Deutschland: € 10,00 Österreich: € 10,00 Schweiz: CHf 15,00 Italien: € 10,00 BeNeLux: € 10,00 Frankreich: € 10,00 Spanien: € 10,00 #3 das Andere Bergsportmagazin www.allmountain.de Winter Ausgabe 02 / 2015 Winter Ausgabe 02 / 2015 #3 Spuren Kopfsache Welche Spuren die Berge in unserer Psyche hinterlassen. Müssen Profis ihre Besteigungen künftig dokumentieren? Bitte beweisen! Gipfelsüchtig Über den Wunsch, am Gipfel Spuren zurückzulassen 4 19881 3 610 007 02 die spuren des alpinismus In den Köpfen, Felswänden und den Geschichtsbüchern – Bergsport hinterlässt Spuren. Die Hotspots dieser allmoUnTaIn - Ausgabe im Überblick. altenmarkt meiringen skibau bedeutet auch heute noch viel Handarbeit. Erstaunlich genug, dass in altenmarkt trotzdem über 500.000 Paar ski pro Jahr die Produktionshallen verlassen. auf den spuren historischer und moderner skibau-Pioniere. Großvater arnold ist sein Vorbild. der war Bergführer, bildete Everest-Erstbezwinger Tenzing norgay aus und gründete die erste Bergsteigerschule der Welt. mit 17 Jahren ist der schweizer Yannick Glatthard auf dem besten Weg, Großvaters fußstapfen auszufüllen: Er ist schon einer der besten Eiskletterer der Welt, zeigt im sport- und felsklettern viel Talent und verbuchte bereits erste Erfolge auf der freeride World Tour. 140 128 086 016 Baffin Island auf Baffin Island haben die belgischen Brüder nicolas und olivier favresse und ihr Team gefunden, wonach sie lange gesucht haben: unbestiegene Big Walls in bestem Granit. annapurna Wahrheit oder lüge? Ueli stecks annapurna-abenteuer wird nicht die letzte alpinistische leistung sein, die für heiße Köpfe sorgt. autor Tom dauer ist trotzdem überzeugt davon, dass eine „Beweispflicht für alpinisten“ der falsche Weg ist. 106 050 064 leonidio „Ich weiß sehr genau, was es bedeutet, einsam zu sein“, sagt Philippe Ribière. nachdem er im alter von vier Jahren zum zweiten mal verlassen worden war, wurde er adoptiert und kam nach frankreich. Hier hat der körperlich behinderte Profi-Kletterer am fels gelernt, sich selbst, die natur und die gesamte Welt zu begreifen. Beirut arne dietrich, Professor der kognitiven neurowissenschaften an der amerikanischen Universität Beirut vergleicht Bergsteigen mit dem malen. Psychologen und neurologen behaupten sogar: Berge machen schlau. Welche spuren die Bergerlebnisse sonst noch in der Psyche hinterlassen. 6 K A R T E : A X E L KO C K , F OTO L I A .C O m martinique Wer bohrt eigentlich die Kletterrouten ein? Woher kommt das Geld für die Bohrhaken? Und wieso werden die nutzer nicht wie bei anderen sportarten zur Kasse gebeten? Ein Klärungsversuch. 7 Inhalt Schwerpunkt Spuren ALLMOUNTAIN #3 Hintergrund Der Haken an den Haken 064 Freizeitparadiese oder Frevel am Fels? Von den Auswirkungen der Entwicklung moderner Sportklettergebiete Seit Jahrmillionen folgen wir Menschen Spuren auf unserem Planeten. Für uns Alpinisten haben sie eine zentrale Bedeutung. Wir zeichnen sie per GPS auf oder folgen historischen Spuren und Routen von Pionieren. Ob bei einer Bergwanderung in den Alpen oder bei einer Expedition am Ende der Bergwelt – wir hinterlassen auch immer selbst Spuren. Manchmal sind sie tief und unauslöschlich. Manchmal nur oberflächlich und schnell verweht. Genauso wie die Spuren, die die Berge in uns selbst hinterlassen. Wir sind für diese Ausgabe einigen davon gefolgt. Stille Helden Bayerischer Berg-Barista 096 Hintergrund Ich war oben! Von dem menschlichen Verlangen, auf den Gipfeln unseres Planeten ein Ausrufezeichen zu setzen. 