Medizintechnologie.de 1 Auslöser: Gerissene PIP-Brustimplantate Der PIP-Skandal um gerissene Brustimplantate vor fünf Jahren hat den Ruf nach einer besseren Kontrolle sowohl der Medizinproduktehersteller als auch der Benannten Stellen laut werden lassen. Nach einem unangekündigten Audit setzte der TÜV Süd am 17. September 2015 die Zertifikate eines Brustimplantateherstellers aus. Sie sind der Versuch, für mehr Patientensicherheit zu sorgen, und stehen doch heftig in der Kritik: unangekündigte Produktkontrollen bei Medizinprodukteherstellern. Kein noch so aufmerksamer Auditor könne im Rahmen seiner Pflichten Kriminellen und Betrügern das Handwerk legen, heißt es oft. Dass Auditoren Schlampereien in der Produktion aufspüren können, zeigt jedoch das Beispiel des brasilianischen Implantateherstellers Silimed. Im April 2015 überprüfte der TÜV Süd als Benannte Stelle das Unternehmen im Rahmen eines unangekündigten Audits (UAA). Dabei stellte er auf der Oberfläche einiger Brustimplantate Verunreinigungen fest. Eine weitere Stichprobe im Juli beförderte abermals Verunreinigungen zu Tage. Der TÜV Süd setzte daraufhin im September drei Qualitätsmanagement-Zertifikate von Silimed aus. Das Unternehmen darf nun für den Zeitraum der Suspendierung keine Produkte auf den Markt bringen. Nach Angaben des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gilt die Zertifikatsaussetzung in Europa für alle Medizinprodukte von Silimed. Silimed selbst teilt mit, dass die Aussetzung der Zertifikate bis zum 17. Dezember 2015 gelte. Aufsichtspflicht wurde nicht verletzt Die Praxis der unangekündigten Audits ist dem PIP-Skandal von 2010 zu verdanken. Damals hatte die französische Firma Poly Implant Prothèse (PIP) für die Füllung von Brustimplantate kein medizinisches Silikon verwendet, sondern billiges, qualitativ schlechteres Industriesilikon. Zudem hatte PIP bei der Produktion eine von drei Implantathüllen weggelassen. So riss das Implantat oft schon innerhalb von sechs Monaten. Der TÜV Rheinland als Benannte Stelle war 2013 wegen Verletzung der Aufsichtspflicht zu Entschädigungszahlungen an 3.000 Frauen in Höhe von etwa 11 Millionen Euro verurteilt worden. Am 2. Juli 2015 sprach das Berufungsgericht in Aix-en-Provence den TÜV Rheinland von jeder Verantwortung frei. Der TÜV habe seine Kontrollpflichten erfüllt und „keinen Fehler“ begangen. Die „betrügerischen Handlungen von PIP“ habe er mit den ihm zustehenden Mitteln nicht aufdecken können. Schätzungen zufolge hatten sich weltweit bis zu 125.000 Frauen PIP-Brustimplantate einsetzen lassen. 2010 flog der französische Hersteller Poly Implant PIP-Skandal machte die Lücken im System deutlich Prothèse auf. Statt medizinischen Silikons füllte er minderwertiges Industriesilikon in Brustkissen. Quelle: Fotolia Wer in Europa ein Medizinprodukt der Risikoklassen IIa, IIb und III zulassen möchte, benötigt eine CE-Zertifizierung durch eine sogenannte „Benannte Stelle“. Diese ist auch für die laufende Überwachung zuständig. PIP hatte sich damals für den TÜV Rheinland entschieden. Problem Nummer eins: Laut Richtlinie des Rates 93/42/EWG vom 14. Juni 1993 konnten Kontrollbesuche auch schon damals unangemeldet erfolgen, mussten es aber nicht. Die vom TÜV Rheinland angekündigten Kontrollbesuche ließen PIP ausreichend Zeit, die Veränderungen an den silikongefüllten Brustimplantaten zu vertuschen. Problem Nummer zwei: Damals konkurrierte eine Vielzahl Benannter Stellen um die Hersteller, die sich eine Benannte Stelle aussuchen und diese auch bezahlen. Je größer die Wahl, desto größer die Qual, oder: Wer die Wahl hat, wird sich nicht unbedingt für eine besonders streng prüfende Benannte Stelle entscheiden. So zumindest die Befürchtung der Europäischen Kommission. 