erfolgreiches, wie sich herausgestellt hatte. Ohne ihn würde sich die bevorstehende Revolution in punkto Erinnerungsimplantation um Jahre verzögern 4 Das Einzige, was Deckard gehörig vermasselt hatte, war, seine Replikantenjagd in aller Stille durchzuführen. Er jedoch hatte viel Aufsehen erregt, sodass die Medien die Sache spitz gekriegt hatten. Eigentlich hatte Bryant verhindern wollen, dass an die Öffentlichkeit drang, dass seine Blade Runner es versäumt hatten, eine Horde flüchtiger Nexus-6er daran zu hindern, nach L.A. einzudringen. Auch die Tyrell Corporation konnte kein Interesse an einer solchen Meldung haben. 5 Dazu Eldon Tyrell in Blade Runner: „Rachael ist ein Experiment, nicht mehr. Alles fing damit an, dass wir an ihnen gewisse Besessenheiten feststellten. Sie sind emotional unerfahren. Die wenigen Jahre, ich meine die Jahre, in denen sie wichtige Erfahrungen speichern können, die Sie und ich als selbstverständlich erachten. Wenn wir ihnen etwas geben, Vergangenheit, so schaffen wir ein Polster. Wir fangen ihre Emotionen auf, und als Folge davon können wir sie besser kontrollieren.“ 46 – Blade Runner 2 – Akt 1 – – und damit auch die Revolution bei der Erschaffung einer ganz neuen Evolutionsstufe der Replikanten. Es war bereits das zweite Gespräch dieser Art gewesen. Beim ersten Mal vor einigen Tagen war Bryant der Anrufer gewesen, und man hatte ihm gesagt, Rachael sei wegen ihres Gehirnimplantats verschwunden; weil sie die Wahrheit über ihre Identität erfahren hatte. Bryant hatte das alles nicht ganz verstanden. Kaum hatte er die Unterhaltung beendet, da war Pete Guzzar, einer seiner Jungs, zu ihm ins Büro hereingestürmt und teilte ihm mit, auf einer Kamera in der Animoid-Allee sei Rachael entdeckt worden – zusammen mit Deckard. Das war gestern gewesen, unmittelbar nachdem Deckard das Biest Zhora liquidierte. Es war alles aufgezeichnet worden, insbesondere ein bemerkenswerter Vorgang: Offenbar hatte nicht Deckard – wie Bryant bislang fest annahm – den ‚Hautjob‘ Leon Kowalski aus dem Verkehr gezogen, sondern diese robotische Blaupause von Tyrells Nichte, und zwar mit Deckards Waffe. Danach waren sie zusammen verschwunden. 47 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Irgendwie schienen sie es ziemlich eilig gehabt zu haben. Guzzar hatte bereits seine Verschwörungstheorie vorgetragen. Bryant hatte daraufhin gemault und ihn weggeschickt. Bis jetzt wollte er immer noch das Beste hoffen, klammerte sich geradezu daran. Immerhin gab es noch keinen triftigen Beweis dafür, dass Deckard dieser Replikantin tatsächlich Unterschlupf gewährt hatte. Trotzdem wird er mir einiges erklären müssen, wenn ich ihn in die Finger kriege. Es waren strikte Ehrlichkeit und unbedingter Gehorsam, die er von seinen Untergebenen erwartete. Deckard hatte – soviel war gewiss – diese goldene Regel verletzt. Niemand öffnete. Einen Moment haderte Bryant mit sich. Er überlegte, die Aktion abzublasen und seine Männer zum Rückzug anzuweisen. Dann aber kam ihm wieder das Kommunikee mit der Tyrell Corporation in Erinnerung. Es war ein offenes Geheimnis, dass sie prägenden Einfluss auf die Politik in L.A. hatte. Und wenn sie nicht rasch zufriedengestellt wurde, dann konnte es passieren, dass er und die LAPD, ehe man sich 48 – Blade Runner 2 – Akt 1 – versah, in einem schlechten Licht da standen. Wenn jeder sich um sich selbst kümmert, ist an alle gedacht. Na schön. Sie würden einmal schnell nach dem Rechten sehen und dann wieder die Kurve kratzen. Deckard würde ihm die Sorgfältigkeit verzeihen, so wie Bryant ihm vergeben würde. Vielleicht deutete sich da sogar eine Möglichkeit an, den Druck auf Deckard so aufrechtzuerhalten, dass er noch ein wenig länger in seinem Team blieb. ‚Hautjobs‘ liefen ja immer wieder in der Gegend herum, und nach den letzten Etatkürzungen und Holdens Rendezvous mit dem Gesundheitssystem besaß er nicht mehr allzu viele Leute, denen er solides Handwerk zutraute. Deckard war ein verfluchtes EinMann-Schlachthaus. Auf ein flüchtiges Zeichen hin begaben sich die Polizisten daran, die Tür aufzubrechen. Eine Minute später war das Hindernis geknackt, und die Gruppe betrat das Penthouse. Die Schritte verhallten dumpf im schmucklosen Flur. Es roch leicht abgestan49 – Blade Runner 2 – Akt 1 – den, als sie das Wohnzimmer erreichten. Regen prasselte gegen die Fensterscheibe; das Licht vorbeifliegender Skimmer drang abwechselnd durch die Düsternis. Der Kassettenbau der Wohnung ließ ein klaustrophobisches Empfinden in Bryant aufkommen. Wie konnte man sich hier drinnen nur wohlfühlen? Man kam sich beinahe vor wie im Innern einer alten pharaonischen Grabkammer. In jeder Richtung herrschte heilloses Durcheinander. Aufgewühlte Bettlaken, ein Haufen antiquarischer Gegenstände, die Deckard als Sammler alles Skurrilen auswiesen, dazwischen irgendwo der Esper, das Spezialgerät zur 3D-Analyse und -interpolation von visuellen Daten…und überall stand schmutziges Geschirr herum. Nicht zu vergessen die vielen Flaschen Tsingtao. Bryant lächelte in sich hinein. Immer noch der alte Junggeselle. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er eine Weile nicht mehr hier gewesen war. Wie lange war das letzte Mal jetzt schon her? Drei Jahre? Damals hatte Deckard ihn noch freiwillig zu sich eingeladen. 50 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Dann war Bryant befördert worden, und ihr Verhältnis erfuhr eine schlagartige Veränderung. Eigentlich hatte er nie ganz verstanden, warum. Natürlich hatte er andere Prioritäten setzen müssen, und als Leiter einer der wichtigsten Rep-Detect-Einheiten Nordamerikas war er zwangsläufig zu einer allgemein relevanten Person geworden. Irgendwie schien Deckard ihm jede einzelne Entscheidung, die er seither gefällt hatte, persönlich übel zu nehmen. Am Ende hatten sie sich zerstritten, und Bryant war der Vorwurf gemacht worden, er habe sich durch seinen Job korrumpieren lassen. Es ist immer leicht, als kleiner Angestellter das Maul aufzureißen., sagte er sich. Aber die anhaltende Wirtschaftskrise war nicht einfach wegzureden. Fakt ist, dass ich in schwierigen Zeiten, in denen die öffentlichen Kassen leer sind und überall der Rotstift angesetzt wird, den Laden zusammengehalten habe. Wenn er dafür die eine oder andere Regel hatte ein wenig biegen, hier und dort etwas subtilen Druck ausüben müssen, so nahm er diese moralische Flexibilität gerne in Kauf. Am Ende ist diese Stadt noch genauso sicher vor ‚Hautjobs‘ 51 – Blade Runner 2 – Akt 1 – wie früher, und nur das zählt. Wir knipsen sie alle aus. Nachdem sie einen Blick in die Küche geworfen hatten, zogen sie weiter Richtung Schlaf- und Arbeitszimmer. Obwohl verlassen und kalt, haftete dem Raum etwas unbestimmt Belebtes an, typisch für Stätten, die erst unmittelbar zuvor verlassen worden waren. Energetisches Nachglühen, unbewusste Erinnerung, gespeichert in Molekülen, die noch in der Luft schwebten, berührte Gegenstände, ausgeatmete Luft. Es war zumindest so ein Eindruck. Irgendetwas war hier… „Sir.“ Bryant drehte den Kopf und schaute über das Klavier hinweg. Aus einem der Schränke hatte einer der Officers eine Art wattiertes Sakko gegriffen und hielt es ihm hin. Zuerst verstand er nicht. Als er jedoch näher trat, erblickte er den Aufnäher: Rachael Francis, Tyrell Corporation. Ein Schlag traf Bryant in die Magengrube. Er spürte physische Schmerzen. Dann stimmt es also wirklich. Er hat ihr Unterschlupf gewährt. Er hat sie hier bei sich ge52 – Blade Runner 2 – Akt 1 – habt. Seine schlimmsten Befürchtungen waren wahr geworden. Vermutlich war Deckard mit der Replikantin abgehauen, aus welchem Grund auch immer. Er hatte sich nicht einmal Mühe gegeben, seine Spuren zu verwischen; wahrscheinlich weil er wusste, dass sein Vorgesetzter ihm früher oder später sowieso auf die Schliche kommen und ihn jagen würde. Das schien er in Kauf zu nehmen. Deckard hatte noch nie auf seinen Rücken geachtet. Diese Selbstlosigkeit zeichnete ihn auch jetzt wieder aus. Was machst Du da nur, Deck? Warum tust Du mir das an? Nach all den langen Jahren. Damit hast Du alles zerstört. Bryants Ruf würde er nicht zerstören. Ein Schwall Wut erfasste den Rep-DetectBoss und schwappte über ihn hinweg. Er ließ sich nichts anmerken. Wir halten es erst einmal unter dem Radar, kümmern uns ganz diskret um die Sache. Die Männer, die hier bei ihm waren, würden schweigen, wenn er es ihnen befahl. Ja, Schweigen ist jetzt Gold. 53 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Bryant nahm seinen aufmerksamen Begleiter in Augenschein, der die ganze Zeit über geschwiegen und die Umgebung wie ein Gespenst sondiert hatte. „Wir haben einen fahnenflüchtigen Blade Runner.“, sagte er mit gedämpfter Stimme. Es hörte sich beinahe unwirklich an. „Gaff, kontaktieren Sie Guzzar. Er wird sich dieser Sache persönlich annehmen.“ „Soweit ich weiß, ist er zurzeit schon an einem anderen Fall dran.“ „Er soll ihn abgeben.“ Gaff wölbte eine Braue. „Darüber wird er nicht erfreut sein.“ „Vielleicht schon. Jetzt kann er die Rechnung begleichen, die er noch mit Deckard offen hat.“ Gaffs Brauen zuckten nach oben. „Das soll ich ihm sagen?“ „Genau das. Guzzar soll mir die Replikantin und Deckard bringen.“ Gaff blieb, wie üblich, ausdruckslos und nickte einmal. Er würde funktionieren, wie immer. 54 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Ein seltsamer Schwermut ergriff Besitz von Bryant. Es hat Tage gegeben, da hätte ich meine Seele verkauft, um Deckard zurückzukriegen. Letztlich hatte er das nur mit brutaler Erpressung möglich machen können6. Spätestens zum jetzigen Zeitpunkt aber war sein ehemaliger Kollege zu einer Bedrohung für ihn geworden. Aber dass Deckard endgültig raus aus dem Geschäft war, würde noch die geringste seiner Sorgen sein, wenn Bryant ihn erst einmal in Gewahrsam hatte. Ein Punkt ohne Wiederkehr war überschritten worden. 6 Deckard war in Folge ihres Zerwürfnisses ein knappes Jahr nicht mehr im Geschäft gewesen, ehe Bryant – angesichts akuten Personalmangels und Holdens vorübergehender ‚Unabkömmlichkeit‘ – beschloss, ihn zurückzuholen. 55 56 – Blade Runner 2 – Akt 1 – – Blade Runner 2 – Akt 1 – 04 „Retinascan positiv. Sicherheitsfreigabe erfolgt. Sie können jetzt eintreten.“ Die monotone Stimme des Computers versiegte, und dann fuhr die massive Wand zur Seite. Ein langer, schmaler und spärlich erleuchteter Korridor gab sich preis. Langsam und gleichmäßig ging sie voran, jeder Schritt ihrer Absatzschuhe von Widerhall begleitet. Nach einer Weile endeten die Lichtplatten an der Decke, und sie trat in tiefes Dunkel. Wir wissen gar nicht mehr, wie es ist, in das Licht eines neuen Tages zu treten. Zu sehr haben wir uns an die Nacht gewöhnt, die bei uns allgegenwärtig ist. Die Stimme ihres Onkels drang aus ihrer Erinnerung an sie heran. Sie war klar und fest. Das Licht, welches er als der Visionär, 57 – Blade Runner 2 – Akt 1 – der er war, gesehen hatte, es waren die Replikanten gewesen. Vor ihr breitete sich Helligkeit aus. Mit der Empfindlichkeit eines Menschen, der den größten Teil seiner Zeit bei künstlicher Beleuchtung zugebracht hatte und das wenige Sonnenlicht, welches sie aus ihrer privilegierten Warte mitbekommen hatte, zu schätzen wusste, wurde Anna Tyrell der Eindruck zuteil, die Helligkeit vor sich musste von einem fremden Stern kommen. Sie hatte diesen Ort noch nicht sehr oft besucht; er war erst vor wenigen Monaten fertiggestellt worden. Ihr Onkel hatte ihn als Refugium für sich entworfen. Sein letztes großes Werk, eine eigene, verborgene Welt im Herzen der Tyrell Corporation. Einmal hatte er erwähnt, obwohl alles in diesem kleinen Reich genetisches Kunstwerk sei, sei es für ihn gewissermaßen wirklicher als die Wirklichkeit. So wie die Replikanten für ihn menschlicher als der Mensch waren. Das Motto hatte er geprägt, ohne dass es einen zwangsläufigen ökonomischen Grund dafür gegeben hätte. Es war sein persönlicher Maßstab gewesen. Er ist ohne Furcht gestorben, denn er wusste, dass er 58 – Blade Runner 2 – Akt 1 – der Welt etwas hinterließ, das Bedeutung hatte. Das Schaffen dieses herausragenden Mannes wird die Zeiten überdauern. Annas Augen waren immer noch auf das Dunkel eingestellt; das Licht blendete sie. Wenige Sekunden später trat sie durch die Wölbung eines breiten Schotts…und alles veränderte sich. Eine Umgebung nahm Konturen an, wie man sie heute nicht mehr auf Erden fand. Vielleicht sah so einst das Paradies aus, geschaffen von einem Gott der Schöpfung., sagte sie sich. Oder von einem genialen Genetikdesigner. Womöglich war es ein und dasselbe. Eine warme Brise strich durch ihr Haar, und sie roch frische Erde, den Duft von wilden Blumen und Sträuchern. Ein Bach plätscherte dicht neben ihr über einen Felsen und sprühte in einem regenbogenfarbenen Nebel in ihr Gesicht. Sie atmete frische Luft ein. Auf der rechten Seite erstreckte sich ein dichter Wald vor ihr. Es war die schönste Landschaft, die sie jemals gesehen hatte; ein Märchenwald aus einem Kinderbuch. Die knorrigen Bäume wirkten uralt und geheimnisvoll. Linkerhand verliefen bewach59 – Blade Runner 2 – Akt 1 – sene Hügel, bis hin zu einer steil abfallenden Felsklippe, über die sich ein urgewaltiger Wasserfall in einer Gischt ergoss, zu seinen Füßen ein lichtgesprenkelter See. Das Gras auf der unebenen Wiese war weich und glatt wie grüner Samt, gesprenkelt mit Feldern aus Wildblumen von tiefem Blau und kräftigem Orange. Anna hob den Kopf und blickte in einen makellosen blauen Frühlingshimmel. Nirgends war die Begrenzung der inneren Mauern zu erkennen. Ein Wunderwerk der Illusion, geschaffen durch hoch entwickelte holografische Projektoren. Wenn man hier war, war es so leicht, die Welt dort draußen zu vergessen. Man konnte sich ganz verlieren. „Ich bin hier, Vater.“ Gewogen im Schutz zweier breiter Eichen ruhte Eldon Tyrell. Das Grab aus reinem Marmor war noch ganz frisch, und doch kam es Anna, als sie näher trat, vor, als sei die Beerdigung nicht erst am gestrigen Vormittag gewesen. Als wäre sie schon länger her. Doch das stimmte nicht. 60 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Eine Weile schwieg sie. Dann brachte sie ein geseufztes „Du fehlst“ hervor. Es war die Wahrheit. Alles an ihm fehlte ihr: Ihre Gespräche über Gott und die Welt, die Pläne für die Zukunft, die sie zum Wohle der Menschheit als unschlagbares Team schmiedeten, ja selbst die regelmäßigen Schachpartien. Sie vermisste den Mann schmerzlich, der sich nach dem Tod ihrer Eltern der kleinen, damals gerade fünf Jahre alten Anna angenommen hatte…und ihr Vater geworden war. Der Mann, der in ihr die Begeisterung für künstliches Leben schuf, der ihr alles beibrachte. Der Mann, der ihr wissenschaftlicher Partner wurde. Natürlich maßte sie sich nichts an. Er, Eldon, hatte die entscheidende Arbeit geleistet; sie hatte ihre bescheidenen Beiträge geleistet, wo sie konnte. So ging aus ihrem gemeinsamen Wirken schließlich Nexus-6 hervor. Anna wusste genau, wie sehr er sie geliebt hatte. Als Beweis dieser Liebe hatte er den Rachael-Prototypen nach ihrem Antlitz entworfen, und er hatte sie mit ein paar ihrer Kindheitserinnerungen ausgestattet, einschließlich der musischen Begabung, 61 – Blade Runner 2 – Akt 1 – durch die Anna sich stets ausgezeichnet hatte7. Wenn die Schwelle zwischen Maschine und Menschsein genommen würde, hatte er gesagt, so solle der Fortschritt ihr Gesicht tragen. Es bestand kein Zweifel: Sie stand tief in seiner Schuld. Sie hatte ihm alles zu verdanken, was sie heute war, denn er hatte sie an seinem einzigartigen Leben teilhaben lassen. Zumindest an seinem Leben als Ikone der Biosynthetik und an den meisten anderen Dingen, die ihn ausmachten. Niemand war ihm so nah gewesen wie sie. Doch trotz des innigen Verhältnisses, das sie beide teilten, hatte Anna stets gewusst, dass Eldon seine gut gehüteten Geheimnisse besessen hatte. Seine ganz eigenen Gedanken, in die er niemanden einweihte. Sie hatte stets vermutet, dass einige dieser Gedan7 Rachael war von Anna ferngehalten worden, um nicht zu erfahren, dass sie eigentlich die künstliche Nachahmung eines Menschen war. Seit ihrer Aktivierung war von Eldon Tyrell um sie herum die perfekte Illusion erzeugt worden, sie sei eine seiner Assistentinnen. Dies war Teil seines Experiments gewesen. ‚Wie kann es nicht wissen, was es ist?