Unterricht und Reflexion Regula von Felten Das reflexive Praktikum Auftragsbezogenes Beobachten und datengestütztes Reflektieren – eine Methode in vier Schritten Im reflexiven Praktikum übernimmt die Praxislehrperson zwei Funktionen: A) Sie unterstützt die Praktikantin / den Praktikanten bei der Reflexion des eigenen Unterrichts. B) Sie bietet sich als Modell an, um die Praktikantin / den Praktikanten an ihrem Können und Wissen teilhaben zu lassen. Um diese Funktionen zu erfüllen, setzt sie die Methode des auftragsbezogenen Beobachtens und datengestützten Reflektierens ein. Diese Methode gliedert das Beobachten und Besprechen von Unterricht und die Unterrichtsdemonstrationen in jeweils vier Schritte, die im Folgenden beschrieben werden. A) Unterricht beobachten und besprechen, zum Reflektieren anleiten 1. Beobachtungsauftrag erteilen: Der Praktikant erteilt der Praxislehrerin einen zur Lektion passenden Beobachtungsauftrag (z. B. Gelingt es mir, die Schülerinnen und Schüler zur aktiven Mitarbeit anzuregen? Wie gehe ich auf Beiträge der Schülerinnen und Schüler ein? Wie gehen die Schülerinnen und Schüler die Arbeit in der Gruppe an? ...) Die Praxislehrerin unterstützt den Praktikanten bei der Wahl des Beobachtungsauftrags allenfalls mit geeigneten Vorschlägen. 2. Auftragsbezogen beobachten und protokollieren: Vor der Beobachtung überlegt die Praxislehrerin, wie sich der vereinbarte Aspekt am besten beobachten und festhalten lässt (z. B. verbale Aussagen protokollieren, Strichliste anfertigen, Schüleraktivitäten festhalten ...). Während des Unterrichts protokolliert sie, ohne zu werten. Das Protokoll wird unmittelbar nach der Beobachtungsphase in eine lesbare Form gebracht. 3. Datengestützt reflektieren: Als Grundlage für die Nachbesprechung mit dem Praktikanten dient das Beobachtungsprotokoll. Der Praktikant äussert sich zu den erhobenen Daten sowie zu seinen Erlebnissen. Es entwickelt sich ein Gespräch, in dem die Praxislehrerin den Praktikanten beim Reflektieren unterstützt. Dabei soll die Praxislehrerin vor allem den Praktikanten sprechen lassen und das Nachgespräch nicht durch weitere Themen ergänzen, die ihr als erfahrene Lehrerin ebenfalls dringlich erscheinen. Ziel des Gesprächs ist, dass der Praktikant Probleme erkennt und nach möglichen Lösungen sucht. 1 Unterricht und Reflexion Regula von Felten 4. Reflexion schriftlich festhalten: Unmittelbar nach der Nachbesprechung hält der Praktikant deren wichtigste Ergebnisse schriftlich fest. Zu zwei Punkten soll sich die Reflexion äussern: a) zum erlebten Unterricht sowie zu den Beobachtungen der Praxislehrerin, b) zu den Konsequenzen für das zukünftige Handeln. Ziel des Vorgehens: Werden diese vier Schritte befolgt, so kann sich der Praktikant mit Fragen zum Unterricht auseinandersetzen, die ihn beschäftigen und sein Handeln in ausgewählten Bereichen schrittweise entwickeln. Durch die Analyse des Unterrichtsgeschehens (repräsentiert im Beobachtungsprotokoll) wird dem Praktikanten die Wirkung seines eigenen Handelns bewusst. Schliesslich formuliert er Handlungsalternativen, fasst Vorsätze für den kommenden Unterricht, setzt diese um und analysiert erneut deren Wirkung. (In der Regel ergeben sich nun die passenden Beobachtungsaufträge wie von selbst.) Mögliche Schwierigkeiten: Erfahrungsgemäss ist es für die Praxislehrerin schwierig, genügend Zurückhaltung zu üben, d. h. dem Praktikanten die Reflexionsarbeit nicht einfach abzunehmen. Besonders viel Geduld braucht sie, wenn der Praktikant den eigenen Unterricht wenig kritisch betrachtet, von der Praxislehrerin Rezepte für guten Unterricht erwartet oder nicht die Themen anspricht, die der Praxislehrerin zentral erscheinen. Nun hat sie die anspruchsvolle Aufgabe, die analytische Kompetenz des Praktikanten zu fördern, damit dieser fähig wird, seinen Unterricht theoretisch angemessen und praktisch wirksam zu überdenken. Um ihr eigenes Können und Wissen weiterzugeben und um die Reflexionsfähigkeit des Praktikanten zu fördern, führt die Praxislehrerin im reflexiven Praktikum Unterrichtsdemonstrationen durch und bespricht diese mit dem Praktikanten. B) Unterricht demonstrieren, eigenes Können und Wissen weitergeben Die Methode des auftragsbezogenen Beobachtens und datengestützten Reflektierens wird auch dann eingesetzt, wenn der Praxislehrer selbst unterrichtet. Allerdings wechseln Praxislehrer und Praktikantin nun während der ersten drei Schritte ihre Rollen: 1. Beobachtungsauftrag erteilen: Der Praxislehrer informiert die Praktikantin vor dem Unterricht über den Schwerpunkt seiner Demonstration (z. B. Rhythmisierung des Unterrichts, Impulse im Lehrgespräch ...) und erteilt einen entsprechenden Beobachtungsauftrag. Er gibt auch Hinweise zu Möglichkeiten der 2 Unterricht und Reflexion Regula von Felten Protokollführung (z. B. zeitlicher Ablauf mit Tätigkeiten der Schülerinnen und Schüler, Wortprotokoll ...). 