2012 legte diese deshalb den ersten Entwurf einer EU-Medizinprodukteverordnung auf den Tisch. Darin ist auch von einer stärkeren Kontrolle sowohl der Medizinproduktehersteller als auch der Benannten Stellen die Rede. Es dauerte drei Jahre, bis sich Rat der europäischen Gesundheitsminister im Sommer 2015 dazu positionierte. Eine Entscheidung ist allerdings noch nicht absehbar. Dennoch blieb die EU nicht untätig. 2 Kontrolle der Kontrolleure Am 24. September 2013 gab die EU-Kommission die Empfehlung, bei Herstellern unangekündigte Audits vorzunehmen. Zudem soll eine Durchführungsverordnung eine bessere Überwachung Benannter Stellen ermöglichen. Unangekündigte Audits waren anlassbezogen schon früher möglich. So ermächtigte beispielsweise die Richtlinie Nr. 93/42/EWG des Rates über Medizinprodukte vom 14. Juni 1993 in Anhang II, Nr. 5.4, die Benannten Stellen, „zur Kontrolle des ordnungsgemäßen Funktionierens des Qualitätssicherungssystems“ unangekündigte Audits durchzuführen. Die Benannten Stellen machten von dieser Möglichkeit jedoch nur äußerst selten Gebrauch. Darauf reagierte die EU-Kommission mit der Empfehlung Nr. 2013/473/EU vom 24. September 2013 zu den Audits und Bewertungen, die von Benannten Stellen im Bereich der Medizinprodukte durchgeführt werden. Empfehlungen sind grundsätzlich nicht rechtlich verbindlich. Die Mitgliedstaten nahmen diese Empfehlung aber schon nach einer kurzen Übergangsphase an. UAAs haben seitdem eine weitaus größere Bedeutung. Seit März 2014 müssen die Benannten Stellen nachweisen, dass sie UAAs durchführen. Anhang III der EUEmpfehlung regelt die Details. So zum Beispiel, dass UAAs mindestens einmal alle drei Jahre, bei Hochrisikoprodukten oder vorliegenden Informationen auf Nichtkonformität auch öfters stattfinden sollten. Der Zeitplan sollte unvorhersehbar sein. Ein UAA sollte mindestens einen Tag dauern und von In Brüssel wird derzeit über eine EU- wenigstens zwei Prüfern durchgeführt Medizinprodukteverordnung verhandelt. Dabei werden. Ziel ist eine produktbezogene sollen auch die Pflichten von Benannten Stellen im Konformitätsprüfung, die unter Hinblick auf unangekündigte Audits anderem die technische rechtsverbindlich festgezurrt werden. Dokumentation, die rechtlichen Quelle: Fotolia Anforderungen und die Rückverfolgbarkeit kritischer Komponenten umfassen sollte. Für mehr Rechtsklarheit soll die EUMedizinprodukteverordnung sorgen, über die derzeit noch verhandelt wird. Fehlende Kontrolle begünstigt Fehlverhalten Der PIP-Skandal hat nicht nur die Problematik fehlender UAAs enthüllt. Auch die Vielzahl Benannter Stellen und die offensichtlich nur unzureichende Überwachung ihrer Aktivitäten stehen seither in der Kritik. Um Abhilfe zu schaffen, hat die EU-Kommission die Durchführungsverordnung Nr. 920/2013/EU der Kommission vom 24. September 2013 über die Benennung und Beaufsichtigung Benannter Stellen verabschiedet. Die zentralen Regelungen finden sich insbesondere in Artikel 5 „Kontrolle und Überwachung“: Demnach beurteilt die benennende Behörde die Bewertungen des Herstellers durch die Benannte Stelle und überprüft – abhängig von der Anzahl der Kunden der Benannten Stelle mindestens jedes Jahr oder alle anderthalb Jahre – die Unterlagen, Vor-Ort-Bewertungen zu Kontrollzwecken und Audits unter Beobachtung. Sie sorgt für eine systematische Weiterverfolgung von Beschwerden, Vigilanzberichten und anderen Informationen, die darauf hinweisen könnten, dass eine Benannte Stelle ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen ist. Wenn erforderlich, kann es auch unangekündigte oder kurzfristig angekündigte Vor-OrtBewertungen geben. Anzahl der Benannten Stellen geht zurück Diese Maßnahmen werden zu einer Marktbereinigung bei Benannten Stellen führen. Dies prophezeite Dr. Rainer Edelhäuser, Direktor der Zentralstelle der Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukten (ZLG) im Rahmen der MedInform- Konferenz des Bundesverbandes