Der Schrei nach Barmherzigkeit als Herausforderung für uns-1

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Der Schrei nach Barmherzigkeit als Herausforderung für uns alle
E. Dirscherl, Regensburg
Wenn wir Weihnachten feiern, dann steht mit der Menschwerdung des Wortes Gottes die
Barmherzigkeit Gottes im Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Das lateinische Wort für
Barmherzigkeit lautet „misericordia“ und das bedeutet: sein Herz (cor) bei den Armen
(miseri) haben. Die deutsche Übersetzung nimmt das auf und verbindet Erbarmen und Herz
miteinander: wir haben ein Herz, das sich erbarmen kann. Und Gott hat auch ein Herz, das
sich berühren und rühren lässt, wie wir es in „Tauet Himmel den Gerechten“ singen: „Gott der
Vater ließ sich rühren“. Gott hat ein Herz, daher kann er sich unser erbarmen. Herzloses
Erbarmen gibt es nicht. Im AltenTestament ist das Wort für Erbarmen vom Mutterschoß
abgeleitet. Erbarmen bedeutet spürbare, liebevolle Sorge. Schon die Zeuginnen und Zeugen
der Bibel können deshalb ihren Gott anrufen: Herr, erbarme Dich unser! Das bedeutet: sei uns
gnädig, sei uns gegenüber barmherzig. Diese Menschen haben erfahren, dass Gott ein Herz
für die Menschen hat. Der Kindermord von Bethlehem, der unsere Festtagsfreude unterbricht,
zeigt was passieren kann, wenn Menschen sich nicht im Herzen berühren lassen, sondern kalt
ihren Interessen ohne Rücksicht auf Verluste nachgehen. Da gibt es kein Erbarmen. Jesus, die
menschgewordene Barmherzigkeit Gottes, ruft uns zu: Seid barmherzig, wie es euer Vater im
Himmel ist. (Lk 6,36) Das ist eine starke Herausforderung, denn es wird uns zugetraut, dass
auch wir barmherzig sein können, wie unser Vater im Himmel! Denn wir sind, wie es schon
im Buch Genesis heißt, als Menschen Ebenbilder und das bedeutet Repräsentanten Gottes.
Sind wir barmherzig?
Diese Frage stellt uns Papst Franziskus, der bereits in seinem Apostolischen Schreiben „Die
Freude des Evangeliums“ die Barmherzigkeit als Leitmotiv seines Pontifikates und als
Kriterium für die Reform der Kirche ins Zentrum gerückt hat. Seine zugleich ernste wie
humorvolle Mahnung an die Priester, dass der Beichtstuhl keine Folterkammer sein darf,
sondern ein Ort der Barmherzigkeit sein soll, ist nur eine Variation dieser Perspektive. Denn
der Blick des Papstes erfasst das gesamte Leben der Kirche und die ganze Welt, die sich in
unruhigen Zeiten massiver Umbrüche befindet. Viele Konflikte erschüttern die Menschen und
lösen starke Fluchtbewegungen aus. Wir in unserem Land erfahren die Nähe und den
Durchzug von Flüchtlingen, die Hilfe und Zukunft suchen. Sie sind unsere Nächsten
geworden, nicht nur ferne, sondern uns nahe. Schenken wir Ihnen unser Herz?
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Papst Franziskus beobachtet, dass es einen Schrei nach Barmherzigkeit gibt angesichts
überbordender Not, Gewalt und Verunsicherung. Wenn er in diesen Zeiten ein Jahr der
Barmherzigkeit ausruft, dann weiß er, was er tut. Wenn er betont, dass die Menschwerdung
Gottes eine Revolution der Zärtlichkeit auslösen will, dann ist ihm bewusst, dass Liebe und
Barmherzigkeit Körpereinsatz erfordern, dass sie leibhaftig und spürbar geschehen. Ich kann
die Not des Anderen nur spüren und ihr begegnen, wenn ich ihm mein Herz öffne.
Barmherzigkeit geht nicht ohne herzliche Offenheit für den Anderen. Viele Menschen in
unserem Land und in der Welt sind barmherzig und helfen den Anderen, die in Not sind.
Unter diesen Menschen geschieht die Liebe, die Barmherzigkeit Gottes, egal ob sie explizit an
Gott glauben oder nicht. Wir können gar nicht dankbar genug für diese Menschen sein, die
uns ein Beispiel in der Nachfolge Jesu geben und die, ob es ihnen bewusst ist oder nicht, aus
diesem Geist Gottes heraus handeln.
Papst Franziskus will, dass die Barmherzigkeit in der Hierarchie der Wahrheiten ganz oben
steht, im Leben der Menschen wie im Leben der Kirche. (Evangelii Gaudium 36-38) Das
bringt Veränderungen mit sich. Denn es kommt zu der Frage, was unserer Barmherzigkeit in
Kirche und Gesellschaft entgegensteht. Welche Besitzstände wollen wir verteidigen, an was
wollen wir uns angstvoll klammern, um Ausreden dafür zu finden, der Barmherzigkeit Gottes
doch ausweichen zu können? Damit verfehlen wir das Wesentliche, denn das Wichtigste in
unserer Zeit ist die Rettung der Verlorenen, die sich nach Barmherzigkeit sehnen. Gott ist in
die Welt gekommen, um die Verlorenen zu suchen und zu finden und sich ihrer zu erbarmen.
Auch die Gerechtigkeit Gottes steht unter dem Vorzeichen der Barmherzigkeit. Gerechtigkeit
bedeutet dann, dem Anderen in seiner Not gerecht zu werden.
Es kann für den Papst nur dann eine Eindämmung der Gewalt und der Not in der Welt und nur
dann eine Reform der Kirche, die an der Seite der Notleidenden zu leben hat, geben, wenn wir
die Barmherzigkeit an die erste Stelle rücken, nicht die Gegengewalt, nicht die Rache, nicht
die Gegenrechnung. Das ist ein Wagnis, ein Wagnis, das auch Jesus für uns alle einging.
Lassen wir uns von dieser Dynamik und Kraft der Barmherzigkeit Gottes erfassen, dann
haben wir das Wesentliche im Blick und können uns, die Kirche und die Welt stets erneuern
und so am Leben erhalten!