Gottesdienst zum Welttag der Suizidprävention 10.9.2015, Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche Predigt mit Römer 8, 38f. und Psalm 139, 8b Pfarrer Martin Germer Liebe Gemeinde! Gedichte aus dem Kreativ-Wettbewerb der Telefonseelsorge haben wir eben schon gehört, und wer will, kann sie auf dem Gottesdienstblatt nachlesen. Ich möchte Ihnen nun von dem Bild erzählen, das gestern bei der Preisverleihung ebenfalls einen ersten Preis bekommen hat. Darf ich versuchen, es Ihnen vor Ihr inneres Auge zu malen? Bild: Katharina Vöhler Das Bild zeigt auf den ersten Blick einfach ein großes, buntes Komma. Wenn man genauer hinsieht, merkt man: Dies große Komma ist aus lauter kleinen Fotos zusammengesetzt. Jedes von ihnen zeigt ein Mädchen oder einen Jungen, einen jungen Mann, eine junge Frau. Sie alle halten jeweils ein Pappschild vor sich. Darauf ist wiederum ein Komma zu sehen. Achtundfünfzigmal, wenn ich richtig gezählt habe, halten freundliche junge Menschen uns ein Komma hin. Und bei einem von ihnen, genau in der Mitte des großen Kommas, leuchtet uns, gleich neben seinem Kopf ein Sonnenstrahl entgegen. 1 Können Sie sich das in etwa vorstellen, dies große Komma, zusammengefügt aus lauter jungen Menschen, die uns offenbar mit ihrem Komma etwas mitteilen möchten? Was damit gemeint ist, steht daneben: „Setze für dein Leben keinen Punkt, sondern ein Komma. Gib dem, was danach kommt, eine Chance.“ Damit möchten diese 58 jungen Menschen werbend hineinsprechen in das Leben ihrer Freundinnen und Freunde, ihrer Mitschüler, ihrer Mitstudenten, ihrer Angehörigen, ihrer Mitmenschen überhaupt. Auch wenn du ganz verzweifelt bist. Auch wenn du nicht weißt, wie es mit dir noch weitergehen soll. Auch wenn du eine abgrundtiefe Enttäuschung erlebt hast und das Leben für dich gar keinen Sinn mehr hat. Auch wenn du das Gefühl hast, du kommst da nie wieder raus, aus diesem Mobbing. Auch wenn da in deinem Inneren nur noch eine große Leere ist. Oder ein tiefes schwarzes Loch. „Setze für dein Leben keinen Punkt!“ Bitte nicht! Bitte zumindest noch nicht! „Setze … ein Komma“. „Gib dem, was danach kommt, eine Chance.“ Kein großes, vollmundiges Versprechen: Es wird alles wieder gut! Es wird alles wieder heil. Alles ganz toll. Es ist eine Bitte: Schlag dir Tür nicht endgültig zu. Lass sie einen Spalt offen. Offen für etwas, was vielleicht morgen kommen kann. Offen dafür, dass es vielleicht sogar für dich selbst morgen etwas geben könnte, was dich verlocken könnte, sie weiter zu öffnen, hinauszuschauen, die Luft zu schnuppern, hindurchzugehen. „Du könntest noch zum Nordpol reisen“, haben wir eben im Gedicht einer anderen Jugendlichen gehört, „du könntest Erdbeern essen. Du könntest laut im Freien schreien.“ So wie es jetzt in dir ausgeht, ist das alles vielleicht unvorstellbar für dich. Unerreichbar. Völlig egal. Aber war es das immer? Und wird es das auch morgen sein? Willst du nicht doch noch einmal darüber nachdenken? „Setze für dein Leben keinen Punkt.“ „Setze … ein Komma.“ „Gib dem, was danach kommt, eine Chance.“ Wir sind hier in der Kirche zusammengekommen, weil uns das Thema angeht. Weil es uns betroffen macht, dass immer wieder Menschen mit ihrem Leben an einen Punkt kommen, wo sie selbst meinen, nun diesen letzten Punkt setzen zu müssen und nicht mehr anders zu können. Manche unter uns mussten das selbst ganz schmerzlich erleben, bei einem Menschen, der ihnen nahe war. Andere unter uns haben beruflich oder auch in ihrem ehrenamtlichen Engagement damit zu tun. Oder es beschäftigt uns einfach so. 2 Womöglich waren wir sogar in unserem eigenen Leben einmal an einem solchen Punkt, wo es für uns gar nicht mehr völlig undenkbar war, selbst diesen letzten Punkt zu setzen. Womöglich standen wir selbst schon einmal dicht davor. Oder können uns zumindest auch solche Situationen im Leben vorstellen. Umso mehr aber würden wir uns jetzt wohl allesamt gern in dies Bild mit hineinstellen und ebenfalls sagen: „Setze für dein Leben kein Punkt, sondern ein Komma. Gib dem, was danach kommt, eine Chance.