‘, sollte Deckard Tyrell später einmal fragen, verblüfft darüber, dass dieser einen Replikanten geschaffen hatte, der nicht nur menschlicher daherkam als alle zuvor dagewesenen Replikanten, sondern der sich auch selbst für einen Menschen hielt. 62 – Blade Runner 2 – Akt 1 – ken mit dem Umstand zusammenhingen, dass er in fortgeschrittenem Alter umtriebig wie nie zuvor geworden war, was sein Schaffenswerk anbelangte. Nach zahllosen Innovationen hatte er unbedingt alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen, einen Quantensprung in Sachen Replikantenevolution hervorbringen wollen. Das war Nexus-6 geworden, bis hin zu Rachael. Dieser unglaubliche erfinderische Vorgang, mutmaßte Anna, hatte jedoch nicht mehr einzig zum Ziel, die Menschheit mit einer visionären Segnung des Fortschritts zu beglücken, oder den Marktwert der Tyrell Corporation um ein weiteres Mal zu vervielfachen – so etwas waren nur nützliche Nebeneffekte. Nein, diesmal, so glaubte sie, war es ihm um etwas anderes gegangen. Um etwas Persönliches. Manchmal waren die Dinge ganz einfach. Eldon war ein großer Mann gewesen, und wie bei großen Männern üblich, taten sie sich schwer mit der Vorstellung, eines Tages zu verschwinden. Eldon hatte nicht verschwinden wollen. Er liebte seine Adoptivtochter aufrichtig, aber zu Lebzeiten war es nie für ihn in Frage gekommen, zur Seite zu 63 – Blade Runner 2 – Akt 1 – treten und ihr das Zepter zu übergeben. Er hatte die Arche Tyrell Corporation, vor sieben Jahrzehnten von seinem Vater gegründet, stets gelenkt. An seiner Autorität hatte er nie einen Zweifel gelassen. Aber da die Zeit flüchtig war und für ihn ein noch knapperes Gut, musste er etwas unternehmen. Eldon hatte nie darüber gesprochen, doch Anna hatte seit einigen Jahren einen Verdacht gehegt: dass er in einem gut abgeschirmten Winkel seines Selbst mit dem noch vagen Gedanken spielte, zu gegebener Zeit sein gesamtes Wissen und seine Persönlichkeit in einen ihm selbst perfekt nachempfundenen Replikanten zu überspielen und diesen an seiner statt weitermachen zu lassen. Er hatte gewusst, dass er aufgrund des Diordna-Syndroms, das bei ihm im Frühstadium diagnostiziert worden war, nicht mehr sehr lange zu leben haben würde. In der Öffentlichkeit hatte er es geheim gehalten, und auch im Privaten hatte er so gut wie kein Wort darüber verloren. Wenn Anna ihn darauf ansprach, so hatte er abgeblockt oder sich rasch in ein anderes Thema geflüchtet. Anna hing einen Augenblick der Vorstellung an, irgendwann wäre eine makellose 64 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Kopie ihres Vaters durch die Flure der Firma gelaufen, ohne dass jemand davon wusste. Eine bizarre Vorstellung. Egal, was Eldon tatsächlich vorgehabt hatte oder nicht: Das Ende war in jedem Fall zu früh für ihn gekommen. Er hatte seine Arbeit nicht abschließen können. Wenn es denn überhaupt den Zeitpunkt gab, ein solch überragendes Werk jemals abzuschließen. Es war seltsam. Jetzt, wo Eldon Tyrell nicht mehr lebte, schien ihm diese Stätte eine Ruhe zu vergönnen, die ihm zeit seines Lebens voller Selbstdisziplin, Pflichten und großer Schicksalstaten nur selten geschenkt worden war. Anna wollte gerne glauben, dass er hier frei war von all den Sorgen, all dem Druck seiner irdischen Existenz, in der er andauernd gekämpft hatte und nie zufrieden mit sich gewesen war. Das Dasein eines stets suchenden und strebenden Wissenschaftlers, den eine Vision beseelt hatte, welche die Menschheit nachhaltig veränderte. Hier konnte er endlich loslassen. Anna ließ den Blick schweifen. Eine gewaltige Engelsstatue prangte über dem Grab. Sie bot dem Betrachter einen Spruch preis: 65 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Ich ward aus Staub und Nebel geboren, und in den Staub und Nebel kehrte ich zurück, doch zuvor wollt‘ ich den Glanz des Himmelslichtes spüren. Das stammte aus einem seiner Gedichte. Es passte zu dieser Stadt, der Eldon stets die Treue gehalten hatte. Trotz unzähliger Empfehlungen aus dem Aufsichtsrat, den Sitz der Corporation auf eine der Kolonien zu verlegen, war das hier seine Wirkenssphäre gewesen, vom Anfang bis zum Schluss. „Du bist hier in Sicherheit, Vater.“, sprach sie sanft. „Ich werde mich um Dein Vermächtnis kümmern. Ich werde es in Ehren halten. Das verspreche ich.“ Sie konnte das Genie Eldon Tyrells niemals ersetzen, aber als neue Vorstandsvorsitzende der Tyrell Corporation würde sie alles tun, um das Himmelslicht zu bewahren, das er über die Menschheit gebracht hatte. Er hatte geahnt, dieser Tag mochte kommen. Und er hatte ihr genug beigebracht, um sie auf darauf vorzubereiten. Zusammen mit den Leuten, die unter ihrem Onkel gearbeitet hatten, würde sie weitermachen. 66 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Doch dazu war es unerlässlich, den Rachael-Prototypen zurückzubekommen. Sie hatte sich Bryant gegenüber sehr deutlich ausgedrückt. Koste es, was es wolle. Schweigend, umweht vom süßen Duft des falschen und doch so richtig wirkenden Idylls um sie herum, leistete Anna ihren Schwur. Dann war sie bereit, ihren Onkel wieder seinem Frieden zu überlassen. Gerade wollte sie wegtreten, da fiel ihr auf, dass jemand eine schwarze Rose an Tyrells Grab gelegt hatte. Kalt und dunkel wie die ewige Nacht über den Straßen von L.A., aber wunderschön. 67 – Blade Runner 2 – Akt 1 – 68 – Blade Runner 2 – Akt 1 – 05 [BR-61661, melden Sie sich im Hauptquartier. Code drei, wiederhole, Code drei.] Ray McCoy hätte fast den Coffee-to-go verschüttet, den er sich von Ho-Chis Nudelbar mitgenommen hatte und der ihm dabei half, die Zwölf-Stunden-Streife zu überstehen. In dem Moment, als der Ruf unerwartet durchs Interkom seines Spinners drang, nippte er gerade an dem Heißgetränk, die andere Hand eher lässig am Steuer. Kaum wurde sein Griff locker und rutschte der Becher, vernachlässigte er auch seine Aufmerksamkeit hinsichtlich des Verkehrs. Der Skimmer brach aus der vorgesehenen Spur aus und hätte beinahe ein entgegenkommendes Fahrzeug gestreift. Eine grelle Hupe schallte vorüber. Adrenalin pulste in seiner Magengrube. 69 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Schätze, jetzt bin ich wieder wach. McCoy stellte den Kaffee wieder in den Getränkehalter und fragte sich, ob er gerade richtig gehört hatte. Code drei? Das konnte doch nicht möglich sein. Er dachte zurück. Code drei hatte er nicht mehr bekommen, seit irgendeine Nutte Bryants Schreibtisch vollgekotzt hatte…und er die Säuberungsaktion leiten durfte. In den anderthalb Jahren bei den Blade Runners war das immer noch einer der dreckigsten Jobs gewesen, obwohl McCoy trotz seiner nach wie vor jungenhaften Erscheinung auch kein unbeschriebenes Blatt mehr war. Wenigstens glaubte er das gerne. Er versuchte es positiv zu sehen. Dieser Ruf mochte eine willkommene Abwechslung sein, denn das Aufregendste, was er in den letzten Wochen gesehen hatte, war eine schizoide Roma, die in ihrer Unterwäsche Tänze aufgeführt hatte. Die Streifen waren wirklich das Schlimmste. Eilig ging er auf neuen Kurs und steuerte das Hauptquartier an. Nach einer halben Stunde schwoll der riesige, graubraune Turmbau aus dem Dunst des nächtlichen 70 – Blade Runner 2 – Akt 1 – L.A., ein beleuchteter, zylindrischer Monolith, um den herum rege Flugaktivität herrschte. McCoy ließ sich von der Flugleitung einen freien Landeplatz zuweisen und brachte den Skimmer mit einigen routinierten Handgriffen herunter. Eine Viertelstunde später saß er in Lieutenant Guzzars Büro und betrachtete den Bären von einem Mann, der gerade hinter seinem Schreibtisch Platz nahm und einen Zigarettenstummel im dafür vorgesehenen Aschenbecher ausdrückte. McCoy kannte ihn nicht sonderlich gut, aber er wusste, dass Guzzar einer der alten Hasen war, die auch die hässlichen Sachen in den Straßen gesehen hatten. Trotz der ansehnlichen Narbe, die seine Wange zierte – und die, wie man munkelte, aus seinen Jahren als Berufsanfänger stammte – wirkte er zumeist umgänglich, doch wenn man kein Freund von ihm war, musste man sich besser vorsehen. Steele hatte ihm vor einer Weile anvertraut, man könne es sich schnell mit Guzzar verscherzen, und als ehrgeiziger Einsteiger bei der LAPD wollte McCoy besser nichts riskieren. 71 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Der Andere räusperte sich. „Also… Sie haben das Recht und die verdammte Pflicht, alles, was wir hier besprechen, für sich zu behalten, Bürschchen.“ Wie immer stand keine Widerrede im Raum. „Ist klar, Sir. Ich bin für alle Schandtaten zu haben.“ „Schandtaten, gutes Stichwort. Ich hoffe doch, Sie haben die freie Zeit genossen…“, nuschelte sein Gegenüber und schaute ihn aus zu Schlitzen gekniffenen Augen an. „Denn jetzt kann’s wirklich unangenehm werden.“ „Code drei. Also, da scheint ja wirklich die Bude zu brennen.“ McCoy kratzte sich am Hinterkopf. „Ich nehm‘ an, es geht um einen frei herumlaufenden ‚Hautjob‘?“ Beim Gedanken, sich endlich mit einem erlegten Rep die entscheidenden Sporen zu verdienen, lief ihm schon das Wasser im Mund zusammen. „Schlimmer.“, sagte Guzzar. „Diesmal ist es unser Haus, das brennt. Jemand ist uns von der Stange gegangen. Bryant ist außer 72 – Blade Runner 2 – Akt 1 – sich. So was ist ihm in seiner Dienstzeit noch nie passiert.“ „Außer sich? Wieso?“ Guzzar blähte die Nüstern seiner breiten Nase. „Es sieht ganz danach aus, als hätte Deckard ein doppeltes Spiel mit uns getrieben. Er ist zusammen mit dieser Nexus-6Schlampe verschwunden. Rachael oder so…“ Der Lieutenant schnitt eine Grimasse. „Ich finde es widerlich, dass man dazu übergegangen ist, den Scheißteilen menschliche Namen zu verpassen. Das nur nebenbei angemerkt.“ McCoys Gedanken ratterten. Was er da zu hören bekam, klang unfasslich und zudem nicht gerade logisch. Ein Blade Runner, der sich mit einem Rep verbrüdert hatte? Und dann noch eine lebende Legende des Ausdem-Verkehr-Ziehens wie Deckard? Das schien bereits ein Widerspruch in sich zu sein. „Deckard und die Replikantin? Das klingt ziemlich… Ähm… Ist diese Information gesichert?“ 73 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Guzzar zog einen Mundwinkel hoch und entblößte einen schiefen, blitzenden Zahn. „Sagen wir, wir sind uns zu achtundneunzig Prozent sicher – nachdem wir Deckards Saustall von einer Wohnung ins Visier genommen haben. Noch gibt es zwar keine absoluten Beweise, aber dafür aussagekräftige Hinweise. Und die gefallen Bryant ganz und gar nicht.“ McCoy warf die Stirn in Falten. „Eine Sekunde. Warum sollte Deckard mit einer Replikantin das Weite suchen? Das alles ergibt doch keinen Sinn.“ Guzaar hob und senkte seine mächtigen Schulterblätter. „Fragen Sie mich ‘was Leichteres, Bürschchen. Aber egal, wie man’s dreht und wendet: Diesmal ist Deckard zu weit gegangen.“ Ein erhobener Zeigefinger spreizte sich vom Handballen des Lieutenants. „Er wird dafür seinen Kopf hinhalten müssen. Bryant hat mich mit der Sache beauftragt. Er will, dass Sie und Steele mich unterstützen. Wir werden ein Team bilden.“ Ein herausfordernder, leicht hämischer Blick entstand auf Guzzars Gesicht. „Jetzt können Sie beweisen, dass Ihre Ausbildung die ganze Staatsknete wert war, 74 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Kleiner. Jetzt können Sie den Blade Runner wirklich ‘raus lassen.“ Hat da jemand Erwartungen an mich? McCoy blickte zur Seite; der Stuhl neben ihm war immer noch unbesetzt. „Apropos: Wo ist Steele eigentlich?“ Guzzar fingerte eine neue Zigarette hervor und zündete sie sich an. „Ist noch an einem Sonderauftrag in New York dran. Müsste aber in einem halben Tag oder so wieder zugegen sein. Sie können die Zuckerschnecke zu mir schicken, wenn sie Ihnen über den Weg läuft.“ Was er soeben gehörte hatte, ließ McCoy nicht los. „Wo könnte Deckard nur mit ihr hingehen? Ich meine, mit der Replikantin.“ „Das ist völlig offen.“ Guzzar rieb sich grüblerisch über den Dreitagebart. „Tyrell ist mucksmäuschentot, und Rachael war ein spezieller Prototyp, der vor Ort arbeitete und später Reißaus nahm, als sie die Wahrheit über sich erfuhr… Wegen dieser ganzen Erinnerungsscheiße. Die ganzen Einzelheiten kriegen Sie noch in einem separaten Memo. Ich glaube aber nicht, dass sie – an75 – Blade Runner 2 – Akt 1 – ders als dieser ausgebuffte Roy Batty – versuchen wird, in die Corporation zurückzukehren. Das Erste, was wir tun müssen, ist dort anzufangen, wo alles begann. Wenn wir ‘rausfinden wollen, was Deckard vorhat, müssen wir diese letzte ‚Hautjob‘Geschichte, mit der er beauftragt war, genauestens unter die Lupe nehmen. Was ist dort passiert? Was hat seine Sicht der Dinge geändert? Ist er bestochen worden? Hat ihm jemand ‘ne gottverdammte Gehirnwäsche verpasst? Solche Fragen interessier’n uns.“ „Okay, Lieutenant.“, sagte McCoy. „Wird Holden eigentlich auch bei uns mitmachen?“ Guzzar offenbarte ein zynisches Grinsen. „Holden ist derzeit ganz gut damit beschäftigt, sein Essen durch einen Strohhalm zu saugen. Nein, wir werden ein Trio Infernale bilden, und dazu noch eines, das die Klappe zu halten versteht… Selbst im Präsidium. Klar?“ „Klar wie Kloßbrühe, Sir.“ Guzzar begann in einem der Papierstapel zu kramen, die die Hälfte seines Schreibti76 – Blade Runner 2 – Akt 1 – sches bedeckten. „Der Auftrag lautet, die Replikantin zur Tyrell Corporation zurückzubringen…und Deckard festzunehmen, tot oder lebendig. Aber die letztere Entscheidung überlassen Sie besser mir.“ Im nächsten Moment sah sich McCoy mit einer faustdicken Mappe konfrontiert. „Hier ist die Akte von Deckards letztem ‚Hautjob‘Fall. Der Rest ist im Großrechner von Esper gespeichert. Machen Sie sich damit vertraut, und zwar dalli.“ „Ja, Lieutenant.“ McCoy erhob sich und ging auf die Bürotür zu. Hinter ihm räusperte sich Guzzar hörbar. „Sagen Sie, McCoy, haben Sie Deckard jemals kennengelernt?“ „Ähm, nein, Lieutenant. Als ich kam, hatte er sich gerade wegversetzen lassen.“ Tiefes, bösartiges Gelächter stieg aus der Brust des Lieutenants auf. „Na dann haben Sie ja noch ‘was vor sich. Man sieht sich, Kleiner.“ Guzzar schien eine persönliche Geschichte mit Deckard zu verbinden. McCoy tippte 77 – Blade Runner 2 – Akt 1 – darauf, dass er sie früher oder später erfahren würde. Mit Deckards Akte unter dem Arm kehrte McCoy auf das Dach des Hauptquartiers zurück. Der Plan war simpel: Er würde den Skimmer nehmen, sich für ein paar Stunden in die wohlverdiente Falle hauen, und morgen würde ein neuer Tag beginnen. Auch, wenn er noch nicht wusste, was ihn da erwarten würde. Gut, um genau zu sein, wusste er es schon, aber... „Machst Du heute Nacht blau, Cowboy?“ Eine Stimme war aus der Dunkelheit gekommen; eine Stimme, die zu viele Zigaretten gesehen hatte. McCoy drehte sich um und sah zuerst Chrystal Steeles blitzende Sonnenbrille. Er hatte nie recht verstanden, warum jemand in einer Stadt, die die Sonne zuletzt vor anderthalb Jahrzehnten gesehen hatte, einen Lichtschutz tragen musste, doch darum schien es Steele auch gar nicht zu gehen. Die Brille war ein Stilelement, ein angestammtes Markenzeichen. Sie passte zu 78 – Blade Runner 2 – Akt 1 – ihrem düsteren Lederaufzug mit dem kurzen, ebenholzfarbenen Haar. Steele hatte es faustdick hinter den Ohren. Hatte sie die Lizenz zum Töten, knallte sie alles über den Haufen, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Sie war eine gottverdammte Killermaschine. Er hatte sie zwar noch nicht in Aktion erlebt, aber auf der Wache erzählte man sich so einiges. Und eines dieser Gerüchte besagte, dass Steele eiskalt vorging, ohne mit der Wimper zu zucken. Ihre Zielobjekte schlachtete sie gnadenloser ab als ein meuternder Rep. „Steele.“, sagte er und versuchte, sich den anfänglichen Schrecken nicht allzu sehr anmerken zu lassen. „Ich dachte, Du hast einen Sonderauftrag in New York?“ Sie winkte ab und legte eine Hand in ihre schlanke Hüfte. „Ach, die Jungs und Mädels dort brauchten wieder mal etwas Schützenhilfe. War nichts Besonderes, nachdem ich die Wickser weggeblasen hatte.“ „Was ist passiert?“ 79 – Blade Runner 2 – Akt 1 – „Ein paar Reps haben sich bei Kaiser als Fibroplastarbeiter ausgegeben. Ich hab‘ mich als Krankenschwester verkleidet. Sie hatten keine Chance.“ McCoy schluckte. „Kann ich mir vorstellen. Hast Du den Test gemacht?“ „Ach, quatsch.“ Mit der Zigarette in der Hand vollführte sie eine kreisende Bewegung. „Ich fühl‘ da diese Intuition in meinem Bauch, und die hat mich noch nie im Stich gelassen. Wenn Du die entwickelst, hast Du ‘ne glänzende Karriere vor Dir.