2. Auftragsbezogen beobachten und protokollieren: Die Praktikantin beobachtet und protokolliert gemäss dem vereinbarten Beobachtungsauftrag, ohne zu werten. Das Protokoll wird unmittelbar nach der Beobachtungsphase in eine lesbare Form gebracht. 3. Datengestützt reflektieren: Die Praktikantin legt dem Praxislehrer ihr Beobachtungsprotokoll vor. Der Praxislehrer äussert sich zu den erhobenen Daten sowie zu seinen Erlebnissen. Er begründet der Praktikantin sein Vorgehen und zieht Schlussfolgerungen für den kommenden Unterricht. Die Praktikantin hat Gelegenheit, Fragen zu stellen und ihre eigenen Gedanken und Gefühle zu äussern. Es entwickelt sich ein Gespräch, das sich am gesetzten Schwerpunkt orientiert. 4. Reflexion schriftlich festhalten: Unmittelbar nach der Nachbesprechung hält die Praktikantin deren wichtigste Ergebnisse schriftlich fest. Dabei orientiert sie sich an folgenden Fragen: a) Was habe ich gelernt, entdeckt, neu gesehen? b) Wo liegen besondere Schwierigkeiten? c) Was werde ich übernehmen, selber ausprobieren, anders machen? d) Welchen Weg werde ich wählen? e) Welche Wirkung möchte ich mit meinem Weg erzielen? Ziele des Vorgehens: Eigenes Können und Wissen weitergeben: Durch Demonstrationen kann der Praxislehrer die Aufmerksamkeit der Praktikantin auf wichtige Aspekte des Unterrichts lenken. Indem die Praktikantin einen bestimmten Beobachtungsauftrag erfüllt, konzentriert sie sich auf konkrete Unterrichtsbedingungen und auf deren Wirkung. Demonstrationen helfen der Praktikantin, Unterricht neu zu betrachten, und ermuntern sie zum Erproben neuer Handlungsweisen. Auf die Themen der Praktikantin eingehen: Stimmt der Praxislehrer die Demonstrationen auf den Wissensstand der Praktikantin und ihre momentanen Probleme im Unterricht ab, kann er ihre Entwicklung gezielt unterstützen. Der Praxislehrer zeigt Handlungsalternativen vor und konfrontiert die Praktikantin dadurch mit seinen Vorstellungen von gutem Unterricht. Gemeint ist aber nicht, dass die Praktikantin den Praxislehrer imitieren muss. Die Demonstrationen sollen der Praktikantin vielmehr Anregungen für mögliches Handeln geben. 3 Unterricht und Reflexion Regula von Felten Das Reflektieren des Unterrichts modellieren: Tauschen Praxislehrer und Praktikantin ihre Rolle beim datengestützten Reflektieren, erlebt die Praktikantin, wie sich ihr Praxislehrer mit seinem Unterricht auseinandersetzt. Es muss sich also bei Unterrichtsdemonstrationen nicht um Musterlektionen handeln. Vielmehr soll die Praktikantin miterleben, dass auch erfahrene Lehrpersonen Schwierigkeiten in ihrem Unterricht bewältigen müssen. Vorteile des reflexiven Praktikums im Vergleich zum herkömmlichen Praktikum Im herkömmlichen Praktikum gibt die Praxislehrerin ihr Wissen meistens auf verbalem Weg weiter. Wird der Unterricht des Praktikanten nachbesprochen, erzählt die Praxislehrerin in der Regel von ihren Erfahrungen und Vorstellungen. Das reflexive Praktikum hingegen stellt das Können der Praxislehrerin in den Vordergrund. Anstatt dem Praktikanten zu erklären, wie er unterrichten sollte, lässt sie ihn ein Stück Praxis miterleben und zeigt ihm vor, wie sie handelt. Solche Demonstrationen (inkl. Nachbesprechungen) regen den Reflexionsprozess stärker an als blosse Erklärungen und eröffnen dem Praktikanten Handlungsspielräume. Das herkömmliche Praktikum birgt die Gefahr, dass sich der Praktikant stark an den Erwartungen der Praxislehrerin orientiert und sich ihr anzupassen versucht. Somit verpasst er es, sich mit seinen persönlichen Bildern von Unterricht auseinanderzusetzen und seinen eigenen Unterrichtsstil zu entwickeln. Im reflexiven Praktikum hat der Praktikant während der Nachbesprechungen seines Unterrichts Gelegenheit, das Reflektieren von Unterricht zu üben. Er lernt, seinem Unterricht mit einer experimentellen Haltung zu begegnen, d. h. die Wirkung des eigenen Handelns zu beobachten und schrittweise zu verbessern. 4
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