Diesen Artikel als PDF herunterladen

18
world
Die Pose passt: Silveira
macht sich mit der
Yoga-Übung „Krieger 1“
am Meer warm
20 LHE_Speerfischen.indd 18
01.09.15 11:24
Der Spießer
T E X T
F O T O S
20 LHE_Speerfischen.indd 19
T I M
C A P P E L M A N N
J E N S
G Ö R L I C H
Fressen oder gefressen werden: Dan ­S ilveira
jagt in Kalifornien Fische mit der Harpune –
und wildert im Revier der Haie. Auf Tauchgang
mit einem Grenzgänger
01.09.15 11:24
20
world
D
er Tod trägt schwarzes Neopren. Fünf Meter
unter mir wird Dan Silveira eins mit dem
Meer. Regungslos lauert er in seinem
Tauchanzug auf dem felsigen Grund, die
Sonne bricht sich in Wäldern aus Kelp. Das Wasser
vor der kalifornischen Küste ist kalt, dunkel und
trüb. Keine Luftblase steigt auf. Seit zwei Minuten
atmet er nicht. Meine Lunge brennt. Sein Herz schlägt
langsam. Dann drückt er ab.
Die Harpune schießt aus seiner Hand, rast wie
ein Torpedo davon und durchbohrt den Kopf eines
Lengdorschs. Der Fisch zappelt wild in seinem
Überlebenskampf, schwimmt noch ein Stück weit,
gibt auf. Dan Silveira zieht die Leine ein und taucht
ruhig mit seiner Beute aus 25 Metern nach oben.
Noch ein paar gleichmäßige Flossenschläge, immer dem Licht entgegen.
Sechs Minuten lang kann der 30-jährige Kalifornier unter Wasser bleiben, ohne zu atmen. Bis
zu 50 Meter schwimmt er in die Tiefe. Der ehemalige
US-Meister im Speerfischen trainiert seit seiner
Kindheit. Im Meer fühlt er sich in seinem Element.
Den Lengdorsch spießt er zu den anderen toten
»Dan war schon
immer ein Jäger,
vom ersten Tag an «
Manny Silveira, Dans Vater, Speerfischer
20 LHE_Speerfischen.indd 20
Fahrt nach Big Sur
über die Bixby Creek
Bridge (oben). Nach
einem Tag Speer­
fischen geht es für
Dan Silveira, Reporter
Tim Cappelmann
und eine Drohne (unten)
zurück an Land
Edelfischen auf einen Metallring an seinem Hüftgurt,
zwei Rote Schnapper, ein Kabeljau, Zahnlippfische.
Dann spannt er den Pfeil zurück in die Harpune,
holt Luft und geht wieder runter. Dan Silveira ist Jäger.
Sein Revier ist der Pazifik. Aber der gefährlichste
Räuber ist er nicht.
Ich hatte mich gerade durch den Brandungsgürtel gekämpft, als der erste Robbenkadaver an
meinem Kajak vorbeitreibt. „Drei große Bisse“,
sagt Silveira, der neben mir paddelt. Große Bisse von
großen Weißen Haien. Nahrung finden sie hier
reichlich: Seelöwen, Seeelefanten. Und Taucher, denke ich. Vor allem solche, die blutende, zuckende
Fische bei sich tragen – Impulse, die Haie anlocken.
Es mag zwar statistisch wahrscheinlicher sein,
von einer Kokosnuss erschlagen zu werden. Aber
wir sind nicht an Land. Die Drohne, die uns von
oben filmt, kommt an die Grenze ihrer Reichweite
und schwirrt zurück zum Kamerateam am Strand.
Das Silicon Valley und die wilde Natur liegen in Kalifornien nah beieinander. Wir paddeln noch zwei
Kilometer am Küstenstreifen von Big Sur entlang
und lassen die Zivilisation zurück.
Vorbei an Felsen, auf denen fette Seelöwen in
der Sonne glänzen, Möwen kreischen; immer wieder
streckt eine Robbe ihren Kopf aus dem Wasser
und mustert uns. Kein Mensch mehr weit und breit.
Silveira erzählt, wie vor ein paar Wochen ein Weißer
Hai ins Kajak eines Kumpels biss. „Aus Neugierde
angeknabbert.“ Der Freund kam mit dem Schrecken
davon. Er erzählt, wie ein Freitaucher auf der Suche
nach kostbaren Abalone-Schnecken in der Nähe
von einem Hai getötet wurde. Erst Tage später fand
man seine Leiche, ohne Kopf. „Nein, wir sind hier
nur zu Gast“, sagt Silveira. Er schaut auf sein GPSGerät und wirft einen kleinen Anker aus. Schon
etwas irre, hier ins Wasser zu springen, denke ich
noch, während wir unsere Tauchmasken aufsetzen
und uns hineinfallen lassen.