“ „Okay,“, meinte McCoy, „ich arbeite dran.“ „Jetzt, da die Hurensöhne Kleinholz sind, dürfte es keine frei herumlaufenden ‚Hautjobs‘ von Ganymed mehr geben. Ich sag‘ Dir: Nach der ganzen Scheiße, die uns diese irrlichternden Wahnsinnigen von CARS da eingebrockt haben, könnt‘ ich echt ‘nen Erholungsurlaub gebrauchen. Diese gottverdammten Reps…“, fluchte Steele. „Ich sag‘ Dir: Man sollte diesen Tyrell in einen Leichensack stecken und zum nächsten Stern schießen.“ 80 – Blade Runner 2 – Akt 1 – „Er steckt in einem Leichensack.“ Steele klopfte sich gegen die Schläfe. „Stimmt ja. Das verlorene Schaf von Olympus kehrte heim zum Hirten.“ „Und vergiss nicht…“, fuhr McCoy fort. „Wenn es ihn und sein Vermächtnis nicht gäbe, gäbe es auch uns nicht.“ Steele ging nicht darauf ein. Stattdessen trat sie näher an ihn heran und blies ihm eine Rauchwolke ins Gesicht. „Als Platon unterm Olivenhain machst Du ‘ne gute Figur, Cowboy. Aber wie steht’s mit Deinen Reflexen beim Coltzücken?“ „Ich denke, ich werde immer besser.“ „Ach ja?“ „Jedenfalls komme ich am Schießstand Deinem Ergebnis immer näher.“ „Ich rede nicht vom Schießstand. Ich rede vom wirklichen Leben. Guzzar hat sich gerade bei mir gemeldet. Er will, dass ich Euch bei irgendwas unter die Arme greife.“ 81 – Blade Runner 2 – Akt 1 – „Sieh einer an.“, stellte McCoy fest und wusste nicht recht, ob er begeistert sein sollte. „Dann sind wir jetzt ja Partner, wie’s scheint.“ „Ja, reizend, was? Code drei. Sag bloß, ich muss irgendwelche Kotze wegwischen?“ Eine Gruppe Polizisten huschte an ihnen vorüber. „Ich glaub‘ eher nicht. Guzzar wird Dich aufklären.“ Über ihrer Sonnenbrille wölbte Steele die dünn gezupften Brauen. Sie ließ die Zigarette zu Boden fallen, trat sie lässig aus und setzte sich in Richtung Lift in Bewegung. McCoy sah ihr nach. „Du kannst jetzt übrigens aufhören, mir auf den Arsch zu glotzen.“ „Sag mal, hast Du Augen, von denen ich nichts weiß?“ Nachdem sie in den Fahrstuhl eingetreten war, drehte sie sich um. „Du brauchst nur zu fragen, Cowboy.“ Die Tür schloss sich mit einem Knall. 82 – Blade Runner 2 – Akt 1 – McCoy blieb allein. Sein Blick ging zur Mappe, auf der eine Codenummer stand: 26354. „Tja, ich schätze, die Jagd ist jetzt eröffnet.“, hauchte er. Es klang irgendwie gewöhnlich, doch das war es nicht. Diesmal jagten sie einen der Ihren. Sie jagten einen Blade Runner. 83 84 – Blade Runner 2 – Akt 1 – – Blade Runner 2 – Akt 1 – 06 LAX-Airport. Das riesige Zentralterminal des gewaltigen Komplexes hallte von Startaufrufen, Durchsagen von Abflug- und Ankunftszeiten, Suchrufen nach verlorengegangenen Kindern, Werbedurchsagen in verschiedenen Sprachen wider. Die Luft war überladen mit sich vermischenden Aromen – von der präzisen Härte der gefilterten und wiederaufbereiteten Luft über die exotischen Gewürze der Schnellimbisse bis hin zur komplexen Tapisserie der Ausdünstungen der sich durch die Hallen wälzenden Menschen. Eine der Abflughallen zu verlassen hieß, mit einem Suborbitalflug in weniger als fünf Stunden jeden Ort auf der Erde erreichen zu können – theoretisch jedenfalls, denn viele Lufträume waren infolge des Dritten Weltkriegs immer noch geschlossen oder nur 85 – Blade Runner 2 – Akt 1 – sehr eingeschränkt passierbar; es kam häufig zu Verspätungen und uneingeplanten Zwischenstopps. Es lag, wie man finden konnte, eine gewisse Ironie darin: Nie war die Menschheit in der Lage gewesen, Personen so schnell an andere Orte zu befördern, und jetzt, wo sie es vermochte, verhinderten Fragen der Umweltkontamination, militärischen Sicherung oder internationalen Freizügigkeit – Dinge, die früher selbstverständlich gewesen waren –, dass längst nicht alle Orte von den modernen Suborbitalmaschinen angesteuert werden konnten. Der Mensch war auf der Entwicklungsleiter der sogenannten zivilisatorischen Evolution emporgestiegen, aber im Grunde war er im gleichen Maße auch ein unglückliches, unerfülltes Wesen geworden, denn das soziologische Wissen hatte mit dem technologischen nicht Schritt halten können: Politik und Terroristen hatten mit neuen Kriegsspielzeugen langwierige und tiefgreifende Konflikte ausgelöst, korrupte, bloß auf Eigennutz bedachte Industrien das letzte Bisschen der natürlichen Ressourcen ausgeplündert, und in Folge dessen waren zahl86 – Blade Runner 2 – Akt 1 – reiche Gebiete chemisch oder gar nuklear verseucht. Auf diese Weise war der Globus ein Flickenteppich der Krisengebiete geworden, die weiterhin große Unberechenbarkeiten für den internationalen Personenund Warenverkehr bereithielten. Man konnte natürlich auch vom LAX in Richtung einer der Kolonien aufbrechen. Im Gegensatz zu den Suborbitalflügen waren es hier nicht die externen, sondern die internen, sprich individuellen Limitierungen, die eine Rolle spielten: Erbanlagen, Gesundheit, verfügbares Einkommen und so weiter. Auf den omnipräsenten Reklameschildern und über die Lautsprecherdurchsagen wurden die Koloniewelten wie ein zweites Walhalla angepriesen – vollmundig wurden Abenteuer und goldene Gelegenheiten versprochen, die Chance, ganz neu anzufangen in einem Land, wo Milch und Honig fließen. Die traurige Wahrheit jedoch lag allzu deutlich auf der Hand: Eine zweite Erde war weit und breit weder in Sicht noch erreichbar. Im Angesicht des unaufhaltsamen Niedergangs ihrer Wiege hatte die Menschheit begonnen, verzweifelt umherzutreiben und einige Felsen im Sonnensystem gesucht, an 87 – Blade Runner 2 – Akt 1 – denen sie sich festhalten konnte, um Atem zu holen. Selbst all die fortschrittliche Technologie und die unermüdliche Arbeit von Replikantensklaven, all die Anstrengungen, die Illusion einer neuen Heimat zu erschaffen, nützten da nur sehr begrenzt etwas. Es war ein offenes Geheimnis, dass keine einzige der insgesamt zwölf Kolonien auch nur ansatzweise dazu in der Lage war, einen beträchtlichen Teil der Erdbevölkerung aufzunehmen8. Also hatte man ein Geschäftsmodell für die Reichen daraus gemacht. Unter der Ägide von renditehungrigen Lobbyisten und Bessermensch-Ideologen war in den meisten Kolonien ein völlig neues Ausmaß an Segregation etabliert worden. Kranke und sozial Schwache hatten dort keinen Platz. Die wenigen Privilegierten waren in der schönen, neuen Welt unter sich, wo sie ein Heer von Replikantendienern zu ihrer Verfügung hatten – von Wächtermodellen, über 8 Auf allen Kolonien zusammen genommen lebten bis dato rund 19,5 Millionen Menschen – eine verschwindend geringe Zahl angesichts der 8,6 Milliarden, die auf der Erde verblieben waren. Es handelte sich neben den Reichen, Wissenschaftlern und kreativen Unternehmern vornehmlich um kolonialen Ingenieure und Architekten sowie Industriearbeiter, die die Replikanten befehligten. 88 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Haushaltsmodellen bis hin zu Lustmodellen. In ihrem Verlangen nach noch mehr Reichtum und Macht hatten einige der Kolonien den Hals nicht voll bekommen können und in den letzten Jahren damit begonnen, sich zu befehden. Privat- und Söldnerarmeen waren neben dem regulären Militär hochgezogen worden, regelrechte Blitzgeschwader. Man versuchte einander das Wasser abzugraben. Das hatte den Bedarf nach neuen, spezialisierten Replikanten in die Höhe schnellen lassen. Besonders Meuchelmord- und Gefechtsmodelle mit hohem Unabhängigkeitsgrad erfreuten sich einer rasant steigenden Nachfrage. Krieg war gut fürs Geschäft. Einmal mehr hatte sich Tyrell seine schmierigen Hände reiben können. Nun war der hektische Flughafen bloß noch eine bedeutungslose Zwischenstation für Deckard. Ein letzter Halt, ein letztes Hindernis, das er überwinden musste, bevor er endlich mit dem beginnen konnte, was er tun musste. Rachael eine neue Lebenschance zu schenken…und sich gleich mit. Die Erde würde in seine Erinnerungen rücken und allmählich zu verblassen beginnen. 89 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Deckard drehte das Origami-Einhorn in der Hand, betrachtete es. Er hatte es mitgenommen, als er seine Wohnung zum letzten Mal verließ. Gaff hatte es auf die Schnelle aus einer Kaugummifolie gebastelt, so wie er immer zu basteln pflegte. Miniaturfiguren. Er bastelte alles Mögliche, seine persönliche Form des Zeitvertreibs. Er ließ diese Figuren gerne mal an Orten zurück, die er besucht hatte, um zu dokumentieren, dass er da gewesen war. Das Einhorn hatte er zusammengefaltet, als er Deckard vor zwei Tagen an seiner Tür einen Besuch abstattete, um ihm wieder einmal eine Nachricht von Bryant zu überbringen plus ein paar Unterlagen anlässlich seiner abrupten Wiedereinsetzung sowie den Esper. Die Figur war zu Boden gefallen und dort liegen geblieben – bis zu jenem Moment, als Deckard den Entschluss fällte, mit Rachael wegzugehen. Sie hatte den Lift betreten, er war noch einmal zurückgekehrt, weil ihm etwas Funkelndes aus dem Augenwinkel aufgefallen war. Das Verrückte war, dass Deckard von einem Einhorn geträumt hatte, kurz nachdem Rachael zum ersten Mal seine Wohnung 90 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Hals über Kopf verlassen hatte. Es hatte genauso ausgesehen. Ein Jammer, dass sie nicht leben wird. Aber wer tut das schon? Das hatte Gaff gesagt, nachdem er sich davon überzeugte, dass Deckards Mission abgeschlossen war und Roy Batty keine Bedrohung mehr darstellte. Die Worte hatten in Deckard gearbeitet. Auf dem Rückweg nachhause hatte er gedacht, dass es doch im Grunde keine Rolle spielte, von wo jemand seine Erinnerungen hatte – entscheidend war, dass man mit diesen Erinnerungen eine vollwertige Person war. Eine eigenständige Persönlichkeit, die sich auf ihre Weise entfalten konnte; die nicht richtiger oder falscher als jede andere auch war. Ihm war vollends bewusst geworden, dass er diese Frau liebte; dass sie sich richtiger anfühlte als alle anderen Frauen, obwohl alle Welt ihm doch sagte, sie sei nicht einmal eine Frau, sondern etwas Künstliches, Falsches. Etwas Unmenschliches, das niemals so denken und fühlen konnte wie eine Person aus Fleisch und Blut, und im schlimmsten Fall etwas Bösartiges. Wie Roy 91 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Batty und die anderen Replikanten, die er einer nach dem anderen kaltblütig aus dem Verkehr gezogen hatte, nur um am Ende zu begreifen, dass sie die Schwelle von allem, was für das Menschsein stand, längst überschritten hatten. Gaff hatte mit seiner Origami-Bastelei und seiner rätselhaften Bemerkung diese Erkenntnis befeuert, und als sie wie ein Schwall eiskalten Wassers über Deckard kam, waren Konsequenzen unvermeidlich geworden. Er hatte seinem Gewissen und seinem Herzen folgen müssen. Nun fragte Deckard sich, wieviel Absicht wirklich hinter Gaffs Verhalten steckte. Vermutlich überhaupt keine. Deckard hatte schlicht und ergreifend vom Einhorn geträumt, nachdem er damals die Tür geöffnet und Gaffs kleines Kunstwerk gesehen hatte. Es war ihm in Erinnerung geblieben. Als Kind hatte er Einhörner immerhin geliebt. Sie hatten für eine bessere Welt gestanden, für in Erfüllung gehende Träume, für eine Flucht aus Schmutz, Dunkelheit und Schuld. Dann hatte er für eine verdammt lange Zeit nicht mehr an sie gedacht. Weil er keine Träume mehr gehabt hatte? Weil er in 92 – Blade Runner 2 – Akt 1 – dieser Welt einfach nur noch funktionierte wie eine Maschine, so wie er, einer Maschine gleich, viele Jahre Replikanten gejagt und liquidiert hatte? Und was diese auf Rachael gemünzte Bemerkung zum Schluss anging… Wahrscheinlich hatte ihm Gaff nur durch die Blume sein Bedauern versichern wollen. Deckard hatte alle Replikanten, die von außerhalb gekommen waren, eliminiert, genau wie von Bryant gewünscht. Übrig blieb nur noch Rachael. Sie war aus der Tyrell Corporation geflohen und damit nach geltender Gesetzeslage auf den Straßen Freiwild für Blade Runner. Rachael hatte nichts verbrochen, sie hatte keine Menschen auf dem Gewissen, und doch machte man auf der Erde keinen Unterschied zwischen ihr und dem größten Killer-Rep. War das Gaffs Jammer darüber, dass sie nicht leben werde? Oder bezog es sich auf die kurze Lebensspanne, die Rachael unerbittlich einholen würde, selbst, wenn es ihr gelänge, sich zu verstecken? Wie hatte Gaff das gemeint? Womöglich hatte aus ihm auch ein Fatalismus gesprochen. Vielleicht wollte er zum Ausdruck bringen, dass – selbst, wenn Rep93 – Blade Runner 2 – Akt 1 – likanten durch begrenzte Lebenszeit oder vorzeitigen ‚Ruhestand‘ starben – Menschen deshalb nicht unbedingt am Leben waren. Hatte ein bekannter Schriftsteller nicht vor einigen Jahren geschrieben, die Menschheit wäre schon längst nicht mehr dabei, sich die Hölle zu schaufeln, sondern lebe seit geraumer Zeit darin? Man musste sich diesen Planeten doch nur einmal ansehen. In der Hölle saß jedenfalls niemand, der lebendig war. Vor Interpretationen schmerzte einem der Kopf. Gaff hat fast nie gesagt, was ihm durch den Kopf ging. Er hat es immer geliebt, den Geheimnisvollen zu spielen. Das war sein Markenzeichen., dachte Deckard. Konnte es also nicht möglich sein, dass auch noch ein anderer Cop insgeheim Zweifel an der Ordnung der Welt hegte? Daran, dass es angeblich so gerecht war, jeden Replikanten – egal, um wen es sich handelte – wie Vieh zu jagen und umzulegen? Vielleicht hatte Gaff Deckard bloß seine Anteilnahme bekunden wollen, ohne allzu deutlich zu werden. In einem Affekt griff Deckard nach seiner Waffe. Er betrachtete den Blaster, drehte 94 – Blade Runner 2 – Akt 1 – ihn um. Da fiel ihm auf, dass es gar nicht seine Waffe war. Er erkannte es an der Registrierungsnummer. Nein, das hier war Gaffs Waffe. Adrenalin schoss in seine Magengrube. Ja, natürlich. Gaff hat mir seine Waffe zugeworfen. Meine habe ich im BradburyGebäude verloren. Plötzlich kam Deckard ein neuer Gedanke, er mutete fast verrückt an. Hatte Gaff etwa davon gewusst oder zumindest geahnt, dass er die flüchtige und überall gesuchte Rachael heimlich in seiner Wohnung untergebracht hatte? Falls ja, warum hatte er dann nicht längst dafür gesorgt, dass sie in Gewahrsam genommen wurde? Deckard war im Einsatz gewesen; er hätte sie nicht schützen können. Die Tür zu seiner Wohnung war bei seiner Rückkehr nur angelehnt gewesen, hatte nicht ins Schloss geschnappt. Deckard hatte natürlich sogleich geargwöhnt, ob Gaff dort gewesen war. Ein paar Minuten später hatte Rachael ihm gesagt, sie sei es gewesen, die die Tür geöffnet habe – weil sie kurzzeitig erwogen habe, wegzugehen. Weil sie ihn nicht in noch größere Schwierigkeiten brin95 – Blade Runner 2 – Akt 1 – gen wollte. Doch dann habe sie eingesehen, dass sie ihn nicht verlassen könne und auf der Türschwelle Kehrt gemacht9. Sie habe die Tür höchstwahrscheinlich nicht richtig zugezogen. Nein, Gaff kann es nicht gewusst haben. Es sei denn… Er wollte mir die Möglichkeit geben, mit ihr zu entkommen. Aber auch das schien absurd. Was sollte Gaff, dieser Kriecher Bryants, davon haben, ihm die Flucht mit einer Replikantin zu ermöglichen? War das vielleicht eine Art von Rache? All die Jahre hatte Deckard nie das Gefühl gehabt, dass Gaff ihm sonderlich zugetan gewesen war. Hatte er ihn bewusst zur Flucht mit Rachael bewegt, um ihn am Ende ein für allemal aus Bryants Abteilung zu entfernen? Gewährte er ihm diesen Vorsprung vielleicht nur, um ihn am Ende umso erbarmungsloser zu verfolgen, damit sein Sieg umso größer ausfiel? Konnte man Gaff ein solch sadistisches Verhalten zutrauen? Deckard schluckte. Führte dieser Kerl nun etwas im Schilde, oder war es reine Zeitver9 Anschließend hatte Rachael sich unter einer Decke in seinem Schlafzimmer versteckt und war für mehrere Stunden eingeschlafen. 96 – Blade Runner 2 – Akt 1 – schwendung, weiter über ihn und seine vermeintlichen Beweggründe nachzudenken? „Deckard?“ Er steckte den Blaster weg. Gedankenverloren wandte er sich zu Rachael um, die sich einen altmodischen Damenhut aufgesetzt hatte. Zusammen saßen sie, mit dem wenigen Gepäck, das sie besaßen, in einem kleinen Wartebereich in der Eingangshalle. „Ja?“ „Glaubst Du, wir werden es schaffen? Glaubst Du, wir werden durch die Sicherheitskontrollen kommen?“ Ihre Stimme zitterte, selbst, wenn sie dagegen ankämpfte. „Mach Dir keine Sorgen.“ Im Zuge der kolonialen Eugeniegesetze wurde bei den Kontrollen akribisch auf jegliche Art von chronischer Erkrankung, Behinderung oder genetischer Fehlbildung geachtet. Komplexere Scans nach Replikanten konnte man in Anbetracht der Menschenmassen gar nicht leisten; der gesamte Reisebetrieb wäre schlagartig zum Erliegen gekommen. 