DRAMATURGEN DES STAATSTHEATERS MAINZ ERLÄUTERN DER PROZESS „Der Prozess“ gilt als Kafkas Hauptwerk und ist mit Sicherheit sein weltweit bekanntester und meistzitierter Text. Selbst wer ihn nicht gelesen hat, kennt den Ausdruck „kafkaesk“ und verbindet damit wohl die Erfahrung einer absurden, lebensfeindlichen und sich verselbständigenden Bürokratie - wie sie eben vor allem im „Prozess“ beschrieben wird. Die unvermindert anhaltende Wirkung des Romans resultiert wohl auch daraus, dass Kafka hier eine bezwingende Verschmelzung von Form und Inhalt gelang, die auch Jakop Ahlbom schon früh fasziniert hat, als er das Buch als zwölfjähriger zum ersten Mal in die Hände bekam, und - wie er sagte - nicht mehr aufhören konnte zu lesen. Geschildert wird der Versuch eines Mannes, Josef K., der ein völlig rätselhaftes Ereignis, die eigene Verhaftung, zu bewältigen hat und versucht diese aufzuklären. Doch Kafka gibt darüber niemals mehr preis als das, was auch der Angeklagte erfährt. Dadurch wird der Leser in dessen Perspektive hinein genötigt, es entsteht eine Sogwirkung, ähnlich einem Kriminalroman: Auch der Leser des „Prozess“ fiebert einer Erklärung, einer Auflösung entgegen. Dieser Effekt wird noch dadurch verstärkt, dass die Grenzen des Verstehens selbst wiederum zum expliziten Thema des Romans werden und der Versuch einer genauen Betrachtung und Interpretation der Kapitel wohl nie mit dem befriedigenden Gefühl, jetzt alles verstanden zu haben, abgeschlossen werden kann. Ahlbom ging es deshalb auch weniger darum, sich für eine der möglichen Interpretationen des Werkes zu entscheiden und diese als Ausgangspunkt für sein Inszenierungskonzept zu nehmen - vielmehr hat ihn interessiert, Josef K. in seinem Versuch zu folgen, die nicht nachvollziehbare Verhaftung aufzuklären und sich gemeinsam mit ihm in den Abgrund der Verstrickungen und Schuldzuweisungen zu begeben und dieses Erlebnis atmosphärisch zuzuspitzen. Was sich bei Kafka über ein Jahr erstreckt, die Verhaftung und die vielen sinnlosen Bemühungen, den Prozess aufzuklären, zumindest aufzuhalten, ist an diesem Theater-Abend die Erzählung eines albtraumhaften Tages mit tragischem Ende. Ein weiterer Grund für die nachhaltige Wirkung des „Prozesses“ ist sicherlich, dass er sich auf die Zustände in totalitär regierten Staaten beziehen lässt. Man hat sogar von ›prophetischen‹ Vorwegnahmen des Stalinismus und Nationalsozialismus gesprochen. Das geht aber vermutlich am Kern des Werks vorbei: Kafkas Gericht ist zwar undurchschaubar, verfährt aber keineswegs willkürlich und bleibt selbst gegenüber Regelverstößen eigentümlich passiv; ja, man kann sogar zeigen, dass alle seine Aktionen vom Angeklagten gleichsam provoziert werden. Bei uns in Mainz wird Josef K. von Sebastian Brandes gespielt, den sie bereits in der letzten Spielzeit als aufmüpfigen Schinderhannes oder in den Ratten als lautstarken Quaquaro mit Hund erleben konnten. Er legt seinen Josef K. nicht nur als schüchtern, verklemmten Bankbeamten an, sondern gibt der Figur, neben großer Irritation und Verunsicherung eine gewisse Empörung und Trotzigkeit, die ihn auch fehlbar und bezogen auf seinen “Prozess“ tatsächlich verdächtig werden lässt. Dieser tragische Versuch des Individuums, innerhalb eines korrupten Systems integer zu bleiben und in einer sinnentleerten Welt nach so etwas wie Wahrheit und Gerechtigkeit zu streben – dieser Versuch war Anlass für Jakop Ahlbom sich gemeinsam mit seinem Team den Stoff für die Bühne in Mainz vorzunehmen. Es sind die Erfahrungen von Selbstentfremdung, Vernichtungsängsten, Desorientierung, Anonymität und der aktenmäßigen ›Erfassung‹ des Menschen, die wohl sämtliche moderne Massengesellschaften prägen und die Kafka aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit als Angestellter in einer Unfallversicherungsanstalt vielleicht mehr vor Augen standen