Sieben Stunden früher, in Silveiras schwerem
Toyota-Truck auf dem Weg nach Big Sur. „Ich gehe
03.09.15 12:32
Foto: Tim Cappelmann
20 LHE_Speerfischen.indd 21
Silveira hält die Luft an:
bis zu sechs Minuten lang, den Roten
Schnapper hat er dabei erlegt
03.09.15 12:34
22
world
Frischer geht’s
kaum: Direkt nach
dem Filetieren
brät Hobbykoch
Silveira den
Lengdorsch kurz
in Olivenöl
Blauer Fisch?
­M eeresbiologen
­r ätseln. Manche
Lengdorsche haben
wohl Pigmente im
Blut, die ihr Fleisch
verfärben. Oder
einfach zu viele
­Tintenfische ­v erspeist
20 LHE_Speerfischen.indd 22
dahin, wo die Fische sind“, antwortet er, als ich ihn
frage, warum wir ausgerechnet im Jagdgebiet Weißer Haie speerfischen müssen. „Aber man darf sein
Glück nicht herausfordern.“ Das Risiko, selbst gefressen zu werden, minimiert er, indem er immer an
anderen Stellen taucht – und höchstens einmal pro
Woche. „Wenn ein Hai in der Nähe ist, spüre ich ihn“,
sagt er und meint das ernst. „Ich habe eine besondere Verbindung zum Meer.“
Auf der Fahrt redet Dan viel und schnell, er
zitiert Gandhi und berichtet von transzendentalen
Meditationserlebnissen, er erklärt sich zum Feind
von McDonald’s und spricht über sein Leben im
Einklang mit der Natur. Davon, wie er CharityEvents organisiert und Edelfische in Obdachlosenheimen verteilt. Wie er seine Ausbildung bei den
Coast Guards hinschmiss, um zu reisen und sich
selbst zu finden. Und wie er mit einer angeborenen
Rechtschreibschwäche alle Zweifler eines Besseren
belehrte und seinen College-Abschluss in Marketing schaffte. Ein wenig auswendig gelernt klingen
sie dann auch, seine gesammelten Philosophien,
aber klar ist: Die Rolle des Vollblutjägers nimmt
man ihm ab. Ein „American Hero“ mit gegeltem
Kurzhaarschnitt, der mit dem 3000-Dollar-Carbon­
bogen Rehe schießt und fragt: „Möchte nicht jeder
gerne mal ein Weekend-Warrior sein?“
Wir treffen uns in seinem Elternhaus in Half Moon
Bay. Die kleine Strandstadt ist berühmt für den
legendären Big-Wave-Spot „Mavericks“. Nur einige
hundert Surfer aus der ganzen Welt trauen sich
raus, wenn im Winter bis zu 25 Meter hohe Brecher
in die Bucht rollen. „Das sind die Verrückten!“, sagt
Silveira, der auch wellenreitet. Die Surfer sehen das
umgekehrt, bei ihnen gilt „Diver Dan“ als „crazy“.
Sie meinen das als Kompliment. Die Wassermänner
respektieren einander.
Dan Silveira gehört zu den besten Speer­f ischern
der Welt: Er hat 2012 und 2013 die US-Meisterschaften gewonnen, im Team und 2012 auch alleine,
und einige internationale Jagdrekorde aufgestellt,
einen hält er bis heute. Bei den Wettkämpfen punktet,
wer innerhalb festgelegter Gruppen verschiedener
Fischarten die schwersten und größten Exemplare
erlegt – freitauchend, ohne Sauerstoffflasche. Aber
vor allem geht es um mentale Stärke und Instinkt.
Um Mut und Ausdauer. Darum, ruhig zu bleiben,
Ängste zu kontrollieren, den eigenen Körper und
die Atmung zu beherrschen. „Es ist eine der härtesten Sportarten“, sagt Silveira. „Man ist unter Wasser
nicht so beweglich, die Sicht ist eingeschränkt, die
Temperaturen sind oft extrem, dazu kommt die Angst
vor dem Ungewissen.“
Häufig reisen die Teams Wochen vor einem Turnier an, um die lokale Unterwasserwelt zu erkunden,
03.09.15 12:37
DR_20
sich Riffformationen einzuprägen und sich so vorzubereiten. Nur wer genau weiß, wo die Schwärme
schwimmen, hat Erfolg. Silveiras größtes Betriebsgeheimnis ist in seinem GPS-Gerät gespeichert:
Mittlerweile rund 5000 Reviere weltweit, 90 Prozent
davon liegen vor Kaliforniens Küste.