076 Wie Jürgen Altmann durch den Himalaya irrte und dabei ein erfolgreiches Hilfsprojekt startete Ein-Blick Blinde Gams Schwerpunkt Spuren 012 Wieso Gämsen bisweilen sehr eigenartige Spuren im Schnee hinterlassen. Bewegter Berg Berge im Blut Was mit dem abgelegenen Bergdorf La Grave passiert, wenn der Fels ringsum nicht mehr fest ist. 016 Die Kletterabenteuer der Favresse-Brüder auf Baffin Island Neue Lines Ski-Spuren 034 080 Hybrides Leben Was passiert, wenn wir die besten Dinge miteinander verknüpfen. 140 Die ersten Ski sind älter als die Pyramiden – eine winterliche Reise auf den Spuren historischer und moderner Skibau-Pioniere. 086 Übrigens ... ... schon gehört? Im Profil 156 Spannende Themen, Produkte und Events aus der Welt des Bergsports 050 Der Franzose Philippe Ribière ist seit seiner Geburt körperlich behindert. Erst durch das Klettern hat er das Leben als lebenswert erfahren. Zu spät geboren Standpunkt Wie ehrlich kann Bergsport sein? Laut gedacht Die andere Seite von Polit-Gipfel BMW Besserwissen Samuel Anthamatten, Xavier De Le Rue und Ralph Backstrom auf der Suche nach außergewöhnlichen Ski- und Snowboard-Projekten in Alaska und auf Spitzbergen Vom Sinn des Kletterns 128 Der junge Schweizer Yannick Glatthard ist Juniorenweltmeister im Eisklettern. Doch solche Erfolge bedeuten ihm wenig. Er will in die Fußstapfen seines Großvaters treten. Der war einer der ersten großen Bergführer. Bergwelten Riesenrouten im Granit 118 Im Profil 014 160 Hintergrund Drei Menschen – drei Spuren Katharina Conradin: Clean Climbing – Klettern ohne Spuren Werner Munter: Spuren eines Querdenkers Thomas Burger: Leben nach dem Eiger-Drama Gilt ein Berg auch als bestiegen, wenn sich die Spuren bis zum Gipfel nicht eindeutig nachweisen lassen? Hintergrund Suchtmittel Mann, die Bergsteigerpioniere hatten’s gut! Was tun, wenn die Gipfelziele ausgehen? 062 Heiner Geißler war als Politiker stets ein Grenzgänger. Privat liebt er bis heute Gratwanderungen in den Bergen. Impressum 8 106 Welche Abdrücke Bergtouren in Klein- und Großhirnrinde unseres Gehirns hinterlassen und wie wir damit umgehen. 162 9 Bergwelten Baffin Island Das ist Sommerurlaub in der Baffin Bay: wenn Sean Villanueva einen Backflip ins 4 Grad kalte Wasser macht und die Favresse-Brüder in der Takelage jammen, was das Zeug hält. Bereits zum dritten Mal zog es das belgische Team um die Favresse-Brüder auf die arktischen Inseln Grönland und Baffin Island. Ihre Suche nach Abenteuern wurde belohnt: mit stürmischer See, Packeis und Eisbären, mit unberührten Wänden und brüchigem Fels. S Jammin’ on Baffin Island T E X T: K A R I N S T E I N B A C H TA R N U T Z E R FOTOS : T H E W I L D BU N C H 16 ingle (35), männlich, gut aussehend, muskulös und durchtrainiert, sucht: Abenteuer. So oder so ähnlich könnte die Kontaktanzeige von Nicolas Favresse lauten. Doch Frauen sucht der Profikletterer keine. Auch keinen Sex. Wonach er sich sehnt, sind abgelegene, unerforschte Landschaften, weitab von der Zivilisation. Dort sollten hohe Felswände in den Himmel ragen, die er gemeinsam mit seinen Freunden als Erster durchsteigen kann. Seine Suche war erfolgreich: Gefunden hat er Baffin Island, die zu Kanada gehörende fünftgrößte Insel der Welt, mehr als 4.000 Kilometer Luftlinie entfernt von seiner Heimat Belgien. Auf ihr lebt ein Einwohner pro 40 Quadratkilometer. Wahrscheinlicher trifft man auf Eisbären oder Polarfüchse. Oder auf Wale, Robben und Wasservögel, die sich in den zahllosen Fjorden um die zerklüftete Insel tummeln. erste Rotpunktbegehung 2012 Thomas und Alexander Huber schafften. Zum Mount Asgard nahmen die vier 60 Kilometer Anmarsch in Kauf, die sie insgesamt achtmal zurücklegten, um das benötigte Material hin- und wieder zurückzuschaffen. „Weil wir nicht fürs Wandern gemacht