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veda vit | Wer bin ich?
Copyright Matylda Obryk
http://www.veda-vit.de/2011/11/wer-bin-ich/
Wer bin ich?
Was einfach klingt, muss nicht unbedingt einfach sein: Die Frage nach der eigenen Identität bereitete schon etlichen
Menschen Kopfzerbrechen. Manche schaffen es ihr ganzes Leben nicht, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Und anderen
stellt sie sich erst gar nicht. Dabei fängt genau mit dieser Fragestellung das menschliche Leben erst an.
Chrismon, eine monatlich erscheinende Zeitschrift der evangelischen Kirche, hatte vor kurzem unter ihren Lesern eine
Umfrage gemacht. Die Frage lautete: Wer bin ich? Tausende Briefe flatterten in die Redaktion – Briefe von umerzogenen
Linkshändern, trockenen Alkoholikern, frommen Dichtern, Gelegenheitsautistikern und werdenden Müttern. Da gab es
Leser, die schrieben, sie seien Papierflieger aus rotem Seidenpapier oder Relikte alter Zeiten. Einige bezeichneten sich als
Glückskäfer, andere erzählten in drei Zeilen ihre Lebensgeschichte. Manche stellten sich wie bei einer Polizeiverhörung mit
Namen, Alter und Beruf vor. Und die einen oder anderen gaben ihre Traurigkeit zu und sagten, sie seien verhinderte
Lebenskünstler.
Anthony de Mello, ein Jesuitenpriester, der oftmals in Kurzgeschichten seine Leser zur Reflexion über Menschheitsfragen
bewegte, erzählte einmal Folgendes: Eine Frau starb eines plötzlichen Todes und ging an die Pforte des Himmels, wo der
Heilige Petrus sie nach ihrer Identität fragte. Er stellte ihr eben diese bewegende Frage: Wer bist Du? Und sie versuchte
mühsam, eine ihn zufrieden stellende Antwort zu finden: Ich bin die Frau vom Bürgermeister der Stadt soundso. Ich bin die
Mutter von drei Kindern. Ich bin Hausfrau. Ich bin eine Schwarze. Und so weiter und so fort. Der Heilige Petrus war mit ihren
Antworten nicht zufrieden und schickte sie wieder auf die Erde, damit sie nach der Antwort suche.
Der Grund für Petrus´ Unzufriedenheit nennt der Autor nicht. Denn der Leser soll sich selbst auf die Suche nach der Antwort
machen. Möglicherweise war Petrus mit den Antworten der Frau unzufrieden, weil sie sich alle ausschließlich auf den Körper
bezogen, der eben genau solche Etiketten wie Frau, Ehefrau des Bürgermeisters, Mutter und Schwarze tragen kann. Wo bleibt
aber die Person selbst – unabhängig von ihrem sich stets wandelnden Körper? Der Körper ist erst jung, dann alt, mal dünner,
mal dicker, und mal wird er als Kind, mal als Mutter bezeichnet. Aber was bleibt über die Jahre bestehen – außer dem Namen,
einem weiteren Etikett?
Sanatana Goswami, einer der Schüler von Caitanya Mahaprabhu, dem Gründer des Gaudiya-Vaishnavatums, der im 16.
Jahrhundert in Westbengalen, in Indien tätig war, beginnt das Gespräch mit seinem Meister mit genau dieser Frage: Ke ami?
Wer bin ich? Denn Sanatana Goswami war sich darüber bewusst, dass es für ihn – wie auch für die Frau aus der Geschichte
von de Mello – schwierig sein wird, die Antwort auf eigene Faust zu finden.
A.C. Bhaktivedanta Swami, ein Nachfolger von Caitanya Mahaprabhu und der viele Schriften des Gaudiya-Vaishnavatums ins
Englische übertrug, erläutert in seinem Kommentar zum Srimad Bhagavatam (7.13.33), dass diese Frage der Beginn des
spirituellen Lebens eines Menschen ist. Kein Wunder, dass Krishna in der Bhagavad-gita das philosophische Lehrgespräch mit
seinem Freund Arjuna mit genau diesem Wissen über die eigene Identität beginnt und die Eigenschaften der Seele erörtert.
Auch in der Brhad-aranyaka Upanisad finden wir eine klare Antwort auf die Frage "Wer bin ich?": aham brahmasmi. Ich bin
brahman, also eine ewige spirituelle Energie, die ein Teil des Höchsten Herrn ist. Wir würden sagen eine unsterbliche Seele.
Die erste Stufe der Erkenntnis besteht darin, zu erkennen, dass wir nicht der Körper sind, sondern eine spirituelle Identität
haben. Die Bhagavad-gita beschreibt außerdem, dass die Seele unzerbrechlich, unzerstörbar, unwandelbar, unbeweglich und
ewig dieselbe ist.
Chrismon akzeptierte die Antworten der Leser. Der Heilige Petrus schickte die Frau zurück auf Erden, damit sie die Antwort
selber findet. Caitanya Mahaprabhu antwortete seinem Anhänger: nityera krsna dasa (Caitanya Caritamrta, Madhya-lila
20.108) – du bist ein ewiger Diener Krsnas, des Höchsten Gottes. Außerdem erklärte er Sanatana Goswami nicht nur, dass er
spirituelle Seele, ein Teil Gottes ist, sondern dass er zudem noch eine Beziehung zu eben diesem Gott hat. Und zwar eine
dienende Beziehung. Und wo es Dienst gibt, muss es drei Elemente geben: den Dienenden, denjenigen, dem man dient und
den Prozess des Dienens selbst.
Die Schriften unterscheiden zwischen zwei Arten von Menschen: vimudha – Menschen, die von der körperlichen
Lebensauffassung verwirrt sind und sich die Frage "Wer bin ich?" niemals stellen, und vidvan – Menschen, die versuchen, ihre
wahre Position in der Welt zu ergründen. Die erste Gruppe wird auch als dvi-pada-pashu bezeichnet – ein zweibeiniges Tier,
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das sich lediglich um die körperlichen Belange kümmert: Essen, Schlafen, Sich-Verteidigen und Paarung. Menschliches Leben
beginnt den vedischen Schriften zufolge erst dann, wenn man darum bemüht ist, seine eigene Identität zu ergründen. Und
diese Suche beginnt mit der Frage "Wer bin ich?" – eine Frage, um die ein ernsthaft suchender Mensch nicht herumkommt.
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