“ Nicht immer ist der Punkt wirklich ein Punkt. Glücklicherweise! Nicht jeder Suizidversuch endet tödlich. So gibt es Menschen, für die hat nach einem Suizidversuch tatsächlich etwas Neues begonnen. Sie können im Nachherein sagen: Wie gut, dass mein Versuch damals „misslungen“ ist – blödes, ganz verkehrtes Wort an dieser Stelle – und dass ich gerettet werden konnte! Mir wurde das Leben neu geschenkt! Ich kann es nun mit ganz anderen Augen sehen. Der Punkt, den ich selbst setzen wollte, ist zum wunderbaren Doppelpunkt geworden. Der Türspalt zum Leben, der für mich doch noch geöffnet blieb, hat sich weit aufgetan. Ich bin froh, dass ich leben darf. Das heißt nicht, dass jetzt alles nur noch toll und easy wäre. Natürlich gibt es auch weiterhin schwere Wegstücke, schmerzliche Enttäuschungen, Momente des Selbstzweifels, wie ihn anders gestrickte Menschen vielleicht gar nicht kennen. Vielleicht gibt es wieder Phasen, in denen es inwendig sehr dunkel aussieht; trotz der Mittel gegen die Depression, trotz der Techniken, die man zwischenzeitlich gelernt hat, um damit umzugehen. Aber der Wert des Lebens hat sich neu und viel tiefer erschlossen. Dass es da einen Sinn gibt für mich und dass der sich auch neu zeigen kann, das hat gerade der Suizidversuch ans Licht gebracht. Dieser Sonnenstrahl in der Mitte des Kommas: den gibt es, und den wird es auch wieder geben. Also: Keinen Punkt setzen, sondern immer wieder beherzt ein Komma – für das, „was danach kommt“. So kann es sein. Wir wissen aber auch, und manche mussten es schmerzlich ganz von nahem miterleben: Leider ist das nicht immer so. Es kann auch sein, dass der aus seinem Suizidversuch scheinbar gerettete Mensch doch innerlich nicht wegkommt von diesem Punkt, wo er oder sie es dann irgendwann wieder versuchen wird. Ich habe doch nun schon so viel versucht, aber mir kann nichts helfen. Die Angst, oder die Leere in mir oder die innere Kälte ist zu groß, Ich kann mit diesen Schmerzen, den körperlichen oder den seelischen, nicht länger leben. Dennoch werden wir, nicht nur bei jungen Menschen, nicht aufhören zu sagen: Bitte tu es nicht! „Setze für dein Leben keinen Punkt“, sondern probiere es ein weiteres Mal mit dem „Komma“. Sieh dein Leben nicht als abgeschlossen an. Gib dem, was für dich noch kommen könnte, eine Chance. 3 Und noch besser ist es, wenn wir das nicht nur als Bitte oder Appell sagen, sondern wenn wir es mit einem Angebot verbinden können. „Hände reichen – Leben retten“ ist in diesem Jahr das Motto des Welttages der Suizidprävention. In einer symbolischen Aktion haben sich heute Mittag am Brandenburger Tor 600 Menschen zu Boden fallen lassen, stellvertretend für die 600 jungen Menschen, die sich alljährlich in unserem Land das Leben nehmen, und sind so lange liegengeblieben, bis ihnen ein anderer die Hand gereicht hat, um ihnen aufzuhelfen. „Gib dem, was danach kommt, eine Chance“, sollte also auch heißen: Gib mir eine Chance, dir zu helfen und etwas anderes in dein Leben hineinzubringen. Gib kompetenten Helfern und Hilfsreinrichtungen eine Chance. Verschließ dich nicht gegen solche Angebote. Kapsel dich nicht gegen alles ab in der Meinung, dass dir nicht geholfen werden könnte. Aus der Bibel haben wir vorhin gehört: „Nichts gibt es, …, das uns trennen kann von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist, unserem Herrn.“ Der christliche Glaube erkennt die Liebe Gottes in dem, was Jesus Christus gesagt und getan hat und wie er sich in seinem Leben besonders den scheinbar Verlorenen zugewandt hat. Den Ausgegrenzten und den an den Rand Gedrängten, den Traurigen und den vom Leben schwer Gezeichneten sagt er: Ihr seid nicht verloren. Jedenfalls nicht für Gott. Ganz im Gegenteil: Seine Liebe gilt zuallererst euch. Und Gott möchte euch brauchen, jeden und jede mit den eigenen Gaben und Möglichkeiten. Jeden mit seiner Kraft, und sei sie noch so gering. Gott, wie er uns in Jesus Christus und in vielen anderen Quellen unseres Glaubens begegnet, möchte, dass neues Miteinander entstehen kann auch da, wo es