Jugend im Nahen und Mittleren Osten - Deutsches Orient

Studie des Deutschen Orient-Instituts
Jugend im Nahen und
Mittleren Osten
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Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Vorwort.............................................................................................................................................3
Einleitung ..................................................................................................................................... 4
Ägypten......................................................................................................................................... 6
Algerien......................................................................................................................................... 18
Iran ..............................................................................................................................................25
Jordanien ..................................................................................................................................... 34
Marokko .........................................................................................................................................42
Saudi-Arabien..............................................................................................................................51
Türkei..............................................................................................................................................66
Tunesien.......................................................................................................................................86
Vorstand und Kuratorium der Deutschen Orient-Stiftung.............................................................91
Vorstand und Beirat des Nah- und Mittelost-Vereins / NUMOV....................................................92
Impressum....................................................................................................................................93
2
Deutsches Orient-Institut
Vorwort
I
Vorwort
mmer mehr Jugendliche gehen auch in der
Arabischen Welt in die Öffentlichkeit, um
ihre tiefen Frustrationen zum Ausdruck zu
bringen. Sie verleihen ihren Forderungen
nach besseren Lebensperspektiven laut und
deutlich Ausdruck. Diese Bilder haben wir in
den vergangenen Jahren immer wieder gesehen. Sozio-ökonomische Forderungen wurden hier ebenso wie der Ruf nach Mitwirkung,
Transparenz und politischen Rechten öffentlich artikuliert.
Tatsächlich sehen sich viele Staaten des
Nahen und Mittleren Osten einer Situation
gegenüber, in der die Zahl junger Menschen
unter 30 Jahren die Bevölkerungsmehrheit
darstellt und geburtenstarke Jahrgänge nun
in den Arbeitsmarkt strömen. Adäquate Lösungen zu finden ist den wenigsten Staaten
in der Region nicht gelungen: hohe Arbeitslosenquoten unter Jugendlichen, besonders
auch bei Akademikern, haben unter der jungen Generation ein Gefühl der Ausgrenzung
verstärkt. Denn nicht in Lohn und Brot zu stehen zieht eine verheerende Verkettung nachfolgender Umstände nach sich: kein
Einkommen zu haben bedeutet, dass die eigene Selbstständigkeit verwehrt bleibt. Eine
eigene Wohnung, Heirat und Familiengründung rücken somit in weite Ferne.
Die daraus entstehende Frustration drang
dann in den vergangenen Jahren vielerorts an
die Oberfläche, entlud sich immer häufiger in
Form von Demonstrationen. Forderungen
nach Brot, Arbeit und Würde gingen über in
Forderungen nach politischer Meinungsfreiheit und Teilhabe am politischen Prozeß.
Nach wie vor sind die politische Repräsentanz
und Gestaltungsmöglichkeiten für die junge
Generation vielerorts sehr begrenzt.
Die vorliegende Studie möge einen Beitrag
dazu leisten, Jugendliche, ihre Forderungen
und die Probleme vor denen sie stehen, besser zu verstehen. Dazu wird die Situation in den
Ländern Ägypten, Algerien, Iran, Jordanien,
Marokko, Saudi-Arabien, Türkei und Tunesien
in Form einzelner Artikel beleuchtet.
Ich wünsche Ihnen eine aufschlussreiche
Lektüre.
Dr. Gunter Mulack
Direktor des Deutschen Orient-Instituts
Deutsches Orient-Institut
3
Einleitung
Einleitung
Die Jugend hat Heimweh nach der Zukunft.
Jean-Paul Sartre
… und diese Jugendlichen sind besonders
anfällig für Arbeitslosigkeit, welche Unsicherheit begünstigt und zu Unzufriedenheit führt,
die die Gesellschaft ins Wanken bringt …
D
Taha Husayn
ie demographische Realität in vielen
Staaten des Nahen und Mittleren Ostens führte in den vergangenen Jahren
zu einer angespannten Situation, in der die
Zahl der Jugendlichen die Staaten, ihre Wirtschaft und Gesellschaften vor enorme Herausforderungen stellt. Diese Gruppe drängt,
oftmals besser ausgebildet als die vorangegangenen Generationen, in Arbeitsmärkte,
die kaum in der Lage sind, sie aufzunehmen.
Durch diese Unsicherheit und mangelnde
Perspektive, den Zustand der so genannten
„Waithood“, finden sich Jugendliche nicht nur
in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage
wieder. Vielmehr verzögert sich dadurch das
Erwachsenwerden mit seinen gesellschaftlich
anerkannten Indikatoren: nach einer abgeschlossenen Ausbildung der erfolgreiche Eintritt in den Arbeitsmarkt und das Erlangen
wirtschaftlicher Unabhängigkeit als Bedingung für Heirat und die Gründung einer eigenen Familie. In diesem Zusammenhang
bedeutet Jugend jedoch nicht nur ein Zahlen
zu fassendes biologisches Alter, sondern erweist sich als komplexer Schritt menschlicher
und sozialer Entwicklung. Meist hat die Jugend dabei nur „mitzulaufen“. Tatsächlich
aber bedarf sie mehr als nur Unterstützung
und Anerkennung durch Staat und Gesellschaft, eine größtmögliche Autonomie ist
wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung und
die Entdeckung individueller Potenziale,
deren Mehrwert wiederum der Gesellschaft
zu Gute kommen sollte.1
Nicht erst die regionalen Proteste in der arabischen Welt seit 2011 wurden maßgeblich
von der jungen Bevölkerung getragen. Auch
die als „Grüne Revolution“ bekannte Bewe-
1
2
3
4
4
gung im Iran 2009 und die „Gezi-Park-Proteste“ in der Türkei 2013 haben eine ähnliche
Altersstruktur der Beteiligten aufgewiesen –
wenngleich die Beweggründe in den einzelnen Ländern unterschiedlich waren.
In den meisten Statistiken wird die Gruppe
der Jugendlichen als jene der 15-24-Jährigen definiert – im Jahr 2010 fiel jeder fünfte
Einwohner der Region in diese Alterskohorte
und insgesamt erreichte ihre Zahl etwa 90
Millionen.2 Realistischer Weise, besonders
aufgrund des eingangs beschriebenen Zustands der „Waithood“, erfasst die Gruppe
jedoch nicht mehr all jene mit diesem Lebensalter. Dennoch ist das biologische Alter
eine tragende Komponente dessen, was Jugend definiert und abgrenzt: über eine Schulpflicht und Ausbildung bis zum gesetzlichen
Mindestalter für Vollzeitarbeit oder auch das
passive und aktive Wahlrecht.
In vielen Ländern des Nahen und Mittleren
Ostens hat die Jugend in den vergangenen
Jahren eine Verbesserung ihrer Lebenswelten und Perspektiven gefordert. Bereits der
Arab Human Development Report der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2009 berichtete, dass die Vorstellungen der Jugend kaum
die Realität in punkto einer aussichtsreichen
Perspektive wiederspiegelte. Besonders im
Hinblick auf „Human Security“ betonte der Bericht, dass die Jugendlichen danach strebten,
„die Gelegenheit zu haben, sich aktiv an der
Gestaltung der Gesellschaft zu beteiligen
ohne dabei sozialem oder politischen Druck
ausgesetzt zu sein“, während dem Staat die
Rolle zukäme, „die Rechte der Bürger zu respektieren, indem Bildungs- und Arbeitsangebote zur Verfügung gestellt werden und die
Sicherheit politisch aktiver gewährleistet
wird“.3
Doch gerade der Einstieg in den Arbeitsmarkt in den arabischen Staaten stellt eine
enorme Hürde für die junge Bevölkerung
dar. Allgemein weist die Region mit 41% die
niedrigste Beschäftigungsrate im erwerbsfähigen Alter weltweit auf.4 Die Arbeitsmärkte
der Region leiden hingegen vor allem unter
einer mangelnden Transparenz, begrenzter
Vermittlungskapazitäten, einer Vielzahl verschiedener Zuständigkeiten und Programme, die unpassend formuliert sind,
Jensen Arnett, Emerging adulthood: The winding road from the late teens through the twenties, 2014.
Roudi, Youth population and employment in the Middle East and North Africa: Opportunity or challenge?,
2011, 1.
UNDP, Arab Human Development Report 2009, 2009, 29.
World Bank, World Development Indicators 2015, 2015, 45.
Deutsches Orient-Institut
Einleitung
mangelnde Evaluation und Kontrolle sowie
eine geringe Kooperationsbereitschaft mir
Arbeitgebern.5
Besonders die Arbeitslosigkeit in der
Gruppe der unter 24-Jährigen liegt deutlich
über dem Durchschnitt – eine Diskrepanz,
die vor allem in Ägypten, Algerien und Tunesien offensichtlich ist.6 In der vergangenen Generation hatte ein tertiärer
Bildungsabschluss noch mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Anstellung im öffentlichen Sektor ermöglicht. Dies war Teil des
sogenannten autoritären Gesellschaftsvertrags, dem zufolge der Staat für seine Bürger sorgt. Das beinhaltet darüber hinaus
funktionierende Sozialsysteme, Gesundheitsvorsorge und vergleichbare Leistungen. Im Gegenzug dazu wurde damit die
politische Passivität erkauft. Dieser informellen Vereinbarung nachzukommen wird
für die Staaten der „islamischen Welt“ (und
nicht nur diesen) jedoch immer schwieriger,
da die Staatsapparate bereits aufgebläht
sind und die Zahl der jungen Bürger, die integriert werden müssen, stetig gestiegen ist
– von Seiten der Jugend wird dieser sich
verschärfende Missstand dann oft als „gebrochenes Versprechen“7 wahrgenommen.Proteste können ein Ventil der sich
mobilisierenden Jugend sein. Abwanderung
ist ein anderes.
Die Beiträge der vorliegenden Studie beleuchten die Rolle der Jugend in ausgewählten Ländern des Nahen und Mittleren Osten.
Hierbei werden zunächst sozio-ökonomische,
politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, als Ausgangslage erläutert. Darauf aufbauend werden dann die aktuellen
Entwicklungen – in den arabischen Staaten
besonders seit 2011, im Iran seit 2009 und in
der Türkei seit 2013 – analysiert. Hierbei stehen besonders die Forderungen der Jugend,
ihre Organisationsformen bzw. ihr Organisationsgrad und die gewählten Protestmittel im
Fokus. Aber auch die Reformansätze von
staatlicher Seite – mit jeweils von Land zu
Land verschiedenen Ansätzen auf sozio-ökonomischer oder politischer Ebene – werden
daran anknüpfend behandelt.
Benedikt van den Woldenberg
Ludwig Schulz
Literaturangaben
JENSEN ARNETT, JEFFREy, Emerging adulthood: The winding road from the late teens through the
twenties (Oxford und New york: Oxford University Press, 2014).
EUROPEAN TRAINING FOUNDATION, The Challenge of youth employability in Arab Mediterranean countries. The role of active labour market programmes (Torino: European Training Foundation, 2015).
ROUDI, FARZANEH, “youth population and employment in the Middle East and North Africa: Opportunity or challenge?,” United Nations Expert Group Meeting on Adolescents, Youth and Development, 22. Juli 2011, http://www.un.org/esa/population/meetings/egm-adolescents/p06_roudi.pdf.
UNITED NATIONS DEVELOPMENT PROGRAMME, Arab Human Development Report 2009. Challenges to
Human Security in Arab Countries (New york: United Nations Development Programme, 2009).
WORLD BANK, World Development Report 2013. Jobs (Washington, DC: The World Bank, 2013).
WORLD BANK, World Development Indicators 2015 (Washington, DC: The World Bank, 2015).
Alle Internetquellen wurden am 11. Dezember 2015 geprüft.
5
6
7
ETF, The Challenge of youth employability in Arab Mediterranean countries, 2015.
World Bank, World Development Report 2013, 2013, 207, Abb. 6.5.
Ebed, 209.
Deutsches Orient-Institut
5
Ägypten
Die ägyptische Jugend
I. Einleitung
„Ein oder zwei Generationen müssen
Ungerechtigkeiten erleiden, damit andere Generationen leben können.“
Z
u dieser eigentümlich logischen Aussage ließ sich im März 2014 der damalige ägyptische Verteidigungsminister
Abdel Fattah Al-Sisi anlässlich der zweiten
Jahreskonferenz für junge Ärzte und Absolventen hinreißen.1 Von der Bitternis in Al-Sisis
Behauptung abgesehen unterstreicht dieses
Zitat die Bedeutung des Faktors Jugend in
Ägypten: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung
ist jünger als 25 Jahre. Diese Situation stellt
das Land, seine Gesellschaft ebenso wie Politik und Wirtschaft, vor immense Probleme.2
Speziell die Gruppe der Jugendlichen zwischen 18-29 Jahre macht 20,7 Millionen oder
23,6% der Bevölkerung aus und stellt 52%
der Erwerbstätigen in Ägypten.3 In einem von
der ägyptischen Zentralagentur für Mobilisation und Statistik (CAPMAS) veröffentlichten
Bericht von 2014 wurde die Arbeitslosigkeit
unter jungen Leuten zwischen 18-29 Jahren
auf 29% geschätzt. Der Anteil arbeitsloser
junger Männer betrug unter den Universitätsabsolventen 36,4% und unter den Schulabgängern und Analphabeten 14,7%. Bei jungen
Frauen mit Universitätsabschluss betrug die
Arbeitslosigkeit 57,2% und unter Analphabetinnen 13,7%. 27,8% der Jugendlichen leben
unterhalb und 24,1% an der Armutsgrenze.4
2011 war Ägypten bekanntlich zum Hauptschauplatz des so genannten Arabischen
Frühlings geworden. Die Tausenden Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo hatten
den Rücktritt des Langzeitpräsidenten Hosni
Mubarak erzwungen. Der Oberste Militärrat
(SCAF) übernahm die Führung des Landes,
bestärkt durch den berühmt gewordenen Slogan „Das Militär und das Volk sind eine Hand“
(al-ǧaiš w-al-šaʿb īd waḥda). Er entwarf eine
sechsmonatige politische Roadmap, in der er
versprach, die Macht an einen gewählten zivilen Präsidenten zu übergeben. Als die Verfassung ausgesetzt und das Parlament
aufgelöst worden waren und der Oberste Mi-
litärrat Verfassungsänderungen vorbereitete,
wuchs jedoch die Skepsis auf dem Tahrir.
Das „revolutionäre Lager“ war gegen diese
Änderung der Verfassung, bevor ein neues
Parlament und Präsident gewählt worden war,
während ein anderes Lager, größtenteils bestehend aus islamistischen Kräften, für eine
Zustimmung warb und dabei religiöse Empfindungen weiter Teile der konservativen
ägyptischen Gesellschaft anzusprechen versuchte. Letztlich wurden bei einer Volksabstimmung die Änderungen mit 77,2 % der
Stimmen angenommen.5 Dies erhöhte die
Spannungen zwischen beiden Lagern.
Gleichzeitig gründete die Muslimbruderschaft
die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (ḥizb
al-ḥurriyya wa-l-ʿadāla), die von Mohamed
Morsi geführt wurde. Die anfängliche Unterstützung für den SCAF begann jedoch zu verblassen und Proteste nahmen in den
nächsten Monaten wegen der Verzögerung
von Gerichtsprozessen gegen frühere Regimemitglieder und einer allgemeinen Unzufriedenheit mit der langsamen Umsetzung der
Roadmap an Schärfe zu.
Nachdem die gesetzte Frist von sechs Monaten verstrichen war,erreichten die Proteste im
September 2011 einen erneuten Höhepunkt.
Trotz des Versprechens des Militärs, den Notstand aufzuheben, war dieser in Kraft geblieben. Die polarisierte Atmosphäre blieb auch
bestehen, da ein großer Teil der Islamisten,
darunter die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, diese Proteste boykottierten und weil
eine Reihe von Angriffen auf koptischen Kirchen und Gläubige, darunter Zusammenstöße zwischen Kopten und Islamisten mit
mehreren Dutzend Toten und hunderten Verletzten, die Situation weiter anheizten. Forderungen nach dem Rücktritt des SCAF wurden
wieder lauter.6
Obwohl der Rücktritt der Regierung vom Führer des SCAF, Feldmarschall Mohamed Hussein
Tantawi,
im
November
2011
angenommen wurde, wurde sein nachfolgender Aufruf zur Versöhnung abgelehnt. Die
Parlamentswahlen zum Jahreswechsel
2011/2012 führten zu einer islamistischen
Mehrheit mit 47,2% für die Partei für Freiheit
und Gerechtigkeit und 24,3% für die salafisti-
Egy News24, No problem for current generation to be subject to injustice, 24. März 2014.
Roudi- Fahimi et al, Youth Revolt in Egypt, A Country At A Turning Point, 2011.
3
Aggour, 26.3% of Youth Unemployed, 51.2% Suffer Poverty, 2015.
4
Aggour, Over 50% of Egyptian Youth Are Poor: CAPMAS, 2014.
5
Michael, Egypt: Constitution Changes Pass in Referendum, 2011.
6
BBC News, Cairo Clashes Leave 24 Dead after Coptic Church Protest, 2012.
1
2
6
Deutsches Orient-Institut
Ägypten
sche Nour Partei.7 Ferner wurde der Führer
der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, Mohamed Morsi, im Juni 2012 zum Präsidenten
gewählt, im selben Monat, in dem das Parlament aufgelöst wurde, nachdem es vom
Obersten Verfassungsgericht für verfassungswidrig beurteilt wurde.8
Im August 2012 setzte Morsi die obersten Militärchefs ab in einen Versuch, seine Macht zu
fördern und das politische Engagement des
Militärs zu verringern. Im November 2012
stellte er ein Dekret aus, dass ihm außerverfassungsmäßigen Befugnisse und Immunität
gab. Dieser Schritt wurde mit weit verbreiteter Empörung begegnet und Proteste, die
zum Sturz des Regimes aufriefen, nahmen
erneut zu. Zehntausende Demonstranten versammelten sich auf dem Tahrir-Platz und in
anderen Provinzen in einem Moment der Einheit zwischen revolutionären und liberalen
Kräften.9 Die Proteste erreichten ihren vorläufigen Höhepunkt am 5. Dezember 2012,
als Hunderttausende sich vor dem Präsidentenpalast in Kairo versammelten und Morsis
Rücktritt forderten.10
Im Juni 2013 hielt der damalige Verteidigungsminister Abdel Fattah Al-Sisi eine Rede
und warnte, dass das Militär es nicht erlauben
würde, dass das Land im Chaos versinke. Die
Situation eskalierte, als Massendemonstrationen am 30. Juni 2013, dem ersten Jahrestag von Morsis Amtsantritt, ausbrachen und
Morsis Rücktritt forderten. Zur gleichen Zeit
setzten sich pro-Morsi Proteste auf dem Raba’a al-Adawiya Platz in Kairo fort. Nachdem
Morsi ein Ultimatum des Militärs ignorierte,
kündigte Al-Sisi seine Absetzung und die Aussetzung der Verfassung an.11 Adly Mansur,
der Präsident des Obersten Verfassungsgericht, wurde Interimspräsident und es folgte
eine Niederschlagung der Mitglieder und
Unterstützer der Muslimbruderschaft, beginnend mit der gewaltsamen Auflösung des Raba’a Sitzprotests, wo Hunderte getötet
wurden.12 Nach einem weiteren turbulenten
Jahr wurde Al-Sisi im Juni 2014 zum neuen
Präsidenten gewählt.
Haupttragende der Proteste jener Jahre
waren die ägyptischen Jugendlichen, die für
ihre Kritik an den Eliten vor allem auch auf
soziale Medien zurückgriffen. Zahlreiche
Studien über den Jugendüberschuss (youth
bulge) in Ägypten belegten die Missstände
Arbeitslosigkeit, Analphabetismus, Verzögerung des Heiratsalters und andere sozioökonomische
Faktoren.
Die
meisten
Untersuchungen über die Rolle der Jugend
neigen dazu, Jugendaktivismus als ein
neues Phänomen zu betrachten, dass sich
nur im Januar 2011 entwickelte, während
verschiedene Formen des Aktivismus, wie
begrenzte Proteste, zivilgesellschaftlicher
Aktivismus, und in den letzten Jahren auch
die Nutzung sozialer Medien, schon vor
2011 vorhanden waren.13 Wirtschaftliche
und soziale Faktoren sind jedoch keineswegs irrelevant, immerhin war das Motto der
Proteste am 25. Januar 2011 „Brot, Freiheit,
soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde“.
Die Verbreitung von Korruption und Armut,
eine hohe Arbeitslosenquote,14 die unfairen
Parlamentswahlen im Jahr 2010 sowie systematische Menschenrechtsverletzungen
durch das Regime Mubaraks, verkörpert
durch die Ermordung von Khaled Said,
waren einige der Gründe, die zur späteren
Mobilisierung der Jugend gegen das Regime führten.
II. Jugendmobilisierung in den
2000er Jahren
Die ersten Jugendproteste fanden im Jahr
2000 in Solidarität mit der zweiten palästinensischen Intifada statt und dann erneut
2002/2003 gegen die amerikanische Intervention im Irak. Später richtete sich der
Schwerpunkt der Jugendproteste auf innenpolitische Probleme.15 Im Jahr 2004 traten
hunderte ägyptische Intellektuelle aus dem
gesamten politischen Spektrum der Bewegung für den Wandel, auch als Kefaya (arabisch: genug, es reicht) bekannt, bei und
forderten den Rücktritt von Mubarak mit den
Slogans „Keine fünfte Amtszeit und keine erblichche Herrschaft.“16 Die Bewegung rief zu-
BBC News, Egypt’s New Assembly Elects Muslim Brotherhood Speaker, 2012.
Kirkpatrick, Named Egypt’s Winner, Islamist Makes History, 2012.
9
Michael and Batrawy, Egypt Clashes Erupt After Morsi’s Power Grab, 2012.
10
Kirkpatrick, Thousands Of Egyptians Protests Plan for Charter, 2012.
11
Bowen, Egyptian Army Announces ‘Morsi No Longer in Office’, 2013.
12
BBC News, Egypt Protests: Bloodshed As Pro-Morsi Camps Cleared, 2013.
13
El-Taraboulsi et al., Youth Activism and Public Space in Egypt, 2011, 10.
14
Ahram Online, A fifth of Egyptian Youth Unemployed in 2010: New Data, 2011.
15
Shehata, Youth Activism in Egypt, 2008, 2.
16
Oweidat et al, The Kefaya Movement, 2008, 33. Der Slogan bezog sich auf die weit verbreitete
7
8
Deutsches Orient-Institut
7
Ägypten
Gewaltenteilung, einer parlamentarischen Republik und einer unabhängigen Justiz auf17
und bekam große Unterstützung von Studenten und anderen Teilen der Gesellschaft. Ihr
Erfolg wurde auf die einfach vermittelte Botschaft und auf ihre Fähigkeit zur Zusammenarbeit unterschiedlicher Lager unter dem
gemeinsamen Dach zurückgeführt. Zudem
setzten sie erfolgreich Informationstechnik ein
und unterstützten so effektiv die Kommunikation zwischen Mitgliedern und Anhängern
über Textnachrichten und die Schaffung einer
Online-Plattform, wo Menschen ihre Unterstützung äußerten und wo auch Video-Mitschnitte von Verstößen der Polizei gegen die
Protestierenden veröffentlicht wurden.18
Eine Untergruppe von Kefaya, youth for
Change, war indes eine treibende Kraft hinter
Demonstrationen in den Jahren 2004-2005,
den ersten direkten Konfrontationen zwischen
Jugendlichen und dem Regime Mubaraks. Im
Jahr 2006 wurden Richter, die Wahlbetrug bei
den Parlamentswahlen 2005 entdeckten, disziplinarisch belangt. Der Protest des Richterrats, an dem dann auch Mitglieder von Kefaya
und der Muslimbruderschaft teilnahmen,
wurde durch Massenverhaftungen niedergeschlagen. Als Folge der Niederschlagung und
weiterer repressiver Maßnahmen des Regimes, wie etwa Folter, sexuellem Missbrauch
und Einschüchterungen um Mitgliedern von
Kefaya, sowie wegen interner organisatorischer Probleme, verlor die Bewegung ihren
Einfluss und kurz darauf ihre Präsenz. In dieser Zeit wurde der politische Aktivismus unter
Jugendlichen geschwächt und machte somit
Raum für Onlineaktivismus, vor allem politischen Blogs, die durch harsche Kritik an Politikern gekennzeichnet waren.19
In der Folge entstand außerhalb des formalen Rahmens politischer Parteien eine weitere
Bewegung: die Jugendbewegung des 6. April
2008. Zwischen 2007 und 2008 erlebte das
Land massive Streiks von Arbeitern im ganzen Land wegen steigender Preise, einer allgemeinen
Inflation
und
gefälschten
Gewerkschaftswahlen im Jahr 2006.20 Die Bewegung vom 6. April, deren Anhänger zum
großen Teil städtische Jugendliche waren, einige mit Kefaya assoziiert, formierte sich in
Solidarität mit den streikenden Textilarbeitern
in al-Mahalla al-Kubra und rief zunächst zu
einem landesweiten Streik auf, um bessere
Löhne und Arbeitsgesetzreformen zu fordern.
Der Ruf nach einem Generalstreik am 6. April
2008 war eine erneute Eskalation, die das
Regime überraschte und schnell über das
Internet und soziale Medien verbreitet wurde.
Daraufhin wurden viele der Aktivisten verhaftet. Später gab die Gruppe eine Erklärung ab
und forderte die Freilassung politischer Gefangener und die Abschaffung der Notstandsgesetze.21 Der Reiz der Bewegung ergab sich
aus den ideologisch unterschiedlichen Mitgliedern und deren universellem Interesse an
Menschenrechten und Demokratie, ohne eine
bestimmte politische Agenda zu präsentieren.22 Allerdings spaltete sich die Jugendbewegung des 6. April im Jahr 2011 aufgrund
interner Konflikte in zwei Lager auf und wurde
2014 von einem Gericht in Kairo wegen des
Vorwurfs, das Bild Ägyptens zu beschädigen,
verboten.23
Obwohl zu Beginn der 2000er Jahre die Entstehung von zwei prominenten sozialen Bewegungen entstanden und viele Jugendliche
eine Demokratisierung anstrebten, war das
Niveau des politischen und bürgerschaftlichen
Engagements noch niedrig. Die Tatsache,
dass in einem autoritären System die meisten
Menschen ahnen, dass Dissens gewaltsam
beendet wird,24 und der Mangel an nennenswerter Opposition, die Unterstützer um sich
vereinigen konnte (mit der Ausnahme von
Mohamed El Baradei, dessen National Assembly for Change eine wichtige Rolle in der
Opposition von Mubaraks Politik spielte) verstärkte sich die verbreitete Apathie.
Infolge des willkürlichen Mords an Khaled
Said durch zwei Sicherheitsbeamte in Alexandria im Juni 2010 formte sich eine Facebook-Gruppe mit dem Namen „Wir sind alle
Khaled Said“, die eine massive Online-Kampagne startete. Die Gruppe begann,
systematische Folterpraktiken und Menschenrechtsverletzungen durch das Innenministerium zu dokumentieren und zog mit der
Forderung nach Massenprotesten am Ende
ein breiteres Publikum an. Auf ihrer derzeit 3,8
Millionen Fans zählenden arabischen Face-
Überzeugung, dass Mubarak damals seinen Sohn Gamal auf die Präsidentschaft vorbereitete.
Ebd. 27.
18
Ebd. 37.
19
Shehata, Youth Activism in Egypt, 2008, 5.
20
Mady, Popular Discontent, Revolution and Democratization in Egypt in a Globalizing World, 2013, 16.
21
April 6 youth Movement blogpost http://6aprilmove.blogspot.de/2008/04/4-may-strike-without-violence.html.
22
Sika, Youth Political Engagement in Egypt: From Abstention To Uprising, 2012, 189.
23
Nader, 6 April Youth Movement Banned, 2014.
17
8
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Ägypten
book-Seite beschreibt die Gruppe sich selbst
als „eine Seite für alle Ägypter unabhängig
von Religion, Alter, Geschlecht, Bildung, sozialem Status oder politischer Zugehörigkeit“.25
Im Juni 2010 rief die Seite zu einer Mahnwache für das „Recht des Märtyrers“ in Kairo und
Alexandria auf – die Aktion verbreitete sich
später in weiteren Provinzen, und sollte im
weiteren Verlauf des Jahres, bis zum Ausbruch des Arabischen Frühlings zum Jahreswechsel 2010/11 seine Fortsetzung finden.26
III. Hoffnung und Desillusionierung
Ein gemeinsames Merkmal der Jugendgruppen vor und nach 2011 ist die Abwesenheit
einer Hierarchie oder Führung, was für eine
inklusive und fluide Bewegung sorgte. Dies
hat sich jedoch nach dem Rücktritt Mubaraks
wesentlich geändert. Nach Mubaraks Sturz
versuchten viele der jungen Menschen, die an
den Protesten teilnahmen, Mitglieder politischer Parteien zu werden oder unabhängige
Koalitionen zu gründen. Die ersten derartigen
Versuche kamen mit der Koalition der revolutionären Jugend (ī’tīlāf šabāb al-ṯawra), die Individuen und Parteien aus verschiedenen
politischen Strömungen zusammenbrachte
(wie etwa die Jugend vom 6. April , die Muslimbruderschaft, Anhänger von Mohamed ElBaradei und andere).27 Deren Ziel war es, die
Massenmobilisierung aktiv zu halten um
Druck auf den SCAF auszuüben.28 Obwohl es
ihr am Anfang gelang, den Druck der Öffentlichkeit zu halten, führte der Fokus der Koalition auf Straßenpolitik im Gegensatz zur
Parteipolitik zu einer schwachen Wahlunterstützung. Als Mohammed Morsi 2012 ins Amt
gewählt wurde, war die Koalition längst aufgelöst. Andere beschlossen, sich neu gegründeten politischen „Jugendparteien“
anzuschließen. Die Unerfahrenheit der Führung und der Idealismus der revolutionären
Jugend war jedoch der Hauptgrund, der diese
Parteien daran hinderte, Sitze in den Parlamentswahlen 2012 zu gewinnen. Zu den
neuen politischen Parteien gehörten auch diejenigen, die von der älteren Generation gegründet wurden und deutlich bessere
Wahlergebnisse als die Jugendparteien er-
zielten. Allerdings herrschten auch dort
interne Kämpfe, da junge Mitglieder das Gefühl hatten, von den Entscheidungsprozessen
ausgeschlossen zu werden. Viele von ihnen
verließen daraufhin die Parteien oder entschieden sich für politische Untätigkeit.29
Selbst nach den Präsidentschaftswahlen
2012 und die Gründung neuer Parteien unter
der Führung von bekannten öffentlichen Persönlichkeiten, wie Mohamed El Baradei,
Hamdin Sabahi und Abdel Moneim Abul
Futuh (allesamt Präsidentschaftskandidaten),
litten diese unter den gleichen strukturellen
und internen Problemen, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Die Parteien hatten
Schwierigkeiten, ihre Neigung zum Straßenaktivismus mit neuen institutionalisierten politischen Rahmenbedingungen zu vereinen.30
In dieser Hinsicht hatten die islamistischen
Parteien mehr Erfolg aufgrund ihrer langen
Geschichte, der großen Basisbewegung und
dem hohen Maß an interner Disziplin. Viele
der desillusionierten Jugendlichen griffen auf
Online-Aktivismus zurück oder bildeten informelle Netzwerke, die sich mit Bildung, Unternehmertum und politisches Bewusstsein
beschäftigten. Zudem starteten sie auch Menschenrechtsinitiativen.