97 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Maschinen der ersten vier NexusGenerationen wurden aufgrund ihrer noch robotischen Beschaffenheit von den Geräten erkannt, alles darüber hinaus war oberflächlich vom Menschen nicht mehr zu unterscheiden und bedurfte eines ausführlichen Voight-Kampff-Tests auf Empathie. Rachael selbst jedoch hatte diesen Test bei ihrer ersten Begegnung beinahe für Null und nichtig erklärt, also nahm Deckard nicht an, dass es Probleme geben würde. Trotzdem machte er sich keine Illusionen: Es würde nicht einfach werden. Die Blade Runner würden kommen. Bryant hatte bestimmt schon Kenntnis von seiner Flucht. Er besaß nur einen geringen Zeitvorsprung, und den musste er nutzen. Er musste jetzt unberechenbar sein, wollte er eine Chance haben. Ein schmales Lächeln huschte über Rachaels Gesicht. Es kündete von Hoffnung. „Wir fliegen in den Himmel. Und diesmal werden die Erinnerungen, die wir uns schaffen, unsere eigenen sein.“ Deckard betrachtete sie fasziniert, gebannt von ihren Worten. Sie hatte nicht nur von sich gesprochen, von Erinnerungen, die 98 – Blade Runner 2 – Akt 1 – nicht ihr selbst gehörten, sondern ihn, den Menschen Rick Deckard, bewusst einbezogen. Sie hatte ihm schon immer in die Seele geblickt, die Unfreiheit seines Lebens und seinen inneren Kampf erkannt. Ohne sie hätte er die Fesseln, die ihn hielten, niemals sprengen können. Rachaels Botschaft an ihn war klar: Von nun an nahmen sie ihr Leben in die eigenen Hände, selbst wenn es vielleicht nicht lange währen würde. Da glaubte er es auf einmal zu erkennen. Sie war das Einhorn. Das Einhorn, das in seine Träume zurückgekehrt war. Es hatte ihn von einem stummen Fluch erlöst. Deckard schöpfte neue Kraft. „Ich liebe Dich.“ „Ich weiß.“, sagte Rachael mit fester Stimme. Er nahm ihre Hand, und gemeinsam schritten sie zur Passkontrolle. Der Koffer rollte ihnen stoisch hinterher. 99 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Eine beachtliche Erfahrung, in Furcht leben zu müssen. So fühlt es sich an, ein Sklave zu sein. Worte, die von Roy Batty ausgesprochen worden waren, während Deckard über dem Abgrund der Stadt baumelte. Warum kamen sie ihm mit einem Mal in den Sinn? Weil er selbst dabei war, Battys Rolle anzunehmen? Weil er nun der Geächtete, der Vogelfreie, der Todgeweihte war? Es stimmte. Die Grenzen lösten sich tatsächlich auf…und mit ihnen alte Gewissheiten. Aber was immer ihn erwartete: Deckard hatte schließlich erkannt, dass das Leben, welches er führte, selbst eines war, das unter Kontrolle stand. Ja, sicherlich war es freier als das der Replikanten, aber es war kein Leben in Freiheit. All die Jahre hatten Bryant und die übermächtige LAPD ihn nach Belieben gesteuert, und er hatte gespurt, hatte sich bereitwillig zum Werkzeug gemacht, sich einredend, er habe eine Wahl. Und all das, um ein klägliches Leben im kleinen Karo weiterzuführen, das auf nichts zusteuerte, das dieselben gleichgültigen Rhythmen wiederholte, bis es eines Tages endete. 100 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Doch die traurige Wahrheit lautete: In dem Gefüge, in dem er gelebt und sich eingerichtet hatte, war die Vorstellung, eine Wahl zu haben, eine sorgsam genährte Illusion, mehr nicht. Nein, die ganze Zeit über war er doch nicht viel mehr gewesen als eine Drohne, betraut mit einer hässlichen Aufgabe, die zu erfüllen man von ihm ohne ein Murren erwartete. Er war der Vertreter einer Arbeiterklasse gewesen, ohne Aussichten, irgendwann aus dem Gefängnis des Systems, das sie beherrschte, ausbrechen zu können. Vielleicht war es also gar keine Sklaverei, die vor ihm lag, sondern die Sklaverei lag vielmehr hinter ihm. Deckard wusste nicht, ob diese Gedanken irgendetwas bedeuteten. Er wusste nur, dass er keine Angst mehr hatte, über diese Kante zu treten…und zu springen. Das System konnte ihn mal. 101 102 – Blade Runner 2 – Akt 1 – – Blade Runner 2 – Akt 1 – 07 [Zhora war der erste Nexus-6er, dem ich begegnet bin. Es war etwas in ihrem Blick, das sie selbst noch in ihren Tod zu begleiten schien. Ein beinahe menschliches Verlangen nach Leben. All die Jahre habe ich 4er und 5er gejagt, und die hatten genau gewusst, wann es vorbei war. Wann es sich nicht mehr lohnte, zu kämpfen. Aber diese 6er, die haben echt mehr drauf. Von diesem Standpunkt aus kann ich Tyrells Kontrollwahn sogar nachvollziehen, dass er entschied, ein Fail-Safe-System einzubauen. Vier Jahre Lebenserwartung…] [Wenn der Prototyp erfolgreich ist – und darauf deutet zurzeit alles hin – werden wir das nächste Nexus-6-Modell serienmäßig mit einer Vergangenheit ausstatten können. Nehmen Sie Rachael. Ich habe ihr die Reinheit und die Unschuld der Kindheit geschenkt – und damit die Freuden und das 103 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Leid, die zu einer echten Existenz gehören. Dieser Grad an Lebendigkeit ist erforderlich, damit uns die Replikanten noch besser dienen können. Dies ist ein entscheidender Durchbruch. Meine sehr verehrten Damen und Herren, vertrauen Sie mir: Der Segen der Erinnerung ist der letzte Baustein auf dem Weg zu den wahrhaft perfekten Dienern für die Menschheit…] Ray McCoy hatte sich eigentlich für ein paar Stunden aufs Ohr hauen wollen. Aber als er Deckards Akte aufschlug, war die restliche Nacht für ihn gelaufen. Er hatte sich einen Bourbon eingeschenkt und über den Berichten, Kia-Audioaufzeichnungen und Memos gebrütet, hatte sich bemüht, jedes Detail von Deckards Ermittlungen nach den Reps nachzuvollziehen, einschließlich der wilden Jagd- und Kampfszenen, die sich ergeben hatten. Als wäre dem nicht schon genug, hatte er sich obendrein noch ein paar beiliegende Reden von Eldon Tyrell angehört, die Deckard zusammengetragen hatte. Stunden, nachdem McCoy die Akte geöffnet hatte, konnte das Resultat nicht eindeutiger sein: Soweit es die offiziellen Informationen betraf, deutete nichts darauf hin, 104 – Blade Runner 2 – Akt 1 – dass Deckard seine Pflichten in irgendeiner Weise vernachlässigt hatte oder im Laufe seines Falls vom Kurs abgekommen war. Das zog eine entscheidende Frage nach sich: Was war hinter den Kulissen vorgefallen? Was brachte einen gestandenen Blade Runner dazu, Hals über Kopf mit einer Replikantin durchzubrennen, und zwar nachdem er geschlachtet hatte wie ein Berserker? Etwas anderes war allerdings sicher: Diese neue Replikantengeneration, diese Nexus6er, stellten die besten Instrumente der Rep-Detects bitter auf die Probe. Der Voight-Kampff-Test stieß an seine Grenzen. Deckard hatte dokumentiert, wie viele Fragen in anspruchsvollster Kreuzkombination er Rachael stellen musste, um sie ihrer wahren Identität zu überführen – es war mehr oder weniger Glück gewesen, dass die Frage mit dem gekochten Hund sie überführte. Der alte Tyrell schien sich darüber köstlich amüsiert zu haben; darüber, Replikanten geschaffen zu haben, die äußerlich und im Hinblick auf ihr messbares Verhalten vom Menschen kaum noch unterscheidbar waren. Die Grenzen zwischen Mensch und Ma- 105 – Blade Runner 2 – Akt 1 – schine waren verwischt worden10. Gewissermaßen hatte Tyrell später aber den Preis dafür gezahlt. Beseelt von einem beinahe menschlichen Wunsch nach Leben, war dieser Roy Batty in seinen über der sterblichen Welt thronenden Technologietempel eingebrochen. Er hatte nach einer Möglichkeit verlangt, seine Existenz zu verlängern. Da Tyrell ihm diesen Wunsch nicht erfüllen konnte, hatte Batty seinen Schöpfer getötet – kaltblütig und äußerst pervers ermordet, indem er ihm die Augen in den Schädel drückte. McCoy hatte noch nie von Replikanten gehört, die derart sadistisch töteten. So mordeten nur Menschen, und zwar die von der schlimmsten Sorte. Nicht einmal den Genetikdesigner J.F. Sebastian, der ihm noch geholfen hatte, die Tyrell Corporation zu betreten, hatte Batty am Leben gelassen. Ganz zu schweigen von den zwei Dutzend 10 Einige munkelten hinter vorgehaltener Hand, Tyrell habe den Prototypen namens Rachael Francis nur deshalb entwickelt, um den Voight-Kampff-Test zu unterwandern – und so sein Ziel zu erreichen, Replikanten auf der Erde einzusetzen, ohne dass man sie ohne weiteres noch erkennen konnte. Das waren aber nur Verschwörungstheorien. Die Corporation war darauf angewiesen, dass Replikanten in aller Öffentlichkeit arbeiten konnten, alles andere unterlief ihr Geschäftsmodell. 106 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Personen, die er und seine Bande auf dem Gewissen hatten, seit sie ihren kleinen Ausbruch auf Olympus inszenierten und einen Pendler kaperten. McCoy glaubte, die Dinge sehr klar zu sehen: Mit diesen neuen ‚Hautjobs‘ war ein Geist aus der Flasche gelassen worden, der sich nicht wieder ohne weiteres einfangen ließ. Nexus-6er gab es erst seit einigen Jahren, aber sie verbreiteten sich rasend schnell auf den Kolonien. Rachael und Batty waren die neuesten Modelle gewesen, gewissermaßen die Speerspitze der Replikantenevolution mit einem bislang unerreichten Grad an Intelligenz, emotionalem Entwicklungspotenzial und Unabhängigkeit. Und sie schienen eine ganz neue Bedrohungslage für die Menschheit zu bedeuten. Eigentlich müsste die Politik diesen Konzern mal an die kürzere Leine nehmen. Wenn McCoy ehrlich war, wusste er, dass das illusorisch war. Die Tyrell Corporation hielt ein gigantisches, extrem verzweigtes Industrieimperium, an dessen Tropf die globale Wirtschaft hing – und weit darüber hinaus. Sie besaß sämtliche Druckmittel, die sie brauchte. Verschärfte Gesetze in Bezug 107 – Blade Runner 2 – Akt 1 – auf die Herstellung und Verwendung neuer Replikantenmodelle waren nicht zu erwarten. Man würde es auf die Blade Runner abwälzen, die mal wieder zusehen konnten, wie sie die Scheiße ausbadeten. Tyrell hatte sich in aller Seelenruhe darauf verlegt, in seinen Pyramiden Gott zu spielen, und die Welt war der Gekniffene. Es gab ein Sprichwort unter den alten Hasen der Rep-Detect-Departments: Was passiert einem Replikanten, wenn er falsch geparkt hat? – Er wird aus dem Verkehr gezogen. Dieses Sprichwort wahr werden zu lassen, würde nach Lage der Dinge in Zukunft eine größere Herausforderung werden als bislang. McCoy seufzte, verließ seinen Schreibtisch und kehrte in die Küche zurück, wo er sich etwas Bourbon nachgoss. Draußen schüttete es wie aus Kübeln, und blaue Blitze verästelten sich über der Stadt, gefolgt von Donnergrollen. Das übliche Sauwetter. McCoy schaltete den 24 Stunden in L.A.Nachrichtenkanal ein und lauschte den Neuigkeiten. Nach den vielen Streifen und unregelmäßigen Dienstplänen hatte er seine Allgemeinbildung in letzter Zeit stark ver108 – Blade Runner 2 – Akt 1 – nachlässigt. Er war kaum noch auf dem Laufenden. [Während seiner letzten Wahlkampfveranstaltung versprach Gouverneur Colwig, kühne und neue Pläne zum Schutz der Stadt in die Tat umzusetzen. Nachdem das Justizministerium einen Anstieg der gewalttätigen Straßenkriminalitätsdelikte um schwindelerregende sechsundzwanzig Prozent gegenüber dem Vorjahr einräumen musste, sagte Colwig, er führe diese dramatische Zunahme auf die wachsende Zahl der ‚Sonderfälle‘ zurück – halblegale Migranten, die sich in den Randbezirken der Stadt ansiedeln. Colwig versprach im Fall seiner Wiederwahl die rasche Einführung härterer Bedingungen bei den Zuwanderungsgesetzen der Stadt innerhalb der nächsten sechs Monate. Zudem wolle er in den schwer betroffenen Randgebieten den hochgiftigen Müll beseitigen, den sogenannten Kippel. Nun, wie weit fortgeschritten sind diese Pläne? Wir sprachen mit dem Gouverneur kurz vor seinem wöchentlichen Treffen mit dem Stadtrat. ‚Unsere Studien haben gezeigt, dass die Auswirkungen des Kippels auf Los Angeles 109 – Blade Runner 2 – Akt 1 – sehr gering sind. Sowohl der radioaktive als auch der giftige Müll konzentriert sich auf relativ kleine Bereiche, und das einige Meilen vom Stadtzentrum entfernt. Ich bin allerdings der Meinung, dort draußen aufzuräumen, wäre ein lohnendes Ziel. Vor allem in Anbetracht der Abertausenden von ‚Sonderfällen‘, die am Stadtrand leben. Im Augenblick kann ich nur so viel sagen: Wir prüfen verschiedene Möglichkeiten und Vorschläge. Und ich bin sicher, dass unser endgültiger Beschluss zur Zufriedenheit aller sein wird.‘] Der Kippel ja, natürlich. Die Sache hatte Tyrell in den letzten Monaten umgetrieben. Er hatte ein neues Geschäftsmodell gewittert: Replikanten den hochgiftigen Abfall beseitigen zu lassen, der sich um L.A. herum auftürmte. Doch dazu bedurfte es einer veritablen Gesetzesänderung – Replikanten müssten in bestimmten Arbeitsbereichen auf der Erde zugelassen, das generelle Verbot ein Stück gelockert werden. Es war eines der letzten Tabus gewesen, gegen das sich Colwig und die Politik vehement wehrten, egal, was Tyrell unternahm. Und jetzt, da er tot war, standen die Chancen, dass in ab- 110 – Blade Runner 2 – Akt 1 – sehbarer Zeit Reps auf der Erde eingesetzt werden durften, gleich Null. Gut so! [Nun zu einer weiteren wichtigen Meldung. Die anonymen Befreier der CobaltinErzschürfungsmine auf Ganymed stehen seit gestern Abend fest. Bekannt hat sich die auf der Erde inzwischen verbotene Organisation CARS – Bürgerarmee gegen die Replikantensklaverei. CARS gilt als militantanarchistischer Arm der ReplikantenFreiheitsbewegung, obwohl ihr Anführer, Spencer Grigorian, in öffentlichen Statements immer wieder entschieden dementiert, dass eine wie auch immer geartete Verbindung besteht. Seit Beginn des letzten Jahres ist CARS für die gewaltsame Erstürmung von vier industriellen Arbeitszentren auf verschiedenen Kolonien verantwortlich, in denen Replikanten eingesetzt werden. Im Zuge dieser illegalen Aktionen kamen wenigstens achtzehn Industriearbeiter auf freien Fuß, die im Anschluss unter großem Aufwand von Blade Runnern gejagt und zur Strecke gebracht werden mussten. Der letzte Angriff von CARS hat sowohl die Politik als auch die Sicherheitsbehörden 111 – Blade Runner 2 – Akt 1 – aufgeschreckt. Die selbst erklärten ‚menschlichen Sympathisanten des künstlichen Lebens‘ haben unter Beweis gestellt, dass sie inzwischen über mächtige Waffen wie außerplanetare Schnellfeuerblaster, EnderGewehre und Photonen-Granaten verfügen. Und noch mehr als das: Sie bewaffnen die von ihnen befreiten Replikanten und helfen ihnen, sich zu verstecken. Vor wenigen Stunden hat die Chefin der New Yorker Blade Runner-Einheit, Samantha Davenport, die jüngsten Geschehnisse auf Ganymed zum Anlass für einen Vorstoß in eigener Sache genommen. Davenport hat sich dafür ausgesprochen, angesichts der nicht mehr tolerierbaren Bedrohung für die öffentliche Sicherheit, die inzwischen von CARS ausgehe, die Blade Runner nicht nur auf Replikanten, sondern auch auf Anhänger dieser extremistischen und fehlgeleiteten Organisation Jagd machen müssten. Wer mit Replikanten sympathisiere, für den dürfe es weder Nachsicht noch Gnade geben…] Es klingelte. McCoy schaltete das Radio ab und ging zur Tür. Es war Gaff. Der Kerl sah fast noch etwas übellauniger aus als sonst, 112 – Blade Runner 2 – Akt 1 – was gewiss mit dem Umstand zu tun hatte, dass McCoy ihn um diese unselige Stunde zu sich gebeten hatte. Er sollte gefälligst dankbar sein. So bekommt er wenigstens mal ein bisschen Abwechslung als ständig wie ein Untoter durchs Präsidium zu laufen. Gaff. Es hatte ihn schon gegeben, lange bevor McCoy zu Bryants Team stieß. Seine strahlend blauen Augen, grell und kalt wie ein Aquamarin, waren unglaublich durchdringend. Sie schienen ständig alles und jeden genauestens zu sondieren. Es war, als suche dieser Typ nach Zielen. Gaff war extravagant und eitel, was nicht nur sein Bart, sondern auch sein skurriler Modegeschmack dokumentierten. Sein Look erinnerte an einen wohlhabenden lateinamerikanischen Drogendealer. Vor allem aber wirkte er schlau und verschlagen. Heute nahm er eine Sonderrolle in der Blade Runner-Einheit ein. Vor ein paar Jahren, hatte McCoy sich erzählen lassen, war er im Kampf mit einem Rudel ‚Hautjobs‘ schwer verletzt worden. Ungefähr die Hälfte der Knochen in seinem Körper waren von den Schweinehunden zer113 – Blade Runner 2 – Akt 1 – trümmert worden, bevor Verstärkung anrückte und ihnen das Licht ausknipste. Gaff hatte sich hartnäckig zurück nach oben gekämpft, doch trotz aller Bemühungen der Ärzte trug sein linkes Bein bleibenden Schaden. Seitdem benutzte er den goldenen Stock, machte – nicht zuletzt dank seiner vielfältigen Beziehungen und seines Sprachtalents11 – Hintergrundarbeit für Bryant und sorgte dafür, dass die anderen tunlichst ihre Arbeit machten. In der Regel wusste niemand so genau, womit sich Gaff gerade beschäftigte. Er war ein Geheimniskrämer erster Güteklasse und schien immer mehr zu wissen, als er preisgab. Eines war aber klar: Mit ihm nicht gut zu stehen, bedeutete, dass man nicht lange im Rep-Detect-Department überlebte. Wenn er den Daumen senkte, waren Hopfen und Malz bei Bryant verloren. Angeblich hatte Gaff schon so manchen Neuling vom Hof gejagt, aber solche Dinge wusste man lieber 11 Gaff war ein Meister des sogenannten Cityspeak, einer wilden Mixtur aus Japanisch, Spanisch, Chinesisch, Ungarisch, Koreanisch, Englisch, Deutsch und Französisch, die nicht nur in L.A., sondern in zahlreichen Metropolen der Welt zu einer Art Global-Village-Straßensprache geworden war. 114 – Blade Runner 2 – Akt 1 – nicht allzu genau, wenn man ebenfalls noch zu den jüngeren Jahrgängen bei der LAPD gehörte. „Ah, Gaff.