sind“, wie Nico erklärt, überlegten sie sich für ihren nächsten Besuch eine alternative Strategie. Die Brüder hatten in ihrer Jugend die Sommerferien jeweils mit den Eltern auf einem Segelboot verbracht. In der Baffin Bay zu segeln und vom Boot aus Zugang zu unerschlossenen Wänden zu finden – das wäre die Lösung für das folgende Jahr. Denn dass sie wiederkommen wollten, in diese karge Landschaft mit dem speziellen Relief, stand außer Frage. Für den Sommer 2010 nahmen sich die Favresse-Brüder und Sean Villanueva Erstbegehungen an der West- und Südküste Grönlands vor. Die dänische Insel – die größte der Erde – liegt Baffin Island gegenüber. Diesmal begleitete sie der Amerikaner Ben Ditto, Fotograf und ebenfalls ein starker Kletterer. In Bob Shepton fanden sie den idealen Skipper für ihr Vorhaben. Mit seinem Boot „Dodo’s Delight“ würde er sie ans Ziel bringen. Der damals 75-Jährige hatte nicht nur Verständnis für ihre Absichten, er spornte sie sogar noch an. In zwei Monaten 2009 folgte Nicolas Favresse dem Ruf dieser Wildnis das erste Mal, zusammen mit seinem Bruder Olivier sowie Sean Villanueva O’Driscoll und Stéphane Hanssens – beides belgische Landsleute. Dem Quartett gelangen drei Erstbegehungen, jeweils onsight und im Alpinstil. Am Mount Asgard, ihrem Hauptziel, kletterten sie in elf Tagen eine bis auf einen Zug freie Variante der „Bavarian Direct“. Jener Route also, deren 17 Bergwelten Baffin Island Klettern in der Mitternachtssonne: Nicolas Favresse und Sean Villanueva in der letzten Seillänge ihrer Route „Alligators Have Teeth“ am Ikerasak Peak. sammelte das Team neun Erstbegehungen, wobei sie fast ausschließlich reversible Sicherungsmittel einsetzten und nur einen einzigen Bohrhaken hinterließen. An der Tingmiakulugssuit-Wand kletterten sie in elf Tagen den Bigwall „Devil’s Brew“. Insgesamt eine Bilanz, die ihnen die Ehrung durch einen Piolet d’Or und viel Lob für ihren „modernen traditionellen Stil“ einbrachte. neben dem Klettern und der Musik die dritte HauptbeschäftiVier Jahre später brechen sie, in gleicher Zusammensetzung, gung des Wild Bunch. Tatsächlich sind nur Ben und Bob vererneut in den Arktischen Ozean auf. Wieder ist die „Dodo’s heiratet, Olivier lebt in einer festen Beziehung. Nico möchte sich Delight“ ihr Basislager. Bob Shepton schätzt sich glücklich, den in seinen Unternehmungen nicht dadurch einschränken lassen, „Wild Bunch“, wie er die ausgelassene Bande nennt, ein weitedass er eine Partnerin damit res Mal überzusetzen. Diesmal von belastet, ständig irgendwo Aasiaat auf Grönland rund 500 Kiloauf der Welt beim Klettern meter hinüber nach Baffin Island, zu sein. Seine Gefährtin ist wo in den einsamen Fjorden der Ostderzeit eine junge Hündin, küste unzählige unbestiegene Bigder er den Namen „Zippette“ walls auf das Team warten. Zu fünft gegeben hat – der französiwird es eng auf dem 10 Meter sche Fachausdruck für das langen Fiberglasboot, vollgepackt Abschmieren beim Bouldern. mit Lebensmittelvorräten für drei Monate und unzähligen Friends Die folgenden Tage werden und Bandschlingen. Was aber trotz stürmisch. Der Wind wirft der beklemmenden Enge auf jeden das Boot an seinem AnkerFall mitkommt, sind die Musikinstruplatz im Fjord hin und her. mente. In Ben Dittos Augen zeichnet Die Besatzung fühlt sich wie sich das Team vor allem durch „die in einer Waschmaschine. fanatische und positive Energie der Schließlich kommt es den Belgier“ und den feinen britischen Um die Kletterform zu erhalten, ist zwischen den langen Routen Maximalkrafttraining angesagt: Nicolas Favresse an einem BoulFelsen an der Küste so nahe, Humor des Kapitäns aus – eine Mider im Uummannaq