Ein Bericht von Amnesty International der im
Juni 2015 mit dem Titel „Generation Jail“ erschien, wirft ein Licht auf die heutige Situation
der politischen Aktivisten in Ägypten. Dem Bericht zufolge scheint der ägyptische Staat sich
an jungen Bürgern, die den Status Quo seit
2011 in Frage stellen, zu rächen. Was als
Masseninhaftierung von Mitgliedern und Anhängern der Muslimbruderschaft im Zuge der
Absetzung Morsis durch das Militär im Juli
2013 begann, hat sich zu einer massiven
staatlichen Kampagne entwickelt, deren Ziel
es ist, alle Gegenstimmen und politische Opposition zum Schweigen zu bringen.31 Das
seit Juli 2013 regierende Regime hat ein AntiProtest-Gesetz verabschiedet, das Versammlungsfreiheit und friedliche Demonstrationen
verhindert, da es Proteste erst erlaubt, nachdem die Organisatoren von dem Innenministerium eine Genehmigung erhalten haben.32
In der Folge wurden hunderte politische Akti-
Sika, Youth Political Engagement in Egypt: From Abstention To Uprising, 2012, 198.
Kolena Khaled Said Facebookseite: https://www.facebook.com/ElShaheeed/info/?tab=page_info.
26
Kolena Khaled Said Facebookseite: https://ar-ar.facebook.com/ElShaheeed/posts/125466920825901.
27
Coalition of youth Revolution Facebookseite: https://www.facebook.com/Coalition.Of.youth.Revolution/info/
?tab=page_info.
28
Abdalla, Egypt’s Revolutionary Youth, 2013, 1.
29
Ebd. 2.
30
Ebd. 3.
31
Amnesty International, Generation Jail: Egypt’s Youth Go From Protests to Prison, 2015, 2.
24
25
Deutsches Orient-Institut
9
Ägypten
visten festgenommen und einige zu bis zu 15
Jahren Gefängnis verurteilt – darunter waren
beispielsweise auch viele Mitglieder der Initiative „No Military Trials for Civillians“.33 Ahmed
Maher und Mohamed Adel, Mitbegründer der
Bewegung vom 6. April wurden zu drei Jahren Gefängnis auf Grundlage dieses Gesetzes verurteilt. Mit einer breit propagierten
Kampagne unterschrieb Präsident Al-Sisis im
August 2015 zudem ein Anti-Terror-Gesetz,
das es Polizisten ermöglicht, ungestraft Gewalt bei der Ausübung ihrer „Pflichten“ anzuwenden.34 Das Gesetz bietet eine lose
Definition von Terrorismus und Terroristen und
ebnet somit den Weg für Anschuldigungen
gegen Anhänger der Muslimbruderschaft und
andere politische Dissidenten.35 Menschenrechtsaktivisten glauben, dass das Gesetz in
erster Linie gegen Proteste, die schwer zu
kontrollieren sind, wie Studentenproteste und
jene von Ultras, verabschiedet wurde. Die
Ultras-Bewegung aus Fans besonders der
Kairoer Fußballclubs ist ein Beispiel dafür.
IV. Nicht nur Fußball
Schon lange vor 2011 waren die Ultras-Gruppen, insbesondere die Ahlawy und die White
Knights, ein Dorn im Auge der Staatssicherheit. Sie stehen außerdem gegen der Kommerzialisierung des Fußballs, und ihre
Loyalität gilt dem Sport und ihren Teams, nicht
der Politik. Ihre Mitglieder haben unterschiedliche soziale Hintergründe, sind keine Anhänger politischer Gruppen und neigen eher
dazu, antiautoritär zu sein, ob gegen die Polizei, den Fußballverein oder die Medien.36
Obwohl sie seit ihrer Gründung im Jahr 2007
in Ägyptens Sportszene aktiv sind, nahm ihre
politische Rolle erst während des Aufstandes
in 2011 deutliche Form an, als sich ihre organisatorischen Fähigkeiten und lange Geschichte der Konfrontation mit der Polizei zu
Gunsten der Demonstranten bewährten. Traditionell medienscheu, wurden die Ultras eine
der am meist diskutierten Bewegungen in der
Post-Mubarak-Ära. In dem Vorfall, der als Port
Said-Massaker bekannt wurde und der für
große Sympathie mit den Ultras sorgte, wurden 2012 etwa 70 Ultras in einem Fußballspiel zwischen Al Ahly (aus Kairo) und Al
Masry (aus Port Said) bei Zusammenstößen
getötet. Die Ultras behaupteten, dies wäre vor
allem das Ergebnis der polizeilichen Nachlässigkeit, gegen die Kämpfe vorzugehen, gewesen. In Massenprotesten, mit denen
Gerechtigkeit für die Opfer eingefordert
wurde, demonstrierte die Szene ihre Organisationsstärke. Trotz ihrer klassischen Abneigung gegen Politik fanden die Ultras
Jugendlichen da sich zunehmend in der politischen Szene beteiligt.37 Zudem hat sich der
Diskurs der Gruppe nach dem Aufstand deutlich verändert. Sie fingen an, Proteste und
Sitzproteste zu organisieren und mit anderen
revolutionären Gruppen zu koordinieren. Mit
bis zu zwei Millionen Jugendlichen in den Reihen der beiden größten Ultras-Gruppen stellen sie eine erhebliche Mobilisierungskraft
dar. Im März 2015 kamen bei erneut gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Fans vor dem Air Defense Stadion in
Kairo 22 Beteiligte ums Leben. Der damalige
Generalstaatsanwalt Hisham Barakat beschuldigte die White Knights der Gewaltanstiftung und ließ verlauten, dass „Mitglieder
des Zamalek Fanclubs Geld von der terroristischen Muslimbruderschaft erhalten, um Gewaltakte zu begehen“.38 Nachdem der Anwalt
und Eigentümer von Zamalek (benannt nach
einem Stadtteil von Kairo), Mortada Mansour,
die Ultras Gruppe daraufhin anklagte, erklärte
der Gerichtshof von Kairo alle Ultra-Gruppen
in Ägypten als terroristische Organisationen
und verlangte ihre Auflösung. Aufgrund ihrer
lockeren Hierarchie sowie der persönlichen
Verbreitung von Informationen (also nicht
mittels Facebook oder Handynachrichten) ist
die Überwachung und Kontrolle von Ultra
Gruppen schwierig. Das macht es allerdings
auch schwierig, sie zu schwächen, vor allem
als nach dem Sturz Morsis neue politische
Ultra Gruppen erschienen und seine Rückkehr forderten.39 Obwohl der Aktivismus der
Ultras seither deutlich zurückging,40 ist es
trotzdem zweifelhaft, dass sie sich vollständig
von der politischen Szene zurückziehen werden, vor allem solange der Staat darauf besteht, die Stadien für die Zuschauer zu
sperren. Die Tatsache, dass Fußballspiele in
den letzten fünf Jahren weitgehend ohne
Fans stattfanden, befeuert die Spannung zwi-
Kingsley, Egypt’s Interim President Signs Anti-Protests Law, 2013.
Sabry, How Egypt’s Protests Law Brought Down the Revolution, 2014.
34
Hamama, Licence To Kill?, 2015.
35
Hamed, Egypt’s Terrorism Law Whittles Down Opposition, 2015.
36
Nawara, Egypt’s Ultras: Revolutionaries to Villains?, 2013.
37
Elgohari, Egypt’s Ultras: No More Politics, 2013.
38
Crane Linn, Egypt Names Hard-Core Soccer Fans as Terror Group, 2015.
39
Ebd.
32
33
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Ägypten
schen Ultras und der Regierung weiter. Trotz
Forderungen nach einem Dialog, um zu einer
Einigung kommen, gibt es von beiden Seiten
keine Anzeichen für eine Annäherung.
V. Politischer Aktivismus auf dem Campus
Im Gegensatz zu den Ultra Gruppen sind Studenten seit Anfang des 20. Jahrhunderts eine
bedeutende politische Kraft in Ägypten – und
Universitäten sind eine der am schwersten zu
kontrollierenden öffentlichen Bereiche des politischen Aktivismus. Seit dem Sturz Morsis,
haben Proteste an Universitäten in ganz
Ägypten stattgefunden und ihnen wurde mit
Gewalt durch die Sicherheitskräfte begegnet.
Im Studienjahr 2013-2014 wurden Hunderte
von Studenten inhaftiert, 16 getötet und unzählige exmatrikuliert. Die Gruppe Students
against the Coup wurde nach Morsis Sturz
gebildet und inszenierte regelmäßig Proteste
an der Al-Azhar und der Universität Kairo. Im
akademischen Jahr 2014-2015 stellte das Regime eine private Sicherheitsfirma ein in
einem Versuch, den Al-Azhar Campus zu
kontrollieren, was aber zu gewalttätigen Zusammenstößen und der Festnahme von mehr
als 100 Studenten führte. Viele Universitäten
verboten politisch zugehörige Studentengruppen und politische Aktivitäten auf dem
Campus und drohten mit Exmatrikuation.
Zwei Universitäten, Beni Suef in Oberägypten
und Ain Shams in Kairo, haben jede Kritik an
Präsident Al-Sisi oder anderen staatlichen Figuren explizit verboten.41 Durch solche oder
andere Praktiken erhöhte sich jedoch die Politisierung an den Universitäten nur noch
mehr. Die Sicherheitspräsenz und der regelmäßige Ausfall von Lehrveranstaltungen und
Prüfungen tragen dazu bei, die Frustration der
Studenten zu steigern, wodurch auch das primäre Ziel der Universität, nämlich Bildung,
schwieriger zu erreichen wurde.42
Bis zum Ende des Jahres 2014 waren mehr
als 1.000 Studenten festgenommen worden.
Obwohl einige der Protestierenden mit der
Muslimbruderschaft sympathisierten, identifiziert sich die Mehrheit der protestierenden
Studenten mit keiner politischen Gruppe.
Durch diese Politik hat der Staat unbewusst
unterschiedliche Gruppen näher zusammengebracht: Studenten der Jugendbewegung
des 6. April, Anhänger und Mitglieder der Partei Dustur und Studenten der Popular Current43 begannen sich mit Studenten der
Muslimbruderschaft zusammenzuschließen,
besonders in Solidarität mit Gefangenen, die
in den Hungerstreik gingen.44 Die Niederschlagung der Opposition an Universitäten
zeigt die alarmierende Lücke zwischen dem
alten Regime und der Jugend. Da die Legitimität Al-Sisis offensichtlich auf der überwältigenden Unterstützung der Öffentlichkeit
basiert, ist es klar, dass ihm die Unterstützung
einer der größten Gruppen der Bevölkerung
fehlt.45 Selbst Tamarod, eine weitere Graswurzelbewegung Jugendlicher, die eine Rolle
bei der Mobilisierung der Massen für die AntiMorsi Proteste, die zu seinem Sturz führten,
spielte, ist seitdem politisch inaktiv.
In einer Rede an der Kairo Universität im September 2014 verwendete Al-Sisi eine paternalistische Rhetorik indem er betonte, wie
sehr er die Jugend Ägyptens liebe und sie als
seine Kinder betrachte. Er fuhr fort und warnte
sie vor der Ausübung „bösartiger“ Aktivitäten,
während er zudem erklärte, dass die Universitäten nur ein Ort für die Bildung seien.46
Zwar setzten sich die Studentenproteste fort,
doch die Niederschlagung hat sie erheblich
geschwächt. Dutzende Fälle gewaltsamer
Entführungen wurden dokumentiert. Die Kampagne Freedom For The Brave veröffentlichte
ein Facebook-Post das mindestens 163 gewaltsame Entführungsfälle in den Monaten
April und Mai 2015 dokumentierte.47 Der Fall
der 21-jährigen Studentin Israa El Tawil,48 die
für Wochen verschwand, hatte viel Aufmerksamkeit, besonders in sozialen Medien, auf
diese Thema gelenkt.
Die Jugend der Muslimbrüder bildet eine besondere Herausforderung für Al-Sisi. Nach
deren Niederschlagung im Zuge der Absetzung Mohammed Morsis wurde die Führung
der Muslimbruderschaft entweder inhaftiert
Daily News Egypt, Court Drops Terrorism Case Against Ultras Fan Groups, 2015.
Bentivoglio and Dunne, Egypt’s Student Protests: The Beginning or The End of Youth Dissent?, 2014.
42
Adam and El-Dabh, Student Protests Preserve Amidst Crackdown Elsewhere in Egypt, 2014.
43
The Egyptian Popular Current (at-tayār aš-šaʿībi al-masri) ist eine vom 2012 Präsidentsschaftswahl
Kandidat Hamdin Sabahi gegründete sozalistische Bewegung, die in 2014 die Partei The Popular Current
Party (ḥizb at-tayār aš-šāʿībi) gründete. Vgl. Kassab, The Popular Current Party is Born, 2012.
44
Bentivoglio and Dunne, Egypt’s Student Protests: The Beginning or The End of Youth Dissent?, 2014.
45
In 2012 waren etwa 2.5 Millionen Studenten an Ägyptens Universitäten angemeldet. Vgl. Lindsey,
Freedom and Reform at Egypt’s Universities, 2012.
46
Ahram Online, El-Sisi Promises Bigger Role For Youth In Cairo University Speech, 2014.
47
Freedom for the Brave Facebookseite: https://www.facebook.com/Al7oriallgd3an/posts/695600770551785.
40
41
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Ägypten
oder ist ins Ausland geflohen. So entstand
eine Lücke zwischen den Entscheidungsträgern der höheren und Mitgliedern der unteren
Ränge. Während dies die jüngeren Mitglieder
der Gruppe autonomer machte, führte es
auch zu der Annahme eines radikaleren Diskurses; aber nicht unbedingt radikalen Aktivitäten. Obwohl sich die Muslimbruderschaft
offiziell nicht zu Verbindungen zum Terrorismus auf dem Sinai bekennt, bleibt unklar,
wie weit die einzelnen Mitglieder daran beteiligt sind. Da der Entscheidungsmechanismus
und die Kontrollstruktur innerhalb der Gruppe,
die historisch für ihre hohe innere Disziplin
und Struktur bekannt ist, durchtrennt wurden,
wird die interne Rhetorik zunehmend radikalisiert, je mehr die jüngeren Mitglieder erkennen, wie machtlos ihre Führer geworden sind.
Unklar ist, ob der Staat die Tendenzen unwissentlich oder auch absichtlich möglich gemacht hat. Ohne jede Hoffnung auf eine
Versöhnung in der nahen Zukunft wird die Jugend weiter von friedlichen Oppositionsformen abdriften und die Kluft innerhalb der
Gruppe wird sich erweitert.
VI. Radikalisierung der Jugendlichen und
die Frage der Politischen Partizipation
Mit der eskalierten Bedrohungslage auf dem
Sinai49 und der mangelnden Wirksamkeit der
eingesetzten Strategien der Terrorismusbekämpfung scheint die Radikalisierung außer
Kontrolle zu geraten. Nachdem die Gruppe
Wilayat Sinai Treue zum selbsternannten Islamischen Staat (IS) erklärte, hoffte sie, mehr
junge Leute für sich zu gewinnen. Eine der
neuen Taktiken hierfür ist die Online-Rekrutierung, die vor allem auf junge Menschen abzielt. In einem Fall, der sich weit über soziale
Medien und Nachrichten-Websites in Ägypten
verbreitete, zog der 24-jährige Islam yaken,
Absolvent einer Privatschule in Kairo, nach
Syrien und tauchte in Videoaufnahmen auf,
wo er die Ideologie des IS anpries und mit Leichen posierte. Auffallend ist, dass yaken aus
einer Familie der Mittelschicht ohne bekannte
finanzielle Schwierigkeiten stammt. Vor seinem Eintritt bei IS war er nicht als besonders
religiös bekannt, wandte sich aber nach dem
Unfalltod eines Freundes mittels religiöser Videos des bekannten Salafi-Predigers Scheich
Muhammad Hussein yacoub der Religion zu
und zog sich sukzessive aus seinem alten
Leben zurück. Laut Freunden kam sein per-
sönlicher Wendepunkt mit dem Sturz Morsis
im Jahr 2013. yaken soll daraufhin alle Hoffnung auf ein gerechtes und demokratisches
System verloren haben, und nach der Niederschlagung von Unterstützern der Muslimbruderschaft zog es ihn über die Türkei nach
Syrien. yaken ist einer von 600 Ägyptern, die
für den IS kämpfen.50
Der Staat reagierte auf solche und andere
Fälle nicht mit Deradikalisierungsstrategien,
um den steigend militanten Tendenzen unter
jungen Männern zu begegnen, sondern
damit, weiterhin die Religionsfreiheit und ausübung zu kontrollieren. Durch einen Fokus
auf den traditionellen öffentlichen Raum bleiben die Taktiken des Staates allerdings ineffektiv. Im Juni 2015 erstellte Al-Azhar eine
Beobachtungsstelle online,51 um radikale
Ideen in acht Sprachen, darunter Englisch,
Französisch, Sawahili, Spanisch und Urdu, zu
begegnen. Dies geschah, nachdem Al-Sisi
sich wiederholt für eine religiöse Reformation
aussprach, die von der Al-Azhar eingeleitet
werden soll. Zur gleichen Zeit organisierte das
Ministerium für Religiöse Stiftungen die Ausbildung von 300 jungen Imamen, um sie darin
zu trainieren, wie radikalen Ideen online begegnet werden kann und wie mit modernen
Kommunikationsmitteln wie WhatsApp und
Facebook umzugehen ist. Das Ziel der Beobachtungsstelle ist es, Ansprüche von radikalen Gruppen durch Vorlage von Argumenten
aus dem Koran und den Lehren des Propheten in einer akademischenm aber dennoch
einfachen Weise für Jugendliche zu widerlegen.52 Obwohl das ein erster Schritt ist, um die
ansteigende Radikalisierung zu bekämpfen,
gibt es immer noch Probleme mit diesem Ansatz. Auf der technischen Ebene hat Al-Azhar
nicht die gleichen modernen Fähigkeiten und
Propagandawerkzeuge, die sie diese Gruppen besitzen, und daher ist die Reichweite begrenzt. Ein weiteres Problem ist die Annahme,
dass das Problem grundsätzlich religiös ist.
Wie der Fall von Islam yaken und viele andere zeigen, dient die Religion hauptsächlich
als Rechtfertigung für Gewalttaten, nicht als
treibende Kraft. Dieser Ansatz behandelt das
Symptom die religiös gerechtfertigte Gewalt
ohne die eigentlichen Ursachen anzusprechen. Obwohl weitere Studien erforderlich
sind, um festzustellen, was einige junge Männer dazu treibt, ihr Leben aufzugeben und zu
den Waffen zu greifen, stehen gesellschafts-
Where is Esraa Eltaweel Facebookseite: https://www.facebook.com/WhereIsEsraa.
Alexandrani, ISIS in Egypt’s Sinai, 2015.
50
El Naggar, From a Private school in Cairo to ISIS Killing Field in Syria, 2015.
51
Al Azhar Observer in Foreign Languages, http://www.azhar.eg/en-us/marsad.
48
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Ägypten
politische Ursachen im Mittelpunkt und nicht
Religion.
Die Turbulenzen der Jahre nach dem Aufstand, das wiederholte Versagen der aufeinanderfolgenden Regierungen, politische und
wirtschaftliche Stabilität zu schaffen, die Enttäuschung über das Scheitern demokratischer Mechanismen, die Überzeugung, der
„moderate“ Islam der Muslimbruderschaft sei
zu schwach, um ungerechten Herrschern zu
begegnen, das beispiellose Vorgehen gegen
Opposition und Dissidenten – all das sind einige der Gründe, weshalb die zum Teil orientierungslosen Jugendlichen in die Arme von
Gruppen getrieben werden, die ihnen Perspektiven versprechen und zeigen, dass sie
ihnen die Gelegenheit geben werden, stark zu
sein und etwas zu bewirken. Zu denken, dass
die Lösung nur in einer Reform der Religion
von oben liegt, bewirkt keinen Erfolg bei der
Bekämpfung von Radikalisierung. Eine echte
Erneuerung der religiösen Lehren und eine
anschließende Annäherung an die Jugend
können nur stattfinden, wenn Al-Azhar völlig
unabhängig von staatlichem Einfluss wäre.
Die Verbindung mit dem Staat, dem Hauptgegner der radikalisierten Jugend, macht
seine Botschaften und Annährungsversuche
unglaubwürdig. Um radikalen Tendenzen
unter Jugendlichen zu begegnen, muss der
Staat seine Rolle realistisch einschätzen. Ein
aggressives Vorgehen gegen politische Freiheiten und das Zurückdrängen von kritischen
Stimmen erhöht die Spannung.
Seit den frühen 1990er Jahren sind zudem
Gefängnisse der Nährboden für Radikalisierung. Deradikalisationsprogramme müssen
in Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft
erstellt und durchgeführt werden. Dafür
müssen ihre Organisationen Freiheiten genießen und einen gesunden Abstand von
staatlichen Institutionen haben, um das Vertrauen der Zielgruppe zu gewinnen. Solange
ausschließlich staatliches Sicherheitspersonal anstelle von geschulten Psychologen,
Soziologen und Familienexperten die Deradikalisierungsmaßnahmen vornehmen sollen, wird es keine Lösung geben. Und
solange der Staat Militanz und Radikalität
nicht auch als sozialpsychologisches und
sozio-ökonomisches Problem betrachtet,
sondern nur als eine Frage der Religion behandelt und entsprechend nur religiöse Ant-
worten präsentiert, wird das Problem weiter
anwachsen.
Obwohl nicht alle desillusionierten Jugendlichen
auf Gewalt zurückgreifen, entscheiden sich viele
von ihnen für ein weiteres hoffnungsloses Verhalten, nämlich Apathie. Die Parlamentswahlen
von 2015/16 sind ein klares Beispiel dafür, in
wie fern die letzten fünf Jahre den einst revolutionäre Geist der jungen Menschen gebrochen
haben. Trotz Medienpropaganda und Al-Sisis
Appell an die Jugend, wählen zu gehen, nahmen nur 26% der Ägypter an den Wahlen im
Oktober 2015 teil. Nach zwei Tagen der Abstimmung in 14 Verwaltungsbezirken53 gab die
Oberste Wahlkommission die Beteiligung gar
nur mit 1,2% an.54 Kurz danach haben staatliche Medien und Politiker versucht, die Wähler
zu ermutigen, indem sie sie an ihrer Pflicht der
Gestaltung der Zukunft ihres Landes erinnerten
und vor einem Salafi-dominierten Parlament
warnten. In sozialen Medien herrschte Zynismus und Apathie. Eine Gruppe junger Aktivisten startete eine Kampagne, in welcher sie
fiktive Wahllisten mit den Namen der getöteten
und inhaftierten jungen Aktivisten erstellte und
zum Wahlboykott aufforderte. Mit dem weit verbreiteten Gefühl der Apathie wurde die Boykottkampagne von vielen als unwirksam betrachtet.
Die Kampagne betonte, dass sie trotz scheinbarer politischer Gleichgültigkeit unter den Jugendlichen zum Boykott aufrufe, um den Verlust
des Glaubens an jeden politischen Prozess zu
signalisieren. Auch wenn es für diese Kampagne wenig Unterstützung gab, zeigt sie deutlich die wachsenden Spaltungen unter den
Jugendlichen selbst. Viele junge Menschen äußerten sich in sozialen Medien, und kritisierten
die Kampagne als zu emotional oder realitätsfern. Den Führern der Kampagne wurde vorgeworfen, in der „Utopie“ des Jahres 2011 stecken
geblieben zu sein, ohne realistische Alternativen
anzubieten oder sich von ihrer revolutionären
Gesinnung trennen zu können. Die Organisatoren der Kampagne hätten auch feststellen müssen, dass viele Außenstehende keine
Sympathien für die gefangenen Aktivisten
haben, da die weit verbreitete Medienpropaganda sie als ausländische Agenten, Verräter
oder Terroristen bezeichnete. Einige Stimmen
gingen so weit, die Kampagne als einen „Online-elitären Boykott, der keine Basis auf den
Straßen hat“ zu bezeichnen, eine Kritik die häufig gegen revolutionäre jugendliche Kräfte verwendet wird und die ihr politisches Versagen mit
Mokbel, Al Azhar goes online to fight extremism, 2015.
Ägypten hat 27 Gouvernements. Am 18. und 19. Oktober 2015 fand die erste Wahlrunde in 14 Oberägypten
und West-Delta Gouvernements statt.
54
Aman, Despite Risk Of $62 Fine For Not Voting, Less Than 20% Of Egyptians Bothered To Show Up at
52
53
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Ägypten
dem Versagen, die breiteren Massen zu erreichen, zuschreibt.55 Die revolutionäre Jugend
verteidigt sich jedoch mit der Überzeugung,
dass die Menschenrechte und Meinungsfreiheit
weder Luxus noch elitäre Anforderungen sind
und dass sie alle Rechte umfassen, sei es Meinungsfreiheit oder das Recht auf Bildung, Beschäftigung oder soziale Sicherheit. Die
Tatsache, dass staatsnahe Medien Menschenrechtsaktivisten als vom Westen unterstützte
Eliten schmähen, die sich nicht um die „wesentlichen“ Rechte, wie wirtschaftliche und soziale Rechte, kümmern und sich stattdessen mit
Online-Aktivismus beschäftigen, erhöht auch
auf die Spannung zwischen diesen Aktivisten
und den Medien sowie dadurch auch einem
Großteil der Bevölkerung. Das Gefühl, gefangen zu sein und bekämpfte zu werden, sowohl
vom Staat als auch von der Gesellschaft, hat zu
einer Entfremdung der Jugend beigetragen und
treibt sie weiter in Richtung Apathie.
VII. Fazit
Im September 2015 begnadigte Präsident
Abdel Fattah Al-Sisi 100 prominente Aktivisten und politischen Gefangenen, von denen
die meisten in dem zuvor erwähnten Bericht
von Amnesty International erwähnt wurden
und deren Namen oft in sozialen Medien zirkulierten. Hashtags auf Twitter und FacebookGruppen in Solidarität mit den politischen
Gefangenen haben eine wichtige Rolle bei
der Schaffung von nationalen und internationalen Druck auf das Regime gespielt. Al-Sisis
Amnestie kann wenig Tage vor seinem Besuch der 70. Generalversammlung der Vereinten Nationen in New york als ein Versuch
verstanden werden, das Image seines Regimes im Ausland zu verbessern. Dort verkündete er eine globale Initiative für die Jugend,
um sie von der Teilnahme an Terrororganisationen zu entmutigen. Die Initiative Hope and
Work for New Prospects wird sich auf Ausbildung, Schulung und Beschäftigungsmöglichkeiten für die Jugend konzentrieren. Eine
weitere Initiative, The Presidential Leadership
Program, zielt auf die Stärkung der Führungsfähigkeiten der Jugend ab.56
Ferner entwickelte die Regierung Anfang 2015
einen nationalen Trainingsplan im Rahmen ihrer
Bemühungen, die Arbeitslosigkeit zu verringern.
Der Plan zielt darauf ab, zwei Millionen Arbeitsplätze zu schaffen. Laut Angaben des damaligen Premierministers Ibrahim Mehleb wurden
2014 170.000 Plätze geschaffen, von denen
70% besetzt gewesen seien. Mitte 2015 genehmigte das Ministerium für lokale Entwicklung
mehr als 1.000 Projekte im Rahmen einer nationalen Initiative unter dem Titel „Ihr Projekt“
(mašrū’ak) mit Investitionen in Höhe von EGP
34 Millionen. Die Ziele der Initiative sind unter
anderem Beschäftigungsmöglichkeiten für Jugendliche in allen Gouvernements zu schaffen,
nachhaltige Entwicklung zu realisieren und die
Emigration von Dörfern in Städte zu verringern.57 Obwohl diese Initiativen ein guter Schritt
sind, muss noch abgewartet werden, in wie weit
sie ihre Ziele erreichen werden.
In seiner Rede in New york erklärte Präsident
Al-Sisi, dass die Sicherheitsmaßnahmen und
militärischen Lösungen nicht der einzige Weg
seien, um Jugendliche vom Weg der Gewalt abzubringen, und dass Alternativen gefunden werden müssten. Allerdings spricht die repressive
Politik gegen Tausende Oppositionelle und Kritiker, die das Regime seit Jahren vollzieht, eine
andere Sprache. Auf der einen Seite versucht
das Regime, mit den entfremdeten Jugendlichen eine Verbindung herzustellen, um ihre
dringend benötigte Unterstützung zu gewinnen.
Auf der anderen Seite aber fürchtet es die Forderungen der Jugend nach Demokratisierung
und politischen Kompromissen, die einen
Machtverlust und eine erneute Destabilisierung
des Landes bedeuten könnten. Im Jahr 2015
scheint die Situation der Jugend so wie sie vor
5 Jahren war: Das Verschließen der öffentlichen
Räume der friedlichen Opposition, ob auf der
Straße oder im Internet, bietet den Jugendlichen
wenige Möglichkeiten der Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Mit einer eskalierenden
Sicherheitslage im Sinai und der steigenden
Unzufriedenheit in der Bevölkerung werden
viele junge Menschen weiter in Richtung Apathie oder Radikalisierung und Gewalt gedrängt.
Wenn das Regime nicht erkennt, dass es die
größte soziale Kraft im Land, die ägyptische Jugend, von sich entfremdet, wird dessen Untergang nur eine Frage der Zeit sein.
Polls, 2015.
Mada Masr, Boycott Drive Proposes Martyrs, Prisoners as Parliamentary Candidates, 2015.
56
Shams El-Din, Sisi and the Youth, 2015.
55
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Alle Internetquellen wurden am 11. Dezember 2015 geprüft.
Deutsches Orient-Institut
17
Algerien
Algerien hatte seinen Frühling bereits… dennoch ist die
Jugend ein wichtiger Faktor
D
I. Einleitung
ie Beziehung zwischen der Jugend
und dem Staat bzw. der Regierung in
Algerien ist sehr ambivalent. Als verbindendes nationales Element zwischen den
verschiedenen Schichten und Alterskohorten
fungierte lange der algerische Befreiungskrieg
(1954–1962) sowie der Bürgerkrieg der
1990er Jahre.