“, sagte McCoy leicht übermelodisch. „Danke, dass Sie sich herbemüht haben.“ „Hätten wir das nicht über das Terminal besprochen können?“, fragte der Andere griesgrämig, trat ein und legte seinen nassen Hut auf einer nahe stehenden Kommode ab. „Ich hoffe, es ist wichtig.“ McCoy schloss die Wohungstür. „Na ja, für mich schon. Denke ich.“ „Denken Sie?“, wiederholte Gaff und maß ihn mit skeptischem Blick. „Nicht gerade eine überzeugende Antwort für einen Blade Runner.“ Wieder mal gab er den harten Hund. „Denken hat noch nie geschadet, würde ich sagen.“, konterte McCoy. Gaff schüttelte andeutungsweise den Kopf und gab sein dünnes, vielwissendes Lächeln zum Besten. Es war ein eisiges Lächeln. Wenn er einen so ansah, wurde einem das 115 – Blade Runner 2 – Akt 1 – überdeutliche Gefühl zuteil, dass er Trümpfe gegen einen in der Hand hielt, von denen man nicht einmal etwas ahnte. Seinen intriganten Intellekt zu unterschätzen, wäre töricht gewesen. „Ein Blade Runner denkt nicht.“, stellte Gaff klar. „Er handelt…und zwar wie eine Naturgewalt und zugleich mit tödlicher Präzision. Wenn Sie das nicht beherzigen, sind Sie falsch in diesem Geschäft, Freund.“ Erinnert mich schwer an Steeles Bauchgefühlgelaber, nur etwas stilvoller ausgedrückt., dachte McCoy und verkniff sich jegliche Gegenrede. „Werd’s mir merken.“ McCoy führte Gaff in die Küche, wo er ihn bat, auf einem der Hocker vor dem kleinen Tresen Platz zu nehmen. „Also, worum geht es?“, wollte der gebürtige Mexikaner wissen und faltete die Hände. „Ähm… Wollen Sie ‘was trinken?“ „Damask-Tee.“ „Sorry, damit kann ich leider nicht dienen. Hab‘ nur Hochprozentiges da.“ 116 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Gaff verdrehte angewidert die Augen. „Dann nichts.“ Er war ein Ganz-oder-garnicht-Typ. McCoy verzichtete darauf, sich ein neuerliches Glas Whiskey zu genehmigen; er hatte bereits zu viele gehabt. Stattdessen setzte er sich neben Gaff auf den anderen Hocker. „Sagen Sie…“, räusperte er sich. „Sie hatten doch als letzter Kontakt mit Deckard. Sie waren auf dem Dach des BradburyGebäudes.“ Gaff nickte knapp. „Wenn ich mir die Frage erlauben darf: Was haben Sie dort oben mit ihm besprochen?“ Gaff sah zum Fenster hinaus, als ein greller Blitz aufzuckte, wandte sich dann mit einem Gespür für Dramaturgie zu McCoy und wartete den Donner ab, ehe er antwortete. „Das kann ich Ihnen sagen: Ich habe ihn gefragt, ob er seinen Job erledigt hat. Sie wissen doch, wie ungeduldig unser Chef wegen dieser frei herumlaufenden Reps war. Es sei denn, Sie haben nicht aufgepasst. Das wäre allerdings schlecht.“ 117 – Blade Runner 2 – Akt 1 – McCoy legte den Kopf an. „Und was lief sonst noch so mit Deckard?“ „Nichts. Es lief überhaupt nichts. Er hat bestätigt, was ich vermutete, und ich bin wieder gefahren, um Bryant Bescheid zu geben.“ „Ist Ihnen irgendetwas an ihm aufgefallen?“ „Aufgefallen?“ „Ja, irgendetwas Merkwürdiges.“ Gaffs ernster Blick glitt kurzzeitig ab, bevor er wieder zu McCoy zurückkehrte. „Er wirkte urlaubsreif. Ja, er sah verdammt fertig aus, um’s genau zu sagen. Kommt nicht alle Tage vor, dass man so viele hochkarätige ‚Hautjobs‘ auf einmal erledigt. Davon können Sie sich ‘ne Scheibe abschneiden.“ „Ja, sicher.“ Mit einem spitzbübischen Ausdruck lächelte McCoy den Umstand weg, dass er bislang zwar eine ansehnliche Zahl anderer Delikte mit durchaus großem Erfolg bearbeitet hatte, aber mit Reps war er bis zum heutigen Tag noch nicht in Berührung gekommen. Was, wie sich von selbst 118 – Blade Runner 2 – Akt 1 – verstand, in einer Rep-Detect-Einheit früher oder später zum Problem wurde. Deswegen hatte Bryant vermutlich auch gehandelt, indem er McCoy Guzzar zugeteilt hatte. Zweifellos war sein Chef darauf aus, ihm seine Rep-Jungfräulichkeit zu nehmen. Was McCoy anging, konnte er es kaum erwarten. Er hoffte nur, dass die draufgängerische Steele ihm das Ganze nicht vermasselte oder alle Lorbeeren für sich einheimste. Lediglich der Gedanke, jetzt einen Blade Runner verfolgen zu müssen – und obendrein nicht irgendeinen, sondern noch dazu Deckard –, hatte das Potenzial, McCoy den Appetit auf den bevorstehenden Einsatz einigermaßen zu verderben. Aber das war nun einmal die Realität. Die Welt hatte schon lange aufgehört, einem alles recht zu machen. Man musste eben sehen, wo man blieb. Deckard trug seine Verantwortung. Er hatte seine Entscheidung getroffen, als er mit der Replikantin das Weite suchte. Zweifellos hatte er gewusst, dass er auf der Abschussliste seiner alten Abteilung ganz oben landen würde. 119 – Blade Runner 2 – Akt 1 – „Noch was.“, meinte McCoy nach kurzer Pause, griff zu seinem nahe liegenden Diensttablet und öffnete eine Bilddatei, welche er Gaff vorlegte. „Wir haben inzwischen eine Kameraaufzeichnung von der Verkehrskamera vor Deckards Wohnhaus. Sehen Sie, darauf sind beide zu erkennen.“ „Ja, und?“ McCoy umrahmte mit dem Finger einen Bildausschnitt, woraufhin dieser in mehreren Zoomschritten vergrößert wurde. „Mir ist aufgefallen, dass Deckard eine Waffe bei sich trägt.“ Gaff sah den Punkt nicht. „Wollen Sie mich verarschen, McCoy?“, fragte er. „Seit wann ist es ungewöhnlich, wenn ein Cop ‘ne Waffe trägt?“ „In diesem Fall ist es ungewöhnlich.“, beharrte McCoy. „Officer Debol fand in den Tiefen des Bradbury-Gebäudes einen Blaster. Und zwar den, der auf Deckards Dienstnummer registriert ist. 26354. Debol hat ihn mitgenommen. Liegt jetzt unter Verschluss im Department.“ 120 – Blade Runner 2 – Akt 1 – „Die Waffe, mit der er versucht hat, Batty zu erschießen.“, raunte Gaff und strich sich über den schwarzen Schnäuzer. „Vermutlich. Ich schätze mal, Batty hat sie ihm aus der Hand geschlagen, oder sie ist ihm auf anderem Weg verloren gegangen. Aber eines frag‘ ich mich: Wenn wir seine eigentliche Dienstwaffe bei uns im Labor haben – welche Waffe trägt er jetzt mit sich herum?“ Gaff zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen? Er muss eine Ersatzwaffe gehabt haben. Wahrscheinlich irgendwo in seiner Wohnung. Oder er hat sie aus dem Präsidium mitgehen lassen.“ „In diesem Fall könnten Deckards Anklage einen weiteren Punkt hinzufügen. Illegaler Waffenbesitz. Ach so, und das illegale Anzapfen des Großrechners und das Herunterladen von Rachaels streng geheimer Akte kommt auch noch dazu.“ „Kleinvieh macht auch Mist.“, kommentierte Gaff sardonisch. 121 – Blade Runner 2 – Akt 1 – „Apropos: Wo ist eigentlich Ihr Blaster?“ Schon beim Hereinkommen war McCoy der leere Holster an Gaffs Gürtel aufgefallen. „Wurde mir abgezogen von so einem findigen Schlitzauge in der Animoid-Allee. Verdammte Kleptomanen. Bryant weiß schon Bescheid.“ „Verstehe.“ McCoy verschränkte beide Arme. „Sagen Sie, Gaff, wie lange kennen Sie Deckard eigentlich schon?“ Er saß da wie eine bedrohliche Statue. Wie ein Golem, der gleich zum Leben erwachte. „Wozu die Frage?“, fragte er, ohne auch nur zu blinzeln. Gaff konnte es nicht leiden, wenn man ihn mit Fragen löcherte, das war keine große Überraschung. „Ich hab‘ zwar viel von ihm gehört, bin ihm aber nie wirklich begegnet.“ McCoy machte eine etwas unkommode Geste, fuchtelte mit der Hand in der Luft. „Ich muss mich mit ihm etwas vertraut machen.“ „Da gibt es nicht viel, womit man sich vertraut machen muss.“ Gaff gab einen verächtlichen Laut von sich, senkte die Lider auf Halbmast und schob das Kinn vor. „Un122 – Blade Runner 2 – Akt 1 – ter uns gesagt: Ich hasse Deckard. Ich habe ihn immer gehasst. Sogar noch mehr als Guzzar und seine vorlaute Klappe.“ Und das will ‘was heißen., dachte McCoy beeindruckt. „Deckard mag jahrelang den Topscore der abgeknallten Reps angeführt haben, aber dafür hat er mit seiner Art die halbe Abteilung durcheinander gebracht. Hat sich mit jedem angelegt, auch mit Bryant. Er kann sich nicht unterordnen. Deshalb ist er am Ende auch gegangen. Ich war heilfroh darüber.“ Gaff leckte sich die Lippen. „Dass er eines Tages mit seiner rebellischen Ader wieder für Ärger sorgen würde, hab‘ ich immer gewusst. Die Frage war nur, wo und wann. Mich wundert nicht, was jetzt geschehen ist. Das musste früher oder später passieren. Wenn Sie mich fragen: Es war ein Fehler, dass Bryant ihn zurückgeholt hat. Ich war immer dagegen. Aber wollte er auf mich hören? Und das müssen wir jetzt alle zusammen ausbaden.“ [McCoy, kommen, hier ist Guzzar.] Reflexartig fingerte McCoy seinen Dienstkommunikator hervor, ein kompaktes, klei123 – Blade Runner 2 – Akt 1 – nes Gerät mit einer kaum überschaubaren Vielzahl von Funktionen. „McCoy hier.“, sprach er hinein. [Gute Neuigkeiten, Kleiner.] Guzzars Stimme klang beinahe triumphal. [Wir sind Deckard auf den Fersen, und zwar so was von… Er wurde am LAX gesichtet. Zieh’n Sie sich ‘was an und machen Sie sich auf’n Weg. Wir sehen uns in einer halben Stunde am Flughafen.] Als Guzzar den Kanal schloss, schaute McCoy in Gaffs blitzende, schakalgleiche Augen. „Guzzar scheint ‘ne persönliche Rechnung mit Deckard offen zu haben. Wissen Sie, worum es dabei geht?“ „Stellen Sie sich vor: Das hab‘ ich schon wieder vergessen. Und jetzt: Gehen wir.“, sagte er bloß. 124 – Blade Runner 2 – Akt 1 – # 125 – Blade Runner 2 – Akt 1 – 08 Anna Tyrell stand vor der gewaltigen Fensterfront im Konferenzsaal des TyrellKomplexes. Es war jener Ort, an dem ihr Onkel sich des Öfteren aufgehalten hatte. Eldon hatte den Raum geliebt und die ehrfurchtgebietende Atmosphäre, die er verströmte. Alles war hier sorgsam inszeniert worden, um Besucher zu beeindrucken. Die tempelhafte Anmutung mit den massiven Säulen, die hoch aufragende Decke, der dunkle, leicht spiegelnde Marmorboden, die spartanisch-klassische Einrichtung mit dem lang gezogenen Besprechungstisch, das Panorama mit der zweiten Pyramide, nicht zu vergessen die künstliche Eule. Zu höchst offiziellen Anlässen und in informellen Zirkeln hatte Eldon hier mit Gästen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zusammengesessen. Gelegentlich auch mit Vertretern der 126 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Sicherheitsbehörden wie jüngst diesem Blade Runner – Rick Deckard –, der wenig später abtrünnig geworden war und Rachael gestohlen hatte. Er würde für sein Vergehen bezahlen, früher oder später. Die trüben Strahlen der Sonne streiften Annas Gesicht – ein zarter Hauch, kaum spürbar auf der Haut –, während sich unter ihr die Häuserschluchten L.A.s erstreckten. Jedes Mal, wenn sie dieses Licht vernahm, war sie sich ganz und gar des enormen Privilegs bewusst, in dessen Gunst sie kam. Heute war es nicht anders. Eines Tages, sagte sie sich, werden unsere technologischen Fähigkeiten genügen, um die Sonne zurückzuholen – für alle Menschen. Die Lebensqualität wird unglaublich steigen. Und dieser Konzern wird dabei eine maßgebliche Rolle spielen. Überhaupt war Anna der Meinung: Wenn die Tyrell Corporation die Politik unmittelbar gestalten könnte und nicht auf Umwegen Einfluss nehmen müsste, hätte sich vieles schneller und vor allem besser entwickelt, im Interesse der ganzen Menschheit. Politiker waren ein zähes Pack. Sie interessierten sich in erster Linie dafür, wer ihre 127 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Wahlkampagnen finanzierte und schlugen sich allzu oft mit Skandalen in den Medien herum. Dreiviertel ihrer Zeit ging auf Imagepflege, öffentliches Gefasel, Parteigerangel und Symbolpolitik, was allesamt vollkommen belanglos war. Gleichzeitig konnte man dem Fachverstand der meisten Politiker nur ein Armutszeugnis ausstellen. Demokratie. Eine zutiefst ineffiziente Art, regiert zu werden. Stattdessen, fand Anna, müsse man sich von der Wissenschaft leiten lassen. Und die Tyrell Corporation hielt nun mal den Gral der Wissenschaft. Nebenbei verstand sie es, profitabel zu sein, wirtschaftliche Lösungen zu suchen, Märkte zu schaffen. Sie vereinte das Beste aus verschiedenen Welten, und mehr brauchte die Erde nicht, um von ihrer derzeitigen Krankheit zu genesen. Anna konzentrierte sich wieder aufs Hier und Jetzt. Sie bemühte sich darum, ihre Gedanken zu ordnen. Nach dem, was sie kürzlich erfahren hatte, half ihr der prächtige Ausblick aus dem Konferenzsaal dabei, einen klaren Kopf zu finden. Er hatte etwas Beruhigendes. Beruhigung war gut angesichts der Erkenntnisse, zu denen die Wis128 – Blade Runner 2 – Akt 1 – senschaftler in Abteilung siebenundvierzig gelangt waren. Vor einer halben Stunde hatte der Teamleiter ihr einen ausführlichen Bericht abgeliefert. Abteilung siebenundvierzig war von ihr damit beauftragt worden, den vom Dach des Bradbury-Gebäudes geborgenen und nun leblosen Batty auseinanderzunehmen und ausführlich zu studieren. Anna hatte wissen wollen, was dazu geführt hatte, dass Batty sich zum Anführer einer kleinen Privatrebellion aufschwang, unter hohem Risiko bis in die Hallen der Schöpfung zurückkehrte, um dort brutalen Mord an seinem Erschaffer zu begehen. Sie hatte keine genaue Vorstellung davon gehabt, wonach die Biosynthetiker und Implantationsexperten suchen sollten – jeder Hinweis mochte wichtig sein. Wenn die Gefahr bestand, dass die neuesten Nexus-6er einen Hang zum Revoluzzertum entwickeln konnten, wenn es eine Anfälligkeit gab, dass sich vielleicht weitere von ihnen eines Tages zur Erde aufmachten, um in den Konzern einzudringen oder schlicht Terror zu verbreiten, so musste 129 – Blade Runner 2 – Akt 1 – frühzeitig vorgesorgt werden12. Im schlimmsten Fall würde die komplette Produktionslinie zurückgerufen und über neue Maßnahmen der Kontrolle nachgedacht werden müssen. Eine Rückrufaktion würde jedoch enorm kostspielig werden, und Anna sah bereits die Schadensersatzforderungen, mit denen die Erschließungs- und Bauunternehmen auf den Kolonien die Tyrell Corporation überzogen. Dem Aktienkurs würde das nicht gut tun. Nein, wenn es einen Weg gab, dieses Worst-Case-Szenario zu verhindern, dann musste er ergriffen werden. 12 Immerhin hatte der bedauerliche Vorfall mit einer Nexus-6Kampftruppe vor mehreren Jahren erst zum generellen Verbot von Replikanten auf der Erde geführt. Damals war das Image der Tyrell Corporation angekratzt worden, nachdem sich Politiker und Medienleute das Maul darüber zerrissen, ob von den Replikanten nicht eine immense Bedrohung ausging. Zähneknirschend hatte Eldon Tyrell damals die Einführung neuer Gesetze auf der Erde akzeptiert. Zugleich hatte er sich geschworen, diese Gesetze überflüssig zu machen, indem er aller Welt bewies, dass die blutige Meuterei nur ein bedauerlicher Einzelfall gewesen war. Was nun kürzlich mit Batty und seinen Anhängern geschehen war, bedeutete in jedem Fall einen herben Rückschlag für die Bemühungen des Konzerns. Bryant war es nicht gelungen, die Angelegenheit diskret zu regeln; die Öffentlichkeit hatte Notiz davon genommen. Leute, die Replikanten als Gefahr ansahen, fühlten sich zweifellos in ihren Vorurteilen bestätigt, und die Politik reagierte auf derlei Stimmungen. 