Wie entsteht eine Angststörung? Die „Kampf oder Flucht“

Wie entsteht eine Angststörung?
Die „Kampf oder Flucht“ Reaktion
Das menschliche Nervensystem unterteilt sich in das animale (willkürliche) und das
autonome oder vegetative (unwillkürliche) Nervensystem Das animale Nervensystem
kontrolliert Handlungen, die bewusstes Denken voraussetzen, z.B. das Heben eines
Arms. Das autonome Nervensystem kontrolliert alle Aktivitäten, die dem bewussten
Willen entzogen sind, z.B. die Atmung. Das autonome Nervensystem wiederum
gliedert sich in den sympathischen und den parasympathischen Teil. Die folgende
Übersicht macht den Unterschied deutlich:
BILDER:
GOLL/SCHWOERBEL: SINNE, NERVEN, HORMONE (CORNELSEN-VELHAGEN & KLASING)
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Autonomes Nervensystem
Sympathischer Teil: reguliert „Kampf oder Flucht“-Reaktionen
Parasympathischer Teil: reguliert die übrigen Funktionen des Körpers
wie Wachstum, Verdauung, entspanntes Atmen usw.
Wird der sympathische Teil des autonomen Nervensystems aktiviert, stellt er alle
nicht lebensnotwendigen Aktivitäten im Körper ein und erhöht die die Aktivitäten in
allen Systemen, die für die Reaktion auf eine äußere Bedrohung („Kampf oder
Flucht“) notwendig sind. Zahlreiche komplexe körperliche Vorgänge sind an diesem
Prozess beteiligt. Am stärksten zu spüren sind folgende Veränderungen:
Beschleunigter Pulsschlag: Um für Kampf oder Flucht gewappnet zu sein, wird
mehr Blut in die Muskeln gepumpt.
Tiefere und schnellere Atmung: Der Körper wird verstärkt mit Sauerstoff
versorgt.
Erhöhte Muskelspannung: Die Muskeln werden auf die bevorstehenden
Aufgaben vorbereitet.
„Kalter Schweiß“: Vorbereitung auf das eigentliche Schwitzen bei der zu
erwartenden Muskelaktivität.
Verengung der peripheren Blutgefäße an der Körperoberfläche: Der Blutdruck
wird erhöht. Dabei wird das Gesicht meist blass – man ist „bleich vor Angst“.
Zittern und Sträuben der Haare: Die Körperwärme wird erhalten; der Körper
wird vor der erhöhten Bedrohung durch Kälte geschützt, die durch die
Verengung der peripheren Blutgefäße entsteht.
Erweiterung der Pupillen: Bessere Sicht auf drohende Gefahren.
Aussetzen der Verdauungstätigkeit: Ermöglicht eine zusätzliche
Blutversorgung der motorischen Muskeln.
Trockener Mund: Eine Folge der verringerten Magensaftproduktion, die
wiederum auf das Aussetzen der Verdauungstätigkeit zurückzuführen ist.
Drang zur Entleerung von Blase und Darm: Befreit den Körper vor der zu
erwartenden anstrengenden Aktivität von unnötigem Ballast.
Ist die „Kampf oder Flucht“-Reaktion ausgelöst, werden im Blut vermehrt Adrenalin
und ähnliche chemische Stoffe freigesetzt. Diese Reaktion sorgt für zusätzliche Kraft,
Ausdauer und erhöhte Reaktionsschnelle. Soldaten hilft sie, im Kampf zu überleben,
Sportler sind durch sie zu besseren Leistungen fähig. Glücklicherweise geht es in
unserer modernen, hochtechnisierten Welt immer weniger darum, körperliche
Gefahren abzuwehren. Für unsere Vorfahren jedoch hatte die „Flucht oder Kampf“Reaktion oft eine unmittelbar lebensrettende Bedeutung.
Die Bedrohungen, mit den wir heute zu tun haben, sind eher psychischer Natur: Wir
fürchten den Verlust von Liebe, Anerkennung, Prestige und Zugehörigkeitsgefühl.
Obgleich diese Bedrohungen keine sofortige körperliche Reaktion erfordern, reagiert
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unser Körper auch in diesen Situationen so, als müssten wir die drohende Gefahr
durch eine körperliche Aktivität abwehren. Ist z.B. jemand verlegen und fühlt sich von
den vermeintlich negativen Gedanken anderer Menschen bedroht, löst sein Körper
die „Kampf oder Flucht“-Reaktion aus und beginnt, die körperlichen Voraussetzungen
für eine entsprechende Handlung zu schaffen. Die dabei beobachteten körperlichen
Veränderungen entsprechen genau den Symptomen einer Panikattacke.