Fjord. dass Bob Shepton notfallmäschung, die einen spannenden und ßig den Anker lichten muss. fröhlichen Sommer verspricht. Beim Klettern gibt es die Erstbesteigung des Goliath Buttress am Qaqugdlugssuit über zwei Routen zu vermelden, außerdem Weil das Packeis Anfang Juli noch nicht weit genug aufgetaut erobern Sean und Ben in einer abenteuerlichen Aktion erstist, um die Baffin Bay zu überqueren, segeln sie zunächst mals den halsbrecherisch brüchigen Funky Tower auf der Halbentlang der grönländischen Küste nach Norden. Nach vier insel Drygalski Halvø. Zwischen den Klettertagen gibt es viel Tagen auf See ankern sie in den Fjords von Uummannaq, Wartezeit zu überbrücken, weil das Wetter für lange Routen umringt von schmelzenden Eisschollen. Bei ihren ersten Rouzu schlecht ist. Es stürmt, es schneit, und noch immer bloten am Ikerasak Peak stellen sie fest, dass es mit der Felsqualickiert das Eis die Zufahrt in die Fjords von Baffin Island. Nur tät nicht zum Besten steht. Mehrmals reißen sie – immerhin kontrolliert – beängstigend große Felsbrocken aus den Wänden. während zwei bis drei Monaten ist die Baffin Bay im Sommer eisfrei. Der Zeitpunkt, ab wann deren Überquerung riskiert Vom Boot aus die Stabilität des Gesteins abzuschätzen, erweist werden kann, ist schwierig vorherzusagen. Eine Kollision sich als wenig verlässlich. Für Nico ist das Klettern an zweifelmit einem Eisberg würde für die kleine „Dodo’s Delight“ jedenhaften Griffen eine Frage der Erfahrung. Man müsse sehr vorsichtig sein, den Fels abklopfen und seine Strukturen beach- falls in einer Katastrophe enden. ten. Erkennen, ob Risse um einen Block herum verliefen, und Das Team entwickelt große Kreativität darin, sich die Zeit man dürfe vor allem nicht zu stark an den Griffen ziehen. Die zu vertreiben. Sobald geeignete Felsblöcke an der Küste geWahl einer Erstbegehung sei mehr eine emotionale als eine rationale Entscheidung. Neben der Stabilität komme es darauf an, sichtet werden, wird ein Boulderstopp eingelegt. Auch mit dem Ziel, das Niveau halten zu können. Klettern sie nur lange Rouob die Linie ihn inspiriere, wie hoch und eindrucksvoll sie sei. ten, wirkt sich das negativ auf die Maximalkraft aus, die sie für harte Einzelstellen brauchen. Für die Körperhygiene Olivier und Ben haben sich als Einstieg eine gemäßigte Route wird im 4 Grad kalten Wasser gebadet. Sean Villanueva legt über einen Grat ausgesucht. Prompt trägt das der Tour den auch gern mal eine längere Schwimmrunde ein oder nimmt Namen „Married Men’s Way“ ein. Über sich selbst zu lachen ist 18 19 Fortsetzung in Allmountain #3 Bergwelten spitzbergen & alaska an der Grenze allein, a line: In der Einsamkeit alaskas hinterlässt Xavier de le Rue seine spur. natürlich waren sein Team und die Kameras immer so nah dran wie möglich. 34 35 Bergwelten Spitzbergen & Alaska Christophe Blanc-Gras und sein Fluggerät. De Le Rue sagt über den Paramotor: „Dieses Ding sieht aus wie aus dem Mittelalter.“ Mit motorisierten Gleitschirmen zu entlegenen Schneegraten fliegen und im unberührten Pulverschnee Bergf lanken hinabschwingen, die noch nie zuvor befahren wurden: Die Expedition „Degrees North“, die Xavier De Le Rue, Samuel Anthamatten und Ralph Backstrom nach Spitzbergen und Alaska führte, entpuppte sich für die FreerideProfis als Filmexperiment hart am Limit. T ext: A ndreas L esti FOTOS : T E R O R E P O 79. Breitengrad. Es ist genau drei Uhr in dieser Aprilnacht. Die Sonne steht tief über dem Horizont und taucht Spitzbergen in ein entrücktes Licht. Die Gipfel des Atomfjella-Gebirges werfen lange Schatten, und in der Luft tanzen goldene Flecken. Ein motorisierter TandemGleitschirm