Im Lichte des sogenannten Arabischen Frühlings nach 2011 erscheint die problematische
Ausgangslage in Algerien der in Tunesien
sehr ähnlich. Besonders die Jugend leidet
unter Problemen wie Wohnungsnot, steigenden Preisen für Wohnraum und Güter des
täglichen Bedarfs, Arbeitslosigkeit und einer
mangelnden Gesundheitsversorgung. Laut offiziellen Angaben sind rund 55,6% der Bevölkerung jünger als 30 Jahre und 27,2% fallen
in die Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen.
Gleichzeitig stieg die Zahl der an Universitäten eingeschriebenen Algerier zwischen
2006/07 und 2009/10 von 820.664 auf
1.034.313 und die der Absolventen von
121.905 in 2006/07 auf 150.014 in 2008-09.1
Darüber hinaus wohnen insgesamt mehr als
70% der Bevölkerung in den Städten des Landes.2 Doch wenngleich die Ausgangssituation
der in anderen Staaten ähnlich zu sein
scheint, hat der Protest in Algerien aufgrund
von historischen Erfahrungen einen anderen
Weg eingeschlagen.
Die Ausschreitungen zwischen Jugendlichen
und der Polizei, zu denen es in vielen algerischen Städten zwischen dem 5. und 11. Januar 2011 kam, ließen Sorgen aufkommen,
dass auch Algerien in Unruhe geraten sollte.
Die Proteste wurden von der Regierung unter
dem seit 1999 amtierenden Präsidenten Abdelaziz Bouteflika und der Presse des Landes
auf verschiedene Weise beurteilt. Während
von öffentlicher Seite behauptet wurde, die
drastisch angestiegenen Preise für Speiseöl
und Zucker seien für die Unruhen verantwortlich, wertete die lokale Presse die Eskalationen eher als Ausdruck der gesellschaftlichen
1
2
3
4
5
18
Wut auf die schlechten Lebensverhältnisse in
Algerien. Für einen großen Teil der unter 30Jährigen, die ca. 75% der Bevölkerung ausmachen, stellten sich als Zukunftsoptionen
stets nur prekäre Jobs im informellen Sektor,
Arbeitslosigkeit oder die Immigration nach Europa. Im Zuge der regionalen Protestdynamik
zum Jahreswechsel 2010/11 schlossen sich
Oppositionsparteien sowie zivilgesellschaftliche Vereine zur Coordination Nationale pour
le Changement et la Démocratie (CNCD) zusammen, um den Aufstand der Jugendlichen
mit politischen Mitteln weiterzuführen. So forderte sie in Demonstrationen die Öffnung der
politischen sowie medialen Sphäre und die
Aufhebung des Ausnahmezustands, der 1992
zur Bekämpfung des Terrorismus ausgerufen
worden war und die politischen Rechte der
Bevölkerung, insbesondere die Versammlungsfreiheit, stark einschränkte.3
II. Überwiegend wirtschaftliche
Forderungen
Algeriens Wirtschaft wird vom Erdölsektor dominiert: dieser kommt für 30% des BIPs auf,
stellt 96% der Exportgüter, kreiert 65% der
Staatseinnahmen und 70% des Staatsausgaben fließen in diesen Bereich.4 Aufgrund der
enormen Reserven (zehntgrößten für Erdgas
und sechzehntgrößten für Erdöl weltweit)
konnte das Land zudem hohe Devisenreserven anlegen. Gleichzeitig hat diese Dominanz
der petrochemischen Industrie ebenso wie die
50+1-Regelung, die eine Mehrheitsbeteiligung ausländischer Investoren verhindert, die
Entwicklung anderer Sektoren beeinträchtigt.
Die Arbeitslosenquote lag im April 2014 bei
9,8%, und 57,3% der Arbeitslosen waren zwischen 20 und 29 Jahren alt. Unterschiede
sind hinsichtlich des Geschlechts zu vermerken (die Quote liegt bei 8,8% für Männer und
16,3% für Frauen), aber auch der Bildungshintergrund spielt eine Rolle (die Quote liegt
beispielsweise bei 13% für Hochschulabsolventen).5
In Bab el-Oued, einem Stadtteil der Hauptstadt Algiers, begannen am 5. Januar 2011
die ersten Proteste, welche allerdings nicht
die gesamte Bevölkerung erreichten, obwohl
sie sich schnell auf 20 der 48 Provinzen des
Landes ausbreiteten. Hierbei versammelten
sich Studenten, Angestellte des öffentlichen
Die Daten stammen vom Office Nationale des Statistique. Vgl. http://www.ons.dz/.
Die Daten stammen aus dem CIA World Factbook. Vgl. https://www.cia.gov/library/publications/theworld- factbook/geos/ag.html.
Zeit Online, Nach 19 Jahren, 2011.
Faujas, Réformes économiques en Algérie, 2015.
Die Daten stammen vom Office Nationale des Statistique. Vgl. http://www.ons.dz/.
Deutsches Orient-Institut
Algerien
Diensts, Mediziner und Polizisten mit Forderungen sozialer und wirtschaftlicher Reformen
sowie einer Anpassung der Löhne an die gestiegenen Lebenshaltungskosten. Eine Absetzung der Regierung oder des Präsidenten
Abdelaziz Bouteflika wurde indes nicht gefordert.
„Ich sehe keinen ernsthaften Grund dafür,
weswegen die Menschen auf die Straße
gehen sollten. Sie können gegen Arbeitslosigkeit, Korruption und den Verlust an Kaufkraft demonstrieren, allerdings nicht aufgrund
politischer Motive“, sagte etwa Abdelhamid Si
Afif,6 ein Parlamentsmitglied der Nationalen
Befreiungsfront (FLN).7
Auch der Präsident der oppositionellen
Sammlungsbewegung für Kultur und Demokratie (RCD), Said Sadi, erklärte, dass seine
Partei „die aktuelle Politik ändern möchte und
nicht die Machtverhältnisse selbst, besonders
nicht hinsichtlich der Regierung“.8 Und bspw.
Marwan Ben yahmed, ein Kolumnist der Zeitschrift Jeune Afrique, schrieb, dass Präsident
Bouteflika sei „nicht Mubarak, Ben Ali, Saleh,
Assad oder Gaddafi. Er hat weder Abneigung
noch Hass hervorgerufen. Algerier […] hinterfragen lediglich, aufgrund [Bouteflikas] angeschlagene[r] Gesundheit, seine Fähigkeit, das
Schiff zu steuern. Die Legitimität wird generell nicht infrage gestellt“. Das Problem liegt
viel mehr in der Lebensrealität der Algerier,
„die tausenden Sorgen, die es einem vielmehr
so erscheinen lässt als würde man ‚überleben‘ anstatt ‚leben‘.“ Dies stellte er weiter in
Bezug auf Wohnungsnot, mangelnden Zugang zu guten Schulen und täglich erlebten
Erniedrigungen fest. Folglich wollen die meisten Algerier keinen Machtwechsel, sondern
dass die Regierung ihren Pflichten nachkommt.9
III. Die Wunden der Vergangenheit sind
noch nicht verheilt
Algerien ist nach wie vor durch die Ereignisse
des „schwarzen Jahrzehnts“ (1991-2001),
traumatisiert, weswegen die Stabilität des
Landes für viele Algerier Priorität hat. Am 5.
Oktober 1988 begann eine landesweite Revolte. Jugendliche brannten alles nieder was
in ihren Augen das FLN-Regime widerspie-
Afriquinfos, Bilan 2011, 2011.
Diese ist Teil der Allianz des Präsidenten.
8
Afriquinfos, Bilan 2011, 2011.
9
Ben yahmed, Changement à l’algérienne, 2011.
10
Afriquinfos, Bilan 2011, 2011.
11
Afriquinfos, Bilan 2011, 2011.
gelte: Rathäuser, Ministerämter und regionale
FLN-Büros. Die Regierung reagierte brutal
und ließ Polizei und Sicherheitskräfte mit
scharfer Munition schießen. Offiziell kamen
damals 169 Menschen ums Leben, inoffiziellen Zahlen zufolge fanden über 500 Personen
den Tod und mehr als 3.500 wurden verhaftet. Nichtsdestotrotz konnte der politische Umbruch durch staatliche Repression nicht mehr
aufgehalten werden, weshalb 1989 eine neue
relativ liberale Verfassung verabschiedet
wurde, der sozialistischen Herrschaft ein
Ende bereitete. Drei Jahre später, im Jahr
1991, gewann die Islamische Heilsfront (FIS)
die nationalen Wahlen, welche daraufhin vom
Militär als ungültig erklärt wurden. Im Zuge
des daraus resultierenden Bürgerkriegs zwischen Armee und Islamisten kamen innerhalb
der folgenden Jahre mehr als 150.000 Menschen ums Leben.
Der am 16. September 1999 verabschiedete
concorde civile zielte dann darauf ab, diesen
Konflikt zu beenden. Hiermit eröffnete der damals neu gewählte Präsident Bouteflika Islamisten die Möglichkeit einer Amnestie für
geringere Vergehen. Dadurch wurde die Gewalt, nachdem das Gesetz durch ein Referendum mit 98% angenommen wurde,
erheblich reduziert und der Bürgerkrieg
konnte als beendet erklärt werden, wenngleich es auch in der Folge immer wieder zu
Spannungen und Anschlägen kommen sollte.
Ali yahia Abdenour, Gründer der Algerischen
Liga der Menschenrechte, erklärte diese Ereignisse als tiefe Narben im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung. Diese würde heute
„zweimal überlegen, bevor sie auf die Straße
geht,“ um Reformen zu fordern. Der Präsident
des Nationalen Wirtschafts- und Sozialrats
(CNES) Mohamed Seghir Babès kommt hingegen zu einer anderen Schlussfolgerung: „Algerien ist durch seine Erfahrungen politischen
Umbruchs andern Ländern der Region, die
nun Protestwellen erleben, um zehn Jahre voraus“.10 Dennoch ist unter der algerischen Bevölkerung auch ein hohes Maß an Frustration
auszumachen. Diese könnte, in den Worten
von Abdallah Djaballah, Vorsitzender der islamistischen Bewegung für nationale Reform,
dadurch erklärt werden, dass eben jene „Wunden der Vergangenheit nicht verheilt sind.“11
6
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Deutsches Orient-Institut
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Algerien
Auch wenn öffentliche Kundgebungen in Algier nach jahrelangem Demonstrationsverbot
als ein Erfolg für die Zivilgesellschaft gelten
kann, so blieb der Dominoeffekt, der im Zuge
des so genannten Arabischen Frühlings Tunesien und Ägypten erfasste, in Algerien aus.
Trotzdem kommt es seit 2011 immer wieder
zu Streiks, Sit-ins und Demonstrationen von
Ärzten, Hafenarbeitern und Studierenden. Die
aktivste Kraft bilden hierbei die Studierenden,
die neben hochschulpolitischen Forderungen,
wie die Aufwertung der staatlichen Diplome,
auch scharfe Kritik an der Regierung äußern:
Bouteflika, Ouyahia, houkouma, irhabiyya
(Präsident und Premierminister [bilden eine]
terroristische Regierung). Ferner knüpfen
Sprüche wie „Djazair hourra, Dimoqratiyya“
(Freies und demokratisches Algerien) und
„pouvoir assassin!“ (Machthaber gleich Mörder) an den sogenannten „schwarzen
Frühling“ vom April 2001, als Teile der berberstämmigen Bevölkerung im Norden des
Landes demonstrierten und es zu Zusammenstößen mit Sicherheitskräften kam,
an. Der arabische Frühling hat keine Revolution gebracht, aber dennoch eine neue gesellschaftliche Dynamik in Gang gesetzt, die
bspw. in der Gründung von politischen Gruppen wie „Algérie Pacifique, le Collectif Citoyen“ oder „Mouvement des Jeunes
Indépendants pour le Changement“ (MJIC)
mündete. Trotz staatlicher Repression wird
weiter täglich protestiert, während sich durch
die sozialen Netzwerke ein reger Austausch
zwischen jungen Menschen gebildet hat, die
über die Notwendigkeit politischer Reformen
und Wandel debattieren.
IV. Alternative Formen der Meinungsäußerung: die Fußball-Subkultur
Sport und besonders der Fußball sind in Algerien fester Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Auch deswegen wurden
Fußballwettbewerbe von Regierungen in der
arabischen Welt in der Vergangenheit dazu
genutzt, um deren Macht zu demonstrieren
und Bürger von sozialen Problemen im alltäglichen Leben abzulenken. Bereits im sozialistischen Algerien der 1960er und 1970er
Jahre, in denen der Sport oft dazu genutzt
wurde, das algerische sozialistische Entwicklungsmodell als effektiv zu repräsentieren,
sollten große Sportveranstaltungen, und vor
allem Fußballwettkämpfe, eine positive Stimmung generieren, um diese für parteipoliti-
12
13
20
sche Ziele zu nutzen. Im Zuge der ökonomischen Krise aufgrund des gesunkenen Ölpreises und dem Versagen des staatlichen
Entwicklungsprogramms, das auf einer Reform des Schwermetall- und Agrarsektors beruhte, waren die 1980er Jahre von
drastischen gesellschaftlichen Veränderungen geprägt. Um der Krise entgegen zu wirken, wurde Algerien auf wirtschaftlicher
Ebene liberalisiert und schließlich in eine
Marktwirtschaft umgewandelt. Auf gesellschaftlicher Ebene wuchs das Interesse der
Regierung an Sportveranstaltungen und vor
allem am Fußball erheblich an. So wurde
1986 die Vorbereitung einer Nationalmannschaft für die Weltmeisterschaft in Mexiko
also politisches Mittel benutzt, um die Bevölkerung von den politischen und ökonomischen Problemen ihres Landes abzulenken.12
Allerdings lässt sich diese Dynamik nicht auf
nationale Fußballspiele übertragen. Diese
wurden zu einer der wenigen Gelegenheiten
für die Jugendlichen, offen gegen das Regime
zu protestieren und ihre Forderungen zu präsentieren. Um ihre Ablehnung gegen die allein herrschende Nationale Befreiungsfront
(FLN) zum Ausdruck zu bringen, forderten sie
in Stadien lautstark etwa bezahlbare Eigentumswohnungen, um heiraten zu können,
oder erklärten ihre Immigration nach Europa
bzw. Australien. Schon damals brachte die
Stimmung in den Fußballstadien die große
Kluft zwischen Regierenden und Regierten
zum Ausdruck.13
Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus
wurden Fußballstadien v. a. rhetorisch und
durch Symbole von Parteien und Bewegungen, die verschiedene ideologische, kulturelle
und sozio-ökonomische Forderungen implizieren und offen zur Schau gestellt wurden,
immer mehr auch zur politischen Arena. Der
Stadionbesuch wurde zum Mittel der ideologischen Positionierung. So hört man Sprechgesänge, die die Anerkennung der Berber
Sprache (Amazighia) als offizielle Amtsprache
fordert, oder das Streben nach islamischen
Idealen ausgedrückt in Sprechchören wie:
„Qala Allah Quala Errassoul“ (Keine Charta,
keine Verfassung, sagte Gott, sagte der Prophet). Abgesehen davon, wurde das Stadion
auch dafür benutzt, um gegen die staatliche
Repression im Zuge des „schwarzen Oktobers“ zu demonstrieren und sich mit den zu
Märtyrern stilisierten Opfern solidarisch zu
Fatès, Sport et politique en Algérie, 1994.
Manchen sprechen dies bzgl. gar von einem „Vorboten“ des „schwarzen Oktobers“ von 1988. Evans und
Phillips, Algeria: Anger of the dispossessed, 2007, 114.
Deutsches Orient-Institut
Algerien
zeigen. So wurden auf der einen Seite soziale Ungleichheiten moniert, auf der anderen
Seite setzt man sich kritisch mit dem von der
Regierung geführten offiziellen Diskurs über
Moral und Geschichte auseinander.
Im heutigen Algerien bringen das Fußballstadion und die sozialen Netzwerke die fehlende
Kommunikation und das Missverständnis zwischen der Jugend und der Regierung, deren
Mitglieder immer noch von Personen dominiert wird, die teilweise noch vor der Unabhängigkeit Algeriens geboren wurden, zum
Ausdruck. Dabei transportieren Fangesänge
die wahlweise im Stadion gesungen oder für
das Internet aufgenommen werden, die Botschaft derer, die sonst niemand hört.
Abseits des Stadions können der Abstieg
oder die Niederlage eines Teams spontane,
gewalttätige Demonstrationen und daraus
resultierende Konfrontationen mit Sicherheitskräften nach sich ziehen; so geschehen
etwa im März 2008 als es in Oran als Reaktion auf den Abstieg von Mouloudia Club
Oran (MCO) zu Ausschreitungen kam.
Schon damals beteiligten sich auch rivalisierende Fangruppierungen an den Unruhen,
die Banken, Shopping Malls, öffentliche Gebäude und Bushaltestellen niederbrannten.
In einer von der arabischsprachigen Zeitung
El Khaber und der frankophonen Liberté veröffentlichen repräsentativen Umfrage vom
Februar 2009 gaben 74,4 % der Befragten
zwischen 15-39 Jahren an, dass ein Zusammenhang zwischen den harten sozioökonomischen Umständen und Gewalt in
Verbindung mit Fußball besteht.14 Der soziale Unmut erreichte im Januar 2011 seinen
Höhepunkt als in mehreren algerischen Provinzen erneute Ausschreitungen den Tod von
fünf Personen und hunderten Verletzten Demonstranten und Sicherheitskräften forderten. Einige Zeitungen berichteten, der
Auslöser sei ein Handgemenge zwischen
Polizisten und Fans nach einem Fußballspiel
in der Hauptstadt Algier gewesen.15 Die Demonstranten griffen gezielt das an, was in
ihren Augen den Staat (Banken, Finanzämter, Schulen) und die „Konsumgesellschaft“
(Geschäfte, die beliebte Kleidermarken etc.
verkaufen) in den reichen Stadtteilen von Algier symbolisierte. Die Regierung reagierte
darauf, indem sie die Preise für alltägliche
Produkte wie Speiseöl, Zucker und Mehl reduzierte und alle Ligaspiele für mehr als
einen Monat absagte, um zukünftige Unruhen zu vermeiden.
Die verschiedenen Fangruppierungen in Algerien stehen denen aus Europa oft sehr
nahe. Während die Fans des Mouloudia Club
d’Algier (MCA) und des Union Sportive de la
Médina d’Algier (USMA) sich mit Italien und
italienischen Clubs identifizieren, stehen rivalisierende Gruppen wie Chebab Belouizdad
(CRB) und Union Sportive de la Médina El
Harrach (USMH) der Fankultur in England
bzw. in Deutschland nahe. Anhänger von
USMH, einem bekannten Vorstadtclub aus
dem Osten Algiers, werden von Fans der zentraleren Vereine Algiers als „Außenseiter“ denunziert. Diese werden als „Andere“
bezeichnet, weil sie in den 1990er Jahren aus
der Region El Metidja (30 km entfernt von Algier) kamen und sich im Osten Algiers ansiedelten. Trotz ihrer Rivalitäten sind sie in ihrer
Ablehnung gegen die Staatsgewalt, die privilegierte Bevölkerung und die regierende Elite
vereint.
Ein häufig in den Chören abgehandeltes
Thema ist die Arbeitslosigkeit. Als inoffizieller
Parkwächter, Taxifahrer oder Zigarettenverkäufer zu arbeiten sind oft die wenigen realistischen Möglichkeiten, die einem jungen
ungebildeten Algeria für den Lebensunterhalt
für sich und z. T. auch seine Familie bleiben.
Selbst jene, die eine Ausbildung genossen
haben, haben große Schwierigkeiten einen
Job zu bekommen, und diejenigen, die einen
Job gefunden haben, werden oft schlecht bezahlt.16 Ein geläufiges Motiv, das immer wieder in den Chören der Fußballfans benutzt
wird, ist el-Haraga. Der Ausdruck kommt von
dem arabischen Wort „haraka“ was „brennen“
bedeutet. Damit wird auf das Passieren von
Grenzen und damit verbunden das Verbrennen des Passes oder anderer Identifizierungsmöglichkeiten, nachdem man die
europäische Grenze überschritten hat, um in
der EU Asyl zu suchen, Bezug genommen.
Anknüpfend daran sind beliebte Metaphern
die des Bootes (babor) und des Seglers
(bahri), die für die einzige Chance stehen, die
Festung Europa zu erklimmen, da den jungen
Algeriern der legale Weg der Ausreise verwehrt bleibt. Das Überqueren des Meeres
scheint für die jungen Algerier der einzige Weg
zu sein, um „Rache“ an der dominierenden
Elite zu nehmen und ihren Status als selbstbewusstes Individuum wiederzuerlangen.
Liberté, Sondage réalisé par Liberté et El Khabar violence dans les stades: pourquoi?, 2009, 3.
Brown, Algeria’s Midwinter Uproar, 2011.
16
Sadek, Young Algerians master the makeshift economy, 2010.
14
15
Deutsches Orient-Institut
21
Algerien
Die Entschlossenheit der Fußballfans, das
Land zu verlassen, konstruiert sich auch um
ihren Glauben. Damit sich ihr Traum, das
Mittelmeer zu überqueren erfüllt, ersuchen sie
die Hilfe von Gott. Das omnipräsente Gefühl
der Hilflosigkeit wird ersetzt durch das Streben nach Vergebung der Sünden auf der anderen Seite des Meeres. Ungeachtet des
Risikos, im Meer zu sterben, und der Abtrünnigkeit gegenüber der offiziellen Auslegung
des Islam, wonach el-Haraga als selbstmordähnlich verurteilt wird, benutzen die Fußballfans die Sprache von Iǧtihād und Fatwa,
islamische Rechtsgutachten, um ihr Handeln
zu rechtfertigen.
Das Zugehörigkeitsgefühl vieler junger Fußballfans ist nicht an die Nation, sondern an die
heutzutage eher nostalgische Vorstellung der
Nachbarschaft (houma) gebunden. Sie bedauern den Rückgang der Nachbarschaftssolidarität, denn für viele erfüllte sie die
Funktion einer erweiterten Familie. Darüber
hinaus beklagen sie die neuen Grenzen, die
arme und reiche voneinander trennen und
noch schwerer zu überwinden sind als die
Grenzen nach Europa.17 In diesem Zusammenhang ersetzt die Loyalität zu einem
bestimmten Fußballverein die verlorene Verbindung zur Nachbarschaft und zum Vaterland.
Inmitten der Qualifikationsphase für die Fußballweltmeisterschaft 2010 wurden Fußballsongs zu einer Gelegenheit für die
Jugendlichen sich mit ihrer Nation zu versöhnen, indem sie das Recht bekamen, ihre eigene
Interpretation
der
algerischen
Geschichte und Kultur in den Lieder zu verarbeiten. Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Slogans werden diese neuen
patriotischen von weiten Teilen der Bevölkerung, der Presse und den öffentlichen Radiound Fernsehstationen unterstützt. Um die
Texte einer breiten Öffentlichkeit zugänglich
zu machen, passten ihre Autoren den Stil der
Songs massentauglich an. Gleichsam etwa
vereinten sich die Ultrafangruppen von Mouloudia und USMA, um einen Song aufzunehmen, der die Einigkeit des algerischen Volkes
feiert und die Rivalität zwischen den beiden
Vereinen beendet.
V. Auf dem Weg zu mehr Demokratie
Im Zuge der regionalen Protestwellen und
Umbrüche 2011 ließ Präsident Bouteflika ei-
17
22
nige Reformen verabschieden, die eine demokratische Öffnung ermöglichen sollen.
Seitdem gab es eine Vielzahl von offiziellen
Ankündigungen, Programmen und Reaktionen zivilgesellschaftlicher Gruppen. Zudem
kündigte Bouteflika. Am 3. Februar 2011 an,
den nationalen Ausnahmezustand von 1992
aufzuheben und somit eben jenen Pfad hin
zur Öffnung zu beginnen.
Auch weitere Reformen und Gesetzesänderungen wurden seitdem in verschiedenen Bereichen forciert, darunter die erleichterte
Gründung von Parteien und anderen Organisationen sowie eine Novelle des Informationsgesetzes. Darüber hinaus sollen das
Wahlgesetz, das Parteiengesetz und die Repräsentanz von Frauen in gewählten Institutionen reformiert werden. Zu diesem Zweck
wurde am 21. Mai 2011 das Nationale Beratungskomitee für politische Reformen
(CNCRP) gegründet. Dieses hatte zum Ziel,
die Meinungen verschiedener politischer
Fraktionen und Gruppierungen einzubeziehen und Vorschläge für eine Verfassungsreform zu erarbeiten und schlussendliche
Präsident Bouteflika vorzulegen. Unter dem
Vorsitz von Abdelkader Bensalah beriet sich
das CNCRP in nur einem Monat mit mehr als
200 Vertretern politischer Parteien, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlicher Gruppen.
Während dieser Ansatz durch die Regierungskoalition Bouteflikas unterstützt wurde,
machte der Großteil der Beteiligten den Bedarf einer Verfassungsreform deutlich.
Zudem forderten viele, in der Zukunft nur zwei
Amtszeiten als Präsident zu erlauben. Forderungen nach der Bildung einer Übergangsregierung und einer verfassungsgebenden
Versammlung, die diesen Prozess koordinieren sollten, wurden von der Regierung jedoch
abgelehnt. Auch mehrere ehemalige Präsidenten (Chadli Bendjedid, Ali Kafi und Liamine Zéroual) und Premierminister (Mokdad
Sifi, Mouloud Hamrouche, Ahmed Benbitour
und Ali Benflis) schlossen sich dieser Forderungen nicht an und kritisierten ihn teils öffentlich.
Am 21. Juni 2011 übergab das CNCRP Präsident Bouteflika den ersten Bericht, aus dem
schließlich Gesetzesvorlagen hervorgingen.
Diese wurden durch das Kabinett und beide
Kammern des Parlaments im September
2011 angenommen und umfassten eine Reform des Wahlrechts und verstärkten die Re-
Bouaouina, Alger á travers sa „houma“ formation et déformation des espaces identitaires
communautaires de quartier, 2007.
Deutsches Orient-Institut
Algerien
präsentanz von Frauen in gewählten Institutionen, politischen Parteien und Vereinigungen sowie die Privatisierung der Medien.
VI. Sozio-ökonomische Reaktionen:
Der Versuch, sozialen Frieden zu kaufen
Aufgrund der Erdöleinnahmen sah sich die algerische Regierung in der Lage, den Protesten auch mittels Erhöhungen der Bezüge im
öffentlichen Dienst (in manchen Bereichen bis
zu 80%) sowie der Subventionen auf Grundnahrungsmittel zu begegnen. Zudem wurden
zusätzliche Möglichkeiten zur finanziellen
Unterstützung der Geschäftsgründung geschaffen.
Auch der Kampf gegen die besonders unter
Jugendlichen hohe Arbeitslosigkeit nahm
einen höheren Stellenwert ein. Zu diesem
Zweck wurde die Nationale Unterstützungsagentur für die Beschäftigung der Jugend
(ANSEJ) gegründet, mit deren Hilfe mehr als
eine Millionen Arbeitsstellen geschaffen wurden.18 Das hat den Druck auf die Regierung
verringert, besonders unter Absolventen.
Doch auch die allgemeine wirtschaftliche Situation wurde verbessert. Besonders die
Unterstützung von kleinen und mittelständischen Unternehmen bildete hier das Hauptaugenmerk, die rund 80% der algerischen
Beschäftigten außerhalb des Öl- und Gassektors für sich verbuchen.19
VII. Vorsichtiger Optimismus
Der Verlauf der Proteste in Algerien verlief anders als der beispielsweise in Tunesien oder
Ägypten. Protesten, die Anfang 2011 auch in
Algerien stattfanden wurde, von der Regie-
rung mit politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen begegnet. Dennoch steht das Land
weiterhin vor großen Herausforderungen.
Die Wohnungsnot, einer der entscheidenden
Faktoren für die Proteste 2011, ist trotz verschiedener staatlicher Programme seit Jahrzahnten ungelöst und aus Gründen der
grassierenden Bürokratie und der verbreiteten Korruption sind Schwarzbauten oftmals
der einzige Ausweg. In Algerien gibt es derzeit Schätzungen zufolge 560.000 unautorisiert gebaute Appartments – besonders der
Süden und das Hochland stellen mit 183.000
Wohnungen einen großen Anteil. Diese Situation betrifft in erster Linie die Jugend des
Landes, denn eine eigene Wohnung zu finden
ist ein elementarer Schritt dahin, von der Gesellschaft als vollwertiges Mitglied wahrgenommen
zu
werden.
Persönliche
Unabhängigkeit durch eine Heirat und das
Gründen einer eigenen Familie – darauf
bauen alle.20
Weiteren Hauptproblemen, wie dem großen
Haushaltsdefizit in Folge zunehmender Kosten für die Alimentierung und Subventionierung von Grundnahrungsmitteln, sowie auch
externen Herausforderungen, wie dem Erstarken islamistischer Milizen im benachbarten Libyen und der Sahara, versucht der
Staat mühsam und nur mit mäßigem Erfolg
zu begegnen. Größte Sorgen jedoch – und
das gilt auch für die Jugend des Landes – bereitet die noch ungelöste, jedoch anstehende
Frage: Wird die relative Stabilität erhalten
bleiben, wenn die Ära Bouteflika demnächst
endet?
Hichem Bouguerra
Cai Schultz
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Alle Internetquellen wurden am 11. Dezember 2015 geprüft.
24
Deutsches Orient-Institut
Iran
Irans Jugend – Chancen
und Herausforderungen
es sind ihre Eltern, die die Islamische Revolution durchlebt haben.
S
I. Einleitung
eit dem historischen Abkommen vom
15. Juli 2015 zwischen dem Iran und
den P5+1 Ländern ist der Iran ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Dies ist primär mit den wirtschaftlichen Aussichten Irans
und seiner regionalen Machtposition zu begründen. Nach langjähriger Isolations- und
Sanktionspolitik möchte der Iran nicht nur
seine von den Sanktionen zerrüttete Wirtschaft wiederbeleben, sondern auch die internationale Politik mitgestalten und daran
teilnehmen.
Als wahrscheinlich wichtigste Ressource und
Bereicherung des Landes ist die junge Bevölkerung zu sehen, die nicht nur die wirtschaftliche und politische Situation verändern
kann, sondern auch eine strategische Komponente für das Land darstellt. Von der iranischen Bevölkerung, die auf rund 80 Millionen
zusteuert, ist mehr als die Hälfte unter 35
Jahre alt und die meisten verfügen über eine
gute Ausbildung. Jedoch ist dieser Teil der
Gesellschaft besonders stark von den prekären politischen Rahmenbedingungen in Form
der politischen und wirtschaftlichen Ausgrenzung Irans betroffen. Hohe Arbeitslosigkeit
und eine steigende Inflation sind die Hindernisse wirtschaftlicher Natur, die der Iran zu
bewältigen hat. Hinzu kommen strategische
Herausforderungen und Sicherheitsfragen,
wie beispielsweise die Instabilität der Nachbarländer.