„Dan war schon immer ein Jäger, vom ersten
Tag an“, erzählt sein Vater Manuel „Manny“ Silveira,
der ihn die Kunst des Speerfischens lehrte. Vom
Land aus wird sie schon seit Jahrtausenden praktiziert. Davon zeugen Wandmalereien im Alten Ägypten, sogar Textpassagen in der Bibel. Auch Poseidons Dreizack dürfte nicht nur als Zepter gemeint
In der Garage lagert
das Material, darunter
auch 20 Harpunen in
verschiedenen Größen
gewesen sein. Ab wann die Männer mit ihren Harpunen dann auch tauchen gingen, ist nicht sicher.
Aber in der Südsee und in der Karibik, vor Japan
und Hawaii, den Philippinen und im gesamten Mittelmeerraum hat Speerfischen eine lange ­Tradition.
In Deutschland ist es verboten. Umweltschützer
­k ritisieren, der Überlebenskampf des Fisches sei
zu qualvoll und zäh, gerade wenn er nicht richtig
getroffen wird. Befürworter sehen die Methode hingegen als besonders ressourcenschonend und natürlich, ohne Beifang, keine Schäden durch Netze. Auge um Auge.
Silveira senior stammt von den Azoren, seine
Vorfahren waren Fischer. In den sechziger Jahren
wanderte er in die USA aus, auf der Suche nach
einem besseren Leben. Jedes Jahr kehrt er mit
seinem Sohn in den Ferien auf die heimatliche Atlantikinsel zurück. Sie besitzen dort ein Haus und
gehen zusammen auf die Unterwasserpirsch. Mit
sieben Jahren erlegte Dan seinen ersten Fisch.
„Früher musste mein Dad auf mich aufpassen, heute ist das umgekehrt“, sagt der Junior. Vater Manny
klopft ihm kräftig auf die Schulter, mir stellt er köstlich-scharfe hausgemachte Salsa auf den Tisch –
und lädt auch gleich auf die Azoren ein.
Kalifornien
USA
Half Moon Bay
Big Sur
Guten Morgen, 1.000 Meilen!
Jetzt neu: Buchen Sie Ihre Hotels ab sofort direkt über Miles & More und
sammeln Sie mindestens 1.000 Meilen pro Nacht.
Ihre Vorteile:
 Große Auswahl aus über 100.000 Hotels ab 3 Sternen weltweit
 Attraktive Preise und Angebote
 Jede Nacht mindestens 1.000 Prämienmeilen aufs Meilenkonto
Hotels gleich buchen auf
www.miles-and-more.com/hotels
20 LHE_Speerfischen.indd 23
DR_20240_1_LH_MM_2157_HEP_Anzeige_LH-Magazin_Exclusive_205x85_001Seitex1von1
1
03.09.15 17:51
13:01
31.08.15
24
world
Die Garage nutzt Dan als Material-Depot. Rund
100 000 Dollar hat er für seine Ausrüstung in den
vergangenen Jahren ausgegeben, schätzt er, Sponsoren aus der Tauchindustrie unterstützen ihn. In
Gefrierschränken lagern vakuumverpackt Fischfilets
und Wildbret. An der Wand hängen 20 Har­punen,
unterschiedlich lang und schwer. Die Pfeilspitzen
schärft Dan an einer Schleifmaschine selbst. Surfbretter, Mountainbikes, Tauchgerät, Kajaks, ­Zelte,
Navigationscomputer und ein Dutzend Neopren­anzüge stapeln sich in den Ecken. Er braucht das alles
für sich und seinen Boss, Edmund Jin. Als Markenbotschafter für dessen Textilunternehmen ­H arbor
House dreht er mit ihm Videoclips, in denen sie
­einen Outdoor-Lifestyle promoten.
Im Garten hinter der Garage zerlegt Dan seine
Beute. An guten Tagen bringt er Meeresfische nach
Hause, die im Laden zusammen mehr als 1000 Dollar
kosten würden. Verkaufen darf er sie nicht, er hält
keine kommerzielle Lizenz. Aber seine Nachbarn,
Fette Beute: Zurück
am Strand, stemmt
Silveira seinen Fang,
insgesamt 17 Meeresfische. Der schwerste
davon wiegt 32 Pfund
» Am Ende des Tages kommt es nur darauf an,
wie groß dein Grinsen
im Gesicht ist«
Dan Silveira, Speerfischer
20 LHE_Speerfischen.indd 24
der Zahnarzt, Freunde, sie alle bekommen einen
Fisch – und im Gegenzug gibt es die Wurzelbehandlung auch mal umsonst. Der Tauschhandel floriert.