schwebt im Gegenlicht. Dann geht plötzlich alles ganz schnell: Pilot Christophe Blanc-Gras zieht den Schirm knapp über den Grat, Skifahrer Samuel Anthamatten klinkt sich aus, fliegt vier, fünf Meter durch die Luft und landet in einem 50 Grad steilen Hang. Einen Moment später schwingt er elegant und in großen Bögen durch den unverspurten Pulverschnee. Ein Auftritt wie in einem James-Bond-Film. Aber beginnen wir von vorne: Eine Woche zuvor ist ein elfköpfiges Team aus Athleten, Filmern und Technikern nach Longyearbyen geflogen. Das Verwaltungszentrum der zu Norwegen gehörenden Inselgruppe Spitzbergen hat gerade mal 2.000 Einwohner und liegt am arktischen Eismeer – 78. Breitengrad, einer der nördlichsten Orte der Welt. Doch immer noch nicht nördlich genug für „Degrees North“, wie Snowboarder Xavier De Le Rue die Expedition und den Film benannt hat, der im November erscheint. Mit acht Schneemobilen fährt die Crew weiter, nach Norden. 200 Kilometer durch eine minus 20 Grad kalte Eiswüste. Jedes Fahrzeug zieht einen Anhänger, auf dem die Ausrüstung verteilt ist: Ski, Snowboards, drei motorisierte Gleitschirme, Filmausrüstung, Zelte, Brennstoff, Lebensmittel 38 für zwei Wochen. Und jede Menge warme Klamotten. „Unsere Fahrzeuge sind ziemlich am Limit“, stellt Samuel Anthamatten fest. Prompt brechen zwei der Kupplungen. Sie werden notdürftig repariert. Wohlwissend, dass die Realisierung des Projekts schon gefährdet ist, bevor es überhaupt begonnen hat: „Wenn noch eine mehr bricht, müssen wir umdrehen“, befürchtet Anthamatten. Doch in den folgenden zehn Tagen bleibt ihm und seinen Begleitern das Glück treu. De Le Rue sagt: „In Spitzbergen lernt man auf jeden Fall, wie man improvisiert.“ Nach sechseinhalb Stunden kommt das Team auf dem Smutsbreen-Gletscher an. Die Abenteurer errichten das Camp östlich des Austfjorden, der von Norden aus in die Insel schneidet wie eine Eisaxt in Drei, zwei, eins ... go! Bei den ersten Abfahrten hat Samuel Anthamatten „ein mulmiges Gefühl“. Er muss sich erst daran gewöhnen, dass Steilhänge wie dieser in der Kälte des Nordens ohne Lawinengefahr zu fahren sind. 39 Fortsetzung in Allmountain #3 Im Profil Philippe Ribière Hat Klettern einen Sinn? Der Franzose Philippe Ribière hat dadurch erfahren, was es heißt, zu leben. Ribière ist von Geburt an körperlich behindert – und vielleicht gerade deshalb Kletterprofi. Am Fels hat er gelernt, sich selbst, die Natur und die gesamte Welt zu begreifen. Perspektiven und Einsichten eines Menschen, der das Unmögliche zumindest teilweise geschafft hat. T ext: F ranziska H orn Ich bin geschwommen und Rad gefahren. Mit 16 Jahren habe ich dann 1994 in einem Sommercamp das Klettern für mich entdeckt. Was für mich natürlich schwieriger und deshalb anstrengender ist. Während ein Bike-Club mich erst gar nicht aufnehmen wollte, war ich bei den Kletterern sofort willkommen. Anfangs hatte ich Angst, war mir nicht wirklich sicher, ob ich meinen Kletterpartner beim Abseilen gut genug per Bremshand sichern könne. Doch es klappte! Mit 18, zwei Jahre später, nahm ich mit Freunden an der Young National Championship teil. Seitdem träumte ich davon, einen Wettkampf für Behinderte und Nicht-Behinderte zu etablieren. Und heute? Heute verdiene ich mein Geld mit Klettern, als Profi. Vielleicht bin ich gar nicht wirklich „professionell“, aber zumindest mein eigener Herr, kein Sklave. Darauf bin ich stolz. Die Berge, die Sonne, die Einsamkeit, die Natur – sie waren eine Entdeckung für mich. Beim Klettern ziehe ich gerne mein Hemd aus, während ich mich im Alltag eher in langärmeligen Pullis verstecke. Durch das Klettern habe ich gelernt, mir selbst