Die Entwicklung der jungen Gesellschaft
muss im historischen Kontext eingebettet
werden, denn die Geschichte der Islamischen Republik Iran ist reich an Turbulenzen
und Umbrüchen. Einschneidende Zäsuren
waren der Sturz der Regierung unter Premierminister Mohammed Mossadegh im
Jahr 19531 zum einen und zum anderen der
Sturz der autokratischen Herrschaft von
Rezah Shah Pahlavi und die Islamische Revolution 1979. Obwohl der Großteil der heutigen jungen Bevölkerung die Zeit vor der
Islamischen Republik nur aus Erzählungen
und historischen Überlieferungen kennt, prägen diese historischen Ereignisse doch sehr
stark das generelle Gesellschaftsbild; denn
1
2
Bereits die Zeit unmittelbar nach der Islamischen Revolution war äußerst schwierig und
prägend für die Gesellschaft, da von 1980 bis
1988 ein blutiger Krieg mit dem Nachbarland
Irak folgte. Davon erschüttert war der Iran
immer wieder mit politischen Drohungen und
wirtschaftlichen Sanktionen konfrontiert.
Letztlich fand sich das Land in einem permanenten Isolationszustand wieder, welcher die
Identität der gesamten Gesellschaft – besonders jene Iraner unter 35 Jahren, die in
der Zeit der Islamischen Republik aufwuchsen – beeinflussen sollte.
Iran erlebte jedoch mit der Revolution nicht
nur einen radikalen Wandel innerhalb der eigenen Gesellschaft, sondern ihm wurde auch
von außen anders begegnet. Die Reaktionen
und die Herangehensweise der internationalen Gemeinschaft haben das Selbstbewusstsein und die Denkweise vieler junger
Menschen im Land geprägt. Dies hat zu einer
Lage geführt, in der viele Iraner auf Grund
jahrzehntelanger westlicher Anti-Iranpolitik
Enttäuschung bis hin zu Verachtung für viele
westliche Länder hegen. Die politische und
wirtschaftliche Isolation und die Distanzierung
vom Westen haben sich für einen Großteil
daher in einen Normalzustand verwandelt;
gleichwohl ist die Mehrheit der iranischen Jugend heute offen für den Dialog mit anderen
Ländern und Völkern.2 Mit der Unterzeichnung des Joint Comprehensive Plan of Action
(JCPOA) am 15. Juli 2015 hoffen nun viele im
Iran auf eine Wiederannäherung und eine
konstruktive Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft.
Um die jetzige Ausgangslage der Jugend besser zu verstehen, muss die Entwicklung der
jungen Gesellschaft Irans mit Bezug auf unterschiedliche sozio-ökonomische Gesichtspunkte betrachtet werden. Es sind
insbesondere die wirtschaftlichen Umstände,
die die Lage der jungen Menschen beeinflussen. Somit wird im Folgenden ein besonderes
Augenmerk auf die ökonomischen Aspekte
gerichtet, die wiederum eine Folge politischer
Sanktionspolitik sind. Jedoch werden auch die
Entwicklung der Demografie und der Bildungspolitik behandelt, ebenso wie Bemühungen und Initiativen der Regierung, die sich
an die junge Bevölkerung im Iran richten. Hier-
Mohammed Mossadegh wurde zweimal zum Premierminister Irans gewählt. Am 19. August 1953 wurde
seine Regierung durch britische und amerikanische Geheimdienste in der Operation Ajax gestürzt,
wobei sich die CIA erst 2013 zu der Beteiligung am Putsch bekannte.
Blair, Iran’s youth is eager to end the country’s isolation, 2015.
Deutsches Orient-Institut
25
Iran
bei liegt der Fokus insbesondere auf den Problemfeldern der Jugendarbeitslosigkeit und
des Drogenkonsums.
II. Demographie – Dramatisches Wachsen
und Schrumpfen
Nach der Islamischen Revolution, zu Beginn
der 1980er Jahre, erlebte der Iran einen starken Bevölkerungszuwachs. Der Nachwuchs
dieser „Baby-Boomer-Jahre“, die die Islamische Revolution erlebt haben, bildet nun den
jungen Teil der Bevölkerung. Im Jahr 2006 erreichte die Bevölkerungsrate jedoch einen
Wendepunkt und ging zurück. Laut der letzten Volkszählung des National Statistics
Center im Jahr 2013 betrug die Bevölkerungsanzahl fast 75,2 Mio. Menschen, von
denen etwas mehr als die Hälfte Männer und
etwas weniger Frauen sind.3
Zwischen 1968 und 2011 stieg die Zahl der
unverheirateten Frauen von 9,4% auf 26,2%
an. Im Fall der Männer erhöhte sie sich von
18,5% auf 40,5%. Es gibt verschiedene Aspekte, die den Rückgang junger Ehen erklären
könnten.
Neben
persönlichen
Präferenzen und der richtigen Partnerwahl
spielen auch wirtschaftliche Motive eine
große Rolle. Im Allgemeinen ist jedoch eine
Veränderung der Ehe- und Familienstrukturen
festzustellen. Das Alter zum Zeitpunkt der
Eheschließung ist sowohl bei Männern als
auch bei Frauen signifikant gestiegen. Die iranische Gesellschaft schrieb der Ehe traditionell große religiöse und soziale Bedeutung zu
und plädierte immer für eine stabile Familienstruktur. Trotz dieser Vorstellungen hat die
Zahl der Scheidungen auch im Iran zugenommen. Die zunehmende Urbanisierung
und das moderne Bildungssystem haben
dazu beigetragen, dass sich die sozialen
Ideen und Werte rund um das Thema Ehe
und Familie verändert haben. Die Jugend
weist tatsächlich eine sehr hohe Urbanisierungsquote auf: Bis zu 71% lebt in Städten,
wobei ein Sechstel in Teheran und Umgebung
wohnt.
Als weitere Ursache für das Ansteigen des Heiratsalters können auch die Ausbildungsbestrebungen junger Iraner angesehen werden. So
ist festzustellen, dass ein Studium eine Heirat
„verzögert“, da sich viele durch ein Studium
3
4
26
5
einen qualifizierten und gut bezahlten Arbeitsplatz erhoffen. Allerdings soll auch durch Eheschließung wirtschaftliche Unabhängigkeit, um
die Familie versorgen zu können, erreicht werden – ein Dilemma insbesondere für junge, gut
ausgebildete Frauen.
Wiederum tragen andere Faktoren dazu bei,
dass Ehen teilweise als Lebensform abgelehnt werden, denn die Interventionen der Eltern oder das Konzept der Mitgift,4 als Symbol
sozialen und wirtschaftlichen Prestiges, können sozialen Druck ausüben. All diese Faktoren beeinflussen die Entscheidung junger
Menschen über die Familienplanung.
Die Emigration ist ein weiterer Faktor, da die
demographische Struktur mitbestimmt. Die
meisten Emigranten aus Iran sind vorwiegend
junge Leute. Nach Aussagen des Ministers für
Wissenschaft, Forschung und Technologie,
Reza Faraji Dana, würden jährlich 150.000
begabte Menschen das Land verlassen.5 Die
wichtigsten Beweggründe sind bessere Zukunftsperspektiven für einen Beruf und Bildungsmöglichkeiten im Ausland, denn
besonders Bildung stellt für viele junge Iraner
einen maßgeblichen Wert dar, um Karriere zu
machen und im Leben voranzukommen.
III. Bildung – Hoffnungsträger
für die Zukunft
Die hohe Bedeutung der Bildung im Iran wird
besonders durch die Tatsache veranschaulicht, dass die junge Bevölkerung heute weitaus besser qualifiziert ist als noch vor
Jahrzehnten.
Der Iran hat in der Tat tiefgreifende Veränderungen bezüglich der Bildung erlebt. Während
in den 1970er Jahren ein Großteil der Bevölkerung noch nicht alphabetisiert war, verschwand der Analphabetismus seit dem Jahr
2000 fast komplett. Überdies ist in 20 Jahren
die Zahl der Studierenden um das 13-fache
gestiegen: von 344.000 im Jahr 1991 auf
4.405.000 im Jahr 2011.
Somit besitzt die junge Bevölkerung bessere
Fähigkeiten und Kompetenzen, die es ihr erleichtert, den sozialen, wirtschaftlichen und
technologischen Umwandlungsprozessen gerecht zu werden. Das Ende der Schule reprä-
National Statistics Center of Iran, Main Indicators.
Gemäß iranischem Brauch bringt die Familie der Braut einen Teil des Hausrates in die gemeinsame
Wohnung. Ziel ist es die Braut über die Ehe hinaus eine finanzielle Absicherung und Eigenständigkeit zu
verschaffen.
Kajehpour, Can Rouhani reverse Iran’s brain drain,
Deutsches Orient-Institut
Iran
sentiert einen wichtigen Lebensabschnitt im
Leben der jungen Männer und Frauen. Die
meisten jungen Frauen sehen die Ausbildung
und das Studium als einen Ausweg, sich aus
traditionellen sozialen Strukturen heraus zu
lösen, das Elternhaus zu verlassen und somit
eine Heirat zu verschieben, um unabhängiger
zu werden.6 Die Zahl der Hochschulabsolventen liegt unter Frauen deutlich höher als
unter der männlichen Bevölkerung. Seit dem
Jahr 2000 sind mehr als die Hälfte der Studierenden Frauen und bis zum Jahr 2014
stieg die Zahl an manchen Universitäten auf
über 70%.
Getrieben primär von den prekären wirtschaftlichen Umständen des Landes und der
mangelnden Zuversicht vieler auf eine zukünftige Erholung der wirtschaftlichen Lage,
wandern allerdings viele Studenten aus oder
spielen zumindest mit dem Gedanken, diesen
Schritt zu tun.7 Schon 2006 galt der Iran als
das Land mit dem höchsten Brain-Drain weltweit.8 Die Bildungsmobilität und Emigration
wird meistens von Studenten und Absolventen wahrgenommen, die ihr Humankapital in
wirtschaftliches Kapital umwandeln wollen, da
sie sich im Ausland gute Arbeitsmöglichkeiten
erhoffen. Das Phänomen der Auswanderung
hat verschiedene Beweggründe, im Vordergrund stehen jedoch bessere Einkommensmöglichkeiten und gute Bildungs- und
Jobchancen.
Aber genau hier werden die Auswirkungen
der Sanktionen der vergangenen Jahre deutlich. Einer der Fälle, der die systematische
Ausgrenzung junger Iraner demonstriert, war
das Zugangsverbot iranischer Studenten an
einigen amerikanischen Universitäten; trotz
der Ankündigung von US-Präsident Barack
Obama im Jahre 2011, sich für eine bessere
Zusammenarbeit mit jungen Iranern und für
einen schnelleren Erhalt von Studentenvisa
und die Förderung akademischer Kooperation
einzusetzen. Dennoch verweigerte bspw. die
Universität von Massachusetts in Amherst
(Umass) iranischen Studenten den Zugang zu
ingenieur- und naturwissenschaftlichen Studiengängen auf Grundlage des „Iran Threat
Reduction Act and Syria Human Rights Acts“
des Jahres 2012, mit dem die US-Sanktionen
gegen Iran verschärft werden sollten. So wur-
den Iraner von Ausbildungsprogrammen ausgeschlossen, die ihnen potentielle Tätigkeiten
im Bereich von Nukleartechnik und verwandten Projekten ermöglichen würden. Auch andere Hochschulen schlossen sich dieser
Aktion an, wie die Virginia Commonwealth
University, das Rensselaer Polytechnic Institute in Troy und die Universität von New york.
Die Hochschulen sahen sich als Folge dieser
diskriminierenden Maßnahmen mit Kritik konfrontiert.9 Diese Beispiele veranschaulichen
die einseitige Konfrontationspolitik seitens
des Westens.
Im Zusammenhang mit Bildung ist auch die
zunehmende Bedeutung des Internets für den
Meinungsbildungsprozess vieler junger Menschen zu nennen. Blogs und soziale Foren
stellen einen wichtigen Kommunikationskanal
zwischen den jungen Menschen dar. Im heutigen Iran haben etwa 30% von ihnen Zugang
zum World Wide Web.10 Angesichts der Tatsache, dass das Internet einen kulturellen und
sozialen Wandel mit sich bringt, ist es nicht
verwunderlich, dass junge Menschen durch
den Gebrauch des Internets ‘globale’ Werte
erwerben und sich mit Fragestellungen jenseits der nationalen Grenzen ihres Landes
auseinandersetzen. Zugleich dient das Netz
auch der Bereicherung vom humanen Kapital
und der Beschaffung von Wissen. Auch Präsident Hassan Rohani äußerte sich zum
Thema Zensur des Internets und betonte,
dass das Internet ausschlaggebend sei um
sich mit der Welt der Wissenschaften zu verbinden und dass es eine Bereicherung bedeute: „We cannot close the gates of the
world to our younger generation“.11
IV. Chronische Arbeitslosigkeit mit
Exitstrategie?
Zu den größten Herausforderungen im Iran
zählen die hohe Arbeitslosigkeit und die Inflation. Laut der 2013 veröffentlichten Analyse
des United Nations Population Fund Agency
(UNPFA) sind 70% der gesamten arbeitslosen
Bevölkerung im Iran Jugendliche im Alter zwischen 16-25 Jahren. Soziale Ausgrenzung und
Armut sind die Folgen dieser Entwicklung. Offensichtlich fallen in diesem Bereich Geschlechterunterschiede auf. Die Rate der
wirtschaftlichen Partizipation ist unter Männern
Die Umfrage wurde 2013 landesweit unter 1,002 jungen Iranern zwischen 16-25 Jahren per Telefon
geführt. Vgl. InterMedia Research und Europe Consult, Youth in Iran, 2013.
7
Motavelli, Brain Drain blights Iran’s economy as investors wait in wings, 2014.
8
Khalaf, Iran’s Generation normal, 2015.
9
Madani, Do you it yourself sanction threaten science dialogue with Iran, 2015.
10
United Nations Populations Fund, Situation Analysis on Youth, 2013.
11
BBC, Iran Internet: Hassan Rouhani tells clerics web is vital, 2014.
6
Deutsches Orient-Institut
27
Iran
höher als unter Frauen. Traditionelle Klischees
und die Schwierigkeiten, gleichzeitig den Verantwortungen des Berufslebens und familiären
Verpflichtungen gerecht zu werden, werden
meist als Gründe genannt, warum der Anteil
berufstätiger iranischer Frauen niedriger ist.
2011 berichtet das National Statistics Center
of Iran ebenfalls, dass 45% der arbeitsuchenden Menschen ein Studium absolviert haben.
Trotz ihrer guten Ausbildung und Qualifikation
finden Absolventen oftmals keine Arbeit. Die
Arbeitslosenrate unter Absolventen war am
höchsten unter den verschiedenen Gruppen
und machte insgesamt 37% aller Arbeitslosen
aus; erneut sind Männer (29%) jedoch weniger stark betroffen als Frauen (48%). Für viele
von ihnen scheint häufig die Emigration als
nahe liegender Ausweg.
Im Frühjahr 2015 gab das National Statistics
Center of Iran die offizielle Arbeitslosenrate
mit 10,8% an. Bemerkenswert sind die Werte
der 15-24 Jährigen, die das Zweifache des
Durchschnitts ausmachen. Besonders gravierend ist die Situation jedoch unter Frauen,
denn hier liegt die offizielle Arbeitslosigkeit bei
20,3% während sie für Männer 8,7% beträgt.12
Trotz der Bemühungen der Regierung, die Arbeitslosigkeit zu begrenzen, stieg diese weiter
an. Irans Präsident Hassan Rohani kündigte
bei seiner Wahl 2013 an, dass die Schaffung
von Arbeitsplätzen höchste Priorität für die
Zukunft des Landes besitzt. Arbeitsminister Ali
Rabiei warnte ebenfalls, dass die Zahl der Arbeitslosen bis zum Jahre 2021 insgesamt 10
Millionen erreichen wird, sollte dieser Zustand
weiter anhalten.13 Einer der Gründe für die
hohe Arbeitslosigkeit ist sicherlich die Tatsache, dass im Durchschnitt jährlich 1,2 Millionen junge Menschen den Arbeitsmarkt
betreten, während nur 300.000 pensioniert
werden oder zurücktreten. Dieses Ungleichgewicht ist mitverantwortlich für die Jugendarbeitslosigkeit.
Eine wachsende junge Bevölkerung bedeutet
natürlich auch ein zusätzliches Angebot an Ar-
beitskräften. Um diese Möglichkeiten jedoch
auszuschöpfen bedarf es sozialer, wirtschaftlicher, politischer und organisatorischer Veränderungen. Vor allem zwei Bedingungen
müssen gegeben sein um dies zu ermöglichen: die Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten und ausreichende Investitionen für
geeignete Programme. Während einige
Steuer- und Verfassungsreformen fordern,
plant Präsident Rohani die Schaffung von
190.000 neuen Arbeitsplätzen. Außerdem sind
die Erwartungen für eine Besserung der Lage
durch die Aufhebung der Sanktionen groß.14
Das Problem der Jugendarbeitslosigkeit kann
aber auch von anderen Blickwinkeln betrachtet werden. Nicht nur ökonomische Dynamiken spielen hier eine Rolle, sondern ebenso
gesellschaftliche Faktoren, wie zum Beispiel
die Problematik des Drogenkonsums im Iran.
V. Kampf gegen Rauschgift
Als Nachbar des Landes mit der weltweit
größten Drogenproduktion, Afghanistan, ist
der Iran von dieser Problematik direkt betroffen. Durch die innenpolitischen Umstände gibt
es seitens Afghanistans so gut wie keine effiziente Grenzkontrolle an der 920 km langen
gemeinsamen Grenze. Folglich ist jede Art
von Grenzschutz und Kontrolle allein dem
Iran überlassen. Der Handel mit Drogen und
ihr Konsum ist eine ernste Herausforderung
für die Stabilität der iranischen Gesellschaft.
Ein Vertreter von Politik und Sicherheitsangelegenheiten der nordwestlichen Provinz Hamedan, Mohammed Ebrahim Elahitabar,
bezeichnete das Drogenproblem als die drittgrößte Krise des Landes, nach den Herausforderungen des Sanktionsregimes und der
weit verbreiteten Dürre.15 Der Iran weist weltweit den höchsten Opiatkonsum auf. Iran hat
aus diesem Grund mehrere internationale Kooperationen und Initiativen gestartet, um den
Drogenhandel zu unterbinden bzw. zurückzudrängen, der wiederum eine der wichtigsten
Finanzierungsquellen für kriminelle und terroristische Gruppierungen weltweit darstellt.16
Im Innern hat sich die Regierung unter Führung des Drug Control Headquarters of Iran
National Statistics Center of Iran, Main Indicators.
Rajabova, Iran’s rising unemployment: inside the problem, 2015.
14
Ebed.
15
Mehrnews, Drogensucht: sozialer Übel ist zu einer sozialen Krise geworden, 2015.
16
Bei der Konferenz der Commission on Narcotic Drugs (CND) 2015 in Wien betonte Irans Innenminister
Rahmani Fasli die Bereitschaft Irans für einen gemeinsamen Kampf gegen den Drogenhandel. In
diesem Zusammenhang erwähnte er, dass Iran 700 Mrd.USD in besseren Grenzschutz investiert hat,
um die Durchfuhr von Drogen nach Europa und asiatischen Staaten zu verhindern. Dieser Aspekt
beleuchtete auch die große Gefährlichkeit dieses kriminellen Geschäfts: Im seinen Kampf gegen Drogen
hat der Iran in den letzten 34 Jahren bis zu 4000 Grenzschutzpersonal verloren.
12
13
28
Deutsches Orient-Institut
Iran
(DHCQ) vielen präventiven Drogenbekämpfungskampagnen gewidmet. Darunter zählen
Aufklärungsinitiativen und die Schaffung einer
öffentlichen Debattenkultur, in dem verschiedene Instanzen auf die Problematik aufmerksam machen und womit weite Teile der
Bevölkerung mit dieser Problematik in
Berührung gebracht werden. Familienberatungszentren, Schulen, Universitäten, Rehabilitationseinrichtungen sowie die Medien sind
an unterschiedlichen Anti-Drogen Kampagnen beteiligt.
Nach Angaben des iranischen Innenministers
gab es im Jahr 2014 schätzungsweise 1,35
Mio. Drogenabhängige im Iran, von denen
9,3% Frauen sind. 21% von ihnen haben
einen Universitätsabschluss.17 Der Drogenkonsum ist bei der jungen Bevölkerung am
höchsten, da sie in vielfältiger Weise als anfällig für Drogenabhängigkeit gelten: Identitätskrisen, psychologische Probleme durch
schwierige soziale und wirtschaftliche Umstände und der Drang nach Abenteuer und Risiken können viele junge Menschen zum
Drogenkonsum verführen. Gewissermaßen
spiegelt das Drogenproblem die Frustration
und Perspektivlosigkeit mancher wieder.
Der Iran wehrt sich durch viele, teilweise drastische Maßnahmen gegen den weitverbreiteten Drogenkonsum und -handel. Der Handel
mit Drogen wird beispielsweise mit der
Todesstrafe versehen und 40% aller Gefängnisinsassen sind Verurteilte der Drogenkriminalität. Überdies, wird seit 2015 Reisenden,
die im Besitz von Drogen sind, der Reisepass
eingezogen und ihnen werden Reisen ins
Ausland für fünf Jahre verweigert. Ziel dieser
Maßnahmen ist es vor allem, Drogenhändler
abzuschrecken.18
Allerdings gibt es auch Stimmen, die zur Differenzierung aufrufen. So schlug etwa der
Vorsitzende für die Arbeitsgruppe des Expertenrates über Drogen, Saeed Sefatian, bei der
9. internationalen Konferenz für Suchtwissenschaft im Jahre 2015 vor, Cannabis und
Opium partiell zu entkriminalisieren, da diese
nicht so schädlich wären wie Heroin oder
Chrystal Meth.19
Die Regierung bemüht sich auch durch finanzielle Maßnahmen, dem Drogenkonsum entgegen zu wirken. Obwohl mehr als 80% der
Drogenbehandlungen in privaten Einrichtungen stattfinden, hat die Regierung 5% der
Kredite für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
für die Anstellung von behandelten Drogensüchtigen zugewiesen. Weitere 10% des kulturellen Budgets in den Provinzgebieten
sollen zu Präventionszwecken in Form von
Aufklärungskampagnen verwendet werden.
Zusätzlich hat Präsident Rohani in seinem ersten Amtsjahr die Anstellung von 25.000 behandelten Suchtkranken angeordnet. 20
VI. Religion, Tradition und Modernität
Einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr
2013 zufolge soll sich trotz der religiösen
Staatsform Irans im Zuge der wirtschaftlichen
und sozialen Modernisierung der Umgang mit
der Religion und dem Glauben sukzessive
verändern.21 Der religiöse Einfluss habe in
Teilen der Bevölkerung abgenommen und dominiere als Handlungsrichtlinie immer weniger den Alltag. Viele junge Iraner, die sich
selbst als Muslime identifizieren, würden islamische Rituale wie zum Beispiel das Beten
nicht praktizieren. Die Verhaltensweisen der
jungen Bevölkerung deuten auf diesen Trend
hin, trotz des Umstands, dass dies vom religiös-sozialen Standard abweichen würde.
Trotzdem kann in Bezug auf diesen sozialen
Wandel nicht von einem Säkularisierungsprozess gesprochen oder die Entwicklung als
solcher interpretiert werden. Es sei vielmehr
ein Prozess, der die traditionellen sozialen
Strukturen lockert und bis zu einem bestimmten Grade liberalisiert. Im Zuge dieser
gesellschaftlichen Veränderungen sind insbesondere die zivilen Aktivitäten der jungen
Menschen im Iran von Belang. Einige werden
im nächsten Abschnitt vorgestellt.
VII. Zivile Aktivitäten
Während seiner Amtszeit bemühte sich der
damalige Präsident Mahmud Ahmadinedschad (2005-2013) darum, durch die Ernennung von relativ jungen Ministern, die
Aufmerksamkeit junger Iraner zu erlangen. Er
autorisierte Ehekredite, erhöhte das Arbeitslosengeld und entwarf ein Wahlgesetz, mit
dem das Mindestalter der Wähler auf 15 Jahren reduzieren werden sollte in der Hoffnung,
mehr Unterstützung von jungen Wählern zu
erhalten. Doch die Unzufriedenheit vieler junger Menschen hielt an, sodass es 2009 bei
Iranian Students News Agency, Innenminister 1.350.000 Drogenabhängige im Land, 2014.
Farsnews, Bericht über Drogen im Wert von drei Milliarden Dollar im Iran, 2014.
19
Addiction Science Congress 9-11 September 2015: http://ascongress.ir/.
20
Khabaronline, Bericht der ersten 100 Tage der Drogenkontrollbehörde, 2013.
21
Dazu und im Folgenden InterMedia Research und Europe Consult, Youth in Iran, 2013.
17
18
Deutsches Orient-Institut
29
Iran
seiner Wiederwahl zu Unruhen kam. Ahmadinedschads Gegner kritisierten den schroffen
Umgang der Sicherheitsbeamten gegenüber
jungen Menschen und fokussierten sich auf
die Bedürfnisse und Wünsche der Jugend für
Veränderungen. Durch die verstärkte Politisierung des öffentlichen Bereiches mit
erstmalig ausgestrahlten kritischen Fernsehdebatten verschärfte sich die Stimmung der
jungen Bevölkerung, die über die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit mit steigender Inflation und größeren Einkommensunterschieden
sehr unzufrieden war. Die Grüne Bewegung
des Jahres 2009 war somit, grob skizziert,
eine Reaktion vorwiegend junger Menschen,
die gegen die Wiederwahl des Präsidenten
Mahmud Ahmadinedschad protestierten und
die Kandidaten Mir Hossein Moussavi und
Mehdi Karoubi unterstützten.
Viele Experten und Nachrichtensender brachten im Zusammenhang der Grünen Bewegung
vorwiegend
die
Debatte
um
Menschenrechte auf. Wirtschaftliche Aspekte
und die fehlende Zukunftsperspektive der jungen Menschen wurden hingegen weitaus weniger diskutiert. Die Ursachen und Motive der
Grünen Bewegung waren facettenreich und
ineinander greifend. Doch die Protestwelle im
Iran führte nicht zu einer Revolution, sondern
initiierte eine neue gesellschaftliche Dynamik.
Einige Experten und Forscher, darunter bspw.
Reza Hajatpour, bezeichnen die Grüne Bewegung gar als Prototyp des so genannten
Arabischen Frühlings, welcher von der Grünen Bewegung inspiriert worden sei.22 Ein
wichtiger Unterschied bestand allerdings in
den Forderungen der Grünen Bewegungen
dem Staate gegenüber: Ihr Ziel war es nicht,
die Regierung zu stürzen, sondern ‚lediglich‘
das Wahlergebnis zu annullieren.
VIII. Initiativen und Kampagnen
der Regierung
Um die Unzufriedenheit der jungen Bevölkerung zu mildern und größere Unterstützung zu
finden, hat die Regierung mehrere kulturelle
Initiativen gestartet. Zum Beispiel wurde im
Zuge der populären Kampagne für die Unterstützung des Atomabkommens ein vom iranischen Militär gesponsortes Musikvideo des
bekannten Rappers Amir Tataloo veröffentlicht, in dem er für Irans Nuklearenergieprogramm wirbt. Obwohl Tataloo in dem Video
singend auf einem iranischen Kriegsschiff
steht, soll das Lied Irans Recht auf die friedli-
che Nutzung von Kernenergie bekräftigen.
Diese von der Regierung gestützte Aktion
sollte vor allem die Aufmerksamkeit der iranischen Jugend gewinnen, in dem die Regierung in der „Sprache der modernen Jugend“
zu kommunizieren versuchte.23
Darüber hinaus gibt eine generelle Tendenz
zur Verbreitung nationalistischer Werte und
Anschauungen. Seit den 1980er Jahren gibt
es immer wieder neue Filme und Bücher
über den Iran-Irak-Krieg. 2012 wurde das
Museum of the Sacred Defence errichtet,
das so genannte Heldentaten von Soldaten
damals sowie die Lebensgeschichten ermordeter Atomwissenschaftlern zur Schau
stellt. Es soll daran erinnern, dass Iraner
Opfer für die Nation gebracht haben. Die
Ausstellung beinhaltet auch viele Verweise
auf die Geschichte des persischen Imperiums. Immer wieder wird hierbei die Größe
des Reiches als eine Errungenschaft gefeiert.
Aber auch in eine andere Richtung und auf
versöhnlichere Weise wird Kulturpolitik betrieben. So wurde das 1998 gegründete Iranische Nationalorchester, welches aus
jungen Iranern besteht, wieder zugelassen,
nachdem dieses 2012 mangels Finanzierung
durch die damalige Regierung Ahmadinedschad eingestellt wurde. Präsident Rohani
löste damit eines seiner Wahlsprechen aus
dem Jahr 2013 ein. Mit Ali Rahbari wurde ein
weltberühmter Dirigent gewonnen, der ein
professionelles Symphonieorchester gestalten und international mit ihm auftreten will.
Das Orchester ist mit 87 Musikern und 70
Chorsängern besetzt, wobei Frauen nicht als
Solisten auftreten können, sondern nur in Begleitung mit einer Männerstimme. Jedoch ist
der Anteil von Frauen in diesem Orchester
beachtlich.
Im März 2015 führte das Orchester die 9.
Symphonie Ludwig van Beethovens bei der
Eröffnungsfeier der Vahdat Hall in Teheran auf
und seither folgten neun Wiederholungen. Die
Premiere wurde von den offiziellen Repräsentanten der Regierung, unter anderem dem
Kulturminister und dem Vizepräsidenten, besucht. Überdies gab es eine gemeinsame
Aufführung mit dem Chinesischen Philharmonie-Orchester. Die Wiederaufnahme des Orchesters wird demnach als ein großer Schritt
zur kulturellen Öffnung und zum beidseitigen
Austausch gesehen.
Hajatpour, Die Vorgeschichte der arabischen Revolte: Die Grüne Revolution im Iran von 2009, 2014,
247.
23
Bajoghli, How Iran is trying to win back the youth, 2015.
22
30
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Iran
Um eine umfassende Zukunftsplanung für die
Jugend zu gestalten, sind mehrere Behörden
und Organe zuständig. 1994 wurde ein Hoher
Rat für die Jugend errichtet, der einen Bildungsplan erstellte. In dem fünften Entwicklungsplan der Regierung (2011-2015) sind
insgesamt zehn Artikel der Jugend gewidmet,
die sich auf die Bildung und Kultur fokussieren. Im Jahre 2004 wurde auch an iranischen
Universitäten der Studiengang ‚Jugendstudien‘ aufgenommen.