als anderen zeitgenössischen Autoren. Vor allem Kafkas Verfahren, das Sichtbare und die konkrete Situation mit fotografischer DRAMATURGEN DES STAATSTHEATERS MAINZ ERLÄUTERN Genauigkeit zu schildern, den Sinn des Ganzen jedoch völlig im Dunkeln zu lassen, spiegelt genau das Lebensgefühl in großen sozialen Systemen, in denen jeder ›informiert‹ ist, die jedoch jenseits des eigenen Funktionierens keinen ›Sinn‹ mehr vermitteln. Auch Jakop Ahlbom ist ein Regisseur, der sich in seinen Arbeiten über den physisch präsenten Körper und den tatsächlich existierenden Gegebenheiten den inneren Motivationen nähert. Er hat an der „Amsterdam University of des Arts“ „Mime“ studiert und lange selbst als Tänzer und Mime auf der Bühne gestanden. Anders als die Pantomime, die als Darstellung vor allem die Mimik und Gestik nutzt, um Dinge zu symbolisieren, setzt ein Mime den gesamten Körper als Artikulationsinstrument ein. Dabei geht es immer um die konkrete Situation, in der ein Mensch sich befindet. Der Verlauf eines Charakters tritt eher in den Hintergrund. Umso wichtiger wird dann die Umgebung, in der der Mensch sich befindet – und die ihn zu Handlungen und Reaktionen nötigt und ihn, wie so wie im „Prozess“ mitreißt bis hin zur Hinrichtung. Deshalb ist Ahlbom auch ein entschiedener Teamplayer. Zu seiner Seite stehen ihm hier in Mainz die Bühnenbildern Katrin Bombe, die Kostümbildnerin Katrin Wolfermann und der Musiker Wim Conradi, die dem Regisseur einen genau aufeinander abgestimmten Kosmos geschaffen haben und gemeinsam im Detail auf die Schauspieler reagieren. Die Welt, in der „der Prozess“ hier spielt, ist eine, in der Perspektiven sich immer wieder verschieben, das Individuum in einer uniformierten Masse verschwindet, die Frauen zu Objekten erotischer Fantasien werden, die sich dabei nie kontrollieren lassen und deshalb auch eine Gefahr sein können und die Musik und Geräuschkulisse das eine mal in einen alten Stummfilm entführt, dann in einen surrealen Albtraum schubst oder hinein in eine lärmende Maschinerie. Es ist für Ahlbom in der Arbeit mit den Schauspielern entscheidend, wann sich ein Bühnenelement in das andere schiebt, wann eine Bewegung vom Sound gedoppelt wird, wann ein Kostüm den Spieler zur Handlung anregt. Darauf reagieren die Spieler und Ahlbom lässt als Regisseur all‘ diese Komponenten ineinander greifen verbindet diese Apparatur mit der Handlung des „Prozesses“. Mit dem Handlungsverlauf folgt er im Grunde sehr genau der Kapitelfolge des Romans, der ja Fragment geblieben ist und von seinem Freund und Nachlassverwalter Max Brodt in der Abfolge, wie wir sie kennen, publiziert wurde. Vielleicht erinnern sie sich noch, dass dem schnellen, atemlosen Beginn des Anfangs später wesentlich längere Kapitel folgen, in denen Josef K. auf Menschen wie den Kunstmaler Titorelli, den Angeklagten Kaufmann Block oder den Richter Huld trifft, um über diese Personen mehr Details über seinen Prozess und die Machenschaften am Gericht zu erfahren. Auch für diese enervierenden Ausführungen, die in ihrer durchaus schlüssig aufgebauten Argumentation trotzdem ins Leere laufen und darin durchaus einen Witz bergen, hat sich Jakop Ahlbom bewusst entschieden und gibt hier dem Text hier in der sonst eher schnellen Inszenierung vergleichsweise mehr Raum. Besonders wichtig war ihm dabei, den Humor und das Absurde, das er in diesem Text finden konnte, herauszuarbeiten. Jakop Ahlbom erzählt in einem Interview, dass sie auch im Programmheft zu dieser Inszenierung finden können, dass es ihm ein Anliegen ist, mit seinen Arbeiten nicht allein zum fantastischen Denken aufzufordern, sondern Fantasie tatsächlich sichtbar werden zu lassen und eine Welt zu erschaffen, in der etwas, dass wir für unmöglich halten möglich wird. Oktober 2015 Malin Nagel Staatstheater Mainz
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