zu vertrauen. Und noch viel mehr: dass mein Leben einen Wert hat, ... wie ich einen Vorteil aus meinem Handicap ziehen kann ... und wie ich meinen Weg in die Gesellschaft finde. Ich habe mich also selber integriert. Das Leben ist das, was man daraus macht. Das habe ich durch das Klettern begriffen, es gibt meinem Leben Sinn. Dieses Wissen gebe ich an andere Behinderte weiter, deshalb habe ich 2003 die Organisation „Handi-Grimpe“ gegründet. Und ich habe die ISFC (International Federation of Sport Climbing) beeinflusst und ohne Lohn zwölf Jahre hart daran gearbeitet, die Kategorie Paraclimbing (Klettern für Behinderte) einzuführen. Darauf bin ich auch wirklich stolz. Klettern ist für mich eine Leidenschaft – und gibt mir einen Grund, zu leben. 50 F oto : S harad C handra P hoto g raphy I ch bin am 12. März 1977 in Fort-de-France auf Martinique auf die Welt gekommen. Ich bin 1,64 Meter groß und wiege rund 64 Kilo. Ich habe einen etwas deformierten Körper, verkürzte Unterarme, zusammengewachsene Zehen. Man diagnostizierte anfangs das Rubinstein-Taybi-Syndrom (RTS), eine genetisch bedingte Erkrankung. Sie äußert sich in Anomalien der Gliedmaßen, manchmal auch mit einer leichten geistigen Behinderung. Ein Zufall? Nein. Der eigentliche Grund für meine Missbildungen ist, dass meine Mutter während der Schwangerschaft Antidepressiva nahm. In den ersten vier Jahren meines Lebens wurde ich häufig an Armen und Beinen operiert, um deren Funktion zu verbessern. Meine Eltern haben mich nach der Geburt verlassen, warum, weiß ich nicht. Mit vier wurde ich ein zweites Mal verlassen – und von einer Familie aus Frankreich adoptiert. Ich hatte plötzlich vier Schwestern und zwei Brüder. Und ging auf eine normale Schule. Als Kind war ich immer anders, immer allein. Ohne Freunde, ein Außenseiter. Ich habe mich manchmal wie ein Alien gefühlt und immer nach Antworten gesucht. Wollte begreifen, warum und wer ich bin. „Ein Grund, zu leben.“ 51 Fortsetzung in Allmountain #3 Spuren im Kopf Hintergrund Bergsport hebt nicht nur die Stimmung. Psychologen und Neurologen behaupten sogar: Berge machen schlau. Zumindest bis zu einem gewissen Grad. Doch in manchen Fällen können die Spuren, die Bergerlebnisse in der Psyche hinterlassen, auch schaden. Dabei stellt sich die Frage: Soll man die Finger von diesem Suchtmittel lassen? I m K o p f d urch s teige n T ext: D o m inik P rantl I llustration : niklas g roschup C harlie Brown hat schon immer gewusst, dass Körper und Geist irgendwie zusammenhängen müssen. Jedenfalls gibt es da diesen wunderbaren Comic, in dem er das Kinn auf die Brust fallen lässt und erklärt, dass dies seine depressive Haltung sei. Wenn man etwas vom eigenen Stimmungstief haben wolle, sagt Charlie Brown, dürfe man sich auf gar keinen Fall aufrichten und den Kopf heben, „weil du dich dann sofort besser fühlst“. Natürlich weiß jeder beseelte Gipfelstürmer: In den Bergen kann man den Kopf schwer hängen lassen; sie sind kein Ort für eine depressive Haltung. Und natürlich haben lange Zeit vor Charlie Brown und allen bergbegeisterten Hobbypsychologen schon andere die direkte Verbindung zwischen Körper und Psyche vermutet, auch wenn der römische Dichter Juvenal vor knapp 2.000 Jahren mehr spottete als weissagte, man solle die Götter darum bitten, „dass in einem gesunden Körper ein gesunder Geist sei“. Inzwischen verdichten sich die 106 Anzeichen, dass dies weniger eine Frage der Kommunikation mit höheren Mächten ist als vielmehr eine Frage von Durchblutung und Neurotransmittern. Diverse Zweige der Wissenschaft sammeln seit einigen Jahren massenhaft Hinweise, dass sportliche Tätigkeiten auch Hirn und