Frisch schmeckt es am besten, das gilt auch für die
Pilze, die wilden Karotten, Zwiebeln und Kräuter, die
Dan im Wald sammelt. „Ich liebe es einfach, jeden
Tag zu kochen und gut zu essen.“
Zurück aufs Meer vor Big Sur. Die Sonne hat
ihren höchsten Punkt schon überschritten, eine frische
Brise zieht auf. Seit vier Stunden treiben wir vor
der Küste. Dan hat noch nicht genug. Er bringt einen
Edelfisch nach dem anderen aus der Tiefe ins Kajak. Insgesamt 17 Stück wird er heute erlegen. Jeder
zwischen acht und 32 Pfund schwer, aber er sieht
nicht erschöpft aus. Einmal in seinem Leben hat er
sich ernsthaft verletzt, als seine Schulter beim Surfen in Indonesien bei einem Waschgang auskugelte.
„Ich wäre fast ertrunken.“ Der gefährlichste Moment
beim Speerfischen war, als ihn ein Seehund attackierte. Das Tier hatte es auf die Beute am Hüftgurt
abgesehen. Als sich Dan wehrte, auch auf ihn. „Mit
meinem Messer habe ich ihn erwischt, von unten in
den Hals gerammt, immer wieder.“ Im Nahkampf
erlegte er den Angreifer. Aber er sagt: „Ich bin vorsichtiger geworden. Am Ende des Tages kommt es
nur darauf an, wie groß dein Grinsen im Gesicht ist.“
Einen Roten Schnapper muss er noch holen,
Dan hat da was Dickes in einer Höhle gesehen.
Er atmet tief ein und taucht ab. Als er zurück an
die Oberfläche kommt, drückt er mir die Harpune
mit dem blutigen Fisch in die Hand. Das Tier zerrt
noch an der Leine. Wie schwierig muss es sein,
unter Wasser, ohne Luft holen zu können, mit ihm
zu kämpfen. Jedes Jahr verlieren Speerfischer ihr
Leben, weil sie ihre Kraft überschätzen. Sie werden
ohnmächtig, ertrinken. Der Schnapper zuckt nicht
mehr. Ich merke, dass ich in einer Blutspur schwimme. Der Gedanke an Haie, bis eben verdrängt, bohrt
sich zurück in mein Hirn, überlagert alles andere.
Dan ist schon wieder weg. Ich habe genug. Drei
schnelle Flossenschläge, ich schmeiße mich ins Kajak. Bis auf die Knochen durchgefroren. Ein Haufen
toter Fische zwischen den Beinen. Und halte Ausschau nach Rückenflossen.
Nur das monotone Grunzen der Seelöwen liegt
in der Luft, sanft plätschern kleine Windwellen
gegen das Boot. Kein Hai in Sicht. Plötzlich bricht
eine gewaltige Schwanzflosse aus dem Meer. Wie
in Zeitlupe nehme ich wahr, was 30 Meter vor mir
geschieht. Ein Knall, Weißwasser spritzt, es rauscht
kurz, das Kajak wackelt. Ruhe. Der Buckelwal muss
direkt unter mir sein. Für einen Moment bin ich mir
nicht sicher, ob das gerade wirklich passiert. Ich
fühle mich sehr klein. Voller Demut. Wenn er will,
gewinnt immer der Ozean.
01.09.15 11:26
802_2015_008_0_000_0_magniflex.indd 1
12.06.15 12:47
26
Weltgenosse
kolumne
Mein liebster
Fluchthelfer
V O N
M A X
K Ü N G
I L L U S T R A T I O N
D A N I E L
E G N É U S
Wenn ich die Augen schließe und mir in der Dunkelheit hinter
den Lidern eine Stadt vorstelle, in der ich noch nie gewesen
bin, die ich jedoch unbedingt sehen möchte, dann kommt mir
ein Name in den Sinn: Treviso.
Das mag nun etwas überraschend sein, und überraschend
ist es auch für mich, denn ich war beispielsweise noch nie
in ein paar anderen Städten, deren Namen etwas vielversprechender daherkommen als Treviso. Ich war noch niemals in
Ulan Bator, auch Santa Fe ist noch ein weißer Fleck, ebenso
wie Montevideo.
