Marcella Melien Zusammensetzung Im Stimmenkonzert der Bar

Marcella Melien
Zusammensetzung
Im Stimmenkonzert der Bar setze ich mich zu ihm an den Tisch, weil ich
seine Sprache lernen möchte und er meine. Er sagt, er mag Deutsch vor
allem wegen der Komposita. Weil man alle möglichen Worte
zusammensetzen kann, und das ergibt dann nicht unbedingt Sinn, aber es
entstehen neue Worte, die zumindest nicht so falsch sind, dass das
Rechtschreibprogramm sie rot unterkringelt.
Begrüßungskuss
Wenn ich die letzte Treppe vor dem vierten Stock hochkomme, steht er
auf der Türschwelle, als wolle er den Moment abpassen, in dem ich sein
Blickfeld betrete. Dann steige ich die letzten Stufen schneller, obwohl
mir der Atem schon knapp wird. Der erste Kuss gerät zu eilig, wie eine
Pflicht, wie der Kuss eines Kindes. Während ich im Flur Schuhe und
Jacke abstreife, geht er mir voran in das Zimmer.
Hauthaftung
Seine Haut ist kühl, glatt wie die eines Reptils vielleicht und ich hoffe,
dass sie genauso ektotherm auf meine Körperwärme reagieren wird. Er
hat geraucht, zum geöffneten Fenster hinaus, er riecht nach etwas
mentholfrischem, Kaugummi oder Zahnpasta. Der Rauchgeruch bleibt
an seiner Haut nicht haften, sagt er. Er hat eine Theorie, dass das bei
manchen Menschen so ist.
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Herzbeben
Der Kaffee, den er kocht, ist pechschwarz und dickflüssig und so stark,
dass ich davon Herzflattern bekomme; kleine Erschütterungen unter der
Haut, die sich fortsetzen bis in ein leichtes Zucken des dünnen T-ShirtStoffs darüber, ich sehe sie mehr, als dass ich sie spüre.
Touristentage
An einem Nachmittag, an dem wir nichts zu tun haben oder zumindest
nur Dinge, die sich problemlos aufschieben lassen, zelebrieren wir die
müßige Willkürlichkeit von Touristen in einer fremden Stadt, obwohl es
Küchen gibt, in die wir zurückkehren könnten, Schreibtische mit
abgelegter Arbeit und Klingelschilder mit unseren Namen darauf.
Herbstlicht
Wir schieben die Fahrräder in seinen Hof, das orangegelbe Ahornlaub
knisternd in den Speichen verfangen, ich schließe mein Rad an seinem
fest. Ich nehme alles überdeutlich als schön wahr: Das glatte Holz des
Treppenhausgeländers unter meinen Fingern und den Dampf, der sich
aus den Teetassen hochkräuselt und ich kann nicht anders, als das zu
denken und mein nächster Gedanke ist, wie pathetisch, so kann es gar
nicht weitergehen.
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Kauflaune
In einem Antiquariat besehen wir das alte Zeug anderer Leute mit
ironischem Lächeln und äußern uns abfällig über den Vintage-Hype. Mit
meinem Not-Euro für den Einkaufswagen reicht es genau für den
spinatgrünen Lederkoffer. Wir fahren über Seitenstraßen zu ihm, er
vorneweg, den leeren Koffer am Arm schlenkernd. Er stellt ihn in die
Zimmerecke neben die Topfpflanze, wo er sich farblich gut einpasst und
ich ihn vergesse.
Winterschlaf
Seine Wohnung hat sich in ein Iglu verwandelt, Eisblumen sind über die
Dachfenster gewuchert, man kann nicht mehr hinaussehen, aber der
Himmel ist ohnehin hinter einer Wolkenschicht verschwunden. Vor
wenigen Wochen noch sind die Zugvögel über sein Bett hinweg in den
Süden geflogen, ich schaute zu, blieb liegen und zog die Daunendecke
hoch über meine nacktgerupften Schultern.
Schneeballschlacht
In einer Nacht, Temperaturen unterhalb des Gefrierpunkts, weckt mich
dumpfes nasses Aufprallen an der Scheibe. Er wirft die Schneekugeln
nicht aus Rücksicht auf meine Mitbewohner, sondern damit ich erkenne,
dass er es ist; damit ich weiß, dass ich mich nicht in den Schlaf
zurückwälzen kann. Seine Haut ist noch kälter als sonst. Auch dort, wo
Kleidung sie bedeckt hat. Er flucht, sucht seine Taschen ab, sagt, dass er
einen Handschuh verloren hat, dass er lieber gleich beide verloren hätte,
was soll er mit einem einzelnen Handschuh?
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Über Reste
Nachdem er die Stadt verlassen hat, stehe ich in seinem Zimmer, leer
und kalt. Stelle mir vor, wie er seine Sachen in den grünen Koffer packt,
wie er lächelt dabei. Nur die Topfpflanze steht noch da, vertrocknet,
eingestaubt. Auf dem Dachstuhlbalken liegt ein Buch, das mir bekannt
vorkommt. Mein Name ist auf das Vorsatzpapier geschrieben. Zwischen
den Seiten steckt eine Kinokarte, den Film habe ich nicht gesehen, aber
er hat mir davon erzählt und ihn empfohlen.
Kopfkälte
Der Winter ist hartnäckig dieses Jahr. Es ist März und immer noch liegt
Schnee. Die Kälte beißt mir in die Wangen, dass das Blut unter der Haut
zusammenläuft. Er hat eine Postkarte mit einem überbelichteten
Strandfoto darauf geschickt. Auf der Rückseite unordentliche Schrift und
Flüchtigkeitsfehler, erste Symptome der Sprachabgewöhnung. Ich warte.
Ich habe angefangen, Mützen zu tragen, weil mir jemand gesagt hat, dass
man die meiste Wärme über den Kopf verliert.
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