Medizintechnologie (BVMed) zur Medizinprodukteverordnung in Bonn schon im Mai 2014. Europaweit werde sich ihre Zahl „deutlich reduzieren“. Team NB – The European Association for Medical Devices of Notified Bodies in Liège/Belgien bestätigt das jetzt mit aktuellen Zahlen. So weist das Informationssystem der EU-Kommission „Nando“ (New Approach Notified and Designated Organisations) in den 18 Monaten seit April 2014 einen Rückgang Benannter Stellen von 73 auf 62 für (nicht invasive) Medizinprodukte, von 26 auf 23 für In-Vitro-Diagnostika und von 18 auf 17 für aktive implantierbare Medizinprodukte auf. Das entspricht einem Rückgang von insgesamt 117 auf 102 Benannte Stellen (fast 13 Prozent) in anderthalb Jahren. Verantwortlich für Meldungen und Abmeldungen sind die Mitgliedstaaten. In Deutschland gibt es derzeit 13 benannte Stellen für (nicht invasive) Medizinprodukte, vier für In-Vitro-Diagnostika und sechs für aktive implantierbare Medizinprodukte. Mehr im Internet: Durchführungsverordnung Nr. 920/2013/EU 3 Unangekündigte Audits in der Praxis Der TÜV Süd in München hat als Benannte Stelle seit dem 2. Quartal 2014 weltweit etwa 600 unangekündigte Audits durchgeführt. Die deutschen Unternehmen schneiden dabei sehr gut ab. Wer sich als Medizinproduktehersteller für den TÜV Süd als Benannte Stelle entscheidet, muss – gemäß EU-Empfehlung – alle drei Jahre mit einem unangekündigten Audit rechnen. Bei Herstellern von Hochrisikoprodukten klopft der TÜV Süd alle zwei Jahre an die Tür. Unangekündigte Audits erfolgen zusätzlich zu angekündigten Überwachungs- und Wiederholungsaudits. Der TÜV SÜD hält eine Änderung dieser EU-Vorgabe für diskussionswürdig. Im Rahmen der MedInform-Konferenz des BVMed zu aktuellen Entwicklungen im Medizinprodukterecht am 26. März 2015 in Bonn räumteDieter Eckert, Director Medical Affairs bei der TÜV Süd Product Service GmbH in München ein, dass UAAs gerade für kleine Medizinproduktehersteller und für Hersteller mit multiplen Produkten und Herstellungsstätten besonders ressourcenaufwändig seien. Man könne durchaus darüber nachdenken, die UAAs als Teil des regulären Auditzyklus anzuerkennen. Die Kosten für ein UAA trägt der Hersteller. Er kann vom TÜV Süd eine allgemeine Kostenschätzung für seinen Standort bekommen. „Dabei werden Faktoren berücksichtigt, wie Größe und Organisation des Herstellers sowie Anzahl der Standorte und Produkte“, sagt Heidi Atzler vom TÜV Süd. Aussetzung der Zertifizierung bei Sicherheits- oder Leistungsmängeln Bei der Durchführung der UAAs orientiert sich der TÜV Süd an den Vorgaben der EUKommission sowie den einschlägigen Verfahren für die Auditierung und Zertifizierung von Qualitätsmanagementsystemen entsprechend der DIN EN ISO/IEC 17021. Aber nach welchen Kriterien entscheidet der TÜV Süd, ob und wo ein UAA stattfinden soll? Hinweise auf „verdächtige Produkte“ könne man beispielsweise Medienberichten entnehmen, heißt es beim TÜV Süd. Auch Vorkommnisse mit ähnlichen Produkten könnten dazu führen, dass eine Benannte Stelle die entsprechende Hersteller genauer unter die Lupe nimmt. Stellen die TÜV-Prüfer während des Audits Abweichungen fest, erhält der Hersteller einen Auditabweichungsbericht. Er muss dann innerhalb von 60 Tagen eine Ursachenanalyse und einen Maßnahmenplan vorlegen bzw. nachweisen, dass er die Maßnahmen umgesetzt hat. Ergibt eine weitere Produktprüfung, dass die Angaben des Herstellers unzutreffend sowie die Sicherheit und Leistung des Produktes dadurch beeinträchtigt sind, wird die Zertifizierung ausgesetzt. Deutsche Medizinproduktehersteller haben sich bei den bisherigen UAAs des TÜV Süd gut geschlagen: „Von unserer Seite gab es keine Aussetzung eines Zertifikats bei einem deutschen Unternehmen“, sagt Atzler. Hersteller und Auditoren sind zufrieden Die Empfehlung der EU-Kommission für die Durchführung von UAAs gilt für