Die Hauptbehörde, die zuständig für Jugendangelegenheiten ist, ist das Ministerium für
Sport und Jugend welches im Jahre 2010 ins
Leben gerufen wurde und sich der Planung
von Sportveranstaltungen und der Errichtung
von Sportzentren widmet. Als Hauptaufgabe
sieht das Ministerium die Förderung des physischen und psychischen Gesundheitszustandes der Jugend sowie der Unterstützung
von Sportaktivitäten.
Zurzeit werden Reformen im Bildungssystem
angestrebt, wie zum Beispiel durch die Errichtung von Forschungszentren um die wissenschaftlichen Kompetenzen zu verbessern.
Weiterhin sollen neuartige Familienberatungszentren zunehmende soziale Probleme
entschärfen.
IX. Jugendbewegung
Seit 1953 spielen Studentenbewegungen im
Iran eine bedeutende Rolle bei der Mobilisierung junger Menschen. Hierzu zählen vor
allem die Basidsch-Bewegung sowie die Daftare Tahkime Vahdat (Büro zur Stärkung der
Einheit). Der Sturz der Regierung Mossadegh
1953, aber auch die Proteste der Studenten
gegen das Regime des Shah in den 1960er
und 1970er Jahren, hat die Bewegung trotz
ihrer inneren Fragmentation und Differenzierung zu einem wichtigen Akteur im politischen
System Irans gemacht.
Während des Sturzes gegen den Shah warf
die Führung der Islamischen Republik diesem vor, die Jugend Irans mit einem westlichem Lebensstil und Ansichten zu verderben.
Auch sie selbst fing früh eine massive Kampagne der Jugendindoktrinierung und Mobilisierung an. Neben der Schaffung der
islamischen Revolutionsgarde, einer militärischen Gruppe bestehend hauptsächlich aus
jungen Männern, die direkt unter dem Einfluss des Revolutionsführers standen, wurde
zudem noch eine islamisch militante Gruppe
24
25
Alfoneh, The Basij Resistance Force, 2015.
Memarian und Nesvaderani, The Youth, 2015.
von Revolutionsführer Ayatolla Ruholla
Khomeini ins Leben gerufen: die Jugendbwegung Basidsch (Mobilisierte der Unterdrückten), die als der verlängerte Arm der
Revolutionsgarde gelten. Die Basidschis dienen zur Aufrechterhaltung der islamischen
Werte, indem sie soziale Tätigkeiten ausüben, wie etwa Essen in verarmten Regionen
und Nachbarschaften des Landes verteilen.
Die Anzahl der Basidsch-Mitglieder beläuft
sich auf etwa 10 Millionen. Die Basidsch wird
von der islamischen Elite des Landes unterstützt, da sie ihre Ansichten repräsentiert. Die
Zugehörigkeit zu der Basidsch-Gruppe ermöglicht es den Mitgliedern gute Verbindungen zum mächtigen politischen Apparat
aufrechtzuerhalten.24
Daftare Tahkime Vahdat ist Irans größter Studentenverein, der im Jahr 1979 von Ayatollah
Mohammad Beheshti gegründet wurde und in
den meisten Städten Niederlassungen hat.
Die Zielsetzung des Studentenvereins ist es,
die islamische Revolution zu unterstützen.
Daftare Tahkime Vahdat wurde international
berühmt für seine Beteiligung an der Beschlagnahmung der amerikanischen Botschaft in Teheran im Jahre 1979, welche
Khomeini als die zweite große Revolution bezeichnete. Der ehemalige Präsident Mahmud
Ahmadinedschad war Mitglied des Rates des
Studentenvereins. Im Jahre 2002 spaltete
sich Daftare Tahkime Vahdat in zwei Fraktionen, als es um die Frage des Boykotts der
Präsidentschaftswahlen ging. Während der
Shiraz genannte Flügel einen Boykott ablehnte, wurde dieser von der Allameh-Fraktion
befürwortet.25
X. Fazit
Da die Mehrheit der Bevölkerung Irans vorwiegend jung ist, beeinflusst die Einstellung der Jugend das Land unmittelbar und verdient daher
große Aufmerksamkeit. Mit dem historischen
Atomabkommen vom 15. Juli 2015 sind nicht
nur wirtschaftliche Erwartungen für lukrative
Geschäftskooperationen verbunden. Vor allem
die religiösen Obrigkeiten befürchten, dass
durch die Öffnung zum Westen die Jugend
immer mehr mit westlicher Kultur in Berührung
kommt. Jedoch muss auch festgestellt werden,
dass durch den sich stetig verbessernden Zugang zu den Medien die iranische Jugend bereits
von
Begleiterscheinungen
der
Globalisierung beeinflusst wird und auch den
globalen Trends bis zu einem bestimmtem
Grade folgt.
Deutsches Orient-Institut
31
Iran
Institutionell ist die 36 Jahre alte Islamische Republik eine relativ junge Staatsform. Der Übergang von einer jahrhundertealten Monarchie
hin zu einer Republik mit parlamentarischen
Strukturen und islamischen Rahmenbedingungen ging einher mit tiefgreifenden Veränderungen, die das Land in einer relativ kurzen Zeit
erlebt hat. In dieser Zeit war der Umgang des
westlichen Auslands mit dem Iran immer gezeichnet von lähmenden Sanktionen, Drohungen
militärischer
Interventionen
und
Destabilisierungsanstrengungen gegen die Regierung. Jedoch war und ist es unter ständigen
politischen Drohungen nicht möglich, die Institutionen und rechtlichen Strukturen zu reformieren, zu manifestieren und gleichzeitig
Modernisierungsprozesse im Land einzuleiten.
Die dynamische Kraft in der Gesellschaft, die
Transformationen von innen heraus herbeiführen kann, ist eindeutig die Jugend, die die Zukunft des Landes determiniert. Diese Jugend
hat in dieser Hinsicht eine ambivalente Bedeutung für das Land: Es kann sich zur größten
sozio-ökonomischen Herausforderung entwickeln oder der entscheidende Motor und Katalysator für die Modernisierung werden.
Die jungen Menschen beobachten den jetzigen Prozess des Dialoges zwischen dem Iran
und dem Westen mit vorsichtigem Opti-
mismus, da nun viele von ihnen Maßnahmen
wirtschaftlicher Natur erwarten, die die Probleme der Arbeitslosigkeit beseitigen sollen.
Mit seiner großen, jungen und hauptsächlich
gut ausgebildeten Bevölkerung kann der Iran
im Zuge der Aufhebung der Sanktionen tatsächlich einen wirtschaftlichen und sozialen
Aufschwung erleben.
Es ist festzustellen, dass der Iran innenpolitisch und außenpolitisch mit großen Herausforderungen konfrontiert ist. Das
Verständnis von politischen und sozialen
Konzepten wie Menschenrechten und Meinungsfreiheit muss kulturell eingeordnet
werden. Diese Konzepte werden dort anders wahrgenommen und definiert, und entsprechend unter verschiedenen Gruppen
anders bestimmt. Der Iran verfolgt mit seinen islamischen Wurzeln einen Modernisierungsprozess,
der
nicht
zwingend
westlichen Beispielen folgt. Doch für eine
natürliche Konvergenz und eine bessere
Beziehung zum Westen braucht der Iran vor
allem die Chance seine traditionelle, historische und kulturelle Identität in einer multipolaren Welt zu entfalten, ohne sich dafür
rechtfertigen zu müssen.
Nilofar Bahadorvand Shehni
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32
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Iran
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Alle Internetquellen wurden am 11. Dezember 2015 geprüft.
Deutsches Orient-Institut
33
Jordanien
Jugend in Jordanien:
Reformen und der
Sicherheitsdiskurs
I
I. Einleitung
m Jahr 2008 umschrieb Jordaniens König
Abdullah II. die Situation der Jugendlichen
in der arabischen Welt mit folgenden eindringlichen Worten:
“We have one of the largest youth
cohorts in the world. They are full of
ideas, energy and vitality. Yet there
is a perennial shortage of skilled
manpower. In the Arab world alone,
70,000 university graduates leave
each year – that’s nearly one-quarter of our graduates. Of those studying abroad, half do not come home.
Not only are we losing their expertise – which is key to the future of
business, science, education and
other priorities. But we are also losing their local knowledge – a mine
of cultural and national understanding, needed to shape development
to the needs of our people and
ensure success.”1
König Abdullah II. von Jordanien
2008
Der König sprach geradezu aus eigener Erfahrung, denn die beschriebene regionale
Entwicklung betrifft auch das Königreich
selbst: die unter 24-Jährigen machen mehr
als die Hälfte der Bevölkerung aus während
die Arbeitslosenquote für 15-24-Jährige in
den vergangenen Jahren relativ konstant bei
rund 33% lag.2 Hierdurch wird bereits die Bedeutung des Faktors Jugend, besonders in
sozio-ökonomischer Hinsicht, deutlich – aber
ebenso die Problematik, vor der das Königreich steht. Die unter König Hussein begonnene und von Abdullah II. fortgesetzte
Privatisierungs- und Deregulierungspolitik begünstigte größtenteils die ohnehin einflussreiche
wirtschaftliche
Elite
Jordaniens.
Gleichsam befindet sich die Bevölkerung
mehrheitlich in einer anhaltend schwierigen
wirtschaftlichen Lage. Die jordanische Jugend
ist von dieser Entwicklung ebenfalls erfasst,
denn die vormalig bestehende Garantie, mit
einem höheren Bildungsabschluss im öffentlichen Sektor eine Anstellung zu finden, besteht nicht mehr fort – auch nicht für
Transjordanier, die in diesem Bereich traditionell die Mehrheit stellen. Zudem schränken
Korruption und Vetternwirtschaft die Fähigkeit
des Privatsektors, diesen Druck aufnehmen
zu können, ein. Zwar sind diese Probleme in
Jordanien seit Jahren bekannt, Reformen in
Politik und Wirtschaft vermochten jedoch bislang nicht, die Situation entscheidend zu verbessern.
Inspiriert von den Entwicklungen in Tunesien
und Ägypten Anfang 2011 begannen auch Jordanier, ihren Unmut über Missstände im Königreich kundzutun. Sie gingen auf die
Straßen, vor allem in der Hauptstadt Amman,
und kritisierten die verbreitete Korruption, gestiegene Preise für Lebensmittel und Benzin
sowie den politischen Reformstau. Die Demonstranten vertraten unterschiedliche Lager
der jordanischen Gesellschaft: Neben etablierten Gruppierungen wie der Islamischen
Aktionsfront (dem politischen Arm der jordanischen Muslimbruderschaft) oder verschiedenen Berufsvereinigungen bezogen bald auch
Studentengruppen Position. Darüber hinaus
formierten sich neue Bewegungen, die nach
wirtschaftlichen und politischen Veränderungen strebten. Auffällig war, dass sich sowohl
ethnische Palästinenser als auch ethnische
Jordanier an den Protesten beteiligten3 – letztere Gruppe schien sogar aktiver zu sein, obwohl sie lange als Rückgrat der Monarchie
galt.4 Diese Brisanz hatte eine relativ rasche
Reaktion der Monarchie zur Folge, als Premierminister Samir al-Rifa’i bereits Anfang Februar 2011 zurücktrat. Dieser Schritt der
Staatsmacht vermochte jedoch nicht, den Demonstrationen Einhalt zu gebieten. Die vorgetragenen Forderungen betrafen größtenteils
die jeweiligen Regierungen, sodass bis zum
Oktober 2012 mehrere Premierminister abgesetzt wurden (chronologisch: Marouf al-Bakhit,
Awn Shawkat al-Khasawneh und Fayez al-Tarawneh) bevor dann Abdullah Ensour im Oktober 2012 ernannt wurde.
Doch welche Rolle spielt genau genommen
die jordanische Jugend in diesen Entwicklun-
Abdullah II., Remarks at the 4th World Islamic Economic Forum, 2008.
Die Werte stammen von der Weltbank. Vgl. http://data.worldbank.org/indicator/SL.UEM.1524.ZS.
3
Erstere stellen vermutlich mittlerweile mehr als die Hälfte der jordanischen Bevölkerung und kamen zu
meist in Folge der Kriege 1948 bzw. 1967 nach Jordanien. Ethnische Jordanier sind hingegen jene
Bewohner des Königreichs, die bereits seit der Unabhängigkeit östlich des Jordans lebten. Zwischen
beiden Gruppen hat es in der Vergangenheit immer wieder Spannungen gegeben.
4
Vgl. Ryan, Political Opposition and Reform Coalitions in Jordan, 2011.
1
2
34
Deutsches Orient-Institut
Jordanien
gen? Im Folgenden sollen hier verschiedene
Modi der Beteiligung am politischen Prozess
beleuchtet werden, welche junge Jordanier
verfolgen, um Reformen voranzutreiben. Sowohl bestehende Kanäle wie auch Neugründungen und lose Zusammenschlüsse, in
denen sich Jugendliche engagieren, stehen
hierbei im Mittelpunkt. Abschließend werden
die daraus resultierenden Reaktionen von
staatlicher Seite sowie die zunehmende Stagnation des Reformprozesses im Lichte der
sich verschlechternden regionalen Sicherheitslage beleuchtet.
II. Ausgangslage
Die unter 24-Jährigen stellen in Jordanien im
ersten Quartal 2015 rund 54,1% der Bevölkerung bei einer relativ gleichmäßigen Verteilung hinsichtlich des Geschlechts sowie der
Urbanisierung (Q1-2010: 57,7%).5 Die
Gruppe der 15-24-Jährigen ist jedoch von der
aktuellen wirtschaftlichen Situation besonders
stark betroffen. Dass dabei auch ein tertiärer
Bildungsabschluss diese Situation nur bedingt
zu verbessern mag, zeigt die hohe Zahl der
Arbeitssuchenden unter denjenigen, die mindestens über einen Bachelorabschluss verfügen: Hier liegt die Arbeitslosigkeit bei 39,9%
(32,7%), mit einer ungleichen Geschlechterverteilung von 24,3% (18,9%) unter männlichen und 77,1% (60,3%) unter weiblichen
Jordaniern. Gleichzeitig stellen jedoch diejenigen ohne sekundären Bildungsabschluss
rund 44,6% (46,8%) und damit die größte
Gruppe. Diese Diskrepanz legt nahe, dass
eine relativ hohe Zahl der Absolventen sekundärer Abschlüsse oder eines Vordiploms
in den Arbeitsmarkt integriert werden (die Arbeitslosenquote liegt hier bei 6,8% (8,7%)
bzw. 8,4% (11%)). Rund 51,3% (47,2%) der
Arbeitslosen benötigen zwischen 7 und 24
Monaten, um wieder eine Arbeitsstelle zu finden, 20,6% (19,4%) gelingt das innerhalb
eines Monats.
Ende der 1980er Jahre begann der damalige
König Hussein im Rahmen von Strukturanpassungsmaßnahmen des Internationalen
Währungsfonds damit, die Wirtschaft des
Landes zu reformieren und durch Privatisierungen zu liberalisieren. Mit diesem Prozess
ging auch eine politische Öffnung einher:
5
6
1989 wurde der bis dahin geltende Ausnahmezustand aufgehoben, welcher die exekutiven Vollmachten des Königs ausgeweitet
hatte. Nachfolgend wurde das jordanische
Parlament wiederbelebt.
Nach seiner Thronbesteigung im Jahr 1999
setzte Abdullah II. diesen Kurs fort. Doch
wenngleich der Generationenwechsel im Königshaus vielerorts Hoffnungen weckte, profitierten von den Privatisierungen und einer
neoliberalen Deregulierungspolitik vor allem
die etablierte wirtschaftliche Elite des Landes,
während die breite Bevölkerungsmehrheit
nach wie vor unter schwierigen Bedingungen
und oft im informellen Sektor Lohn und Brot
verdiente. Währenddessen blieben Korruption
und Vetternwirtschaft die Hauptprobleme in
Jordanien und besonders für gut ausgebildete
Jugendliche, die in den Arbeitsmarkt strömten, gab es oft nur unzureichend bezahlte
oder nicht den Qualifikationen entsprechende
Jobs.
Reformbestreben und -forderungen werden in
der jordanischen politischen Elite jedoch weithin als Gefahr für den Status quo der soziopolitischen Ordnung gesehen – eine Tendenz,
die sich in den vergangenen Jahren verstärkt
hat. Die bereits erwähnte gesellschaftliche
Bruchlinie entlang der Unterteilung zwischen
ethnischen Jordaniern sowie jenen Einwohnern, die seit 1948 als palästinensische
Flüchtlinge in das Königreich kamen und mittlerweile nach den meisten Schätzungen mehr
als die Hälfte der Bevölkerung stellen, kommt
dabei in öffentlichen Debatten mehr und mehr
zum Vorschein. Historisch werden die ethnischen Jordanier als Rückgrat der Monarchie
gesehen und sind im jordanischen Militär, der
Bürokratie und dem öffentlichen Sektor stark
überrepräsentiert und auch das Wahlgesetz
sichert ihnen eine überproportionale Repräsentanz.6
Doch besonders die wirtschaftlichen Reformen seit den 1990er Jahren haben die in der
privaten Wirtschaft dominierenden palästinensisch stämmigen Jordanier sehr bevorzugt. Privatisierungen und Liberalisierungen
führten zu einer wachsenden Bedeutung des
Privatsektors im Vergleich zum staatlichen
Sektor, in welchem die ethnischen Jordanier
Die folgenden Werte stammen, sofern nicht anders gekennzeichnet, vom jordanischen Department of
Statistics. Die Werte beziehen sich auf das erste Quartal 2015. In Klammern sind jeweils die
Vergleichswerte für das erste Quartal 2010 angegeben. Vgl. www.dos.gov.jo.
Palästinensisch stämmige Jordanier bilden die Mehrheit vor allem in urbanen Zentren wie Amman, Irbid und
Zarqa. Diese Wahlbezirke sind jedoch per ‚gerrymandering‘ im Vergleich zu beispielsweise den ländlichen
Bezirken Ma’an oder Tafila unterrepräsentiert, da das Verhältnis von Stimmberechtigten zu
Parlamentsabgeordneten stark unterschiedlich ist.
Deutsches Orient-Institut
35
Jordanien
dominieren. Diese Problematik bedingt die
derzeitige Situation, in der die Forderungen
nach ökonomischen oder politischen Reformen von Seiten der politischen (ethnisch jordanischen) Eliten abgetan wird, da solche
entweder den politischen Einfluss oder aber
die bereits bestehende wirtschaftliche Dominanz der palästinensisch stämmigen Jordanier zur Folge hätten. Dieser grundlegenden
Problematik sahen sich Reformbemühungen
in den vergangen Jahren gegenüber – und
auch die Monarchie bedenkt sie in ihrer Reaktion.
III. Die jordanische Jugend:
Agenten des Wandels?
Aufgrund der anhaltend schwierigen wirtschaftlichen Lage formierte sich seit 2006 in
der jordanischen Stadt Dhiban (Provinz Madaba) eine Jugendbewegung, die ein Ende von
Korruption, Marginalisierung sowie bessere
ökonomische Perspektiven forderte.7 Von hier
gingen dann auch die ersten Proteste am 7.
Januar 2011 aus, um nur eine Woche später
bereits die Hauptstadt Amman zu erreichen.
Für eine große Zahl der Jugendlichen, die
sich für die Reform der bestehenden Verhältnisse einsetzten, schieden jedoch etablierte
politische Parteien als Vehikel aus, weil diese
meist als vom Staat kooptiert angesehen wurden bzw. werden – das heißt, dass sie als loyale Opposition agieren oder aber zumindest
um gewisse rote Linien wissen, die zu überschreiten sie nicht bereit sind.8 Genau deshalb bewegen sie sich jedoch in abgesteckten
Bahnen und lasse wenig Raum für grundlegende Veränderungen. Dieses Versagen der
Parteien in ihrer Funktion als Transmissionsriemen gesellschaftlicher, hier jugendlicher,
Interessen für den Staat bzw. für die Politik
bedeutete für die Jugendlichen, dass diese
sich mit Forderungen nach wirtschaftlichen
wie politischen Reformen – gleichwohl der
Proteste bildeten Forderungen nach einer Revolution die absolute Ausnahme – vor allem
außerhalb bestehender Strukturen mobilisierten.
III.1 Neue Bewegungen, frischer Wind?
Die Jugend des 24. März (šabāb 24 āḏār) war
eine der sichtbarsten dieser neu entstandenen Bewegungen. Benannt nach dem Protesttag ihres Entstehens im Jahr 2011
organisierte die Gruppe Demonstrationen und
Sit-ins. Ihre Forderungen waren primär politisch und beinhalteten eine stärkere Rolle des
Parlaments – das vielfach beanstandete
Wahlgesetz und die mangelnde Unabhängigkeit der Legislative standen ebenso im Fokus
der Kritik wie des Königs Kompetenz, das
Parlament aufzulösen – und die Etablierung
eines Verfassungsgerichts, welches auch die
Exekutive kontrollieren soll. Darüber hinaus
wurde gefordert, dass die Privatisierungsstrategie der vergangenen Jahre korrigiert oder
gar zurückgenommen werden sollte.9
Nachdem sie am 24. März 2011 ein Protestcamp nahe des Gamal-Abdel-Nasser-Platzes
in Amman errichtet hatten, wurde dies am Folgetag nach Zusammenstößen mit der Monarchie loyalen Gruppen von Sicherheitskräften
geräumt. Dabei wurden allerdings zahlreiche
Demonstranten verletzt, während es die Spezialeinheiten der Polizei (darak) nicht vermochten, den friedlichen Protest zu
schützen.10 Zwar wurden die Ereignisse offiziell bedauert. Der damalige Premierminister
Marouf al-Bakhit warnte jedoch klar vor einem
„Aufruhr“ (fitna)11 und versicherte gleichsam
dem König, dass die Regierung bemüht sei,
den Forderungen zu entsprechen.12
Interessanterweise wurde die Bewegung zum
Jahrestag der Entstehung 2012 trotz der
zuvor klar formulierten Warnung weitgehend
positiv beschrieben: „’24. März‘ gedenkt seiner Gründung nahe dem Inneren Kreisverkehr
[Gamal-Abdel-Nasser-Platz].
[Die
Bewegung] verlangt von der Regierung Reformen vor allem der Ersten und Zweiten
Kammern“.13 Zu diesem Zeitpunkt war das
Momentum des ‚24. März‘ jedoch schon entscheidend abgeflacht, sodass eine Anerkennung keine direkten negativen Konsequenzen
mit sich brachte sondern vielmehr ein Maß an
Vgl. Christophersen, Protest and reform in Jordan, 2013.
Harris, Jordan’s youth after the Arab Spring, 2015.
9
Vgl. eine Liste der Forderungen der Jugend des 24. März, via Facebook am 9. April 2011 kommuniziert:
https://www.facebook.com/notes/shabab-24-march/statement/140753565993730.
10
HRW, Jordan: Set Independent Inquiry in Attack on Protesters, 2011.
11
Al-Dustour, Bedauernswerte Ereignisse am inneren Kreisverkehr, 2011, 1.
12
Ammon News, Der König erhält eine Nachricht von Al-Bakhit, 2011.
13
Al-Dustour, ‚24. März‘ gedenkt seiner Gründung nahe dem Inneren Kreisverkehr, 2012, 1.
7
8
36
Deutsches Orient-Institut
Jordanien
Aufgeschlossenheit seitens der Staatsmacht
signalisierte.
Ebenfalls im Jahr 2012 gründeten 36 Jordanier eine neue Bewegung mit dem Namen
Taqaddam (arabisch für „Fortschritt“), welche
sich für ein demokratisches Jordanien und die
Beteiligung der jordanischen Bürger einsetzt.14 Im Detail forderten sie Reformen bzw.
Investitionen in die Bereiche Politik, Kultur,
Bildung, Gesellschaft, Wirtschaft, Umwelt
sowie Informationstechnologien.15 Ein Wirken
als offiziell registrierte Partei war jedoch trotz
einer Reform des Parteiengesetzes16 2012
mit offenbar unüberwindbaren institutionellen
Hürden verbunden. Doch versteht sich
Taqaddam vielmehr als Forum, in dem sich
Jordanier für mehr Teilhabe einsetzen können. Es organisiert und koordiniert Protestaktionen verschiedener Form und Couleur –
Kritik an Waldrodungen zur Errichtung einer
Militärakademie gehören ebenso dazu wie die
Forderung nach einer Frauenquote in den
kommunalen Verwaltungen des Königreichs.
Taqaddam setzt sich für eine neue Form des
öffentlichen Diskurses ein, welcher jordanische Bürger direkter an der Meinungsbildung
beteiligen soll. Darüber hinaus versteht sich
die Bewegung als säkular und setzt sich
daher auch verstärkt für Themen wie die
Gleichstellung der Geschlechter ein.
III.2 Die tribale Jugend
Neben der Jugend des 24. März gibt es eine
weitere Formation, die sich im Laufe des auf
die ersten Proteste 2011 entstehenden Reformprogramms gebildet hat: der Ḥirāk (arabisch für „Bewegung“). Hierunter fallen
verschiedene regionale Gruppen aus ländlichen Gebieten im gesamten Königreich, welche sich nur bedingt in westlichen
Vorstellungen zivilgesellschaftlicher Gruppen
einfügen lassen und daher oft als amorph angesehen werden. Trotz ihres vermeintlich geringen
Organisationsgrads
ist
diese
Formierung deshalb bemerkenswert, da eben
jene Teile der Gesellschaft historisch als der
Monarchie sehr loyal gegenüber gelten. Das
von ihrer Seite verstärkt politische Forderungen artikuliert werden – oftmals auf der
Straße oder mittels neuer Medien, also nicht
der klassischen tribalen Kommunikationswege – kann daher dahingehend gewertet
werden, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Monarchie und der tribalen Jugend geschwächt wurde.17 Folglich vermochten die an
den tribalen Teil der Gesellschaft gerichteten
politischen Gegenmaßnahmen der Monarchie, wie die Einsetzung al-Bakhits als Premierminister 2011 – er hatte einen tribalen
und militärischen Hintergrund – nicht, den
Ḥirāk zu kooptieren.18 Vielmehr wurde auf bewährte Mechanismen der Umverteilung zurückgegriffen. Diese ließen dann auch das
Momentum des Ḥirāk abflachen, da sich
neben der Jugend, die eine tragende Rolle
spielte, auch ehemalige Militärangehörige in
dieser Bewegung vertreten sahen und besonders diese Gruppe so temporär zufrieden
gestellt wurde.19
III.3 Bewegung in etablierten Organisationen?
Auch in bereits bestehenden Organisationen,
wie insbesondere den jordanischen Muslimbrüdern, beginnt die Jugend, eine wichtiger
werdende Rolle zu spielen. Eine erfolgreiche
Einbindung der Jugend und ihrer Forderungen könnte für die Muslimbrüder sogar entscheidend sein um weiterhin ihre politische
Relevanz zu sichern. Besonders deutlich trat
das im Rahmen der sogenannten Zamzam20
Bewegung innerhalb der jordanischen Muslimbruderschaft zutage. Diese setze sich zu
einem wesentlichen Teil aus jüngeren Mitgliedern der Bruderschaft zusammen und trat,
dem konservativen Flügel gegenüber, für moderatere Positionen ein.21 Auch wenn es sich
dabei um Brüder im Alter von 25 oder 30 Jahren und mehr handelt, kommt diesen gleichwohl ‚jungen‘ Stimmen in der Bewegung, die
Vgl. hierzu die Homepage von Taqaddam: http://taqaddam.org/about.
Vgl. http://taqaddam.org/jo-we-want.
16
Das Parteiengesetz in Jordanien ist seit der Wiederbelebung des Parlaments 1989 unter König Hussein
sehr restriktiv. Besonders nach dem Wahlerfolg der Islamischen Aktionsfront 1993 wurde es oftmals
reformiert, sodass die Parteienlandschaft unterentwickelt ist und eine große Zahl der Abgeordneten als
unabhängige Kandidaten antreten.
17
Für eine ähnliche Argumentation bzgl. der Funktionsweise der tribalen jordanischen Zivilgesellschaft siehe
Antoun, Civil Society, Tribal Process, and Change in Jordan: An Anthropological View, 2000.
18
yom, Tribal Politics in Contemporary Jordan: The Case of the Hirak Movement, 2014, 233.
19
Vgl. Tell, Early Spring in Jordan, 2015.
20
Der Namensgebung ist hier besondere Aufmerksamkeit zu widmen: Der Zamzam-Brunnen bzw. die
Zamzam-Quelle innerhalb der großen Moschee in Mekka (masǧid al-harām) wird eine heilende Wirkung
zugeschrieben, da das Wasser aus dem Paradies stammen soll.
21
Al-Sabil, Bekanntmachung der Ergebnisse der Konferenz der jungen Muslimbruderschaft, 2014.
14
15
Deutsches Orient-Institut
37
Jordanien
die größte Oppositionsgruppe im Königreich
darstellt, durchaus Relevanz zu. Auch die bislang schwache Repräsentanz von Frauen
innerhalb der Gremien der jordanischen Muslimbruderschaft zählte zu den vorgetragenen
Kritikpunkten an der internen Struktur der Bewegung.22 Darauf zu reagieren wird ebenso
wie die Einbindung der Jugend einer der entscheidenden Aspekte sein, wenn die Bruderschaft weiterhin ihre Anziehungskraft
beibehalten möchte.
Diese Differenzen innerhalb der jordanischen
Muslimbruderschaft wurden jedoch von staatlicher Seite gewissermaßen wohlwollend beobachtet: Durch eine Gesetzesänderung, der
zufolge die Bruderschaft als gemeinnützige
Organisation eingestuft wurde und die Teile
der Bruderschaft äußerst kritisch beäugten,
beförderte der Staat bewusst die innere Spaltung.
III.4 Die Mittel: Soziale Medien und das
Internet
Wie in anderen Staaten der Region so wurden
politische und sozio-ökonomische Forderungen der protestierenden Jugendlichen auch in
Jordanien zunehmend online verbreitet –
hierzu wurden verschiedene Kanäle, wie zum
Beispiel Facebook, WhatsApp oder eigene
Homepages verwendet.23 Diese Kommunikationsstrategien wurden mittlerweile auch von
Seiten staatlicher Organisationen, wie beispielsweise die Kampagne der jordanischen
Atomenergieagentur, mit dem Ziel, vor allem
die junge Bevölkerung für das Thema zu sensibilisieren, angewandt. Digitale Medien haben
im Königreich in den vergangenen Jahren an
Bedeutung gewonnen, wenngleich besonders
Satellitenfernsehen nach wie vor die Hauptquelle für Informationen darstellt (mehr als
90% der jordanischen Haushalte verfügen
hierüber).24 Hierzu zählten auch verschiedene
Nachrichtenseiten, die sich schnell großer Beliebtheit erfreuten, wie zum Beispiel 7iber oder
Ammonnews, deren erklärtes Ziel in einer unabhängigen Berichterstattung abseits der etablierten Medien besteht.25
Mittlerweile haben sich die gesetzlichen Bedingungen allerdings erheblich verschlechtert. Im Oktober 2012 wurde die
Pressegesetzgebung verschärft, was nicht
nur traditionelle Medien sondern vor allem
auch digitale Medien betrifft – letztere müssen sich zu einer hohen Gebühr offiziell registrieren und einen inhaltlich (die
Kommentarfunktion einschließend) Verantwortlichen benennen. Eine Novelle des AntiTerrorismusgesetzes im April 2014 schränkte
darüber hinaus kritische Berichterstattung
weiter ein, denn die Definition dessen, was
als ‚terroristische Aktion‘ unter Strafe steht,
ist wenig konkret und erlaubt den Behörden
großen Ermessensspielraum.