Eine Panikattacke ist also nichts anderes als eine übersteigerte „Kampf oder Flucht“Reaktion. Wie es zu dieser übersteigerten Reaktion kommen kann, wollen wir im
nächsten Abschnitt betrachten.
Wie Panikstörungen entstehen
Zur Entstehung von Panikstörungen gibt es verschiedene Theorien. Wir wollen hier
ein Modell vorstellen, dass die derzeit bekannten Forschungsergebnisse unserer
Meinung nach am besten zusammenfasst. In diesem Modell gelten Panikstörungen
als Ergebnisse mehrerer Entwicklungsschritte. Diese Schritte wollen wir an einem
konkreten Fallbeispiel, der Geschichte von Brian, nachvollziehen.
Am Anfang der Entwicklung stehen unangenehme körperliche Empfindungen, die als
angsterregend empfunden werden und für die es keinen ersichtlichen Grund gibt.
Dabei handelt es sich meist um eine Kombination einiger bei der Beschreibung von
Panikattacken aufgeführten Symptome. Brian erlebte dies zum ersten Mal, als er
gerade bei der Arbeit war. Er spürte plötzlich seinen Pulsschlag und konnte nicht
mehr ruhig atmen. Das Gefühl hielt nur etwa 10 Minuten an, doch fühlte sich Brian
danach angeschlagen und ängstlich. Wie die meisten Menschen in einer solchen
Situation führte Brian die Symptome auf eine körperliche Erkrankung zurück und
verließ seinen Arbeitsplatz, um sich ärztlich untersuchen zu lassen.
Der nächste Schritt besteht in dem Fehlen einer akzeptablen Erklärung für die
mysteriösen Symptome. Der Arzt sagte Brian, er sei völlig gesund, habe sich jedoch
vielleicht in letzter Zeit nicht genug Ruhe gegönnt und solle versuchen, ein wenig
kürzer zu treten. Viele Menschen lassen sich in diesem Stadium von ihrem Arzt
beruhigen und hören auf, darüber nachzudenken, wie es zu den Symptomen
gekommen ist. Wie die meisten ängstlichen Persönlichkeiten hatte Brian jedoch das
Bedürfnis, auf seine Mitmenschen völlig beherrscht und normal zu wirken und alles
zu vermeiden, was ihm deren Missbilligung hätte einbringen können. Brian machte
sich Sorgen, dass die mysteriösen Symptome wiederkehren könnten und er die
Selbstkontrolle verlieren könnte.
Diese Angst führte dazu, dass Brian nun peinlich genau auf seine körperlichen
Empfindungen achtete. Er zählte häufig seinen Puls und beobachtete den eigenen
Atemrhythmus. Diese erhöhte Körpersensibilität nennt man Internalisierung oder
Körperbeobachtung. Gleichzeitig begann Brian, sich auszumalen, was alles
passieren könnte, falls die gefürchteten Symptome in den verschiedenen Situationen
wiederkämen. Diese Befürchtungen nennt man negative Antizipation. Die
Kombination von mangelnder körperlicher Erklärung, Internalisierung und negativer
Antizipation ist der Ursprung eines Teufelskreises, der allen Panikstörungen
zugrundeliegt.
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Quelle: www.ddp-net.de
Dieser Teufelskreis ist die Schlüsselkomponente aller Panikstörungen. Wie er
funktioniert, können wir an Brians Beispiel anschaulich nachvollziehen: Als Brian
wenige Tage nach dem ersten Auftreten der angsterregenden körperlichen
Symptome eine Treppe hinaufsteigen musste, nahm er aufgrund der verstärkten
Körperbeobachtung seinen beschleunigten Puls und Atemrhythmus wahr. Anstatt
diese nun als normale körperliche Reaktion auf die Anstrengung des
Treppensteigens zu werten, dachte er: „O Gott, es geht schon wieder los!“ Dieser
angstvolle Gedanke löste die „Kampf und Flucht“ –Reaktion aus, die körperlichen
Symptome verstärkten sich. Seine Angst wurde noch größer, die „Kampf oder Flucht“
–Reaktion noch intensiver. Innerhalb weniger Sekunden hatte Brian sich in eine
selbstverursachte Panikattacke hineingesteigert.
Diese selbstverursachten Panikattacken traten bei Brian von nun an regelmäßig auf.
Nach einer Weile assoziierte er immer mehr Situationen mit den Panikattacken, die
er ängstlich zu vermeiden suchte. Je enger dabei sein eigener Lebensspielraum
wurde, desto stärker kamen bestimmte Eigenschaften wie rigide Denkstrukturen,
Kontrollbedürfnis und Bedürfnis nach Bestätigung zum Vorschein. Er war in einem
Teufelskreis gefangen.
nach: Angst, Panik und Phobien, R.Z. Peurifoy, 1993/2002, Bern
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