14.01.2016 • Seite 1 Liebe Preisträgerinnen und Preisträger, Es gibt Momente im Leben, da würde jeder von uns gerne flüchten. Wenn die Mathe-Arbeit zu schwierig ist, beispielsweise. Oder Oma Isolde ihren Besuch angekündigt hat. Bei unangenehmen Diskussionen und schwierigen Aufgaben im Job. Wenn du in Bedrängnis gerätst, dir die Argumente ausgehen, die Scheinwerfer grell auf dich gerichtet sind. Oder wenn dir Männer auf die Pelle rücken, dich betatschen und dich für ein minderwertiges Objekt erklären, weil du eine Frau bist. Wenn du deine Meinung nicht frei äußern darfst, weil sie politisch unerwünscht ist, schlimmer noch, du deswegen verfolgt und im wahrsten Sinne des Wortes mundtot gemacht wirst. Oder du flüchtest, weil deine Lebensumstände so menschenunwürdig sind, dass dir jegliche Perspektive genommen ist, du weder Nahrung noch ein Dach über den Kopf hast, deine Zukunft und die deiner Familie auf dem Spiel steht. Es gibt Autoren, die aus Deutschland flüchteten, weil sie politisch verfolgt wurden. Sie schrieben ihre Bücher im Exil, im 19. Jahrhundert waren das beispielsweise Heinrich Heine, Georg Büchner, im Dritten Reich Bertolt Brecht, Thomas Mann, Anna Seghers, Stefan Zweig, nur um einige Namen zu nennen. Es gibt Autoren, die sind zu uns nach Deutschland geflüchtet, wir nennen sie etwas schmucklos Migrantenschriftsteller. Sie schreiben auf Deutsch und veröffentlichen hier ihre Bücher, wie Ilija Trojanow, Wladimir Kaminer oder Navid Kermani, der im letzten Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. Ich für meinen Teil flüchte mich auch gerne, nämlich ins Schreiben. Ich finde, das ist die beste Fluchtform überhaupt! Die Flucht in eine andere, erdachte, ausgedachte Welt, voller Zufälle, Magie und Fantasie. In eine Welt, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat, sie spiegelt, abbildet, karikiert, demontiert … 14.01.2016 • Seite 2 Ich flüchte beim Schreiben in andere Identitäten, versetze mich in verschiedene Rollen, bin mal Erzähler, mal Hauptfigur, mal Nebenschauplatz, erzeuge neue Wahrheiten, Zusammenhänge, springe von der einen Handlung zur nächsten. Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt! Denn als Autorin habe ich die Fäden in der Hand, genieße die Eigenheiten der anderen Welt während des Schreibens. Erschaffe verrückte Wesen, spannende Charaktere, blicke tief in die Seelen, denke mir unerhörte Wendungen der Ereignisse aus, lasse unwahrscheinliche Tatsachen passieren – der Mikrokosmos eines Romans ist ein echter Zufluchtsort! Wohl dem, der dieses schöpferische Talent der Wirklichkeitsflucht, pardon: des Schreibens besitzt, wie ihr, die heute ausgezeichneten Preisträgerinnen und Preisträger. Ihr habt ohne Punkt und Komma bewiesen, dass ihr ausreichend über Fantasie, Einfallsreichtum, Kreativität und Wortschatz verfügt, um die Ereignisse einer Parallelwelt zu erleben und zu erzählen. Und dazu möchte ich euch herzlich im Namen aller Jurymitglieder beglückwünschen! Wir – und ich spreche hier stellvertretend für Nadja Einzmann, Antje Herden, Sabine Stemmler – wären diesmal bisweilen auch gerne vor unserer Arbeit geflüchtet. Natürlich ist der Umgang mit Texten aus einem Schreibwettbewerb eine große Ehre und Freude, schließlich ist Lesen unsere Leidenschaft und es gehört zu unserer beruflich bedingten Neugier, Neues, Ungewöhnliches, Ungelesenes aufspüren und entdecken zu wollen. Aber es war auch eine echte Herausforderung, die über 500 Texte zu sichten. Das lag weniger am Umfang. Manche Texte waren bisweilen einfach langweilig und schlecht geschrieben, das sage ich ehrlich und flüchte mich nicht in irgendwelche Ausreden. Trotzdem haben wir jeden Text bis zum Ende durchgelesen, uns Gedanken über Inhalt und Autorenschaft gemacht – und ein schlechtes Gewissen gehabt, ihn auszusortieren. 