IV. Graduelle Reformen seit 2011
Bei diesen vielfältigen politischen wie auch
wirtschaftlichen Forderungen lohnt es sich
natürlich, die Frage nach der staatlichen Reaktion detaillierter zu beantworten. Als Reaktion auf die an Momentum gewinnenden
Proteste im Frühjahr 2011 verkündete König
Abdullah II., dass ein speziell eingesetztes
Kommittee (laǧnat al-ḥiwār al-surūr) Verfassungsänderungen ausarbeiten sollte. Als Ergebnis präsentierte der Monarch am 15.
August 2011 die Änderung von 42 verschiedenen Paragraphen. Die konkreten Vorschläge gingen jedoch kaum über
kosmetische Änderungen hinaus: So wurde
beispielsweise eine Kommission zur Wahlbeobachtung ins Leben gerufen und die Judikative als einziges Organ zur Beschwerde
gegen Wahlverfahren fest geschrieben. Diese
Institutionen operieren jedoch noch immer
unter dem häufig zurecht kritisierten Wahlgesetz in Jordanien, welches eine Repräsentanz
der verschiedenen Bevölkerungsgruppen disproportional zu ihrer tatsächlichen numerischen Präsenz bedingt. Insgesamt blieb der
Großteil der exekutiven Vollmachten beim
Monarchen selbst. Im Hinblick auf die Forderung der Jugend nach mehr Beteiligung
wurde eigens das Mindestalter für Mitglieder
des Parlaments auf 25 Jahre gesenkt. Dies
hat allerdings in erster Linie symbolischen
Charakter, da deren Anteil in Jordanien sich
wohl auch in Zukunft kaum verändern dürfte.
Zudem stellte die Regierung eine neue National Employment Strategy 2011-2020 (NES)
vor, die die identifizierten Problemfelder in koordinierter Art und Weise angehen soll. Die-
Bondokji, The Muslim Brotherhood in Jordan: Time to Reform, 2015.
In Jordanien ist Facebook der am meisten verwendete Social Media Dienst. Vgl. Dubai School of
Government, Arab Social Media Report, 2015, 23.
24
Sweis und Baslan, Mapping Digital Media: Jordan, 2013, 16.
25
Vgl. www.7iber.com (‚7iber‘ ist die Wiedergabe des arabischen Worts ḥibar, ‚Tinte‘) bzw.
www.ammonnews.net. Beide Seiten sind auf Arabisch und Englisch verfügbar.
22
23
38
Deutsches Orient-Institut
Jordanien
ses Strategiepapier soll in drei Schritten zahlreiche Teilbereiche in Angriff nehmen: unmittelbar, also im Jahr 2014, soll zunächst die
Situation stabilisiert und die Tätigkeiten konstruktiv koordiniert werden und der Zugang zu
Krediten besonders kleinen, kleinsten und
mittelgroßen Unternehmen (KKMU) erleichtert werden. Bis zum Jahr 2017 soll der KKMU
Sektor weiter wachsen und die Berufsausund -weiterbildung gestärkt werden. Im Jahr
2020 sollen sich dann auch die langfristigen
Effekte einer umsichtigeren Wirtschafts-, Fiskal- und Bildungspolitik positiv auswirken, sodass
privatwirtschaftliche
Investitionen
zunehmen und die gesamte Leistungsfähigkeit steigen soll.26
Wie die Internationale Arbeitsorganisation
allerdings in ihrer Untersuchung dieser
neuen Strategie anmerkte, ist das Problem
in Jordanien weniger in einer zu kurz kommenden oder greifenden Analyse zu suchen.
Vielmehr sei es die mangelnde Konsistenz
in der Durchführung nötiger Reformen und
Programme, die einer nennenswerten Verbesserung der aktuellen Lage im Wege
stünde.27
Ähnlich äußerte sich auch die European
Training Foundation bezüglich des bestehenden Systems der Berufsausbildung in
Jordanien. Zwar werden hierbei einige Verbesserungen der vergangenen Jahre gewürdigt – schließlich stellt die NES den
ersten koordinierten Versuch dar, ressortübergreifend einen nationalen Ansatz zu
entwickeln.28 Prinzipiell besteht aber das
Problem sich überschneidender Kompetenzen fort. So wird der Bereich als fragmentiert beschrieben, in dem verschiedene
staatliche Agenturen und Ministerien in zentralistischer Manier versuchen, kontrollierend zu wirken.29
Neben diesen von vielen als unzureichend
bezeichneten Reformen waren es vor allem
die Folgen des im benachbarten Syrien stattfindenden Bürgerkriegs, die zu einer zunehmenden Stagnation des Reformprozesses
führten.
V. Das Wiedererstarken des
Sicherheitsdiskurses
In Syrien verschlechterte sich die Situation
seit dem Frühjahr 2011 zunehmend. Das
Land versank immer mehr in einem blutigen
Bürgerkrieg und die daraus resultierenden
Flüchtlingsströme begannen sehr bald, auch
Jordanien zu betreffen. Neben den derzeit
beinahe 650.000 offiziell durch die UNHCR
registrierten30 syrischen Flüchtlingen dürfte
die Dunkelziffer von Syrern, die bei Freunden
und Familienangehörigen in Jordanien untergekommen sind, deutlich höher liegen. Gemessen an den bereits bestehenden
sozio-ökonomischen Problemen im Königreich produziert die (temporäre) Integration
der Flüchtlinge einen enormen Druck auf Politik und Gesellschaft. Besonders die Provinzen Irbid und Mafraq, aber auch die
Hauptstadt Amman, sind hiervon betroffen. Im
Zuge dessen werden nicht nur in Jordanien
ohnehin knappe Ressourcen, wie zum Beispiel Trinkwasser, immer stärker beansprucht,
sondern die Arbeitsmarktsituation wird ebenfalls negativ beeinträchtigt, da Syrer besonders im Niedriglohnsektor aufgenommen
werden.
Neben den Folgen durch die hohe Zahl syrischer Flüchtlinge birgt jedoch auch die Situation in Syrien selbst Gefahren für das
Königreich. Nicht nur das Sichern der gemeinsamen Grenze, sondern auch die Gewalteskalation besonders seit Ende 2011 und
das Erstarken des sogenannten Islamischen
Staates (IS) in Syrien, aber auch im ebenfalls
benachbarten Irak, bedroht Jordanien.
Amman beteiligt sich an der internationalen
Koalition gegen den IS – die öffentliche Verbrennung des vom IS zuvor gefangen genommenen jordanischen Piloten Muadh
al-Kassasbeh zum Jahreswechsel 2014-2015
unterstreicht indes, wie gefährlich die aktuelle
Situation für das Königreich ist.
Diese regionale Entwicklung stellt zudem
innenpolitisch eine nicht zu unterschätzende
Gefahr dar. Der IS hat auch innerhalb Jordaniens Sympathisanten und besonders die Sa-
International Labour Organisation, Jordan’s National Employment Strategy 2011-2020, o.J., xi.
International Labour Organisation, Jordan’s National Employment Strategy 2011-2020, o.J., iv.
28
European Training Foundation, Employment Policies in Jordan, 2014, 29.
29
European Training Foundation, Governance of Vocational Education and Training in the Southern and
Eastern Mediterranean, 2015, 62-63.
30
Die aktuellen Zahlen werden vom UNHCR zur Verfügung gestellt:
http://data.unhcr.org/syrianrefugees/country.php?id=107.
26
27
Deutsches Orient-Institut
39
Jordanien
lafisten im Königreich werden seitdem stärker beobachtet. Vor allem im Hinblick auf
den politischen Reformprozess hat die Bedrohung durch den IS allerdings den Fokus
verändert: Der aktuelle Konflikt in Syrien hat
nicht nur die Opposition entzweit, sondern allgemein dafür gesorgt, dass schrittweise Reformen hinsichtlich der politischen Stabilität
bevorzugt werden.31 In diesem Sinne müssen
auch die zuvor beschriebenen Gesetzesänderungen, beispielsweise des Pressegesetzes, gesehen werden; und auch die Novelle
des Anti-Terrorismusgesetzes 2014 fasst nun
eine (noch) breitere Definition von Terrorismus. Aus einer regionalen Bedrohung entstanden diente es auch dazu, ranghohe
Vertreter oppositioneller Organisationen zu
verhaften, wie das Beispiel Zaki Bani
Irscheids, dem stellvertretenden Generalsekretär der jordanischen Muslimbruderschaft,
im November 2014 zeigt. Er hatte in sozialen
Medien die Vereinigten Arabischen Emirate
kritisiert – solche Kritik verbündeter Staaten
steht nun unter Strafe. Auch für eine politisch
aktive jordanische Jugend engt diese Entwicklung den Spielraum zunehmend ein,
wenn Soziale Medien, Internetseiten und die
Möglichkeit, Kritik zu üben, derart eingeschränkt werden.
VI. Fazit und Ausblick
Die Situation der jordanischen Jugend ist ähnlich der in anderen Staaten der Region: Sie
stellt einen großen Teil der Bevölkerung und
strebt nach ihren Fähigkeiten entsprechenden
beruflichen Anstellungen. Diese wiederum
sind nicht in ausreichender Zahl vorhanden,
sodass sich die sozio-ökonomische Situation
der Jugend zunehmend zuspitzt. Daher standen neben Forderungen nach graduellen politischen Reformen auch solche nach
wirtschaftlichen Veränderungen im Mittelpunkt des Interesses vieler junger Jordanier,
als Anfang 2011 eine Protestwelle die Region
erfasste.
31
40
Seitdem wurde von staatlicher Seite auf die
Forderungen reagiert und besonders die Verbesserung der Berufsausbildung sowie die
Erhöhung der Chancen, erfolgreich in den Arbeitsmarkt einzusteigen, in den Fokus gestellt. Auch politisch gab es einige
Änderungen, die jedoch den Status quo nicht
zu ändern vermochten. Dennoch haben sich
neue Organisationsformen herausgebildet,
mit deren Hilfe die jordanische Jugend ihre
Forderungen artikulierte.
Seitdem jedoch die ursprünglich viel versprechenden Umwälzungen in Jordaniens Nachbarschaft größtenteils hin zu verschärften
Konflikten führten, ließ das Momentum der
Proteste im Königreich nach, da letzten
Endes die Mehrzahl der Protestierenden graduelle Reformen, besonders hinsichtlich des
politischen Systems, abrupten Veränderungen und der Instabilität, die diese mit sich
bringen würden, vorzieht. Mit dieser Entwicklung ging auch die erneute Dominanz des Sicherheitsdiskurses einher und die Konflikte in
Syrien und Irak sorgten für eine geringere Toleranz seitens der Sicherheitsdienste.
Die jordanische Jugend sieht sich also
innenpolitisch vor allem der ethnischen Dynamik
zwischen Transjordaniern und
palästinensisch-stämmigen Jordaniern entgegen. Zudem bedingt die regionale Entwicklung, dass Forderungen, die über
schrittweise Reformen hinausgehen, kaum
noch Beachtung finden. Die eingangs durch
König Abdullah II. beschriebene Problematik, gut ausgebildete Jugendliche in den Arbeitsmarkt zu integrieren, wird jedoch
weiterhin bestehen bleiben. Es bleibt abzuwarten, welchen Erfolg die NES schlussendlich haben wird – doch nur eine
konsequente Umsetzung der selbsternannten Ziele wird die Situation merklich verbessern können.
Benedikt van den Woldenberg
Vgl. Ryan, Jordan in the Crossfire of Middle East Conflicts, 2015, 45-46.
Deutsches Orient-Institut
Jordanien
Literaturangaben
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http://www.kingabdullah.jo/index.php/en_US/speeches/view/id/307.html.
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2012, S. 1, 5, arabischer Originaltext.
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September 2014, http://tinyurl.com/qx2ehc2, arabischer Originaltext.
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http://www.etf.europa.eu/webatt.nsf/0/8D5C3712F2457914C1257CD000505340/$file/Employment%20policies_Jordan.pdf.
EUROPEAN TRAINING FOUNDATION, “Governance of Vocational Education and Training in the
Southern
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Eastern
Mediterranean,”
2015,
http://www.etf.europa.eu/
webatt.nsf/0/A3FB43CFF01A07DAC1257EDF0050358D/$file/SEMED_VET%20governance.pdf.
HARRIS, MARTy, “Jordan’s youth after the Arab Spring,” Lowy Institute for International Policy,
February 2015.
HUMAN RIGHTS WATCH, „Jordan: Set Independent Inquiry in Attack on Protesters,“ March 28, 2011,
https://www.hrw.org/news/2011/03/28/jordan-set-independent-inquiry-attacks-protesters.
INTERNATIONAL LABOUR ORGANISATION, “Jordan’s National Employment Strategy 2011-2020,” o.J.,
http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/—-arabstates/—-ro-beirut/documents/meetingdocument/wcms_313611.pdf.
RyAN, CURTIS, “Political Opposition and Reform Coalitions in Jordan,” British Journal of Middle
Eastern Studies 38 (3:2011), 367-390.
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SWEIS, RANA F. UND DINA BASLAN, „Mapping Digital Media: Jordan,“ Open Society Foundation Report, 2013.
TELL, TARIQ, „Early Spring in Jordan: The Revolt of the Military Veterans,“ Carnegie Endowment for
International Peace, http://carnegie-mec.org/2015/09/30/early-spring-in-jordan-revolt-of-militaryveterans/iigv.
yOM, SEAN L., “Tribal Politics in Contemporary Jordan: The Case of the Hirak Movement,” The
Middle East Journal 68(2:2014), 229-247.
Alle Internetquellen wurden am 11. Dezember 2015 geprüft.
Deutsches Orient-Institut
41
Marokko
Zwischen Makzhen, Tradition
und Moderne –
Kann Marokkos Jugend einen
Wandel bewirken?
D
I. Einleitung
emonstrationen, Zwangsheirat, Selbstverbrennungen und die Verhaftung
aufgrund eines Fotos auf Facebook –
dies sind nur einige Themen über die deutsche Medien in den letzten Jahren in Bezug
zur Jugend in Marokko berichteten. Die wohl
größte Aufmerksamkeit kam hierbei den Protesten im Frühjahr 2011 und der damit zusammenhängenden Berichterstattung über
den sogenannten Arabischen Frühling zu. Die
Demonstranten waren zumeist Teil der jungen
Generation Marokkos, die sich über soziale
Medien organisierte und gegen die Zustände
im Land protestierte. Eine starke Diskussion
vor allem auch in der marokkanischen Öffentlichkeit, erregte der Fall der 16-jährigen
Amina. Das Mädchen brachte sich März 2012
um, nachdem sie auf dem Nachhauseweg
von der Schule vergewaltigt wurde und ihren
Vergewaltiger anschließend heiraten musste.
Die Heirat wurde vereinbart, um ihre Ehre zu
erhalten und damit der Mann straffrei bleibt.
Das Thema Selbstverbrennung hingegen
steht für die Verzweiflung junger arbeitsloser
Marokkaner, die sich auf einer Demonstration
2012 selbst anzündeten, wohl um auf ihre
perspektivlose Lage aufmerksam zu machen.
Die letzte Meldung beschreibt die kurzzeitige
Festnahme von Schülern, nachdem diese ein
Foto von sich auf Facebook hochgeladen hatten, auf dem sie sich küssten.
An dieser kleinen Auswahl von Themen können bereits einige grundlegende Herausforderungen und Probleme von Jugendlichen in
Marokko erkannt werden. Ein Grundmotiv ist
hierbei das Aufeinandertreffen von neuen Medien und anderen Entwicklungen der Moderne auf überlieferte Gebräuche und
Denkweise. Marokkos Gesellschaft ist sehr
traditionell, ebenso bestimmen besonders islamische Werte und Überzeugungen oft viele
Lebensbereiche der Menschen. Parallel dazu
stehen eine schnell wachsende Anzahl von
1
2
3
4
42
5
Internetnutzern1 und eine zunehmende Verbreitung von Mobiltelefonen und die damit
einhergehende bessere Vernetzung, sowie
das Bemühen zahlreicher NGOs, eine offenere Gesellschaft, so zum Beispiel die Gleichberechtigung von Mann und Frau,
voranzubringen. Spezifische Probleme im
Land sind neben der fehlenden Selbstbestimmung der Frau, eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und ihre Auswirkungen, wie etwa die
erschwerte Integration Jugendlicher in die
Gesellschaft, sowie die mangelnde Möglichkeit politischer Partizipation.
Um die Situation von Jugendlichen in Marokko besser zu verstehen, bietet sich eine
nähere Beschäftigung mit den Protesten im
Jahr 2011 an. Die meist jungen Demonstranten artikulierten dabei ihre Forderungen an
den Staat. So sind hier einflussreiche Konflikte und Probleme in der marokkanischen
Gesellschaft zu sehen, die auch eine starke
Auswirkung auf die Situation von Jugendlichen haben.
II. Marokkos Gesellschaft und Wirtschaft:
gegenwärtige Herausforderungen
Nach einem starken Zuzug in die Städte in
den letzten Jahrzehnten lebt nur noch jeder
Dritte auf dem Land. Der Islam ist dominant
in der Bevölkerung, und ethnisch setzt sich
die Bevölkerung überwiegend aus Berbern
und Arabern zusammen. Junge Marokkaner
sind mit einem Anteil von 18% der 15- bis 24Jährigen und 27% der unter 15-Jährigen der
Bevölkerung ein wichtiger Faktor in der Gesellschaft.2 Offizielle Sprachen sind Arabisch
und seit der Verfassungsänderung 2011 auch
Tamazight, die Sprache der Berber. Eine
wichtige Sprache vor allem auch in der Wirtschaft ist zudem Französisch.
Der Anteil der Industrie zum Bruttoinlandsprodukt beträgt 25%, der des Dienstleistungssektors
liegt
bei
61%.3
Die
Landwirtschaft trägt zu 15% zum Bruttoinlandsprodukt bei, beschäftigt dabei aber 45%
der erwerbstätigen Bevölkerung und ist damit
ein wichtiger Bereich im Arbeitsmarkt.4 Die
Handelsbilanz in Marokko ist negativ, so wird
doppelt so viel importiert wie exportiert.5 Offiziell ist die Wirtschaftsstruktur Marokkos die
Die Anzahl der Internutzer hat in den letzten Jahren stark zugenommen, so lag sie nach Angaben des
Statistischen Bundesamts im Jahre 2014 bei rund 57% und war damit höher als in den anderen Staaten
Nordafrikas. Vgl. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/LaenderRegionen/Internationales/Land/
Afrika/Marokko.html.
CIA World Fact Book, Morocco: Age structure, Median age, 2015 est.
CIA World Fact Book, Morocco: GDP composition by sector of origin, 2014 est.
Auswärtiges Amt, Länderinformationen: Marokko, Wirtschaft, 2015
Ebd.
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Marokko
einer freien Marktwirtschaft, jedoch ist der
freie Wettbewerb durch mono- und oligopolartige Strukturen sowie durch weit verbreitete
Korruption eingeengt.
Die offizielle Arbeitslosenquote schwankt in
den letzten Jahren um die 9%,6 doch ist die
informelle Beschäftigung in Marokko hoch
und erwirtschaftet etwa 40% des Bruttonationaleinkommens.7 Aufgrund fehlender sozialer
Sicherheiten und durch verbreitete Unterbeschäftigung haben viele Marokkaner trotz Arbeit nicht genug Geld zum Leben zur
Verfügung. Ebenso wie in anderen Staaten
der Region ist die Jugendarbeitslosigkeit in
Marokko hoch. Dabei bestehen auch zwischen den Geschlechtern starke Unterschiede zum Nachteil junger Frauen.
III. Der König im Zentrum der Macht –
Das politische System Marokkos
Marokko ist eine konstitutionelle Erbmonarchie mit direkter männlicher Erbfolge. Der amtierende König ist Mohammed VI. Er stammt
aus der Dynastie der Alawiden, die sich auf
ihre Nachkommenschaft zum Propheten Mohammed beruft und schon seit mehr als dreihundert Jahren die Macht innehaben. Der seit
1999 herrschende Mohammed VI. hat eine
dominante Stellung auf allen Ebenen des politischen Systems. Der König ist das religiöse
Oberhaupt im Land, entscheidet über innere
und äußere Angelegenheiten und ist Oberster
Befehlshaber der Armee sowie Vorsitzender
des Obersten Richterrates. Durch ein weit
verzweigtes Netzwerk verfügt er auch über
großen Einfluss in Wirtschaft und Gesellschaft. Der König und das System seiner ein-
flussreichen Verbündeten werden auch als
Makhzen bezeichnet.8
Die Unabhängigkeit erlangte Marokko 1956,
zuvor war es in ein französisches und spanisches Protektorat aufgeteilt.9 Es gibt zwar demokratische Elemente, wie etwa das Oberund Unterhaus als frei gewählte legislative Institutionen, aber haben diese insgesamt
wenig Macht. So ernennt der König den Premierminister und hat zudem das Recht, beide
Häuser aufzulösen. Es gibt insgesamt 34 anerkannte Parteien, von denen die meisten das
grundsätzliche politische Systems Marokko,
also auch die dominante Stellung des Königs,
nicht infrage stellen. Seit 2012 ist die stärkste
Kraft im Parlament die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD). Diese gemäßigte
islamische Partei gilt jedoch ebenso als kooptiert und stellt das aktuelle System nicht
grundsätzlich infrage.
In der Verfassung ist die Pressefreiheit
garantiert, allerdings ist die Berichterstattung,
sobald es um Themen wie Kritik am König,
am Islam oder auch den Status der Westsahara nicht frei.10
IV. Die verdrängte berberische Kultur
Die ursprüngliche Bevölkerung in Marokko
sind die Berber, die sich während der arabischen Eroberung im 7./8. Jahrhundert zwar
die Religion des Islams annahmen, aber sich
fortan stets der Arabisierung wiedersetzten.11
Die einflussreiche Königsfamilie der Alawiden
beruft sich auf ihre arabischen Wurzeln und
steht so für die unterschiedlichen Machteinflüsse der Ethnien. Die berberische Kultur und
Trading Economics, Mororcco Unemployment Rate, 2015.
Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit, Marokko – Situation und
Zusammenarbeit.
8
Mit dem Wort Makhzen bezeichnen Marokkaner traditionell den König bzw. Sultan und seinen engsten
Zirkel. Ursprünglich wurde dieses Wort für die Lagerstätte des Steuereinkommens vom Sultan verwendet.
Über die Jahrhunderte kamen auch andere Bedeutungen auf, so etwa mit der Macht und Befehlsgewalt
des Sultans verbunden, die von ihm ausgehend die gesamte Gesellschaft durchdringt, ebenso wie eine
geografische Unterteilung, die das Herrschaftsgebiet des Sultans auswies. Nach der Unabhängigkeit
Marokkos wird dieser Begriff gebraucht, um die bestehende starke Macht des Königs und seiner
Verbündeten und die Durchsetzungsmechanismen dieser in nahezu allen Bereichen der marokkanischen
Gesellschaft auszudrücken.
9
Während die Unabhängigkeit von Frankreich schon im Jahre 1956 erreicht wurde, erwies sich die
Situation im spanischen Protektorat als ein Problemfall. So zögerte die spanische Besatzungsmacht ein
Referendum über die Unabhängigkeit über Jahre hinweg hinaus, was den Konflikt bei der Frage der
Macht in der Westsahara zur Folge hatte. Mauretanien und Marokko annektierten in den 70er Jahren
Gebiete in der Westsahara, wofür sie zwar die Zustimmung saharauischer Stammesfürsten erhielten,
jedoch nicht von den für einen unabhängigen Staat eintretenden Polasario-Kämpfern, akzeptiert wurde.
Seit 1991 gilt ein Waffenstillstand zwischen der Polasario und Marokko, jedoch bleiben die Staatlichkeit
und ebenso die genauen Grenzen weiter umstritten. Lediglich 50 Staaten haben die Westsahara als
eigenen Staat anerkannt. Auch im Rahmen von UN-Verhandlungen konnten bislang nur wenige Fortschritte
zur Lösung des Westsaharakonflikts gemacht werden.
10
Freedom House, Morocco – Freedom of Press, 2015.
11
GIZ Länderinformationsportal, Marokko, Gesellschaft.
6
7
Deutsches Orient-Institut
43
Marokko
Identität wurde in der Verfassung von 1956
bewusst ausgeklammert, da in dieser Marokko als arabo-islamisches Land bezeichnet
wurde.12 Regionen mit einer großen Berberbevölkerung gehören meist zu den ärmsten
Gegenden Marokkos, da diese oft abseits gelegen und schwer erreichbar sind, so zum
Beispiel an den Ausläufern der Atlas- und RifGebirges. Durch eine Vernachlässigung beim
Aufbau von Infrastruktur verfügen viele berberische Dörfer noch immer über keine
Strom- und Wasserversorgung. Auch ist die
Geburtensterblichkeit ebenso wie die Analphabetenquote besonders bei Frauen sehr
hoch.13
Gegen die Unterdrückung ihrer Kultur haben
sich seit den 1960er Jahren Bewegungen gegründet, die auch eine wichtige Rolle in der
Zivilgesellschaft als Opposition übernehmen.
Die Fortschritte im Kampf für eine gleichberechtigte Stellung der berberischen Kultur im
Land sind jedoch bislang überschaubar. Erst
mit der Machtübernahme durch Mohammed
VI. veränderte sich die Rhetorik über die berberische Kultur, die seitdem verstärkt als Teil
eines vielfältigen Marokkos dargestellt wird.
Im Rahmen der Protestbewegungen von 2011
und der Annahme einer neuen Verfassung
wurde die Sprache der Berber in den Rang
einer Amtssprache erhoben und soll fortan
gefördert werden.
V. Bildung im Königreich
Seit 1963 gibt es eine allgemeine Schulpflicht
und die Anzahl der Marokkaner, die lesen und
schreiben können, wächst seit Jahren. Der
Anteil der Analphabeten lag im Jahre 2011
noch bei 33% der Bevölkerung, was ein vergleichsweise hoher Prozentsatz ist.14 Die
Analphabetenquote der Jugendlichen ist zwar
niedriger, aber trotzdem können lediglich 88%
der männlichen und 74% weiblichen Jugendlichen lesen und schreiben.15 Die Schulpflicht
gilt seit 2002 für alle zwischen 6 bis 15 Jahren, jedoch besuchen lediglich noch 65% der
Jugendlichen das Collège, das mit der 7.
Klasse beginnt und das drei Jahre besucht
wird, und nur 15% machen einen zum Studium berechtigenden Abschluss.16
VI. Die untergeordnete Stellung der Frau
Die Gesellschaft in Marokko ist traditionell
und islamisch geprägt, so unterscheiden sich
die gesellschaftlichen Rollen und Möglichkeiten von Männern und Frauen stark voneinander.17 Besonders sichtbar sind die
Unterschiede in den Bereichen Bildung, der
politischen Partizipation und der Eingliederung in den Arbeitsmarkt, in denen Frauen
unterproportional vertreten sind. Um die
Rechte und die Stellung der Frau zu verbessern engagieren sich Frauenrechtsorganisationen, wie z.B. die Association Démocratique
des Femmes du Maroc.
Ein Fortschritt in Richtung Gleichberechtigung
war die im Jahre 2004 verabschiedete Mudawwana-Reform.18 Mit dieser wurde die Gehorsamspflicht von Frauen gegenüber
Männern abgeschafft, und Frauen das Recht
auf Scheidung verliehen. Auch wurde das
Alter der Ehefähigkeit auf 18 Jahre erhöht.
Die Umsetzung der Reform ist aber nicht
immer erfolgreich gewesen, so herrscht vor
allem in ländlichen Gebieten noch bisweilen
Unkenntnis von Frauen über ihre Rechte, beziehungsweise können sie sich nicht gegen
die traditionell geprägten Strukturen durchsetzen. Der in der Einleitung erwähnte Fall
von Amina führte durch das große mediale
Echo zur erneuten Diskussion des Gesetzes,
welches einem Vergewaltiger Straffreiheit bei
Eheschließung mit dem Opfer gewährte, und
schließlich zur Abschaffung des Passus im
Jahre 2014.
In einigen Bereichen der Politik, wie zum Beispiel bei den Parlamentswahlen, wurden in
den letzten Jahren Frauenquoten eingeführt19
und mit der Festlegung einer Gender-Strategie ist 2007 das Voranbringen der Gleichbe-
Pfeifer, “Wir sind keine Araber” Amazighische Identitätskonstruktion in Marokko, 2015, 10.
Ebd. 11.
14
Die Analphabetenquote liegt etwa in Tunesien bei etwa 20% nach Informationen des Auswärtigen
Amtes.
15
Unicef, At a glance – Morocco, 2013.
16
GIZ Länderinformationsportal, Marokko, Gesellschaft.
17
So war beispielsweise Marokko im Jahre 2014 nur auf Rang 133 von 142 beim Gender Gap Index, der
vom World Economic Forum berechnet wird und verschiedene Faktoren wie politische und
wirtschaftliche Teilhabemöglichkeiten, das Level der Bildung und den Gesundheitszustand von Frauen,
in Bezug zu den von Männern setzt.
18
Der offizielle Name ist Mudawwana al- Aḥwāl al-Šaḫṣiyya und bezeichnet das marokkanische
Personenstandsrechts.
19
So gibt es in der aktuellen Zusammensetzung des Parlaments immerhin mehr als 60 weibliche von
insgesamt 395 Abgeordneten.
12
13
44
Deutsches Orient-Institut
Marokko
rechtigung auch als politisches Ziel formuliert
worden.
Abtreibungen sind in Marokko generell verboten, die einzige Ausnahme besteht darin,
wenn das Leben der werdenden Mutter gefährdet ist. Ärzte, die eine Abtreibung vornehmen, können mit hohen Gefängnisstrafen
bestraft werden. Dies und die damit verbundenen höheren Kosten einer Abtreibung führen
zu
einer
hohen Anzahl
von
unprofessionell durchgeführten Abtreibungen
von vor allem armen Frauen, die ein hohes
Risiko für die Gesundheit darstellen können.20
Um gegen diese Zustände vorzugehen,
haben Ärzte im Jahre 2008 die Vereinigung
zum Kampf gegen illegale Abtreibungen
(AMLAC) gegründet.