alle Inhaber einer EG-Bescheinigung (verantwortliche Hersteller), also unabhängig davon, ob der Hersteller innerhalb oder außerhalb des europäischen Wirtschaftsraums seinen Firmensitz hat. Nach Angaben des TÜV Süd sind die UAAs bisher zur beiderseitigen Zufriedenheit verlaufen. Atzler berichtet: „Alle Unternehmen und deren Mitarbeiter waren auf das unangekündigte Audit vorbereitet. Laut unseren Auditoren waren die Mitarbeiter der Unternehmen sehr kooperativ. Rückmeldungen der Kunden brachten zum Ausdruck, dass die UAAs von unserer Seite aus sehr professionell und von kompetenten Auditoren durchgeführt wurden.“ Dass die UAAs für die Unternehmen eine gute Möglichkeit sind, die eigenen Prozesse zu reflektieren und zu optimieren, bestätigt Peter Sommer, der den technischen Vertrieb bei der bebro electronic GmbH leitet. Als Zulieferer für Medizintechnikunternehmen kann auch bebro electronic jederzeit unangemeldeten Besuch von einer Benannten Stelle bekommen. „Ich sehe das positiv“, sagt Sommer. „Es ist ja im Interesse von uns allen, dass sichergestellt ist, dass Tag für Tag sicher und qualitativ hochwertig produziert wird. Wer seine Prozesse im Griff hat, hat von der Benannten Stelle nichts zu befürchten“, ist der Vertriebsleiter überzeugt. Das kann Heiko Borkowsky von der Metrax GmbH in Rottweil bestätigen. Anfang 2014 war der Hersteller von Defibrillatoren eines der ersten Unternehmen, die vom TÜV Süd auditiert wurden. Das letzte Rezertifizierungs-Audit lag gerade acht Wochen zurück. Die dabei festgestellten Abweichungen seien minimal gewesen und beim UAA Dass die TÜV-Prüfer Betrügern auf die Schliche bereits behoben, berichtet Borkowsky. kommen, bezweifelt Heiko Borkowsky, Manager „Es wäre auch eigenartig gewesen, Quality & Regulatory Affairs bei der Metrax GmbH in wenn die Auditoren etwas gefunden Rottweil. hätten, was beim regulären Audit Quelle: Metrax GmbH übersehen worden wäre.“ Gemäß einer Empfehlung des TÜV Süd „Was Sie über unangekündigte Audits wissen sollten“ habe sich die Metrax GmbH vorbereitet: Prozesse überdacht sowie die technische Dokumentation und die Produktion überprüft. Zudem habe man in die Lieferantenverträge eingearbeitet, dass die Benannte Stelle der Metrax GmbH jederzeit unangekündigt vorbeikommen und dass Borkowsky als Manager Quality & Regulatory Affairs dabei zugegen sein könne. Für den Ablauf eines unangekündigten Audits hat er für sich und seine Mitarbeiter eine Art Aktionsplan festgelegt. „Dazu gehört auch, dass ich mir vom Auditor als erstes das Autorisierungsschreiben zeigen und mir dieses von der Benannte Stelle per Fax bestätigen lasse.“ Alles in allem glaubt Borkowsky, dass die deutschen Unternehmen bei den UAAs ganz gut abschneiden. Gleichwohl bezweifelt er, dass Betrügern damit das Handwerk gelegt werden könnte. Und: „Die zusätzlichen Kosten – in unserem Falle 5.000 Euro –, die ja neben den Kosten für die regulären Audits anfallen, sind durchaus eine Last.“ Mehr im Internet: Was Sie über unangekündigte Audits wissen sollten Medizinproduktesicherheit Unangekündigte Audits greifen Seit 2014 müssen Benannte Stellen bei Medizinprodukteherstellern in unangekündigten Audits stichprobenartig die Produktion kontrollieren. Quelle: Fotolia 10.12.2015 Der TÜV Süd hat im Zuge eines unangekündigten Audits (UAA) beim Implantatehersteller Silimed offenbar größere Produktionsmängel festgestellt. Er setzte daher am 17. September 2015 drei Zertifikate aus. UAAs sind nach einer Empfehlung der EU-Kommission vom September 2013 Pflicht. Als weitere Reaktion auf den Skandal mit PIP-Brustimplantaten von 2010 wirkt nun auch eine Verordnung der EU-Kommission: Wegen gestiegener Qualitätsanforderungen und einer besseren Kontrolle sinkt die Zahl Benannter Stellen. von Holger Wannenwetsch © medizintechnologie.de
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