Stimmung zu Höhenflügen verhelfen. Da sind jene Studien, die vielen alten Menschen Hoffnung geben, weil regelmäßige körperliche Aktivität offenbar das Risiko einer Demenzerkrankung senkt. Da sind jene Hirnstrommessungen im Rahmen der Weltallreise-Simulation Mars 500, wonach es während des körperlichen Trainings im präfrontalen Cortex, der für höhere Funktionen wie Emotion, Empathie, Reflexion zuständig ist, nicht mehr ganz so stark funkt – im Anschluss an die Bewegung dafür umso besser. Da sind jene Studenten aus Münster, die nach Sprints um 20 Prozent aufnahmefähiger waren als zuvor. Und da sind jene Patienten mit Depressionen, die in der Welt der Berge einen Anker finden (siehe Protokoll Heidi Hecht). 107 Fortsetzung in Allmountain #3 Im Profil Yannick Glatthard T E X T: C H R I s T I a n P E n n I n G 128 F O T O S : A R C H I v g L AT T H A R D ( A R N O L D g L AT T H A R D ) , R E P R O D U K T I O N : C H R I S T I A N P E N N I N g Er ist erst 17 und schon einer der besten Eiskletterer der Welt. Dazu ein Talent im Sport- und Felsklettern, erfolgreich bei der Freeride World Tour. Doch Podestplätze jucken den Jungen aus Meiringen im Berner Oberland wenig. Yannick Glatthard will ein kompletter Allround-Alpinist werden. Wie sein Großvater Arnold. Der war Bergführer, bildete Everest-Erstbezwinger Tenzing Norgay aus und gründete die erste Bergsteigerschule der Welt. F O T O S : C H R I S T I A N P E N N I N g ( YA N N I C K g L A T T H A R D ) dER sUPER-EnKEl Bergfexe früher und heute: Yannick Glatthard (links) ist Juniorenweltmeister im Eisklettern. die liebe zu den Bergen hat er von seinem Großvater arnold (rechts). 129 Im Profil Yannick Glatthard N a tur Bodenständig: Bei Wettkämpfen ist Yannick ehrgeizig. Dennoch sagt er: „Nach stundenlangem Aufstieg den Gipfel zu erreichen, ist ein viel größeres Glück als ein Titel bei einer Weltmeisterschaft.“ A rnold Glatthard – der Gro S S vater : Lebte im Sommer viele Jahre mit seiner Familie in einer Hütte am Fuße des Rosenlauigletschers. Als Naturmensch setzte er sich aktiv für die Erhaltung der Natur in seinen Heimatbergen im Berner Oberland ein. Yannick Glatthard – der E nkel : „Das Wichtigste für mich ist in der Natur zu sein“, sagt er. Er ist ein Naturmensch und Entdecker. Hier fühlt er sich zu Hause. Am liebsten im Rosenlaui und an den Engelhörnern. Die Familie, „das ist der Ort, wo ich frühstücke und wo ich bin, wenn es mir nicht gut geht.“ W o komme ich her? Wo will ich hin? Drängende Fragen. Die Fragen des Lebens. Wer weiß schon eine Antwort darauf, mit 17? Den ganzen Tag über war er in den Bergen, oben an den Engelhörnern, hoch über dem Haslital. Yannick stellt am Eingang vor dem Haus seiner Großmutter den Rucksack ab, verschwindet kurz und kommt mit einem Waffeleis wieder, stibitzt aus der Gefriertruhe. Arnold Glatthard war ein Bergführer mit Leidenschaft und Charisma – ein echtes Vorbild für seinen Enkel, obwohl sich die Generationen der beiden nur vier Jahre lang überschnitten haben. „Mein Superenkel“, lacht Silvia Glatthard. In ihrer Stimme schwingt Stolz mit. Ihre Augen leuchten – als würde sich darin ein Teil ihres 87-jährigen Lebens widerspiegeln. Bewegte und bewegende Jahre in den Bergen. „Sehr nett, manchmal ein bisschen frech“ sei er, der Yannick. Ein junger Draufgänger. Zielstrebig. Am Berg und auch sonst. Im Beruf, in seiner Lehre als Zimmermann. Die Garage, in der Silvia Glatthard ihr Auto parkt, hat Yannick zu einem Trainingsraum fürs Dry-Tooling umfunktioniert. Im Winter, nach der Arbeit, klappt er die Spanplatten aus und turnt mit Eisgeräten und Steigeisen durch die selbstgefertigte Installation. „Ist doch