Seit Anfang des Jahres gibt es Bemühungen
seitens der Regierung und unterstützt vom
König, das Abtreibungsgesetz etwas zu lockern. So soll der Katalog der Ausnahmen erweitert werden, so bei Gefahr für die
Gesundheit der Mutter, bei schweren Missbildungen und unheilbaren Krankheiten des
Fötus sowie bei Vergewaltigungen und Inzestvorfällen. Frauenorganisationen kritisieren aber, dass dies noch nicht weit genug
geht, da immer noch religiöse bzw. moralische Begründungen das Selbstbestimmungsrecht der Frau einschränken.21 Ein
grundlegendes Problem in der marokkanischen Gesellschaft ist die Diskriminierung von
in unehelichen Verhältnissen geborenen Kindern und ihren Müttern. Dies stellt daher oft
einen Grund dar, eine Abtreibung vornehmen
zu lassen. Ebenso wird außerehelicher Geschlechtsverkehr kriminalisiert. Weitere Probleme sind die oft fehlende sexuelle
Aufklärung ebenso wie ein fehlendes Bewusstsein der Frauen über ihre Rechte.
So ist trotz einiger Entwicklungen in den letzten Jahren in Richtung der Gleichberechtigung, die Stellung der Frau im Lebensalltag
nicht ansatzweise vergleichbar mit der von
Männern.
VII. Jugendarbeitslosigkeit und ihre
Auswirkungen auf die Jugend
“I have a degree, a master’s degree
in English, and I’m here ... idle without
a job, without dignity, without anything“22
Dieses Zitat eines marokkanischen Jugendlichen zeigt eindrucksvoll die Verzweiflung,
die viele empfinden, die es nicht geschafft
haben eine Arbeit zu finden. Laut Abdeslam
Seddiki, Minister für Arbeit und Soziale Angelegenheiten in Marokko, sind vier von fünf Arbeitslosen zwischen 15 und 34 Jahre alt und
diese Gruppe somit überdurchschnittlich von
Arbeitslosigkeit betroffen.23 Die Arbeitslosenquote von Jugendlichen liegt nach offiziellen
Angaben bei etwa 20%,24 jedoch soll nach
einer Studie der Weltbank lediglich die Hälfte
der marokkanischen Jugendlichen eine Ausbildung oder ein Beschäftigungsverhältnis
haben.25
Das Ausmaß der Arbeitslosigkeit variiert regional und auch zwischen Stadt und Land,
wobei besonders die Gruppe junger Frauen
in ländlichen Gebieten besonders stark betroffen ist.26 Die Unterschiede zwischen den
Geschlechtern kann man auch bei der Jugendarbeitslosigkeit feststellen. So liegt die
Arbeitslosigkeit von jungen Frauen mit 38%
über der von jungen Männern, von denen
22% arbeitslos sind.27 Nach einer Studie der
Weltbank lastet der Druck, eine gute Arbeit zu
finden, vor allem auf jungen Männern, da von
diesen traditionell eine Versorgungsleistung
für ihre Familie ebenso wie das Zusammenbringen von Geld für die Gründung einer eigenen Familie erwartet wird.28
Dabei sind sowohl Jugendliche mit einem niedrigen, wie auch mit einem hohem Bildungsabschluss von Arbeitslosigkeit betroffen. Vor
allem Arbeitslose mit hohem Bildungsabschluss in den Arbeitsmarkt zu integrieren, ist
ein erklärtes Ziel der Politik. So ist ein Großteil der Programme der Integration von Ar-
Sabra, Abtreibungsverbot in Marokko - Die Realität anerkennen, 2015.
Ebd.
22
Amos, In Morocco, Unemployment Can Be A Full-Time Job, 2012.
23
young, In Morocco Youth Unemployment is driving up Inequality, 2014.
24
GIZ Länderinformationsportal, Marokko, Gesellschaft.
25
Hoel, Arne, „The Challenge of youth Inclusion in Morocco”, 2012.
26
Weltbank, Morocco – Promoting youth opportunities and participation, 2012, 25.
27
Ebd., 11. Nicht in diesen Zahlen beinhaltet sind Jugendliche, welche nicht nach einem Job suchen; dies
betrifft insbesondere junge Frauen, die aufgrund traditioneller Familienvorstellungen gar keine Arbeit
annehmen wollen. Der Gesamtanteil der Jugendlichen ohne Job und ohne Ausbildung fällt daher noch
höher aus.
28
Hoel, The Challenge of Youth Inclusion in Morocco, 2012.
20
21
Deutsches Orient-Institut
45
Marokko
beitslosen denjenigen mit einem tertiären
Schulabschluss gewidmet. Diese machen jedoch nur lediglich 5% der unbeschäftigten Jugendlichen aus und sind somit ein nur
geringer Teil des Problems.29 In der Öffentlichkeit sind die diplômés chômeurs genannten jungen arbeitslosen Akademiker durch
ihre Demonstrationen vor dem Parlament in
Rabat präsent. Sie fordern eine Anstellung im
öffentlichen Sektor, die ihnen eine weitgehende Sicherheit garantieren würde. Die
immer kleiner werdende Hoffnung auf eine
Veränderung ihrer Lage kann schließlich in
Verzweiflung umschlagen, die so weit geht,
dass sich einige Jugendliche 2012 selbst anzündeten, sogar obwohl dies in der Gesellschaft als vom Islam verbotenes Verhalten
angesehen wird.30 Der durchschnittliche Übergang nach Beendigung einer Ausbildung oder
eines Studiums beträgt drei Jahre, dies ist
eine lange Zeit für junge Marokkaner, die von
Unsicherheit geprägt ist und zudem die Gefahr birgt, dass Gelerntes vergessen wird
oder aufgrund der langen Zeit ein Einstieg in
den Arbeitsmarkt überhaupt nicht funktioniert.31
Ein Problem bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt sind auch sprachliche Anforderungen, so wird vor allem das Beherrschen der
französischen Sprache in der Wirtschaft und
Verwaltung als unabdinglich angesehen.32 Da
im öffentlichen Bildungssektor beinah ausschließlich Arabisch verwendet wird, während
in privaten Einrichtungen Französisch gesprochen wird, können die Absolventen der
öffentlichen Einrichtungen auf dem Arbeitsmarkt nicht mithalten und gerade Jugendliche
aus ärmeren Familien erfahren so eine Benachteiligung.33
VIII. Aufbruchsstimmung in Marokko – Die
Demonstrationen am 20. Februar 2011
Inspiriert vom Aufruhr in Tunesien und Ägypten seit Dezember 2010 protestierte auch in
Marokko ein Teil der Bevölkerung. Die Proteste
waren, im Gegensatz zu den Demonstrationen
in anderen arabischen Staaten, nicht auf die
Absetzung des marokkanischen Königs Mohammed VI. ausgerichtet. Hauptangriffspunkte
waren vielmehr die politischen sowie wirtschaftlichen Bedingungen im Land, so wurden
vor allem mehr Partizipation, bessere Arbeitsangebote, sowie mehr Transparenz und die
Stärkung der Menschenrechte gefordert.
Von besonderer Bedeutung war hierbei die
Bewegung des 20. Februar, die vor allem von
politischen Aktivisten und jungen Marokkanern in verschiedenen Städten unterstützt
wurde. Kommuniziert wurde dabei hauptsächlich in sozialen Netzwerken, wobei besonders der Facebookseite „Moroccans
converse with the king“, später umbenannt in
„Freedom and democracy now“ eine besondere Bedeutung zukam. Hier wurden die Forderungen an die Politik formuliert und die
Demonstrationen am 20. Februar 2011 kommuniziert und organisiert. An diesem Tag fanden in 53 verschiedenen Städten Proteste mit
über einhunderttausend Teilnehmern statt.34
In den darauffolgenden Tagen bekundeten
auch zivile Organisationen, wie die Marokkanische Vereinigung für Menschenrechte
(AMDH), ATTAC, die marxistische Partei alNahj al-dīmuqrāṭī, die islamistische Bewegung al-‘Adl wa-l-Iḥsān, sowie der
Zusammenschluss linker Parteien ihre Unterstützung. Nachdem die Proteste immer größeren Wiederhall in der Bevölkerung fanden,
erklärte Mohammed VI. sich Anfang März
2011 zu der Ausarbeitung einer neuen Verfassung und vorgezogene Neuwahlen im November 2011 bereit.
IX. Reformansätze des Königs
In seinen Reformversprechungen vom März
2011 war bereits die Intention des Königs zu
erkennen, möglichst wenig Macht abzugeben.
So sicherte er zwar zu, dass eine neue Verfassung ausgearbeitet werden sollte, doch
setzte er selbst die verfassungsgebende Versammlung ein. Diese erarbeitete in hoher Geschwindigkeit eine neue Verfassung, über die
nach nur kurzer Zeit ein Referendum gehalten wurde, weswegen kaum die Möglichkeit
bestand, eine öffentliche Diskussion zu initiieren. Dies gab der Protestbewegung wenig
Zeit für die Entwicklung einer starken und einheitlichen Reaktion, weshalb die neue
Verfassung, welche nur oberflächliche Änderungen enthielt, vom Volk in einem Referendum angenommen wurde und schließlich am
30. Juli 2011 in Kraft trat.
Ebd.
Pannasch, Selbstverbrennung als Heldentat, 2012.
31
Angenendt und Popp, Jugendarbeitslosigkeit in nordafrikanischen Ländern, 2012, 5.
32
GIZ Länderinformationsportal, Marokko, Gesellschaft.
33
Hoel, The Challenge of Youth Inclusion in Morocco, 2012.
34
Stauffer, Marokkos Bewegung des 20. Februar, 2013.
29
30
46
Deutsches Orient-Institut
Marokko
So hat der König die Macht des Makhzens in
allen Bereichen des Systems behauptet. Die
reformierte Verfassung erkennt die Menschenrechte, die Gleichstellung von Mann
und Frau und Tamazight als offizielle Sprache
an. Eine weitere Änderung ist die Stärkung
des Premierministers, dem mehr Rechte zugestanden werden und welcher zwar immer
noch vom König ernannt wird, nun aber aus
der stärksten Partei kommen muss. Auch wurden die Unabhängigkeit der Justiz und die
Gewaltenteilung bestätigt.
X. Die Schwäche der Protestbewegung
Die Bewegung des 20. Februar war auch auf
ihrem Höhepunkt des Einflusses ein eher
loser Zusammenschluss, in dem viele verschiedene Forderungen formuliert wurden,
sowohl von Linken, als auch von Islamisten
und moderaten Kräften. Bezeichnend dafür
war der Entschluss, keine Führung zu wählen und somit gleichberechtigt aufzutreten.
Dies spielte allerdings wohl stark mit hinein,
weshalb die Bewegung langfristig nicht erfolgreich war. Ebenso war es in dieser Form
kaum möglich, Entschlüsse zu fassen, weswegen die Bewegung nicht sonderlich handlungsfähig war.35
Hinzu kam das politische Kalkül des Königs,
der, sich der schwachen Seite der
Bewegung bewusst, schnell auf deren
grundlegende Forderung einging, die Verfassungsänderung ankündigte und schnell
umsetzte, ohne der Bewegung viel Zeit zu
konstruktiver Kritik zu lassen. Zwar hatte die
Bewegung zeitweise auch Sympathisanten,
die in der Gesellschaft schon etabliert
waren, wie die verbotene königskritische Islamistenbewegung al-‘Adl wa-l-Iḥsān und
andere gesellschaftliche Vereinigungen. Auf
längere Sicht fehlten aber feste Strukturen
und ein verlässlicher Rückhalt.36 Ebenso
dürften die negativen Entwicklungen der
Protestbewegungen in anderen Ländern der
Region und die damit verbundene Angst vor
Instabilität, die Repressionen seitens der
Staatsmacht sowie das im Laufe des Jahres schwindende internationale Interesse
an der Situation in Marokko mit zu der sich
abzeichnenden Schwächung der Protestbewegung beigetragen haben.
XI. Jugend in Marokko
“Young people in Morocco are full of
ideas and are keen to contribute to
society (…) But they have been excluded from opportunities, have not
benefitted from the last decade of
economic growth, and have very limited voice in the decision-making
process.”37
In diesem Befund einer Weltbankstudie
kommt ein grundlegendes Problem junger
Marokkaner zum Ausdruck. Während es
zwar durchaus Wachstum im Land gibt, so
haben von diesem meist die Eliten profitiert
und nicht die wenig eingebundene junge
Generation. Dieser Ausschluss findet in
mehreren Ebenen statt, so einmal bei den
bereits erwähnten, fehlenden politischen
Partizipationsmöglichkeiten. Auf einer anderen Ebene und wohl noch tiefgreifender in
ihren Folgen steht die fehlende wirtschaftliche und, eng damit verbunden, auch die gesellschaftliche Einbindung. Eine fehlende
Integration in den Arbeitsmarkt und in das
wirtschaftliche Leben hat starke Auswirkungen auf die Betroffenen. Diese meist jungen
Marokkaner können nicht selbstständig werden, da sie weiterhin von ihrer Familie oder
anderen Institutionen abhängig bleiben.
Auch schwinden die grundsätzlich gering
ausgeprägten Chancen auf eine Verbesserung ihrer Lage nach einigen Jahren der Arbeitslosigkeit weiter.
Damit verbunden treten auch Probleme bei
der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben
auf. Jugendliche, die wenige Perspektiven auf
dem Arbeitsmarkt haben, können kein richtiger Teil der Gesellschaft werden, da ohne
feste Arbeit eine eigene Familiengründung
nur in Ausnahmefällen möglich ist. Die Familie und auch die Gründung der eigenen Familie sind jedoch im traditionell geprägten
Marokko feste Elemente in der Gesellschaft.
So hat das Problem der Jugendarbeitslosigkeit das Potential, gefährdend für die Stabilität und Stärke von Marokkos Gesellschaft zu
wirken, und kann so zum Beispiel aufgrund
enttäuschter Erwartungen und Hoffnungen zu
einer Radikalisierung Jugendlicher durch jihadistische Organisationen zuarbeiten.38
Rachidi, Inside the movement: what is left of Morocco’s February 20, 2015.
Stauffer, Marokkos Bewegung des 20. Februar, 2013.
37
Hoel, The Challenge of Youth Inclusion in Morocco, 2012.
38
Vgl. Angenendt und Popp, Jugendarbeitslosigkeit in nordafrikanischen Ländern, 2012.
35
36
Deutsches Orient-Institut
47
Marokko
In den neuen Medien, die von vielen Jugendlichen genutzt werden, treffen viele auf Vorstellungen und Lebensweisen, die so nicht in
Marokko möglich sind und die wie zum Beispiel in der Einleitung geschilderten Fall, zu
starken Reaktionen führen können. Die Festnahme von Schülern aufgrund privater Veröffentlichungen zeigt die Gegensätze und
Widersprüche auf. Andere Festnahmen von
Teilen politischer Gruppen, wie beispielsweise
der Aktivisten von Mali, die sich für eine liberalere Gesellschaft einsetzen, sind zwar meist
ebenfalls von kurzer Dauer, haben aber trotzdem einen abschreckenden Charakter.
Gerade in Bezug auf die Unterstützung für die
Bewegung des 20. Februar und deren Zustimmung unter den Jugendlichen, die sehr
unterschiedlich ausfällt, kann man sehen,
dass die Gegensätze in der Gesellschaft auch
in der Jugend vertreten sind und es viele verschiedene Meinungen und Lebensweisen
gibt. So lehnten immerhin 25% der jungen Befragten die Bewegung ab, während lediglich
19% ihren Zielen zustimmten.39 Dies ist bemerkenswert, gerade da die Bewegung des
20. Februars offen für viele Forderungen war.
Trotzdem kann das Eintreten für politische
Veränderungen der Unterstützer der Bewegung auch als Schritt aus der meist apolitischen Haltung vieler Jugendlicher gesehen
werden, die durch fehlende politischen Partizipationsmöglichkeiten verstärkt wird.40
XII. Nachwirkungen der Bewegung des
20. Februar
Die Bewegung des 20. Februar und andere
kritische Organisationen und Medien sind in
den letzten Jahren immer schwächer geworden. Dies hat auch mit Unterdrückung seitens
des Staates zu tun, so sehen sich politische
Aktivisten häufig Einschränkungen und Verfolgungen, die aber offiziell mit anderen Gründen verschleiert werden, wie zum Beispiel
Beleidigung der Polizei und Besitz von Haschisch, ausgesetzt.41 So sollen nach der
AMDH seit den Unruhen 2011 über 2000 Aktivisten festgesetzt worden sein.42 Auch auf
ehemals aktiven kritischen Webseiten ist es
still geworden, so zum Beispiel auf der „Mamfakinch“43 genannten, die während der Proteste ins Leben gerufen wurde. Für Aufruhr in
der marokkanischen Öffentlichkeit sorgte die
Freilassung eines verurteilten spanischen Pädophilen. Die Begnadigung war vom König
bestätigt worden, nach vielen spontanen Protesten im Land wiederrief der König schließlich den Gnadenerlass. Die Forderung hatte
zwar längst nicht die breite gesellschaftspolitische Brisanz, allerdings zeigt sich hier eine
effektiv ablaufende Mobilisierung, die den
König dazu brachte, zu reagieren.
Auch wenn es ruhiger geworden ist um die
einstigen Forderungen nach größerer Mitbestimmung, so kam man sehen, dass auf bereits bestehende Netzwerke und Strukturen
zurückgegriffen werden kann. Allerdings
wurde, was die politische Partizipation der
marokkanischen Gesellschaft und Jugend
und andere während der Proteste formulierten Probleme und Forderungen betrifft, insgesamt wenig erreicht. Von offizieller Seite
heißt es immer wieder, dass Marokko auf den
langen Weg hin zu einer Demokratie ist. Betrachtet man jedoch die Reaktion des Königs
auf die Proteste, so kann man zwar ein gewisses Eingehen auf einige Forderungen
sehen, jedoch aufgrund der geringen Reichweite der Veränderungen ebenso, dass dem
Makhzen wohl mehr an der Kontinuität und
Stärke seines Einflusses und seiner Macht
über das Geschehen in Marokko liegt.
XIII. Fazit
Jugendliche in Marokko sehen sich verschiedenen Herausforderungen gegenüber, wie
etwa den schwierigen Einstieg ins Arbeitsleben. Die drohende oder bereits erlebte Arbeitslosigkeit ist folgenreich, erschwert sie
doch gerade für junge Männer den Wandel zu
einem vollwertigen Mitglied in der Gesellschaft. In der Gesellschaft selbst herrschen
viele Gegensätze, so wie der eingangs beschriebene zwischen Tradition und Moderne.
Durch das Internet und die besseren Möglichkeiten der Vernetzung sind Jugendliche in
Marokko anderen Einflüssen ausgesetzt als
ältere Generationen. Gerade auch der
Gegensatz zwischen liberalen Ansichten und
Lebensmodellen, die unter anderem im Netz
verbreitet sind, und traditionellen Werten
innerhalb der Bevölkerung birgt ein nicht zu
unterschätzendes Konfliktpotential und eine
mögliche Entfremdung der Jugend von Teilen
der Mehrheitsgesellschaft.
Die Studie wurde 2012 unter 471 Jugendlichen durchgeführt. In Gertel, Jugendbewegungen Jugendliche
Lebenswelten - Wer leistet eigentlich Widerstand in Rabat, 2014.
40
Rahman, Morroco’s bottom-up movement for reform, 2011.
41
Rachidi, Inside the movement: what is left of Morocco’s February 20, 2015.
42
Ebd.
43
Im marokkanischen Arabisch steht dieser Ausdruck für „keine Konzessionen“.
39
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Deutsches Orient-Institut
Marokko
Das Aufkommen neuer Impulse von außen wie
innen sowie eine veränderte Art der Kommunikation durch neue Medien führt zu neuen
Formen von Interessen und Organisationen,
die für die Jugendeinstehen. Beispiele hierfür
sind Organisationen, die sich für die Rechte
der Selbstbestimmung der Frau, für eine Legalisierung der Abtreibung und für die Akzeptanz von unehelichen Kindern und eine frei
bestimmte Sexualität einsetzen. Trotz einiger
Fortschritte bei der Stärkung der Rechte von
Frauen kann man noch nicht von einer Gleichberechtigung der Geschlechter sprechen. Eine
andere benachteiligte Gruppe in Marokko sind
die Berber, die erst in den letzten Jahren Erfolge in der Stärkung ihrer Rechte erzielen
konnten. Beispiele sind etwa die veränderte
Wahrnehmung und Rhetorik bezüglich der
Berber als Bestandteil der Vielfältigkeit Marokkos und die mit der Änderung der Verfassung
erfolgte Stärkung der amazighischen Sprache.
Politisch gesehen gibt es wenige Möglichkeiten für junge Marokkaner zur Teilnahme und
Gestaltung, da der Makhzen in allen Bereichen über einen großen Einfluss verfügt und
diesen zu verteidigen weiß. Verhaftungen aufgrund von Teilnahme an Protesten ebenso
wie Zusammenstöße mit staatlichen Ordnungshütern sind hierbei nicht ungewöhnlich.
Ein Teil der Jugend verfolgt daher einen apolitischen Kurs, um ihre ohnehin schwachen
Chancen nicht noch zusätzlich aufs Spiel zu
setzen. Mit der Bewegung des 20. Februar
haben sich neue Strukturen gebildet, die zu
einem verstärkten öffentlichen Diskurs über
Teilhabe und andere gesellschaftliche Themen geführt haben. Allerdings blieb der Einfluss der Bewegung bislang insgesamt noch
zu gering, um einen weitreichenden Wandel
auszulösen.
Katharina Griethe
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Januar 2012, http://www.npr.org/2012/01/27/145860575/in-morocco-unemployment-can-be-a-fulltime-job.
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2012, http://www.swp-berlin.org/de/publikationen/swp-aktuell-de/swp-aktuell-detail/article/jugendarbeitslosigkeit_in_nordafrika.html.
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BUNDESMINISTERIUM FÜR WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG UND ZUSAMMENARBEIT, „Marokko – Situation
und Zusammenarbeit,“ http://www.bmz.de/de/was_wir_machen/laender_regionen/naher_osten_
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GERTEL, JÖRG, „Jugendliche Lebenswelten - Wer leistet eigentlich Widerstand in Rabat,“ in Jugendbewegungen. Städtischer Widerstand und Umbrüche in der Arabischen Welt, herausgegeben
von Jörg Gertel und Rachid Ouaissa (Bielefeld: transcript Verlag, 2014), 150-175.
GIZ LÄNDERINFORMATIONSPORTAL, „Marokko,“ http://liportal.giz.de/marokko/.
HOEL, ARNE, „The Challenge of youth Inclusion in Morocco,” Weltbank, 14. Mai 2012,
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PANNASCH, LAURA, „Selbstverbrennung als Heldentat,“ Zenith, 1. Februar 2012, http://www.zenithonline.de/deutsch/gesellschaft/a/artikel/selbstverbrennung-als-heldentat-002533/.
Deutsches Orient-Institut
49
Marokko
PFEIFER, KRISTIN, “Wir sind keine Araber” – Amazighische Identitätskonstruktion in Marokko (Bielefeld: transcript Verlag, 2015).
RACHIDI, ILHEM, „Inside the movement: what is left of Morocco’s February 20,” Middle East Eye, 25.
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SABRA, MARTINA, „Abtreibungsverbot in Marokko - Die Realität anerkennen,“ Qantara, 11. Juni
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morocco/unemployment-rate.
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html.
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yOUNG, Holly, “In Morocco youth Unemployment is driving up Inequality,” The Guardian, 20. August 2014, http://www.theguardian.com/global-development-professionals-network/2014/aug/
20/youth-unemployment-interactive-abdeslam-seddiki-morocco.
Alle Internetquellen wurden am 11. Dezember 2015 geprüft.
50
Deutsches Orient-Institut
Saudi-Arabien
Jugend in Saudi-Arabien:
„Agents of Change“ oder Vertreter der Gegenrevolution?
A
I. Einleitung
us einer Außenperspektive wird SaudiArabiens Gesellschaft oftmals als
widersprüchliches Konstrukt wahrgenommen, welches einerseits von traditionellen Werte und orthodoxer Religiosität
dominiert wird, andererseits rapide Modernisierungsprozesse durchläuft. Zumeist stehen
jedoch Diskurse um die Stabilität des politischen Systems, die wirtschaftliche Potenz vor
dem Hintergrund fallender Ölpreise und die
Förderung einer puristischen Denkströmung
des sunnitisch-wahhabitischen Islams im
Vordergrund. Daher orientieren sich Analysen
zu gesellschaftlichem Wandel meistens nur
an diesen Paradigmen, ohne differenziert zu
unterscheiden, wie sich die saudische Gesellschaft verändert, wer die Schlüsselfiguren
dieses Wandels sind und welche Handlungsund Einflussmöglichkeiten die saudische Gesellschaft auf diesen Wandel ausüben kann.
Mit dem Beginn der „Arabischen Aufstände“
2011 wurde in der Öffentlichkeit sowie in der
wissenschaftlichen Aufarbeitung viel über die
Rolle der Jugend in nahöstlichen Gesellschaften diskutiert.1 Die Bilder von jungen Demonstranten in Ägypten oder Tunesien oder
von syrischen und jemenitischen Aktivisten,
die für ihre Rechte und politischen Forderungen auf die Straße gingen, zeichneten für
kurze Zeit ein neues, frisches, dynamisches
Bild des zuvor als verkrustetet, patriarchalisch
und tribal wahrgenommenen Nahen Ostens.
Selbst aus Saudi-Arabien wurden Ankündigungen von einem „Tag des Zorns“ über soziale Medien verbreitet, saudische Frauen
riefen dazu auf, das Fahrverbot zu brechen
und filmten sich beim verbotenen Autofahren.
Es schien, als sei auch das stabile Königreich
vom sozialen und politischen Wandel der gesamten Region erfasst worden. Doch vier
Jahre später ist die anfängliche Euphorie Er-
1
2
3
nüchterung gewichen: Die einstmals mittreibenden Kräfte sozialer Jugendaktivisten in
Nordafrika, in Syrien oder Jemen sind aufgerieben worden zwischen islamistischen Kräften, Gegenrevolutionären, gewaltbereiten
Akteuren und autokratischen Regimen. In
Saudi-Arabien scheinen die „Arabischen Aufstände“ nicht zu einer gesellschaftlichen Bewegung des Wandels geführt zu haben,
stattdessen geriert sich das Königreich als
Garant des Status quo und als gegenrevolutionäre Regionalmacht, die in den Aufständen
die Gefährdung eigener politischer Macht und
Legitimation sieht und nicht die Chance, den
gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben.2
Doch Saudi-Arabiens Gesellschaft durchläuft
sehr wohl einen gravierenden Wandlungsprozess, der sich in vielerlei Facetten und Aspekten niederschlägt und lange vor 2011 begann,
der aber oftmals in komplexen, intransparenten und widersprüchlichen Sphären vollzogen
wird und von außen kaum sichtbar erscheint.3
So existieren in Saudi-Arabien weder Möglichkeiten, sich über Parteien oder Jugendorganisationen zu solidarisieren, bestimmen
soziale Barrieren wie die Zugehörigkeit zu Familien, Stämmen und Regionen den Zugang
zum sozialen Diskurs und definiert die rigide
Islamauslegung des Wahhabismus häufig den
Alltag junger Menschen. Dennoch übernimmt
wie in anderen arabischen Ländern auch in
Saudi-Arabien die junge Bevölkerung eine
entscheidende Bedeutung, das Königreich zu
modernisieren, zu prägen und mitzugestalten.
In einer Zeit der mannigfaltigen Herausforderungen für das Königreich stellt somit seine
junge Bevölkerung einen wesentlichen Treiber
für den sozialen Wandel dar.
Dabei stellt sich die Frage, wer eigentlich die
saudische Jugend repräsentiert, was es eigentlich bedeutet, eine junge saudische Frau
oder Mann zu sein, und wie sie den politischen, religiösen und sozialen Herausforderungen begegnen? Wie verleihen sie ihrem
Denken Ausdruck, wie organisieren sie sich
und welche persönlichen und gesellschaftlichen Ziele verfolgen sie?
Siehe u.a. Laiq, Talking to Arab Youth: Revolution and Counterrevolution in Egypt and Tunisia, 2013;
Alhassen und Shihab-Eldin (Hrsg.), Demanding Dignity: Young Voices from the Front Lines of the Arab
Revolutions, 2012; Schneiders (Hrsg.), Der Arabische Frühling: Hintergründe und Analysen, 2013.
Siehe u.a. Ehteshami, GCC Foreign Policy: From the Iran-Iraq War to the Arab Awakening, 2015; Coates
Ulrichsen, The GCC States and the Shifting Balance of Global Power, 2010; Haykel, Saudi Arabia and
Qatar in a Time of Revolution, 2013; Al Tamamy, Saudi Arabia and the Arab Spring: Opportunities and
Challenges of Security, 2012; Steinberg, Leading the Counter-Revolution: Saudi Arabia and the Arab
Spring, 2014.
Siehe u.a. Al-Rasheed, A History of Saudi Arabia, 2002; Aarts und Nonneman (Hrsg.), Saudi Arabia in the
Balance. Political Economy, Society, Foreign Affairs, 2005; Freitag (Hrsg.), Saudi-Arabien. Ein Königreich
im Wandel?, 2010.
Deutsches Orient-Institut
51
Saudi-Arabien
II. Die soziale Situation
Saudi-Arabien durchläuft bereits seit einigen
Jahrzehnten einen gravierenden gesellschaftlichen Wandel. In den 1950er und
1960er Jahren begann das Königreich, sich
zunehmend institutionell und industriell zu
modernisieren.4 Insbesondere die rapide steigenden Staatseinnahmen aus der Ölproduktion ab den 1970er Jahren ließen das
Wohlstandsniveau deutlich steigen. Dies
hatte auch weitreichenden Einfluss auf die
saudische Jugend von heute: Während ihre
Eltern und Großeltern teilweise noch in ländlichen und oftmals ärmlichen Gegebenheiten
lebten und somit noch eine Zeit vor dem „Ölreichtum“ kennen, sind für viele junge saudische Männer und Frauen, die zwischen 15
und 35 Jahren alt sind, die technologischen,
finanziellen und wirtschaftlichen Annehmlichkeiten des Rentierstaats zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Daraus ergeben sich
einige sozioökonomische wie gesellschaftliche Herausforderungen.