so gar nicht danach aussieht. Vielleicht an unerwartet neuer Stelle! Vielleicht wartet es schon auf dich und möchte in deinem Leben aufleuchten und dir zeigen, welchen Weg du gehen kannst. Also auch darum: „Setze für dein Leben keinen Punkt, sondern ein Komma. Gib dem, was danach kommt“, gib dem, wie Gott in dein Leben hinein wirken möchte, „eine Chance“! Aus diesem Glauben, dass Gott uns allen das Leben gegeben und anvertraut hat, ist in der Kirche lange abgeleitet worden, dass es eine schwere Sünde sei, sich selbst das Leben zu nehmen; und dass man sich damit gewissermaßen selbst und willentlich von Gott trennen würde. Demgegenüber möchte ich für uns alle den Glaubenssatz stark machen und unterstreichen: „Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes.“ Also auch nicht unsere eigene Verzweiflung! Auch die eigene Seelenfinsternis soll uns nicht von Gott trennen können und nicht die Sterbensmüdigkeit, die uns dazu verleiten könnte, doch selbst den Punkt für unser Leben setzen zu wollen. 4 Gewiss, Gott möchte uns davor bewahren, dass wir einen solchen Schritt tun. Und er möchte, dass wir einander so beistehen, dass wir davor bewahrt bleiben, unser Leben selbst zu beenden. Aber wenn ein Mensch dann doch diesen Schritt geht, so kann und wird auch dies ihn nicht „trennen von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist, unserm Herrn“. Im Psalm haben wir darum auch diese Worte gehört: „Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir“, Gott, „und die Nacht leuchtete wie der Tag“. Deine Liebe, Gott, ist das Licht, das auch unsere tiefste Seelennacht nicht daran hindern kann, für uns zu leuchten und uns zu wärmen. Und davor stehen im Psalm auch die Worte, die als Motto über diesem Gottesdienst stehen: „Bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.“ Auch und gerade die Menschen, die selbst für ihr Leben einen Punkt gesetzt haben, werden dort, bei den Toten, weiterhin und wohl auf ganz eigene, neue Weise ihrem Schöpfer begegnen. Das Licht seiner Liebe wird auch dort leuchten – und auch für sie. So wird schließlich auch dieser Punkt, den sie für sich selbst gesetzt haben, von Gott zu einem Doppelpunkt gemacht, und hinter diesem Doppelpunkt leuchtet die Liebe Gottes, wie sie uns in Jesus Christus begegnet. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich sage dies nicht, um damit den Suizid annehmbarer zu machen. „Setze für dein Leben keinen Punkt, sondern ein Komma“, dieser Wunsch, diese Bitte kommt auch von Gott her auf uns zu. Und solches Engagement für das gottgeschenkte Leben bleibt uns aufgetragen. Ich verstehe aber gerade den Glauben, der ohne Angst auch über das Lebensende hinausblicken darf, als Kraft, um uns im Leben zu halten. Damit wir nicht selbst den finalen Punkt setzen, sondern es immer wieder neu doch mit dem Komma versuchen. Der Glaube, dass Gott im Tod auf uns wartet, will uns zuvor in der Bereitschaft bestärken für das, was jetzt im Leben noch kommen könnte. Für Lebenskraft, die Gott neu in uns wachruft. Für Begegnungen, die er neu schenken möchte. Warum sollte Gott nicht auch jetzt im Leben, wie dunkel oder wie grau es sich auch darstellen mag, noch etwas Neues aufleuchten lassen und so dem Dasein neue Farbe geben? Dabei dürfen wir getrost wissen: Die andere Möglichkeit gäbe es auch noch, die mit dem Punkt. Sie ist da und sie bleibt. Aber noch nicht jetzt. Jetzt will ich es lieber ein weiteres Mal mit dem Komma versuchen für mein Leben und für unser Leben. Und morgen, so Gott will, auch. Und vielleicht wird Gott es geben, dass ich irgendwann doch gar nicht mehr über Punkt und Komma nachdenken muss, sondern einfach weiter leben kann, das Leben, das Gott mir gegeben hat, in der Zeit, die er mir schenkt. 5 Dass die Menschen, mit denen wir es zu tun haben, und dass wir selbst in einer solchen Zuversicht Halt finden können. Und dass wir darin zugleich Trost finden können da, wo wir die Grenzen unserer Möglichkeiten erfahren müssen: Das wünsche ich uns allen. Amen. 6
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