besser, als abends in Kneipen oder Nachtlokalen rumzuhängen“, sinniert die Großmutter. Yannick Glatthard, brauner Wuschelkopf, Eistüte in der Hand. „Eigentlich ein ganz normaler Junge“, sagt Silvia Glatthard. Eigentlich. Für eine Frau, die mit einem Bergfex einen Großteil ihres Lebens verbracht hat, mag das stimmen. Silvia ist die Frau des 2002 verstorbenen Schweizer Bergpioniers Arnold Glatthard: Skirennläufer, anno dazumal Schweizer Meister im Slalom, 1935 Sieger beim Lauberhorn- und KandaharRennen, Bergführer, Gründer der ersten Bergsteigerschule der Welt, Ausbilder von Sherpa Tenzing Norgay, der mit Sir Edmund Hillary als Erster auf dem Mt. Everest stand, Mitbegründer des Himalajan Mountaineering Institute in Darjeeling (Indien), Erfinder der Eisschraube, einst Trainer und Delegationschef der Schweizer Ski-Nationalmannschaft, jahrelang Schweizer Generalimporteur einer bekannten Skimarke, Mitentwickler der ersten Nylonseile für Kletterer, Hotelier, sorgender Familienmensch. Yannick ist Arnold Glatthards Enkel. „Ja, er ist ihm verblüffend ähnlich“, nickt Silvia. 130 „Man wird reif in den Bergen. Du musst immer bei der Sache sein.“ Yannick ist U19-Weltmeister im Eisklettern. Ein Siegertyp. Einer, der beim Startsignal explodiert. „The New Swiss Machine“, wie ihn Beobachter nennen: Athletik, Power und Präzision in Person. Die Konkurrenten im Januar bei der WM waren teils deutlich älter und größer als er. In der Hauptklasse bei den Männern landete er auf Rang fünf. Bis vor einem Jahr war Yannick auch Mitglied der Schweizer Nachwuchsnationalmannschaft im Sportklettern. Außerdem ist er ein talentierter Skirennläufer. Bei seinem Debüt in der Freeride World Tour belegte er vor zwei Jahren in der Juniorenklasse zwei achtbare siebte Plätze. Aber Platzierungen und Erfolge beschreiben Yannick längst nicht zur Genüge. Im Geiste seines Großvaters hat das Bergführerwesen geprägt“, erzählt Silvia Glatthard. „Er war sehr großzügig. Und er hat sich gekümmert.“ 1950, Ski-WM in Aspen, Colorado. Arnold Glatthard ist als Trainer, Delegationschef und „Reiseleiter“ der einzige Betreuer der Schweizer Athleten, trainiert die Männer und die Frauen, besorgt zwischendurch einen Laib Käse für die Sportler, ist auf den Sitzungen der Wettkampfleitung präsent und verschwindet zwischendurch schon mal im Wald, um mangels Slalomstangen kurzerhand selbst welche aus dem Holz von Espenbäumen zu schnitzen. Einer, der so zupacken kann, mit so viel Charisma gesegnet ist und zudem noch so attraktiv aussieht, der imponiert Silvia. Die damals junge Skirennläuferin verliebt sich in Arnold, und bald sind beide ein Paar. Um Yannick wirklich zu verstehen und zu begreifen, begibt man sich – so wie er selbst – am besten auf die Spuren seines Großvaters. „Er war ein guter Instruktor, Arnolds zweite Liebe war es, „draußen in den Bergen zu sein. Zu klettern, Ski zu fahren“, erinnert sich Silvia Glatthard. „Die Sommer über lebten wir mit Kind und 131 Fortsetzung in Allmountain #3 Jetzt Erhältlich! Den Berg begreifen. Winter Ausgabe 02 / 2015 #3 Ausgabe das Andere Bergsportmagazin 3 # Schwerpunkt Spuren Deutschland: € 10,00 Österreich: € 10,00 Schweiz: CHf 15,00 Italien: € 10,00 BeNeLux: € 10,00 Frankreich: € 10,00 Spanien: € 10,00 Spuren Kopfsache Welche Spuren die Berge in unserer Psyche hinterlassen. Bitte beweisen! Müssen Profis ihre Besteigungen künftig dokumentieren? Gipfelsüchtig Über den Wunsch, am Gipfel Spuren zurückzulassen 4 19881 3 610 007 02 Das außergewöhnliche Bergsportmagazin – am Kiosk oder auch im Abo. [email protected] +49 (0)521 - 55 99 44 | facebook.com/ALLMOUNTAIN.Magazin WWW.ALLMOUNTAIN.DE
© Copyright 2025 ExpyDoc