130 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Anna wollte sich einstweilen hoffnungsvoll geben, dass eine singuläre Erklärung für das gefunden werden konnte, was mit Batty geschehen war; etwas, das nachvollziehbar machte, warum er sich von Olympus auf den weiten, beschwerlichen Weg zur Erde begeben hatte. Die Kameraaufzeichnungen in Eldons Gemächern hatten belegt, was auch andere über Batty ausgesagt hatten, wie zum Beispiel der Subunternehmer Hannibal Chew in der DNA-Gasse, seines Zeichens Kreationist von Replikantenaugen. Augenscheinlich war es Batty um die Verlängerung seines Lebens gegangen ebenso wie des Lebens seiner Begleiter. Doch was in Himmels Namen führte einen Replikanten dazu, länger leben zu wollen? So etwas war noch nie vorgekommen. Irgendwo in Battys Innenleben musste die Antwort darauf verborgen sein. Anna war einigermaßen zuversichtlich gewesen, bald nicht mehr im Nebel zu stochern. Aber dann war der Teamleiter zu ihr gekommen und hatte sie mit bleichem Gesicht wissen lassen, was nachgerade unfassbar zu sein schien. Die Sache sei ihm ein Rätsel, fing der Mann an, nachdem sie ihm zur Be131 – Blade Runner 2 – Akt 1 – ruhigung eine Zigarette gereicht hatte. Es war ihm und seinen Leuten nicht gelungen, sich einen Zugang zum bioneuralen Prozessor und zum Erinnerungsspeicher zu bahnen. Anna hatte natürlich nach dem Grund hierfür gefragt. Offenbar, so der Teamleiter, waren beide Zentralkomponenten mit einem fraktalen Verschlüsselungsmechanismus versehen worden. Sie waren hochkomplex codiert und damit bis auf weiteres unzugänglich. Er habe eine derartige Chiffrierung noch nie gesehen. Battys Gedanken und Erinnerungsengramme blieben damit vorerst ein Geheimnis. Anna hatte erst einmal nach dem Wasserglas in ihrer Nähe gegriffen und mehrere große Schlucke genommen. Wie sei so etwas möglich, hatte sie gefragt. Replikanten waren doch nicht mit derartigen Fähigkeiten in die Welt gesetzt worden. Der Teamleiter hatte zunächst geschwiegen, war im Büro auf und ab gegangen wie ein nervöses Tier, und dann hatte er – in Ermangelung einer nahe liegenderen Erklärung – eine ziemlich verwegene Theorie geäußert. Mutation. Im weit kleinerem Maßstab sei so etwas schon vor einigen Jahren bei den 132 – Blade Runner 2 – Akt 1 – alten Nexus-5ern beobachtet worden, den ersten Produkten auf umfassender biosynthetischer Basis. Damals hatten einige Replikantenmodelle irgendwie gelernt, einzelne Prozesse in ihrem künstlichen Gehirn vor den Scannern der Ingenieure abzuschirmen. Wie eine Art Tarnmantel im Gehirn, beschrieb es der Teamleiter. Es waren nur zwei oder drei Fälle gewesen – kaum der Rede wert –, und bei den abgeschirmten Daten hatte es sich weder um Gedanken noch Erinnerungen gehandelt. Bei Batty war die Sache jedoch anders gelagert. Offensichtlich hatte er seine ursprüngliche Programmierung überwunden, Fähigkeiten entwickelt, die über seine physischen Parameter eindeutig hinausgingen. Die Analyse belegte es ohne jeden Zweifel: In seinem Hirn waren neue, bei Replikanten noch nie zuvor beobachtete Neuronen ausgebildet worden. Die gesamte Struktur der kognitiven Bahnen war verändert worden. Irgendwie musste dies mit der Fraktalverschlüsselung seiner Zentralkomponenten in Zusammenhang stehen. Was mit Batty geschehen war, war auf Grundlage der Konstruktion der Replikan133 – Blade Runner 2 – Akt 1 – tenanatomie nicht mehr erklärbar. Auch, wenn er sich viel mit Dingen wie DNSNeukombination und künstlichen neuronalen Netzen beschäftigt hatte, bezweifelte Anna, dass er zu einem solch dramatischen Umbau seiner eigenen Hirnfunktionen in der Lage gewesen wäre. Etwas Derartiges brachten doch nicht einmal seine Erbauer zustande. Es konnte also nicht bewusst vorgenommen worden sein. Nein, im Laufe seines Lebens hatte er – wie der Teamleiter sagte – irgendeine Mutation, eine Transformation, durchlaufen, die jetzt in der Tyrell Corporation für Erstaunen sorgte. Und für Probleme. Als wäre er mehr als die Summe seiner Teile., dachte Anna flüchtig und verwarf den Gedanken gleich wieder. Das war doch widersinnig. Replikanten mochten noch so weit entwickelt sein – sie waren industriell hergestellte Produkte. Jedes Teil, jede Komponente hatte eine Aufgabe, die klar umschrieben war. Es gab für alle eine Erklärung. „Wenigstens in einem Punkt kann ich aber für Klarheit sorgen, Ma’am.“, war der Teamleiter fortgefahren. „Aber da, fürchte ich, 134 – Blade Runner 2 – Akt 1 – sind wir genauso überrascht wie über die Fraktalverschlüsselung und die neu geknüpften Nervenbahnen. Unsere anfängliche Vermutung hat sich als falsch erwiesen: Batty ist nicht eines natürlichen Todes gestorben.“ „Aber seine Lebenszeit war doch beinahe aufgebraucht, als er den Pendler kaperte.“, wandte Anna verwirrt ein. Laut Akte war er zu diesem Zeitpunkt drei Jahre und zehneinhalb Monate alt gewesen. „Das ist korrekt. Trotzdem: Es ist kein übliches Systemversagen eingetreten. Offenbar hat er sich selbst abgeschaltet. Aus dem Betrieb genommen. Wie immer wir es nennen wollen.“ Absurd! Das war absurd. Ein Replikant war nicht in der Lage, sich selbst in den Ruhestand zu versetzen. So etwas lag weit außerhalb seines Vermögens. „Sie wollen mir sagen, es war eine Art Freitod? Wie soll das möglich sein?“, ächzte sie. „Durch einen Energieimpuls. Wir denken, ein massiver Nadionstoß führte in Sekundenschnelle zu einem biochemischen 135 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Schock. In ein paar Stunden werden wir hundertprozentig sicher sein.“ Anna konnte kaum glauben, was sie gehört hatte. „Er ist nur eine Maschine.“, hatte sie, beinahe etwas hilflos klingend, von sich gegeben. „Eine Maschine, die wir gebaut haben. Die wir bis in jede Einzelheit kennen. Er müsste für uns lesbar sein wie ein offenes Buch.“ Sie pausierte und schüttelte den Kopf. Dachte über das Gesagte nach. Zündete sich nun selbst eine Zigarette an. „Die Sache mit der fraktalen Verschlüsselung und dann dieser Nadionstoß, mit dem er seiner Existenz ein Ende setzte. Das kann kein Zufall sein. Er muss irgendwie Kontrolle über seine Körperfunktionen gewonnen haben – weit über das hinaus, was wir für möglich hielten.“ Sind die neuen Nexus-6er dabei, ein Eigenleben zu entwickeln?, fragte sie sich jetzt. Annas Blick führte hinauf zur Spitze der Pyramide, die vor ihr im Fenster aufragte. Dorthin, wo Eldons Gemächer gewesen waren. Wo er den Tod gefunden hatte. „Was würdest Du jetzt dazu sagen, Vater?“, fragte sie kaum hörbar. „Was würdest Du tun?“ 136 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Plötzlich kam ihr eine Eingebung. Vielleicht gibt es einen Weg, Antworten zu bekommen. Galloway. Eldon und er haben sich nicht gerade in bestem Einvernehmen getrennt, aber er könnte mir womöglich weiterhelfen. Immerhin war er ein Querdenker. Das hatte ihm seine Arbeit im Konzern zum Verhängnis gemacht, aber es war genau das, was sie jetzt benötigte. Anna fackelte nicht mehr lange. Sie musste nach Phobos. Sie würde sich selbst auf den Weg dorthin machen. Zusammen mit dem, was von Roy Batty übrig geblieben war. 137 138 – Blade Runner 2 – Akt 1 – – Blade Runner 2 – Akt 1 – 09 Das ambossförmige Passagierschiff glitt mit euphemistischer Gelassenheit der zerklüfteten Oberfläche des Mondes entgegen – ein riesiger, pockennarbiger, hellgrauer Ball, dessen Anblick längst vom Himmel L.A.s verschwunden war. Menschen früherer Epochen, erzählte man sich, hatten oft ein verquollenes Gesicht erblickt, wenn sie den Mond betrachteten, das sogenannte Mondgesicht. Eigentlich hatte dieser Eindruck nichts mit der Laune des Trabanten zu tun, sondern mit Maren: rasch abfallende Tiefebenen, welche einst mit Lava gefüllt waren. Seit mit Neil Armstrong der erste Mensch ihn betreten hatte – in einer Epoche namens Kalter Krieg, da ihm nur der Status eines öden Felsbrockens mit Prestigecharakter beigemessen worden war –, war der Mond nachhaltig in seinem Wert für die Menschheit gewachsen. Es lag am reichhal139 – Blade Runner 2 – Akt 1 – tigen Helium-3-Vorkommen, das Mitte des 21. Jahrhunderts entdeckt worden war. Helium-3 hatte für die nach Ressourcenraubbau, Drittem Weltkrieg, Klima- und Umweltkatastrophen völlig ausgeblutete Erde die Rettung bedeutet. Es war das neue Öl, Schmiermittel der Weltwirtschaft. Mit der richtigen Raffinierung ließ sich damit der Energiehunger ganzer Megametropolen decken. Die Bergbaukolonie war bereits aus größerer Entfernung klar und deutlich zu erkennen. Sie saß wie ein großer Tumor auf der Mondoberfläche, ihre Form grotesk und buckelig. Gewaltige Schlote, Industriekomplexe und Atmosphärenkuppeln türmten sich in die Höhe. Es gab Lastenaufzüge, die über zig Kilometer in die Kreisbahn fuhren, bis zum unteren Ende jener pilzförmigen Raumstation, von der das raffinierte Helium-3 in Richtung Erde abtransportiert wurde. Das hellste Licht ging aber nicht von der Kolonie oder der darüber gelegenen Station aus, sondern von den Grabungsstätten – Mondlandschaften in der Mondlandschaft. Hier arbeiteten ohne Unterlass Dutzende 140 – Blade Runner 2 – Akt 1 – von Minenmaulwürfen; gewaltige, gefräßige Maschinen, die wie Kegel mit abgeschnittener Spitze aussahen. An der Unterseite war ein massiver Kranz von Plasmatriebwerksdüsen angebracht, die vor allem als Bohrer dienten. Diese Plasmabrenner konnten mit jedem nur denkbaren Material fertigwerden. Mit ihrer Hilfe wurde das Gestein zertrümmert, das kostbare Helium-3 freigelegt und dann eingesammelt. Die Minenmaulwürfe waren zum Einsatz an der Oberfläche ausgelegt. Hier war es noch am dankbarsten, Helium-3 abzuernten. Die wirklichen Knochenjobs fanden kilometertief in der Kruste des Mondes statt, wo vier Fünftel des energiedeckenden Rohstoffs lagerte. Die Arbeitsbedingungen auf dem Mond galten als besonders hart. Der Lohn fiel mager aus, und der Gesundheitsschutz war so gut wie gar nicht vorhanden. Die armen Schweine, die hier ihre Tage zubrachten, waren überwiegend Saison- und Zeitarbeiter. Vermutlich waren die meisten von ihnen trotzdem froh und dankbar, Jobs zu haben, mit denen sie ihre Familien auf der Erde ernähren konnten. Die Geißel der 141 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Massenarbeitslosigkeit und der weitgehende Zusammenbruch der Sozialsysteme hatten selbst aus tagelöhnenden Mondarbeitern durchaus beneidenswerte Leute gemacht13. Rick Deckard hatte dem Panorama des anschwellenden Mondes in der Cockpitscheibe keine sonderliche Beachtung geschenkt. Stattdessen hatte er seine Aufmerksamkeit dem kleinen Tablet auf seinem Schoß gewidmet. Er hatte das Gerät kurz vor ihrem Abflug am LAX erstanden. Sie saßen in einer der hinteren Reihen des Passagierbereichs, wo viele Sitze unbelegt waren. Flüge zum Mond gehörten nicht unbedingt zu den beliebtesten Reisen. Rachael hatte den Kopf gegen seine Schulter gelehnt und die Augen geschlossen. Währenddessen hatte sich Deckard weiter durch das Interstellar-Net gewühlt, hatte Schlagworte eingegeben, digitale Zeitungsartikel und dergleichen mehr durchforstet. Er war recht zufrieden mit seinen Fortschritten. Nun hob er den Kopf und schaute für einen Moment aus dem bullaugenförmigen Fenster. Der Mond, dachte er sich, würde 13 Replikanten durften auf dem Mond nicht eingesetzt werden, da dieser dem auf der Erde geltenden Recht unterlag. 142 – Blade Runner 2 – Akt 1 – nur eine Zwischenstation bleiben. Er war viel zu nah an der Erde, und dort waren die Möglichkeiten, sich vor Bryant und seinen Bluthunden zu verstecken, äußert überschaubar. Trotzdem bereute Deckard nicht, dass sie einen Direktflug zum Mond genommen hatten. Je verschlungener und kleinteiliger ihre Route war, desto besser. Sie gewannen dadurch an Unberechenbarkeit. Das nächste Ziel stand bereits fest, ehe sie die Luna-Kolonie überhaupt betreten hatten: Sie würden einen weiteren Flug chartern und den Mars ansteuern. Erst von dort bot sich voller Zugang zum weit verzweigten Transportnetzwerk in beinahe alle Koloniewelten. Die etwas übermelodische Stimme der Stewardess drang aus dem Lautsprecher: [Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten beginnen wir mit unserem Landeanflug auf den Raumhafen der Mondkolonie. Wir bitten Sie, sich wieder auf Ihre Plätze zu begeben und sich anzuschnallen…] Aufgeweckt von der Durchsage, zuckte Rachael zusammen, und ihr Kopf fuhr nach oben. Deckard betrachtete sie. Sie hatte sich 143 – Blade Runner 2 – Akt 1 – dazu entschlossen, ihr lockiges Haar offen zu tragen, um weniger Ähnlichkeit mit ihrem früheren Selbst zu haben und so eine Detektion zu erschweren. Ein Schuss Rot lag auf ihren Wangen. Sie war wirklich wunderschön. Sie rieb sich die Augen. „Hab‘ ich lange geschlafen?“ „Höchstens ein paar Minuten.“, erwiderte er und schenkte ihr ein schmales Lächeln. „Ich glaube, ich weiß jetzt, wo wir hinfliegen können.“ „Und wohin?“ „Ich hab‘ ein wenig recherchiert, nachdem ich mich an etwas erinnert hab‘. An jemanden, der mal in L.A. gearbeitet hat.“ „Für Tyrell?“ „Mhm.“ Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. „Deckard, ich glaube, das ist keine so gute Idee –…“ „Ist nicht so, wie Du denkst.“, unterbrach er sie. „Er hat alle Brücken zu Tyrell abge144 – Blade Runner 2 – Akt 1 – brochen, schon vor vielen Jahren. Er hat sich der Replikanten-Freiheitsbewegung angeschlossen.“ Deckard erntete ihr verblüfftes Blinzeln. Personen, die dieser Bewegung angehörten, wurden auf der Erde wie Aussätzige behandelt. „Der Typ heißt Liam Galloway. War früher mal Subunternehmer in der DNA-Gasse, so wie Sebastian, Chew, Moraji und all die anderen. Sein Schwerpunkt war das Zentralnervensystem. Ist vor einer Weile nach Phobos gezogen. Frag mich nicht, warum gerade auf diesen öden Felsklotz. Vermutlich wollte er seine Ruhe haben.“ Deckard unterschlug, dass er an einem Punkt in der Vergangenheit auch persönlich mit Galloway zu tun gehabt hatte. Sie waren aneinandergeraten, ziemlich heftig sogar. Dann hatte er ihn aus den Augen verloren, seine Spuren hatten sich verflüchtigt. Jetzt konnte er nur auf das Prinzip Hoffnung setzen. Er wollte daran glauben, dass die Zeit Wunden heilte. Wenn Galloway ihn sah, würde er schnell erkennen, dass einige Dinge sich seit ihrer letzten Begegnung entscheidend geändert hatten. „Ich habe nie von ihm gehört.“ 145 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Deckard legte ihr eine Hand auf den Arm. „Vertrau mir. Phobos liegt für uns sowieso mehr oder weniger auf dem Weg. Wir werden uns ganz langsam an den Kerl herantasten. Ich verspreche Dir: Ich werde nicht auf Risiko spielen. Aber wenn die Chance besteht, dass er uns helfen kann, dann müssen wir es zumindest versuchen.“ Rachael nickte langsam nach anfänglichem Zögern. „Ich vertraue Dir…“ Dann verzog sie das Gesicht und fasste sich an die Schläfe. Sie sah äußerst besorgt aus. „Was beschäftigt Dich, Rachael?“ Sie sah so aus, als traue sie sich selbst nicht ganz über den Weg. „Ich hatte einen Traum. Einen wirklich merkwürdigen Traum. Er war…sehr real.“ „Willst Du mir davon erzählen?“ „Ich hatte ihn nicht zum ersten Mal. Aber mit jedem Mal wird dieser Traum…“ Sie kniff die Brauen zusammen. „Er wird intensiver. Ich kann mich besser an ihn erinnern, an manche Details. Das erste Mal hatte ich ihn, nachdem Du die Wohnung verlassen hattest und ich auf Deine Rückkehr gewartet habe.“ 146 – Blade Runner 2 – Akt 1 – „Was für ein Traum?“, wollte er wissen. „Ich glaube, ich stand direkt vor dem Bradbury-Gebäude. Das alte, verlassene Haus, in dem J.F. Sebastian gewohnt hat. Und das ist noch nicht alles. Jemand war bei mir.“ „Wer?“ Sie zögerte kurz. „Ich glaube, es war Roy Batty.“ Deckard schluckte schwer. Für eine Sekunde glaubte er, er hätte sie verhört. „Was sagst Du da?“, brachte er alarmiert hervor. „Dort ist er gestorben. Ich war dabei.“ Er hatte Rachael nie erzählt, dass sie dort miteinander gekämpft und was sich auf dem Dach des Hauses abgespielt hatte. Er hatte ihr nur eröffnet, dass Batty nicht mehr am Leben war, und sie hatte auch keine weiteren Fragen gestellt. „Ja, ich weiß, dass er dort gestorben ist.“ Gedanken durchzuckten ihn wie Stromschnellen. Wie kann sie das wissen? Niemand hat mit ihr gesprochen. Sie hatte 147 – Blade Runner 2 – Akt 1 – auch sonst keine Möglichkeit, an diese Information zu gelangen. Rachaels Blick schweifte ab. „Er hatte einen eigentümlichen, rötlichen Glanz in den Augen. Er sagte etwas. Irgendetwas…“ Rachael warf die Stirn in Falten. „Ich wünschte, ich wüsste noch, was es war. Auf jeden Fall hat er zum Himmel gezeigt. Was immer er wollte, ist irgendwo dort draußen. Zwischen den Sternen.“ 148 – Blade Runner 2 – Akt 1 – 149 – Blade Runner 2 – Akt 1 – 10 Sie saßen in einer Sitznische in einer der vielen heruntergekommenen Raumhafenbars auf dem Mond. Zurzeit trieben sich hier nur ein paar Durchreisende herum, die auf ihren Weiterflug warteten – genau wie sie auch. Rachael betrachtete die zähe, schleimige Substanz auf dem Teller vor sich, und ein skeptischer Ausdruck huschte über ihr Gesicht hinweg. Daraufhin schaufelte sie ein wenig der Masse auf den Löffel und schob diesen in den Mund. Sie schüttelte sich beinahe, als sie den Bissen herunterkämpfte. „Ich sag’s nur sehr ungern, Deckard.