Warum also Treviso? Von Treviso weiß ich kaum etwas, und
das, was ich weiß, das habe ich irgendwo gelesen. Dass Treviso rund 30 Kilometer nordwestlich von Venedig liegt. Dass dort
in der Nähe namhafte Firmen zu Hause sind: der Textilkonzern
Benetton, der Schuhhersteller Geox, die Fahrradschmiede Pinarello. Ich weiß, dass Treviso keine 100 000 Einwohner hat und
das beste Restaurant der Stadt Carbone heißen soll, welches in
einem Außenbezirk der Stadt liegt, an der Hausnummer 5 der
Via delle Medaglie d’Oro. Und ich weiß, dass in Treviso einige
Fresken des italienischen Malers Tommaso da Modena zu
sehen sind, in einem Saal des Dominikanerklosters San Nicolò.
Auf diesen Fresken sind außerordentliche Dinge zu sehen,
26 LHE_Weltgenosse_Brille.indd 26
nämlich die erste Darstellung einer Brille. Die Fresken stammen aus dem Jahr 1352, und eines davon zeigt den Kardinal
von Rouen (dort war ich übrigens auch noch nie …) mit einer
Lupe, ein anderes den Kardinal Hugo von Saint-Cher (auch dort
sah man mich bisher nicht …) mit einer richtigen Brille, die ihm
fest auf dem Nasenrücken sitzt, während er etwas Schriftliches
zu Papier bringt. Ich denke, dass man dies unbedingt mit eigenen Augen gesehen haben muss: das erste Bild einer Brille
überhaupt.
Es ist nämlich so, dass ich selbst Brillenträger bin, und
dies nicht ohne Freude. Ich muss sogar gestehen, dass die
Brille mir sehr ans Herz gewachsen ist, und je älter ich werde
und desto schlechter meine Augen werden, desto mehr schätze ich dieses optische Hilfsmittel, dessen Gläser heute glücklicherweise nicht mehr wie zu den Zeiten Hugo von Saint-Chers
mühsam aus Beryll geschliffen werden müssen und auch sonst
wohl die eine oder andere Optimierung erfahren durften. Zum
einen ist die Brille praktisch, weil man dank ihr besser sehen
kann, die Dinge der Ferne, die Dinge der Nähe, die Dinge
dazwischen, aber auch des Gegenteils wegen, der Unschärfe.
Denn eine Brille ist auch ein Schalter, den man einfach umlegen kann. Wird einem die Welt zu viel, braucht man eine Pause,
muss man kurz innehalten, dann nimmt man einfach die Brille
ab. Und schon wird der Blick unklar, die Dinge erscheinen undeutlich, sie werden weich, man lehnt sich zurück, und das
ist dann die reine Erholung: Ich bin mal weg, für einen kurzen
Moment zumindest.
Die Welt und das Leben – beides wird besser und schneller und verändert sich ständig, die Brille jedoch bleibt gut auf
ihre anachronistische Art und Weise. Dieses seltsame Gestell
im Gesicht zu tragen mag altmodisch erscheinen in Zeiten von
Laserkorrekturen und Kontaktlinsen. Mit der rechten Hand jedoch die Brille vom Gesicht zu nehmen, sodass die Welt zwar
nicht verschwindet, doch immerhin verschwimmt, ein bisschen
auf dem Bügel der Brille herumzukauen und dabei nachzudenken (denn das kann man dabei sehr gut), das sind Momente des
Innehaltens und der Reflexion, welche Nichtbrillenträger nicht
erleben und genießen, wofür sie mir fast ein bisschen leid tun.
Ich möchte diese Momente nicht missen.
Die älteste Darstellung einer Brille nördlich der Alpen soll
sich übrigens in der Kirche eines Ortes namens Bad Wildungen
finden. Es ist ein Altarbild aus dem Jahr 1403. Über Bad Wildungen weiß ich überhaupt nichts. Was ich weiß: Treviso ist nahe, und was nahe ist, das wird gern vergessen, weil man denkt:
Ach, das ist ja so nahe, da komm ich immer einfach hin. Deshalb nehme ich es mir fest vor, nach Treviso zu reisen und mir
dort das Bild der Brille anzusehen, das älteste auf der ganzen
Welt, sobald es geht. Warum eigentlich nicht gleich jetzt?
Max Küng lebt und arbeitet
in Zürich; er ist Reporter,
Vater und auch Brillenträger.
28.08.15 10:37
T I M E
F O R
U L T I M A T E
M O M E N T S
baldessarini-fragrances.com
S E P A R A T E S
801_2015_010_0_000_0_baldessarini.indd 1
Baldessarini_Ultimate_Lufthansa_205x260mm.indd
1
T H E
M E N
F R O M
T H E
B O Y S
11.08.15 09:08
17:17
28.07.15