Grün - Lesezelt

Grün – Die Grünen
Das Adjektiv grün hat sich so reich entfaltet. Zunächst sieht's ganz positiv aus: Man
setzt sich an jemandes grüne Seite. Wer grünes Licht erhält, dem steht nichts im Wege.
Wer einen grünen Daumen, grünen Finger hat, dem gedeihen die Pflanzen. Bei Mutter
Grün zu übernachten verheißt Freiheit und Ungezwungenheit. Alles in allem: Grün
ist die Hoffnung.
Doch kann man sich denn nicht auch grün ärgern, vor Neid grün (und gelb) werden,
jemandem nicht grün sein? Und sieht man die grüne Minna nicht lieber vorüberfahren? Alle Farben sind ja mehrdeutig. Rot symbolisiert Blut und Leben, aber auch
Feuer und Hass. Gelb – Freundlichkeit und Optimismus, aber auch Verrat und
Schande. Blau – Harmonie und Treue, aber auch Kälte und Täuschung. Grün weist
auf Fruchtbarkeit, Leben – aber auch auf Unreife (siehe Grünschnabel, grüner Junge)
und Dämonisches (Giftgrün).
Hier geht es freilich um etwas Neues: die Farbe Grün in der Politik, als Zeichen des
Natur- und Umweltschutzes, der Ökologie.
Wann und warum ergänzte Grün namentlich das traditionelle Rot (Sozialisten, Sozialdemokraten, Linke) und das Schwarz (Klerikale, Konservative, Rechte)? Innerhalb
der später so bezeichneten neuen sozialen Bewegungen – Schwerpunkte: Ökologie,
Frauen, Frieden – bildeten sich Ende der 70er Jahre Vereinigungen, die vor allem den
Umweltschutz verfochten. Zunächst Bürgerinitiativen. Aus diesen gingen 1977/1978
– um bei Kommunal- und Landtagswahlen antreten zu können – grüne Listen hervor.
Zur Gründung einer grüner Partei in einem Bundesland kam es 1979, und die bundesweit agierende Partei bildete sich 1980: Die Grünen, später DIE GRÜNEN geschrieben, heute Bündnis 90/DIE GRÜNEN.
Als Motiv für die Namengebung ist die Grundsymbolik von Grün anzusehen: Es
steht ja zuvörderst für Wachstum, für pflanzliches, kreatürliches Leben, für Gedeihen
und Sprießen – woraus sich die älteren sprachlichen Ausdrücke wie grüner Plan (Hilfe für die Landwirtschaft in der Nachkriegszeit), grüne Lunge (Parks, Wälder), Grünes
Kreuz (Natur- und Landschaftsschutz, 1950) oder grüne Revolution (Agrarhilfen für
die Entwicklungsländer) u. a. ohne weiteres ableiten lassen. Bei all dem führt die
Wortgeschichte von grün sinnfällig auf ein altes, verloren gegangenes Wort für
'wachsen, gedeihen' – grünen eben – zurück (althochdeutsch gruoen), wie es in englisch to grow noch greifbar ist. Zugleich aber ist (wieder einmal) angelsächsischer
Einfluß spürbar. Die weltweit bekannte Organisation Greenpeace stand wohl bei der
Namenfestlegung Pate: 1971 in Kanada gegründet, hatten sich in ihr Aktivisten einer
Bewegung gegen Atomwaffentests mit Naturschützern (Einschränkung der Jagd auf
Wale) vereinigt. So erklären sich die dann zusammengeführten Teile des Namens
leicht: peace und green. Und etwas flapsig könnte man mit Blick auf die jüngeren
deutschen Organisationen und deren Engagement in der Friedensbewegung sagen:
Dasselbe in grün.
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© beim Verfasser.
Zuerst (leicht redaktionell bearbeitet) erschienen in Wörter, die Geschichte machten.
Schlüsselbegriffe des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von der Gesellschaft für deutsche Sprache.
Gütersloh/München: Bertelsmann Lexikon Verlag 2001, S. 35 f.