14.01.2016 • Seite 3 Und dann gibt es diese vielen anderen tollen Geschichten! Sie begeistern, reißen mit, lesen sich wie von selbst, bereiten Lesevergnügen, machen Gänsehaut und die Auswahl schwer. Dan bleibt man sofort beim ersten Satz hängen, folgt in die Geschichte, lässt sich fesseln und mitreißen. Das ist es, worauf es beim Schreiben ankommt. Die Sprache, der Stil, der magische Moment, um seinen Leser für sich zu gewinnen. Mit dem ersten Satz. Es sind erste Sätze wie diese: „Es stinkt. Es stinkt von links. Es stinkt immer von links …“ Oder „Sie sagt nichts. Sie sitzt auf ihrem Stuhl und hört lieber zu, anstatt selbst den Mund aufzumachen und einfach mal frei ihre Meinung zu sagen.“ Oder „Da tat es einen dumpfen Knall, der alle vorherigen um ein Vielfaches übertönte. Er wusste genau, was das war. Die Stadtmauer.“ Und dann liest man weiter, von Zeile zu Zeile, lässt sich fesseln, taucht willig ab in die Geschichten dieser jungen, talentierten Menschen, die sie geschrieben haben, flüchtet mit ihnen in eine andere Wirklichkeit. Liest erschrocken vom Selbstmord, in den sich die Protagonisten stürzen, aus Liebeskummer, Depressionen, Mobbing, Einsamkeit. Liest betroffen von todgeweihten Helden, dramatischen Erlebnissen im 3. Reich, hier ist nichts wieder gut zumachen. Liest berührt von der Traurigkeit eines jungen Somaliers, der die Flucht auf einem alten Schlepper nur knapp überlebt hat – und jetzt vor der Entscheidung seines Lebens steht. Liest begeistert von fantastischen Ereignissen, einfühlsamen Begegnungen und wunderbaren Freundschaften. Bleibt zurück voller vielfältiger Leseeindrücke, die sich erst langsam sortieren lassen. Es sind Sätze wie diese, die nachhaltig im Gedächtnis bleiben: 14.01.2016 • Seite 4 "... ohne zu zögern nahm der Mann seine Lumpen und verband dem Jungen das Bein. Da kam ein Soldat des Feindes und der Mann richtete sofort seine Waffe. Doch als er den Jungen sah, erkannte er den Wahnsinn und senkte sie, kniete sich zu Boden. DIE HILFE BEDINGT KEINER WORTE. SIE IST EIN NETZWERK, DAS JEDER BEHERRSCHT …" Die heute prämierten Texte zeichnen sich durch ihre sprachliche Qualität, ihren Einfallsreichtum und die Vielfältigkeit der Themen aus. Keine Spur von Generation Scheißegal oder Politikverdrossenheit oder oberflächlicher Spaßgesellschaft. Im Gegenteil: Hier sind junge Autorinnen und Autoren am Werk, die meinen es Ernst. Sie durchbrechen die Scheinheiligkeit unserer Konsumgesellschaft, indem sie komplizierte Figurenkonstellationen und emotional schwer erträgliche Handlungen schaffen. An dieser Stelle möchte ich euch, den Preisträgerinnen und Preisträgern ein Kompliment machen dafür, dass ihr nicht einfach flüchtet, sondern die Themen aufgreift, über die Deutschland gerade diskutiert. Ihr vertretet eure Meinung, nehmt ein Haltung ein, bezieht Stellung, während die intellektuelle Elite schweigt. Macht weiter! Ich bin gespannt, was wir von euch noch lesen werden! Übrigens, aber das dachten sich alle schon: Flüchtlinge ist das Wort des Jahres 2015 (Gesellschaft für deutsche Sprache) Ilona Einwohlt, im Januar 2016
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