“ „Was?“, fragte er, eifrig beschäftigt, seine eigene Portion zu vertilgen. „Das ist wirklich das Ekelhafteste und Abscheulichste, das ich je gegessen habe.“ 150 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Deckard zog einen Mundwinkel hoch. Sie war wirklich süß, wenn sie sich so zierte. „Wenn es stimmt, dass Du erst vor ein paar Monaten aktiviert wurdest,“, gab er zu bedenken, „dann kannst Du noch gar nicht so viel gegessen haben, um den Vergleich zu haben.“ Rachael verdrehte die Augen, während sie den Teller von sich wegschob. „Dann ist es zumindest das Ekelhafteste, an das ich mich erinnern kann.“ Wer sind wir schon ohne unsere Erinnerungen?, dachte Deckard. In Rachaels Fall reichten ihre Erinnerungen viel weiter zurück als der Zeitpunkt ihrer Entstehung. Sie füllten Jahre. Er selbst hatte ihr einige dieser Erinnerungen präsentiert, als sie ihm das erste Mal vor seiner Wohnung aufgelauert hatte: die Doktorspiele mit ihrem Bruder in einem verbotenen Gebäude, die Spinne vor dem Fenster, die von ihren Babys aufgefressen wurde. Er hatte sie als Implantationen entlarvt, als selektiv eingepflanzte Kopien von Engrammen, deren Originale im Kopf von Tyrells Nichte waren. 151 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Deckard hatte Rachael auf brutale Weise klarzumachen versucht, dass diese Bilder und Stimmen in ihrem Kopf nicht ihr selbst gehörten, sondern jemand anderem, dass es keine ‚wirklichen‘ Erinnerungen seien. Dann jedoch begann er zu erkennen, dass es so etwas wie ‚wirkliche‘ und ‚falsche‘ Erinnerung nicht gab. Rachael hatte es bewiesen. Für sie waren der Bruder und die Spinne genauso real wie für Anna Tyrell. Aber das war noch nicht einmal der entscheidende Punkt: Rachael hatte jene Reminiszenzen, die ihr gegeben worden waren, nicht eins zu eins übernommen, sondern etwas ganz Eigenes aus ihnen gemacht. Sie hatte sie in ihre Individualität integriert, zu einem Teil von sich selbst kultiviert. Es spielte keine Rolle mehr, dass es ursprünglich Implantationen gewesen waren. Sie waren nicht länger Fremddaten, die man irgendwo einspeiste. Nein, diese Erinnerungen gehörten nun zu Rachaels Charakter und Erfahrungsschatz. Sie hatten Rachael geprägt, und Rachael hatte diese Erinnerungen geprägt in der Art, wie sie sie auf- 152 – Blade Runner 2 – Akt 1 – griff, mit ihnen umging und wie sie sich von ihnen leiten ließ. Tyrell hatte genau gewusst, was er tat. Er wusste, dass er ein Wesen mit Bewusstsein und Gefühlen, mit einem eigenen Bezug zu sich selbst, erschuf; ein Wesen, das menschliches Verhalten nicht imitierte, sondern hervorbrachte. Aber er war nie bereit gewesen, etwas anderes in ihm zu sehen als ein weiteres Produkt, das vom sprichwörtlichen Fließband seiner Firma rollte, so wie vor siebzig Jahren die Nexus-1-Roboter. Deckard kämpfte seine Nachdenklichkeit herunter. „Gute Antwort.“, meinte er und verputzte den Rest auf seinem Teller. Dabei sagte er: „Es heißt übrigens Ju-Such. Ist, soweit ich weiß, ‘ne Mischung aus Soja und Außenweltalgen.“ Rachael rümpfte die Nase und betrachtete das Zeug wie einen Todfeind. „Also, für mich sieht es aus, als könnte es jederzeit Beine kriegen und weglaufen.“ Deckard grinste, nachdem er sich den Mund mit einer Serviette abgewischt hatte. „Für jemanden, dessen Vorfahren sich noch von Maschinenfett und Silikonflüssigkeit 153 – Blade Runner 2 – Akt 1 – ernährt haben, bist Du verdammt anspruchsvoll. Wenn Du jetzt schon meckerst, dann wart erst mal ab, was Du auf dem Mars vorgesetzt bekommst.“ „Was gibt es denn dort?“, fragte Rachael in böser Vorahnung. „Jedenfalls nichts, das sich so leicht verdauen lässt wie Ju-Such. Sei froh, dass Du kein Mensch bist.“ „Also, wenn Du meinst, dass Replikanten keine Magen-Darm-Probleme bekommen könnten…“ Er hob die Hand, und sie sprach nicht weiter. „Vertiefen wir das ein andermal, okay?“ Deckard warf einen Blick auf seinen Armbandchronometer. „Unser Flug geht in einer Stunde. Wir sollten schon mal in die Abflughalle gehen.“ „So eine schöne Dame.“ Eine gespielt freundliche, geradezu penetrant aufdringliche Stimme war plötzlich erklungen. „Also, ich finde, eine so bezaubernde, junge Schönheit hat in jedem Fall einen Beweis verdient, wieviel sie demjenigen wert ist, der ihr Herz halten darf.“ 154 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Ehe Deckard sich versah, stand ein dunkelhäutiger Mann mit Rasterlocken, Sparrow und aufgesetztem Grinsen vor ihnen. Einen Augenblick beschlich ihn der Eindruck, ihm komme diese Visage irgendwie bekannt vor. Dann verlagerte sich seine Aufmerksamkeit auf den urgewaltigen Rosenstrauß, den der Mann bei sich hatte. „Eine wunderhübsche Marsrose zum Beispiel.“, setzte er hinterher. „Verschwinde, Mann.“, fauchte Deckard instinktiv. Diese Störung war ihm überhaupt nicht recht, und das nicht nur, weil sie gerade hatten gehen wollen. „Hey, Freund.“, erwiderte der Rosenverkäufer und verwies in Rachaels Richtung. „Wenn Du mit ihr so umspringst, musst Du Dich nicht wundern, wenn Du bald allein dastehst. Irgendwie siehst Du auch so aus, als wärest Du zu viel allein gewesen. Deshalb hast Du keine Manieren.“ Deckard ballte eine Faust und spreizte den Daumen. „Mach ‘nen Abgang, na wird’s bald.“ 155 – Blade Runner 2 – Akt 1 – „Das sind interessante Blumen.“, sagte Rachael plötzlich. Fasziniert betrachtete sie die violetten, üppigen Blüten in der Umarmung des Verkäufers. „Nicht wahr?“, griff dieser auf, zufrieden, dass seine Strategie aufzugehen schien. „Sie stammen aus den terrageformten Regionen am Hang des Olympus Mons. Handgezüchtet. Eine wahre Rarität, herrlich anzusehen und sehr…kostbar.“, intonierte er mit einem wilden Augengeklimper. „Verarschen kannst Du Dich selbst, Junge.“, blaffte Deckard. „Die Rose ist nicht echt, das sieht doch jedes Kind.“ „Ich bitte Sie.“, brachte der Mann eingeschnappt hervor. „Wo zum Teufel findet man heute noch echte Rosen? Haben Sie denn einen solchen Mangel an Fantasie, dass Sie sich nicht für einen Moment vorstellen könnten, sie wäre echt?“ Deckard stieß einen leisen Fluch aus. „Wir haben keine Zeit dafür. Komm jetzt, Rachael.“ 156 – Blade Runner 2 – Akt 1 – „Halt, Deckard.“ Sie sah ihn mit den Augen eines kleinen Mädchens im Spielwarenladen an. „Ich möchte eine.“ Der Rosenverkäufer sprühte geradezu vor Enthusiasmus. Er witterte, dass er beinahe am Ziel angelangt war. „Ich will Ihnen raten, dieser selbstbewussten, jungen Dame Ihren Wunsch nicht zu verwehren, Freund. Das geht niemals gut aus. Glauben Sie mir: Ich spreche aus Erfahrung.“ „Klappe.“, zischte Deckard. Bevor er länger darüber nachdenken konnte, was er da überhaupt tat – einer künstlichen Frau eine falsche Rose kaufen – kramte er eilig in seiner Tasche und zog ein paar Credits heraus, die er dem Verkäufer zusteckte. „Reicht das?“ „Oh, wie großzügig. Monsieur hat heute seinen spendablen Tag, wie es scheint.“ „Und jetzt zieh Leine. Na los.“ „Sehr wohl. Ich wünsche einen herzallerliebsten Tag.“ Der Mann verneigte sich andeutungsweise und wich davon. Er hatte, was er wollte. 157 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Als sie wieder unter sich waren, seufzte Deckard gequält. „Beim nächsten Mal lässt Du das bleiben.“ „Aber sie ist wirklich sehr, sehr schön.“ Sie führte die wirklich gewaltige Rose zur Nase und roch daran. Ein Lächeln entstand in ihrem Gesicht. Sie wollte die Blüte auch Deckard unter die Nase halten, doch der winkte ab. „Damit das klar ist: Wir sind hier nicht auf einem Wohltätigkeitstrip.“, brummte er. „Jeder Kontakt, den wir hier mit irgendwem haben, könnte Bryants Leuten verraten, wo wir sind. Und das wäre dann großes Pech für uns.“ Ein gedrückter Ausdruck entstand in ihrem Gesicht. „Also glaubst Du, dass unsere Chancen schlecht stehen?“ „Sag mir nie, wie meine Chancen stehen. Und jetzt komm endlich.“ Deckard griff nach ihrer freien Hand und zog sie von ihrem Platz. Anschließend half er ihr in ihren Mantel, und sie verließen die Bar. 158 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Irgendwie, ging es ihm durch den Kopf, würde er sich schon viel besser fühlen, wenn sie den Mond erstmal verlassen hatten. 159 160 – Blade Runner 2 – Akt 1 – – Blade Runner 2 – Akt 1 – 11 Guzzar hatte der Heißhunger überkommen, und wie es so seine Art war, hatte er sich dem erstbesten Imbiss verschrieben, den er am lunaren Raumhafen hatte finden können. Nun drückte er mit der einen Hand seinen Kommunikator ans Ohr, um Bryant einen Statusbericht zu geben, während er sich zeitgleich mit der anderen Hand das wohl fragwürdigste Analog-Algenhotdock reinschob, das man im ganzen Sonnensystem auftreiben konnte. Gaff hatte bis vor kurzem noch direkt neben ihm gestanden, die Umgebung allenthalben nach Zielen sondierend, jetzt trieb er sich irgendwo anders herum. McCoy hatte ihn aus den Augen verloren. Dass er immer wie ein Geist auf eigene Faust überall herumschleichen muss… Vermutlich hatte der Kerl von seiner Narrenfreiheit, die ihm Bryant gewährte, wieder mal Gebrauch ge161 – Blade Runner 2 – Akt 1 – macht und sich irgendeinen Aussichtspunkt gesucht, von dem aus er die Menschenmassen im Auge behalten konnte. Er würde schon Bescheid geben, wenn ihm irgendetwas auffiel. „Das ist doch Bockmist.“, blaffte Steele, nachdem sie sich eine weitere Zigarette angezündet hatte. Zusammen mit McCoy stand sie einige Meter abseits auf einer der Promenadengalerien des Spaceports, wo sich zu ihrer Linken und Rechten ein heilloses Getummel aus Händlern, Arbeitern und Durchreisen ohne Unterlass dahinwälzte. „Der pflegt sich hier seinen Rettungsring, und wir verlieren kostbare Minuten, um unsere Beute einzufangen.“ „Vergiss nicht, dass Bryant am Hörer ist.“, gab McCoy zu bedenken. „Ach was, der kann mich mal.“ Sie entließ eine Qualmwolke aus ihren Nüstern. „Wir haben einen Job zu erledigen.“ „Hast ja Recht…“ Steele stemmte die Hände in die Hüften und spie verächtlich: „Weißt Du was? – Ich hasse den Mond! Das ist ein Loch!“ 162 – Blade Runner 2 – Akt 1 – McCoy grinste spitzbübisch. „Und L.A. ist keines oder was?“ „Woher zum Teufel. L.A. ist schön. Etwas morbide manchmal, aber schön.“ „Aber sicher.“ Steele wandte sich ihm zu, und er erblickte sein Spiegelbild in ihrer Sonnenbrille. „Hey, Cowboy, Du ziehst ein Gesicht, als hätte Dir Mami den Lolli weggenommen. Ein bisschen enthusiastischer, wenn ich bitten darf. Dann geb‘ ich Dir vielleicht sogar ‘nen kleinen Anteil von meiner Prämie ab.“ „Wie ungeheuer großzügig von Dir.“ Er zweifelte keine Sekunde daran, dass Steele alles daran setzen würde, dass sie diejenige war, die den entscheidenden Treffer landete. Falls es dazu kommen sollte. Andererseits freute sie sich vielleicht zu früh. Immerhin war noch völlig offen, wie hoch die Prämie für einen liquidierten Ex-Blade Runner ausfallen würde. Für sowas gab es keinen Präzedenzfall. Immerhin hatte Guzzar inzwischen eine klare Ansage gemacht. Er hatte seine Er163 – Blade Runner 2 – Akt 1 – laubnis gegeben, Deckard beim kleinsten Anzeichen von Schwierigkeiten zu erledigen. Und Rachael durfte, falls sie floh, auf die Kniescheiben geschossen werden. Die Tyrell Corporation war ausschließlich an ihrem Gehirn interessiert. „Vielleicht seh‘ ich mich mal bei den örtlichen Waffenhändlern um, wenn ich Zeit hab‘.“, sagte Steele. „Wieso das?“ „Das ist jetzt off the record, klar?“ Mit gedämpfter Stimme sprach Steele weiter: „Meiner Meinung nach taugen unsere Standardpatronen ‘nen Scheiß. Wenn Du einen Rep umpusten willst, brauchst Du Schlagkraft. Auf dem Mond sind sie traditionell etwas einfallsreicher, wenn‘s darum geht, Deiner Wumme etwas mehr Potenz zu verpassen.“ Ihr Kichern war mehr Krächzen. „Bei Dir könnt‘ ich mir fast vorstellen, dass Du auch im Urlaub durch Waffenläden streifst.“ Steele bleckte die Zähne, ehe sie wieder an ihrer Zigarette zog. „Schätzchen, kapier’s endlich: Der beste Urlaub, den ich mir vor164 – Blade Runner 2 – Akt 1 – stellen kann, ist Reps abzuknallen – und mir mit meinen Prämien den Arsch vergolden zu lassen. Dafür bin ich geboren. Warst ganz schön schweigsam auf dem Flug.“, meinte Steele. „Was hast Du schon wieder ausgefressen?“ „Ach nichts.“, winkte er ab. „Spuck’s schon aus.“ „Ich frage mich einfach, warum Deckard entschieden hat, mit ihr zu fliehen.“ Steele verzog das Gesicht. „Spielt das etwa ‘ne Rolle? Der Schlappschwanz ist ein Verräter. Er hat seine Dienstmarke besudelt. Wir werden ihn dafür kaltmachen. Schluss, aus, Ende.“ „Steele,“, sagte er, „Deine Logik war schon immer enorm auf Praxistauglichkeit ausgelegt.“ Sie bedeutete ihn mit ihrem Glimmstängel. „Deshalb stehe ich heute dort, wo ich bin, und Du, wo Du bist. Und ich bin zuversichtlich, dass Guzzar, wenn er Bryant in den nächsten Jahren beerben wird, mich zum Lieutenant ernennen wird. Du darfst 165 – Blade Runner 2 – Akt 1 – das ‚Sir‘ also gern schon mal üben. Kannst mir nach getaner Arbeit aber gern auch einen ausgeben. Man kann nie früh genug damit anfangen, sich bei seinen künftigen Vorgesetzten einzuschmeicheln.“ McCoy kratzte sich am Kopf und ignorierte Steeles Gepose geflissentlich. „Ich frage mich ja bloß, welche Motive er für seine Handlungen hatte. Jeder Handlung liegt ein Motiv zugrunde, jeder Entscheidung…“ Steele schien der Grübelei überdrüssig zu werden. Das war wenig überraschend. Sie hatte schon immer einen Ansatz verfolgt, der ihr Erfolgsprämien sicherte und nichts anderes. „Jetzt sag ich Dir mal was, Cowboy: Deckard hatte schon immer Probleme mit dem Gehorsam. Hast Du ‘ne Ahnung, wie viel Ärger er Bryant gemacht hat? Du hast gerade aufgehört, in die Windeln zu machen, da war dieser Typ schon ein Querulant. Diesmal hat er bewiesen, aus welchem Holz er wirklich geschnitzt ist – er ist ein beschissener Rep-Sympathisant, das ist er. Wenn Guzzar uns grünes Licht gibt, pusten wir ihn weg und schnappen uns die Maschine. Umgekehrt wär’s mir lieber, aber so lauten nun mal die Befehle.“ 166 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Ihre schmalen, gegen ihre blasse Haut blutrot anmutenden Lippen kräuselten sich. „Mein Gott, jetzt ist es schon so weit gekommen, dass wir einen verfluchten Rep beschützen und ihn sicher zurück zu Papa eskortieren müssen.“ „Du meinst zu Mama.“, korrigierte McCoy. „Wie auch immer. Jedenfalls hat uns Deckard echt ‘was eingebrockt. Und ich versprech‘ Dir: So schnell wie ich wird er seinen Colt nicht zücken.“ McCoys Blick schweifte zu Guzzar, der weiterhin telefonierte, aber inzwischen sein Algenhotdock verdrückt hatte, und zurück zu Steele. Dabei strich er sich über den gepflegten Dreitagebart. „Hast Du Dich jemals gefragt, ob die Replikanten vielleicht wirklich intelligent sind? Ich meine, dass sie so sind wie wir? Dass sie so ähnlich empfinden und all das Zeug?... Immerhin scheint einiges darauf hinzudeuten, dass Nexus-6 so etwas wie ein Wendepunkt war.“ Er guckte verdutzt drein, als Steele verächtlich lachte. „Ich glaub, ich hör‘ nicht recht. Jetzt klingst Du fast schon wie einer von diesen ‚Freiheit für die Reps‘-Idioten.“ 167 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Ihre Hand ging auf seiner Schulter nieder. Nur eine Sekunde blickte McCoy auf ihre schwarz lackierten Nägel. „Hör mal, Cowboy, ab dem Moment, wo Du beginnst, etwas für die zu empfinden, bist Du verloren. Mitleid ist der größte Fehler, den man begehen kann. Das sind Maschinen, mehr nicht. Instrumente, Batterien, die wir wegwerfen, wenn sie leer sind – oder wenn wir Bock drauf haben, sie wegzuwerfen. Und wenn’s nach mir geht, könnten diese ‚Hautjobs‘ alle, wie sie da sind, in den Hochofen wandern. Mich würde es nicht jucken, wenn jeder Einzelne von ihnen krepieren würde. Am besten durch eine Kugel aus dem Lauf dieses Babys hier.“ Mit der freien Hand klopfte sie sich gegen den Blaster in ihrem Gürtelholster. „Stell Dir mal meine Prämie vor.“ „Du hättest wohl für den Rest Deines Lebens ausgesorgt.“, vermutete McCoy. Steele warf den Zigarettenstummel zu Boden und trat ihn mit ihrem Stiefel aus. „Ich sag Dir was, Cowboy. Ich hab‘ schon oft Reps gejagt. Auf den orbitalen Stationen, hier auf dem Mond, und auch auf der Erde zu Genüge. Und ich hab‘ nie irgendwas 168 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Menschliches in ihnen gesehen, in keinem einzigen. Nur ein paar durchgebrannte Drähte, die diese Blechbüchsen Amok laufen ließ. Und dafür haben sie bezahlt.“ Endlich stieß Guzzar zu ihnen. Gaff, der wie aus der Versenkung wiederaufgetaucht war, folgte ihm wie sein zweiter Schatten. „Wurde auch langsam Zeit, Sir.“, genehmigte sich Steele. „Ich hab‘ gute Neuigkeiten, Leute.“, sagte der Lieutenant und putzte sich mit einer Serviette die fleischigen Finger ab. „Sie wurden auf dem Weg nach Abflughalle sechs gesichtet.“ Steele entblößte blitzend weiße Zähne. „Na dann – nichts wie los. Je schneller wir von diesem staubigen Helium-3-Ball weg sind, desto besser.“ Guzzar lachte verdrießlich. „Sie nehmen mir die Worte aus dem Mund, Zuckerschnecke.“ 169 170 – Blade Runner 2 – Akt 1 – – Blade Runner 2 – Akt 1 – 12 Hand in Hand standen sie auf einer gefühlt kilometerlangen Rolltreppe, die sie mit träger Gleichgültigkeit ihrer Abflughalle entgegentrug. Durch das transparente Glas erhielt man einen Blick auf das gesamte Terminal. Von hier aus erkannte man deutlich, wie hastig und planlos der lunare Raumhafen gewachsen war – ein Prozess, der in Anbetracht der steigenden Bedeutung des Mondes ungebremst anhielt. Bald sah Deckard die vielen Leute, die sich im Promenadenbereich tummelten, nur noch als kleine, dunkle Punkte. Wir sind so gut wie weg von hier…, sprach er sich Mut zu. Die falschen Identitäten, die er ihnen beiden verschafft hatte, würden funktionieren. Und sobald sie erst einmal den Mond verlassen hatten, würde vieles einfacher werden. 171 – Blade Runner 2 – Akt 1 – „Ich habe nachgedacht, Deckard.“, sagte Rachael in diesem Moment. Nach wie vor hielt sie die Marsrose in der Hand. „Worüber?“ „Über diesen Traum, den ich hatte. Mir sind einige wichtige Dinge eingefallen. Ich weiß jetzt, was Batty sagte. Er sprach von einem Tor. Er nannte es Tannhäuser Tor. Ja, genau. Das war das Wort.“ Deckard spürte einen Stich in der Magengrube. Für einen Augenblick glitt er fort aus der Gegenwart. Er erinnerte sich an die letzten Sekunden, bevor Batty aus dem Leben schied. Was er dort, auf dem Dach des Bradbury-Gebäudes, von sich gegeben hatte, hatte wundersam geklungen. Wie nicht von dieser Welt. Es hatte etwas in Deckard berührt, obwohl er so gut wie nichts davon verstanden hatte. Verstanden hatte er in diesem Augenblick nur, dass in diesem künstlichen Mann, den alle für eine Bestie hielten, eine Seele steckte. Eine unschuldige Seele. Der Begriff ‚Tannhäuser Tor‘ – was immer sich dahinter verbarg – war ebenfalls in Battys Abschiedsrede gefallen. 172 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Deckard hörte den Widerhall der Worte in seinem Geist; dort waren sie unsterblich geworden. Ich habe Dinge gesehen, die Ihr Menschen niemals glauben würdet. Gigantische Schiffe, die brannten, draußen vor der Schulter des Orion. Und ich habe CBeams gesehen, glitzernd im Dunkeln, nahe dem Tannhäuser Tor… Nahm man diese Sätze nüchtern für bare Münze, waren sie der Logik nach geradewegs absurd. Batty war natürlich nie vor der Schulter des Orion gewesen. Ebenso wenig wie irgendein menschliches Wesen oder ein anderer Replikant hatte er jemals das irdische Sonnensystem verlassen. Trotz der Verheißungen der modernen Raumfahrt war die Menschheit bis dato nicht über die Kolonisierung zweier Uranusmonde hinausgekommen. Stattdessen gab es aber eine sehr klare Akte über die knapp vier Jahre, in denen er gelebt hatte. Fast die komplette Zeit hatte Batty an zwei Orten verbracht: überwiegend auf Titan, wo er gekämpft und gearbeitet hatte, und in jüngerer Zeit auf Olympus. Nur die letzten zweieinhalb Wochen vor seinem Tod verlebte er anderswo, nämlich 173 – Blade Runner 2 – Akt 1 – auf der Erde, in dem Versuch, aufzuhalten, was nicht aufzuhalten schien: das absehbare Ende eines Nexus-6-Replikantenlebens. Deckard stockte der Atem. Diesmal lief es ihm beinahe kalt den Rücken herunter. „Wie kannst Du das nur wissen?“ „Da ist noch mehr…“ Rachael sah ihn nachdenklich an. „Ich war dort. Ich meine, er hat mich gesehen. Er hat mich wahrgenommen. Zu mir hat er gesprochen.“ Rachaels Hände zitterten leicht, und ein Schuss Blut erfüllte ihre Wangen. „Es mag sich verrückt anhören. Aber irgendwie glaube ich… Ich glaube, Batty war in meinem Kopf. Er ist für diesen Traum verantwortlich. Ich glaube, dass er mir eine Botschaft zukommen lassen wollte.“ „Wie soll so etwas möglich sein? Und um welche Botschaft sollte es sich dabei handeln?“ Er hatte es nicht beabsichtigt, und doch fiel ihm auf, wie seine Stimme in gereiztere Lagen abgeglitten war. Ihr Blick schweifte durch die Glaskuppel, hinaus in die Mondlandschaft, und dann flüsterte sie mit veränderter Stimme: „‚Das Tannhäuser Tor, Rachael. Es wartet darauf, 174 – Blade Runner 2 – Akt 1 – gefunden zu werden. Mit meiner Hilfe kannst Du es finden. Führe fort, was ich begann.‘“ Worte, die nicht die ihren waren. „Das hat er mir gesagt.“ Deckard stand die Kinnlade offen; er starrte sie entgeistert an. Was Rachael ihm gerade mitgeteilt hatte, beunruhigte ihn zutiefst. Denn es mochte bedeuten, dass das große Replikantenmysterium weiterging, das ihn vor einer Weile verschlungen hatte. Gleichzeitig schien eben jenes Mysterium genau das, was er sich ausgesucht hatte. Was seinem Schicksal entsprach. Rick Deckard war ausgesprochen aus der Bequemlichkeit seiner Weltsicht. Er hatte seine Augen und sein Herz für die Wunder geöffnet. Dinge, die nicht das waren, was sie zu sein schienen, wenn man es nur fertigbrachte, ihnen nachzugehen, hinter die Fassade zu schauen. Und ganz egal, wie er sich vor der Dunkelheit des Horizonts fürchtete: Er würde begrüßen, was dahinter lag. Die Schwelle war bereits überschritten. Für ihn gab es kein Zurück mehr. Rick Deckard ging vorwärts, immer nur vorwärts. 175 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Wohin sein Weg ihn führen würde: Er war entschlossen, ihn zu beschreiten. Kaum hatten Deckard und Rachael die lange Fahrt mit der Rolltreppe beendet, langten sie in Abflughalle sechs an. Während sie sich in die Schlange der Wartenden an der Pass- und Gepäckkontrolle einreihten, bemerkten sie nicht, wie ihnen von der Balkongalerie der nächsten Etage jemand auflauerte. „Ich kann sie jetzt sehen.“, sagte der Mann in das kleine, in seinem Ärmel verborgene Sprechgerät. Dabei hielt er sich eine dunkle Marsrose an die Nase. Gar nicht so übel., dachte er. Der Duft war zwar, genau wie der Rest der Rose, künstlich, aber er fing an, sich daran zu gewöhnen. 176 – Blade Runner 2 – Akt 1 – 177 – Blade Runner 2 – Akt 1 – 13 Die Abfertigung der Wartenden an der Passund Gepäckkontrolle verzögerte sich; der Rückstau war enorm. Dass die ganze Prozedur wesentlich länger als erwartet dauerte, war einem schmierigen Kerl mit Topffrisur und Jamaikahemd zu verdanken. Als sein Koffer über das Band rollte, hatte der Scanner ausgeschlagen. Die Beamten hatten ihm auf ihrem Schirm das schematische Röntgenbild – ein äußerst verdächtig wirkendes Bild – gezeigt und ihn gefragt, was er da mit sich führe. Daraufhin hatte der verunsicherte Mann einen Schweißausbruch erlitten und die dümmstmögliche Antwort gegeben: er wisse nicht, was da drin sei, seine Freundin habe den Koffer gepackt. Ehe er sich versah, war er von Polizisten umringt gewesen, die sich für den schlimmsten Fall wappneten. Die Personaldaten des Trägers waren ermittelt, der Kof178 – Blade Runner 2 – Akt 1 – fer mit allen erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen behandelt worden. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatten die Uniformierten es gewagt, ihn mit Spezialausrüstung und äußerst Vorsicht zu öffnen. Die Erleichterung war selbst ihnen anzusehen, als einer der Kontrolleure einen überlebensgroßen, altertümlichen Analogwecker aus den Untiefen des Koffers zog. Dem schlecht frisierten Idioten war der dringende Rat mitgegeben worden, sein Gepäck in Zukunft gefälligst selbst zu packen. Unter dem Strich hatte die vollkommen überflüssige Sache so lange in Anspruch genommen, dass der Boardingzeitraum um beinahe zwanzig Minuten verlängert worden war. Damit würde sich auch der Abflug nach hinten ziehen. Rachael und Deckard standen noch immer an. Deckard spürte, wie er allmählich nervös wurde. Es war ganz und gar nicht gut, wenn sie länger als unbedingt nötig auf dem Mond blieben. Jede Minute zählte. Zu Deckards Erleichterung war das Ende ihrer unbehaglichen Warterei bald in Sicht. Die Abfertigung kam nun spürbar in Schwung; offenbar hatte jemand beschlos179 – Blade Runner 2 – Akt 1 – sen, auf die Tube zu drücken. Nur noch ein halbes Dutzend Personen befanden sich vor ihnen in der Schlange. Er konnte es gar nicht erwarten, den Moment zu erleben, wenn sich das Passagierschiff von der Dockschleuse löste und abhob. Nicht mehr lang., sagte er sich. Die nächsten Sekunden liefen wie in Zeitlupe für Deckard ab. Rein zufällig senkte er den Kopf zu Boden. Wahrscheinlich war es nicht mehr als eine instinktive Reaktion auf seinen chronisch schmerzenden Nacken. Mit einer Hand fasste er sich in den Bereich zwischen Schulter und Hals und knetete die verspannte Stelle ein paarmal… …als er plötzlich etwas erblickte. Zunächst war es kaum mehr als ein beiläufiges Aufblitzen vor dem Hintergrund des blaugrauen, abgetretenen Bodens. Man hätte es beinahe übersehen oder als unwichtig ignorieren können. Aber nicht Deckard. Er kannte dieses Funkeln, die charakteristische, glatte Oberfläche des dünnen, beschichtenen Papiers, von der es rührte. Kaugummipapier. Eine ganz bestimmte Marke. Andere warfen es weg, nachdem sie sich den Streifen in den 180 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Mund geschoben hatten, doch einer tat es nicht. Einer hatte mehr Interesse am Papier als am Kaugummi selbst. „Was ist?“, fragte Rachael, als Deckard neben ihr in die Hocke ging. Schweigend langte er nach dem kleinen Objekt und betrachtete es. Eine Origamifigur. Im Laufe der letzten Tage hatte er mehr davon gesehen, als ihm lieb war. Diese hier reihte sich ein in die lange Reihe, machte sie noch länger. Die Figur zeigte ein Männchen mit gespreizten Beinen. Die Position der Arme und Beine wies auf Bewegung hin. Zweifellos: Dieses Männchen lief. Flucht., zuckte es durch Deckards Hirn. Es symbolisierte Flucht. „Deckard…“, hörte er Rachaels Stimme, jetzt zunehmend beunruhigt. „Ich hab‘ schon mal eine Figur gesehen, die so ähnlich war. Bei Dir zuhause, im Flur.“ Adrenalin schoss in seine Magengrube. Die Pumpe hinter seiner Brust begann augenblicklich zu rasen, ein echter Kaltstart. 181 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Er erhob sich wieder und drehte den Kopf zu Rachael. „Sie sind hier.“ „Wer? Wer, Deckard?“ Sein Blick glitt nach links und rechts, durch die Menge der Wartenden. Nichts. Er sah niemanden, den er kannte. Dann legte er den Kopf in den Nacken und sah zur Balkongalerie. Sein Herz drohte stehenzubleiben. Er erblickte eine dunkle Sonnenbrille, blutrote Lippen, umrahmt von bleicher Haut. Steele, ans Geländer gelehnt. Und direkt neben ihr Guzzar und ein jüngerer Kerl mit Dreitagebart, den er nicht kannte. Sie sahen nicht so aus, als hätten sie Deckard und Rachael bereits ausfindig gemacht; ihre Blicke schweiften umher wie Suchscheinwerfer. Trotz akuten Personalmangels hetzte ihm Bryant offensichtlich das Beste hinterher, was er aufbieten konnte. Und jetzt kam er seinem Ziel gefährlich nah. Viel näher als Deckard geahnt hätte. „Verdammt, sie haben uns gefunden.“, raunte er. „Wir müssen weg von hier.“ 182 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Deckard wusste, dass sie gleich entdeckt würden, wenn sie nicht zusahen, dass sie verschwanden. „Aber unser Flug…“, stöhnte Rachael. Er zog sie ruckartig aus der Reihe, und sie traten den Rückweg an. Deckard achtete darauf, dass sie dicht bei den anderen Leuten in der Schlange blieben, sonst gerieten sie sofort in Sicht. Nachdem sie vielleicht sechs Meter überbrückt hatten, fiel ihm auf, dass entlang der Absperrung eine weitere Origamifigur stand. Die exakte Kopie des Männchens, das Deckard aufgehoben hatte. Und weitere drei Meter ein drittes Männchen. Sie hatten hier gestanden, aber er hatte sie nicht gesehen. Gaff. Gaff war hier… Er kam nicht dazu, länger darüber nachzudenken. In diesem Moment hörte Deckard einen schrillen Ruf: „Dort sind sie! Dort sind sie!“ Es war Guzzar. Guzzar kochte, hetzte seine Bluthunde auf sie. Sie waren aufgeflogen. 183 – Blade Runner 2 – Akt 1 – „Rachael, Du musst jetzt laufen – schnell!“ Sie brach in Tränen aus, aber tat, wie ihr geheißen. Gemeinsam setzten sie sich in Bewegung. Deckard warf noch einmal den Kopf zurück – und wünschte sogleich, er hätte es nicht getan. Er sah, wie Steele ihren Blaster zückte und auf sie anlegte. „Schnell, Rachael, schnell!“ Er griff nach ihrer Hand. Dann erschütterte der Knall des Abschusses die Abflughalle… 184 – Blade Runner 2 – Akt 1 – - Fortsetzung folgt 185 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Personae dramatis Rick Deckard. Ehemaliger, desillusionierter Blade Runner. Hatte vor kurzem ein Erweckungserlebnis mit Replikanten, das seinem Leben eine neue Richtung gab. Rachael. Verbessertes Modell der Nexus-6-Reihe, das nach der Blaupause von Eldon Tyrells Nichte erschaffen wurde. Liebt einen Blade Runner. Harry Bryant. Skrupelloser Chef des Rep-DetectDepartments Los Angeles. Hat einen (vermeintlich) guten Ruf zu verlieren. Gaff. Bryants rechte Hand und Blade Runner-Eintreiber vom Dienst. Aufmerksamer Beobachter und OrigamiKünstler. 186 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Pete Guzzar. Stellvertreter von Bryant. Wird mit der Jagd nach Deckard betraut, mit dem er noch eine private Rechnung offen hat. Ray McCoy. Jüngster Zulauf in der Blade Runner-Einheit. Hat noch kaum Erfahrung, dafür aber einen selten gewordenen Idealismus. Chrystal Steele. Prototyp des eiskalten Blade Runners. Führt das Ranking erledigter 'Hautjobs' bei der LAPD mittlerweile an. Anna Tyrell. Chefin der Tyrell Corporation. Leidet nicht nur seelisch unter dem Tod ihres Onkels. Hat geschworen, Eldons Erbe weiterzuführen. 187 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Clovis Sacula. Nexus-6Replikant, der an der neuesten Erfindung der Menschheit baut. Kannte Roy Batty. 188 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Orte Los Angeles. Die vielleicht verkommenste Stadt der Welt, aber auch ein gutes Abbild des zivilisatorischen Niedergangs der Spezies Mensch insgesamt. Im Herzen der Stadt ragen die Pyramiden der Tyrell Corporation hervor. Nach Krieg und Umsiedlung hat L.A. anno 2119 mehr als 12 Millionen Einwohner. Erde. Im 22. Jahrhundert ist die ausgeblutete Wiege der Menschheit längst abhängig von ihren Kolonien. Giftiger Regen und Smog verhindern, dass man vom Boden die Sonne sieht. Ergebnis von Kriegen, Globalisierung und kaputter Umwelt ist die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten und das Aussterben der meisten Tierarten (Hersteller künstlicher Tiere haben Hochkonjunktur). Mond. Nach der Entdeckung und Nutzbarmachung massiver Vorkommen von Helium-3 ist der irdische Trabant zur Hauptenergiequelle für die Erde geworden. Zudem ist er ein Sprungbrett zu den Koloniewelten. 189 – Blade Runner 2 – Akt 1 – 190 Koloniewelten. In der Zukunft hat die Menschheit den Weg zu den Sternen geschafft. Rund ein Dutzend Koloniewelten konnten mithilfe von sklavisch gehaltenen Replikantenarbeitern erschlossen und zivilisiert werden. Ein Hoch auf den Fortschritt. – Blade Runner 2 – Akt 1 – Koloniewelten im Jahr 2119 Mond/Luna Mars (zwei separate Kolonien, Mars I und II genannt) Phobos (Marsmond) Deimos (Marsmond) Europa (Jupitermond) Ganymed (Jupitermond) Io (Jupitermond) Kallisto (Jupitermond) 191 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Titan (Saturnmond) Rhea (Saturnmond) Gemini (Saturnmond) Oberon (Uranusmond) Olympus (Uranusmond) 192 – Blade Runner 2 – Akt 1 – Rick Deckard ist auf der Flucht. Infolge seiner Begegnung mit Roy Batty ist sein brüchiges Weltbild endgültig in sich zusammengestürzt. Beseelt von der Erkenntnis, dass er die Replikantin Rachael liebt, setzt er nun alles daran, seine Begleiterin vor dem Griff der Tyrell Corporation in Sicherheit zu bringen. Deckard ist klar, dass er dazu die Erde verlassen muss. Doch seine ehemaligen Kollegen aus der Blade Runner-Einheit sind ihm auf den Fersen… 193
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