II.1 Arbeitsmigration: Ein notwendiges „Übel“
Immer mehr ausländische Migranten begannen, seit den 1950er Jahren im Land zu arbeiten und veränderten die Arbeitsmentalität
der saudischen Bevölkerung, die zunehmend
vom Staat alimentiert wurde. Kostenlose Bildung und medizinische Versorgung, Steuerfreiheit, die Bereitstellung von sozialen
Dienstleistungen und die Annehmlichkeiten
des Kafala-Systems prägten die Gesellschaft
und wirkten sich insbesondere auf den Arbeitsmarkt aus5: Das Königshaus rekrutierte
insbesondere Lehrer, Beamte, Ärzte, Ingenieure, Händler und Handwerker aus Ägypten,
Syrien und dem Libanon. 1964 stammten
33% der städtischen Arbeitnehmer aus dem
Ausland, Anfang der 1970er Jahre lag dieser
4
5
6
7
8
52
Wert bereits bei weit über 70%.6 Da die arabischen Arbeitsmigranten jedoch zunehmend
als politischer Destabilisierungsfaktor wahrgenommen wurden, begann man, verstärkt
Arbeitskräfte aus Südasien anzuheuern.
Heute stammen etwa zwei Drittel aller Arbeitsmigranten in Saudi-Arabien aus Ländern
wie Pakistan, Indien, Bangladesch oder Indonesien, welche zumeist als Bauarbeiter,
Dienstmädchen oder Chauffeur arbeiten.7
Dies führte dazu, dass der öffentliche Dienst
von saudischen Arbeitnehmern dominiert
wird, während die Privatwirtschaft zumeist in
ausländischen Händen liegt. Als Folge entstand eine aufgeblähte, ineffektive und kostenintensive Administrationsstruktur, in der
seit den 1970er Jahren vor allem saudische
Arbeitnehmer arbeiten, um einerseits vom
Staat absorbiert zu werden, die andererseits
aber auch danach strebten, einen möglichst
sicheren, gut bezahlten Arbeitsplatz mit wenig
Verantwortung zu erhalten, der darüber hinaus noch soziales Prestige und Sicherheit für
die Familie mit sich brachte. Diese MudīrMentalität8 führte dazu, dass insbesondere im
Dienstleitungssektor fast ausschließlich ausländische Gastarbeiter beschäftigt sind, sodass Saudi-Arabiens Wirtschaft ohne
ausländische Migranten nicht funktionsfähig
wäre.
Doch aufgrund der demographischen Entwicklung und der mangelnden Diversifizierung des Arbeitsmarktes verschärfte sich seit
den 1980er Jahren das Dilemma der saudischen Wirtschaft: Zum einen werden ausländische Arbeitskräfte im Billiglohnsektor, aber
auch im Management benötigt, da auf saudischer Seite lange Zeit die Expertise und die
Motivation fehlte, im Privatsektor tätig zu werden. Andererseits stieg die Jugendarbeitslosigkeit (15-29 Jahren) rapide, von 19% im
Siehe u.a. Luciani, Saudi Arabian business: From private sector to national bourgeoisie, 2005; Hertog, The
new corporatism in Saudi Arabia: limits of formal politics, 2006; Hertog, Princes, Brokers, and Bureaucrats.
Oil and the State in Saudi Arabia, 2010; Hertog, Segmented Clientelism: The Political Economy of Saudi
Economic Reform Efforts, 2005; Field, The Merchants: The Big Business Families of Saudi Arabia and the
Gulf, 1984.
Siehe Longva, Keeping Migrant Workers in Check: The Kafala System in the Gulf, 1999) und Sons, SaudiArabiens Arbeitsmarkt: Sozioökonomische Herausforderungen und steigender Reformdruck, 2014: „Als
Grundlage für die rechtliche und logistische Organisation der Arbeitsmigration dient das Kafala-System
(arabisch für ‚Bürge‘), in dem Rekrutierungsagenturen gegen Gebühren geeignete Migranten an saudische
Arbeitgeber, die Bürgen, vermitteln. Hierbei schließt der Migrant in seinem Heimatland einen Vertrag mit
einer Agentur, die in Kontakt mit saudischen Privatpersonen steht, die Bedarf an Angestellten angemeldet
haben. Der vermittelte Migrant ist nach der Ankunft in Saudi-Arabien vollkommen abhängig von seinem
Bürgen. Dieser ist befugt, den Reisepass einzubehalten und kann seinem ausländischen Angestellten
verweigern, den Arbeitsplatz zu wechseln oder in seine Heimat auszureisen.
Vassiliev, The History of Saudi Arabia, 2000, 429.
Girgis, Would Nationals and Asians Replace Arab Workers in the GCC?, 2002; Lucas und Richter,
Arbeitsmarktpolitik am Golf: Herrschaftssicherung nach dem ‚Arabischen Frühling‘, 2012.
Champion, The Kingdom of Saudi Arabia: Elements of Instability Within Stability, 1999.
Deutsches Orient-Institut
Saudi-Arabien
Jahr 1999 auf 29,2% im Jahr 2013, während
die offizielle Arbeitslosenquote 12,7% betrug.9
Dabei vergrößert sich die Kluft zwischen arm
und reich immer mehr: So verfügen gegenwärtig ca. 120.000 Millionäre über einen Gesamtreichtum von 400 Mrd. USD.10 Mehr als
70% der Bevölkerung sind unter 30 Jahren,
das Durchschnittsalter liegt bei 25,3 Jahren.11
Allein zwischen 1950 und 2015 wuchs die Bevölkerung von 3,2 Millionen um knapp das
Zehnfache.12 Das Bevölkerungswachstum beträgt 2% im Jahr, sodass die Einwohnerzahl
nach Berechnungen der Vereinten Nationen
von bislang etwa 30 Mio. (wovon etwa 10 Mio.
nicht über die saudische Staatsangehörigkeit
verfügen) bis zum Jahr 2050 auf 40,4 Mio.
steigen soll.13 Dementsprechend schreiben
die Fünf-Jahres-Pläne des Entwicklungsministeriums der letzten vier Jahrzehnte eine
Nationalisierungspolitik des saudischen Arbeitsmarktes vor, um die Abhängigkeit von
ausländischen Migranten zu reduzieren und
die Chancen für saudische Absolventen zum
Eintritt in den Arbeitsmarkt zu vergrößern.
Dennoch liegt der Anteil ausländischer Arbeitnehmer im Privatsektor immer noch bei
etwa 87%, während im öffentlichen Dienst
95% der Arbeitsplätze mit saudischen Arbeitnehmern besetzt sind.14
Zwar wurden insbesondere unter König Abdullah (reg. 1995/2005-2015) Milliardenausgaben im Bildungsbereich getätigt, um das
Bildungsniveau der jungen saudischen Generationen zu verbessern, aber der Übergang
von der Universität auf den Arbeitsmarkt gestaltet sich nach wie vor schwierig. Noch
immer wollen viele Saudis im öffentlichen
Sektor beschäftigt werden, dessen Stellen
aber entweder überbesetzt oder nur durch
persönliche Kontakte und Patronagenetzwerke zugänglich sind. Desweiteren führte die
Einrichtung von internationalen Stipendienprogrammen wie z.B. dem King Abdullah
Scholarship Programme oder geschlechtergemischten Universitäten sowie die Anwerbung ausländischer Professoren und
Lehrkräften zwar zu einer deutlichen Steige-
rung des Bildungsniveaus. Doch steigen
damit auch die Ansprüche der Absolventen,
die durch den Arbeitsmarkt nicht befriedigt
werden können. Saudische Bewerber verlangen in der Regel noch immer mehr Gehalt als
ein ähnlich oder vielleicht besser qualifizierter
Ausländer. Zwar versucht der Staat, eine
Quotenregelung für Privatunternehmen einzuführen (Nițāqāt), die die Anstellung von einheimischen Arbeitskräften prämiert. Dies hat
allerdings in der Realität nicht zu deutlich
mehr Beschäftigungsmöglichkeiten geführt.
Um die Quoten zu erfüllen, werden manchmal
saudische Arbeitnehmer bezahlt, ohne dass
sie tatsächlich im Unternehmen präsent sein
müssen. Viele kleinere Unternehmen konnten
sich langfristig keine saudischen Arbeitnehmer leisten, sodass sie Insolvenz anmelden
mussten. Hinzu müssen jedes Jahr im Durchschnitt 100.000 Schulabgängerinnen und -abgänger sowie 40.000 Universitätsabsolventen
in den Arbeitsmarkt integriert werden, was
aufgrund der bestehenden Strukturen nicht
gelingt.15
II.2 Frauen auf dem Arbeitsmarkt:
Benötigt und benachteiligt
Insbesondere für die saudischen jungen
Frauen beginnen mit dem Ende ihrer Ausbildung gravierende Probleme: So lockert sich
erst allmählich die Geschlechtertrennung. Insgesamt stieg die Erwerbsquote von Frauen
zwischen 1992 und 2013 von 5,6 auf 17,2%,
mittlerweile sind 55% der Universitätsabsolventen weiblich, allein 80.000 saudische
Frauen studieren im Ausland.16 Für viele kleinere Unternehmen war es in der Vergangenheit jedoch nicht möglich, aufgrund der
Geschlechtertrennung eigene Abteilungen,
Eingänge und Sanitäranlagen für Frauen anzubieten, weil dies zu teuer gewesen wäre.
Viele Jobbereiche sind für Frauen weiterhin
nicht zugänglich, z.B. Ingenieursberufe oder
Tätigkeiten im Ölsektor. Stattdessen wird von
saudischen Frauen oftmals erwartet, in traditionellen „Frauenberufen“ wie zum Beispiel
als Krankenschwester oder Lehrerin zu ar-
Siehe International Monetary Fund, IMF Country Report No. 13/230, 2013 und Fazli und Faridi, Saudi
Labour Law and its Impact on Indian Workers, 2014.
10
Foley, The Arab Gulf States. Beyond Oil and Islam, 2010, 121 f.
11
Sons, Saudi-Arabien, 2011.
12
Willoughby, Ambivalent Anxieties of the South Asian-Gulf Arab Labor Exchange, 2006.
13
Economic Commission for Western Asia: The demographic profile of Saudi Arabia,
http://www.escwa.un.org/popin/members/SaudiArabia.pdf.
14
Gulf Labour Markets and Migration Programme: Percentage of Non-Nationals in Government Sector and
in Private and Other Sectors in GCC Countries (National Statistics, Latest year or Period Available),
gulfmigration.eu/percentage-ofnon-nationals-in-govpercentage-of-non-nationalsin-government-sector-andin-private-and-othersectors-in-gcc-countries-national-statistics-latestyear-or-period-available.
15
Abir, Saudi Arabia. Government, Society and the Gulf Crisis, 1993, 22.
16
De Bel-Air, Female Employment and the Saudisation Policy (Nitaqat) in Saudi Arabia, 2014.
9
Deutsches Orient-Institut
53
Saudi-Arabien
beiten. Dennoch haben sich die Tätigkeitsfelder für Frauen in den letzten Jahren erweitert:
Seit Mai 2014 sind auch weibliche Angestellte
in Schmuckläden, Elektronikgeschäften sowie
in der Lebensmittelindustrie erlaubt, und seit
kurzem dürfen nur noch Frauen in Dessousund Kosmetikläden arbeiten.17
Grundlage der Geschlechtertrennung ist die
traditionell-patriarchalische Struktur der saudischen Gesellschaft, in der „die Frau“ als Hüterin von Haus und Hof sowie als Erzieherin
der Kinder wahrgenommen wird. Diese Definition beruht auch auf der politischen Allianz
des saudischen Königshauses mit den wahhabitischen Rechtsgelehrten (‘ulama), welche
seit Mitte des 18. Jahrhunderts existiert, und
den politischen und gesellschaftlichen Alltag
der saudischen Bevölkerung prägt und regelt.18 Konservative Geschlechtervorstellungen, strenge religiöse Regeln und
ultraorthodoxe moralische Werte haben es
somit in den vergangenen Jahrzehnten verhindert, eine an den aktuellen Anforderungen
ausgerichtete, pragmatische Gender- und Arbeitsmarktpolitik zu implementieren. Diese
Widersprüchlichkeit von notwendiger Arbeitsmarktpolitik und existierenden Hemmnissen
führt zu einer Situation, die weibliche, aber
auch männliche junge Arbeitnehmer benachteiligt.
II.3 Politische Kultur: „Ikwhanoia“
und „Iranoia“
Auch die politisch zunehmend sensible Situation des Königreichs beeinflusst die junge Gesellschaft Saudi-Arabiens. Seit 2011 befindet
sich das Land in einer Position der Defensive,
die vor allem durch zwei Phänomene ausgelöst wurde:
„Ikwanoia“: Der zunehmende Aufschwung
islamistischer Gruppierungen im Verlauf der
„Arabischen Aufstände“ bedrohte die Legiti-
mität und Stabilität des saudischen Königshauses und wurde demnach als Schock
wahrgenommen.19 Vor allem der Sturz Hosni
Mubaraks in Ägypten und die Machtübernahme der Muslimbrüder (al-Ikhwān alMuslimūn) mit Präsident Muhammad Morsi
von Juni 2012 bis Juli 2013 besorgte das saudische Königshaus: So fürchtete es, eine erfolgreiche islamistische Demokratie könne die
Legitimation der eigenen Herrschaft untergraben und unterstützte deswegen die
Ablösung der Muslimbrüder und die Machtübernahme des ägyptischen Militärs unter
General Abd al-Fattah as-Sisi.20 Bereits in den
1950er und 1960er Jahren hatten viele ägyptische Muslimbrüder in Saudi-Arabien Exil gefunden, da sie vom damaligen Präsidenten
Gamal Abdel Nasser ausgewiesen und verfolgt worden waren. In Saudi-Arabien nahmen
sie ideologisch Einfluss auf das Bildungssystem, indem sie oft als Lehrer arbeiteten und
so einen Teil der damaligen jungen saudischen Generation mit ihren Ideen prägten. So
entstand Anfang der 1990er Jahre in SaudiArabien eine von den Muslimbrüdern inspirierte Oppositionsbewegung (as-Ṣaḥwa
al-Islāmiyya, „islamische Erweckungsbewegung“), was vom saudischen Königshaus damals wie nunmehr als Anlass genommen
wurde, den Einfluss der Islamisten stoppen zu
müssen.21 So dominierte zwischen 2011 und
2013 der von „Ikhwanoia“22 geprägte Kampf
gegen die Muslimbrüder die saudische
Außenpolitik und den innergesellschaftlichen
Diskurs.
„Iranoia“: Die Annäherung der internationalen Gesellschaft und die Einigung im Atomkonflikt
hat
die
„iranoide“
Politik
Saudi-Arabiens intensiviert und die Phase der
„Ikhwanoia“ abgelöst.23 Saudi-Arabiens Verhältnis zu Iran wird seit der Islamischen
Revolution 1979 von Misstrauen und Konkurrenzdenken dominiert. Saudi-Arabien fürchtet
den Export der Islamischen Revolution und
Sons, Saudi-Arabiens Arbeitsmarkt: Sozioökonomische Herausforderungen und steigender Reformdruck,
2014, 25-33; Sons, From Segregation to Integration? Discourses on South Asian Labor Migrants in Saudi
Media, 2014.
18
Siehe Steinberg, Saudi-Arabien: Politik, Geschichte, Religion, 2004; Steinberg, Religion und Staat in SaudiArabien: Die wahhabitischen Gelehrten 1902-1953, 2002.
19
Siehe u.a. Riedel, Revolution in Riyadh: Memorandum, 2013; Gause III, Is Saudi Arabia Really CounterRevolutionary?, 2011; Al Tamamy, Hegemonic or Defensive? Patterns of Saudi Foreign Policy in the Era
of the Arab Spring, 2012.
20
Siehe u.a. Coates Ulrichsen, Egypt-Gulf Ties and a Changing Balance of Regional Security, 2015; Rieger,
In Search of Stability: Saudi Arabia and the Arab Spring, 2014.
21
Siehe u.a. Al-Rasheed, Divine Politics Reconsidered: Saudi Islamists on Peaceful Revolution, 2015; De
Long-Bas, Wahhabi Islam: From Revival and Reform to Global Jihad, 2004; Lacroix, Understanding
Stability and Dissent in the Kingdom. The Double-Edged Role of the jama’at in Saudi Politics, 2015; Lacroix,
Awakening Islam: Religious Dissent in Contemporary Saudi Arabia, 2011.
22
Siehe Sons, Sugardaddy wird geizig, 2015.
23
Zu “Iranoia” siehe auch: Sons, Riad setzt auf Risiko, 2015.
17
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Deutsches Orient-Institut
Saudi-Arabien
wirft Iran vor, mit dessen Hegemonialstreben
die eigenen Regionalinteressen zu bedrohen.
Vor allem nach dem Sturz Saddam Husseins
im Irak 2003 beobachtete die saudische Führung den wachsenden Einfluss Irans im Nachbarland Irak mit Argusaugen. Insbesondere
den Ausbruch von öffentlichen und mehrheitlich schiitisch dominierten Protesten im benachbarten Bahrain im Jahr 2011 war aus
Saudi-Arabiens Sichtweise durch iranischen
Einfluss initiiert worden. Als Reaktion marschierten saudische und andere golfarabische Truppen in Bahrain ein, um die
sunnitische Minderheitsregierung gegen den
„iranischen Einfluss“ zu schützen. Auch die
aktuelle Situation in Syrien, im Irak und vor
allem im Jemen wird auf den iranischen Einfluss zurückgeführt. Hierbei vermischt sich
eine vage Faktenlage, fehlende Iran-Expertise und eine emotionale Hybris, der zu Folge
Iran für alle Fehlentwicklungen in der Region
verantwortlich zu machen ist, zu einer gefährlichen, weil hoch emotionalisierten
Haltung gegenüber Teheran. Mit dem erfolgreichen Abschluss der Atomverhandlungen
mit Iran im Juli 2015 hat sich diese „Iranoia“
nochmal gesteigert.24 In Saudi-Arabien glauben viele, der Westen, vor allem der langjährige Verbündete USA, lasse sich von Iran
„über den Tisch ziehen“, sei einer Täuschung
aufgesessen und vergesse darüber, den eigentlichen Partner, nämlich Saudi-Arabien, zu
unterstützen. So diente der Jemen-Feldzug
auch dazu, die saudische Entschlossenheit
zum unilateralen Handeln ohne Unterstützung
der USA zu zeigen.25 Grundsätzlich hindert
die „Iranoia“ Saudi-Arabien jedoch daran,
pragmatische Realpolitik gegenüber Iran zu
betreiben.
II.4 Die Entwicklung unter dem neuen König
Salman: Neue Brandherde, neue Sorgen
Beide Phänomene, Iranoia und Ikhwanoia,
lösen bei vielen jungen saudischen Staatsangehörigen ein Gefühl der Unsicherheit und
der Überforderung aus. Kombiniert mit den
oben beschriebenen sozioökonomischen
Faktoren nehmen sie die aktuellen Entwicklungen als Bedrohung der eigenen Sicherheit
wahr, fühlen sich umzingelt von externen
Feinden und ziehen die Führungsstärke des
Königshauses unter dem neuen König Salman zunehmend in Zweifel, dessen Politik
hinter vorgehaltener Hand aus folgenden
Gründen immer mehr kritisiert wird:
Die militärische Intervention im Jemen: Im
März 2015 begann Saudi-Arabien unter dem
neuen König Salman die Operation Decisive
Storm (seit 22. April 2015 Restoring Hope),
um den militärischen Vormarsch der HuthiRebellen zu stoppen, die im September 2014
die Hauptstadt Sana’a eingenommen hatten
und den aus saudischer Sicht legitimen Präsidenten Abed Rabbu Mansur Hadi ins saudische Exil gedrängt hatten. Gleichzeitig
richtete sich die Militäraktion aber auch gegen
den „Erzrivalen“ Iran, dem von saudischer
Seite vorgeworfen wird, die Huthis direkt zu
unterstützen, um die saudische Position zu
schwächen. Dementsprechend ist die Rede
von einem „Stellvertreterkrieg“ im Jemen,
wenngleich zwischen Huthis und Iran zwar
Kontakte existieren, die Huthis aber eigene
Interessen und Strategien verfolgen und keineswegs als Marionette oder Klient Irans
bezeichnet werden können. Nachdem angekündigt worden war, dass die Offensive nur
wenige Tage andauern sollte, bombardiert die
saudische Luftwaffe bereits seit über einem
halben Jahr die Stellungen der Huthis, ohne
bedeutende militärische Erfolge zu erringen.
Hinzu verursachen die Einsätze Kosten von
über 175 Mio. USD im Monat, was den wegen
der gesunkenen Ölpreise angeschlagenen
saudischen Haushalt weiter belastet.26 Auch
wenn in der Öffentlichkeit der Jemen-Krieg als
notwendige Maßnahme des neuen Königs
und seiner engsten Verbündeten gesehen
wird und in den ersten Wochen auch eine flächendeckende Welle der Sympathie und des
Patriotismus die Operation begleitete, fürchten nun viele, dass der neue König keine Strategie und nicht die notwendigen Kapazitäten
besitzt, um den begonnenen Krieg erfolgreich
zu beenden. Stattdessen könne Jemen zu
einem „saudischen Afghanistan“ werden.
Die Präsenz von Muhammad bin Salman:
Auch Salmans Entscheidung, seinen Sohn
Muhammad bin Salman als neuen stellvertretenden Kronprinzen und Verteidigungsminister einzusetzen, wird argwöhnisch betrachtet.
„MbS“, wie er genannt wird, wurde vom König
zum omnipräsenten Gesicht des Jemen-Feldzuges stilisiert. Mit seinen etwa 30 Jahren ist
er der jüngste Verteidigungsminister der Welt,
Siehe zu den erfolgreichen Verhandlungen über das iranische Atomprogramm Zamirirad, Iran nach der
Atomvereinbarung. Innen- und wirtschaftspolitische Implikationen der erzielten Übereinkunft, SWP-Aktuell
75, 2015
25
Siehe u.a. Sons, Riad setzt auf Risiko, 2015; Pollack, The dangers of the Arab intervention in Yemen,
2015; Wehrey, Into the Maelstrom: The Saudi-Led Misadventure in Yemen, 2015.
26
Siehe Middle East Association, Yemen war costs ‘hardly a worry for Saudi Arabia’, 2015.
24
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Saudi-Arabien
was ihm allerdings in der jungen Bevölkerung
nicht unbedingt Respekt und Sympathien eingebracht hat, da er über keine militärische
Ausbildung verfügt und nie im Ausland studierte. Kritiker werfen ein, sein Vater habe
auch deswegen einen Krieg angefangen, um
seinem Sohn die Chance zu geben, sich als
zukünftiger König zu profilieren. Doch diese
Strategie scheint zunehmend zu scheitern.
Stattdessen schwindet offenbar der Rückhalt
für MbS und seinen Vater innerhalb der Königsfamilie. So wurden zwei Briefe veröffentlicht, in denen ein Enkel des Staatsgründers
Ibn Saud dazu aufruft, einen Familienrat einzuberufen, um darüber zu entscheiden, den
König und seinen Sohn sowie den direkten
Thronfolger und Innenminister Muhammad
bin Nayif abzusetzen.27 In einem dieser Briefe
wird das Vorgehen im Jemen als „vollkommene Fehlkalkulation“ bezeichnet: „Wir
werden nicht in der Lage sein, die Geldverschwendung, die politische Unreife und die
militärischen Risiken zu verhindern, wenn wir
nicht die politischen Entscheidungsprozesse
verändern, auch wenn dies beinhaltet, den
König zu wechseln.“28 Auch wenn nicht wenige in Saudi-Arabien die Authentizität der
Briefe anzweifeln, findet in sozialen Netzwerken und in privaten Gesprächen eine rege
Diskussion um die Leistungsfähigkeit und die
Reputation der neuen Führung statt.
III. Aktuelle Entwicklungen
III.1 Junge Frauen: Treiber gesellschaftlicher
Veränderungen
Das saudische Geschlechterverhältnis definiert sich in der Öffentlichkeit vor allem durch
die strikte Geschlechtertrennung. Saudische
Frauen müssen sich mit der ‘abāya verschleiern, extra ausgewiesene Eingänge oder
Abteilungen in Arztpraxen, Krankenhäusern
und Einkaufszentren nutzen und dürfen nicht
Auto fahren. Sie stehen nach saudischem
Recht unter der Obhut eines männlichen Vormunds (maḥram), im Regelfall der Ehemann,
der Vater, der Bruder oder der Sohn. So brauchen Frauen die Zustimmung ihres maḥrams,
um einen Personalausweis zu beantragen,
ein Geschäft zu eröffnen oder ins Ausland zu
reisen.29 Auch vor Gericht werden Frauen in
Fragen des Erb- oder Eherechts gegenüber
dem Mann benachteiligt. Dabei wird zwar
diese Ungleichheit zwischen Mann und Frau
vom Staat und dem wahhabitischen Klerus
religiös begründet, ruht aber eher auf einer
politischen Entscheidung. Diese „symbolische
Geschlechterpolitik“ zielt darauf ab, die Frau
als saudisches „Kulturgut“ zu stilisieren, sie zu
„einem wirkungsmächtigen Instrument der
Herrschaftssicherung des Königshauses“ zu
stilisieren.30 „Gleichzeitig dient die saudische
Frau als Symbol nationaler Einheit und als
Distinktionsmerkmal saudischer Identität, das
es – gleich einem Kulturgut – zu erhalten
gilt.“31 Demnach soll die Frau die moralische
Instanz des Königshauses wahrnehmen, d. h.
als „gute Seele“ der saudischen Gesellschaft
fungieren.32 Dabei waren Frauen im historischen Saudi-Arabien vor der Entdeckung der
Ölressourcen ebenso ins berufliche Leben
eingebunden wie die Männer. Erst mit dem
steigenden Wohlstand war es dem Staat
möglich, die Frauen aus dem Arbeitsleben zu
exkludieren und mit den Mitteln des Rentierstaates zu alimentieren.
Doch die Zeiten ändern sich. Längst drängen
viele Frauen ins Berufsleben, streben nach
einer Karriere und sind angewiesen auf ein regelmäßiges Gehalt. Die offizielle Arbeitslosenrate bei saudischen Frauen lag zwischen
2010 und 2014 bei durchschnittlich 21,3%.33
Da der Staat nicht mehr in der Lage ist, das
Wohlfahrtssystem im selben Umfang wie vor
einigen Jahren aufrechtzuerhalten und auch
die wirtschaftliche Stellung der Männer sinkt,
ist die berufliche Qualifizierung der Frauen
nicht nur ein Ausdruck emanzipatorischer
Selbstbefreiung, sondern eine sozioökonomische Notwendigkeit. Durch die zunehmende
Modernisierung und Urbanisierung lösen sich
zudem gesellschaftliche Strukturen auf: Die
Zahl der Scheidungen und der Single-Haushalte steigt, viele Frauen leben in Städten und
damit weit entfernt von ihrer Familie, müssen
ihre Kinder nicht selten allein erziehen und
sind damit auf ein geregeltes Einkommen angewiesen. Mittlerweile kümmern sich auch zivilgesellschaftliche Institutionen um die
Eingliederung von Frauen in den Arbeits-
Siehe Miles, Saudi royal calls for regime change in Riyadh, 2015; Middle East Eye, Senior Saudi royal
urges leadership change for fear of monarchy collapse, 2015.
28
Siehe Middle East Eye, Senior Saudi royal urges leadership change for fear of monarchy collapse, 2015.
29
Derbal, Zwischen Reformversprechen und Status quo: Frauen in Saudi-Arabien, 2014.
30
Derbal, Zwischen Reformversprechen und Status quo: Frauen in Saudi-Arabien, 2014.
31
Ebd.
32
Doumato, Gender, Monarchy, and National Identity in Saudi Arabia, 1992.
33
The World Bank: Unemployment, female (% of female labor force) (modeled ILO estimate),
http://data.worldbank.org/indicator/SL.UEM.TOTL.FE.ZS.
27
56
Deutsches Orient-Institut
Saudi-Arabien
markt. Insbesondere die vom 32-jährigen
Khalid al-Khudair 2011 ins Leben gerufene Initiative Glowork hat sich mittlerweile etabliert
und bis 2013 nach eigenen Angaben 3.500
Frauen eine Beschäftigung beschafft.34 Die Initiative versucht, über Seminare, Workshops,
Messen und Jobbörsen, Frauen auf dem saudischen Arbeitsmarkt zu vermitteln.
Dabei nutzt der Staat immer wieder die „Frauenfrage“, um sich nicht nur betont islamisch,
sondern auch als reformerisch zu gerieren.
Insbesondere der verstorbene König Abdullah
präsentierte sich als Förderer der Frauenrechte, indem er Reformen „von oben“ einführte, die die Stellung der Frau verbessern
sollten. Im 2003 implementierten Nationalen
Dialog, einem Konsultationsforum, ließ er
zum ersten Mal Frauen zu und gab ihnen offizielle Funktionen. So erhöhte er die Zahl der
weiblichen Abgeordneten im beratenden,
aber legislativ unbedeutenden Majlis ashShura und ernannte 2009 mit Nora al-Fayez
die erste stellvertretende Ministerin in der Geschichte des Landes.35 Dabei versuchte der
König jedoch, die Kontrolle über die Integration von Frauen ins politische und soziale
Leben zu behalten, sodass all diese „Reformen“ eher kosmetischen Charakter hatten.
Die Staatselite versuchte damit, einflussreiche Frauen zu kooptieren, um sich als Bewahrer des Fortschritts zu zeigen, ohne am
traditionellen Geschlechterbild grundsätzlich
etwas zu ändern. Dennoch sehen viele
Frauen die Maßnahmen des verstorbenen
Königs als wichtigen Schritt zur Neujustierung
des saudischen Geschlechterverhältnisses.
Es wäre jedoch eine verkürzte Sichtweise, die
saudischen Frauen per se als Opfer einer patriarchalischen und tribalen Gesellschaft zu
bezeichnen, da sie in den letzten Jahren
durchaus Räume gefunden haben, in denen
sie politischen, sozialen und wirtschaftlichen
Einfluss ausüben können. Dies gilt insbesondere für viele junge Frauen, die sich anschicken, das traditionelle Geschlechterverhältnis
zu verändern. So existieren eine öffentliche
Sphäre, die von Männern und Ausländern dominiert wird, und eine intransparente, nur
Frauen zugängliche Sphäre parallel nebeneinander. Dabei nutzen viele Frauen diese
zweite Sphäre zu ihrem Vorteil, in dem sie in
einem „geschützten Raum“ als einflussreiche
Geschäftsfrauen, Künstlerinnen oder soziale
Aktivistinnen fungieren und auch in den Medien als Journalistinnen und Moderatorinnen
präsent sind.36 Durch die Nutzung sozialer
Medien und den Ausbau der interaktiven
Kommunikation verfügen Frauen nun auch
vielfach über verbesserte Möglichkeiten, sich
geschäftlich zu betätigen. Allerdings sind
Frauen aufgrund des Fahrverbots und dem
weitgehenden Fehlen von öffentlichen Verkehrsmitteln nach wie vor in ihrer Mobilität
eingeschränkt und auf männliche Fahrer angewiesen. Durch die Nutzung von technischen Kommunikationsmitteln gelingt es
ihnen aber, diese Immobilität zu einem gewissen Teil zu überwinden. Insbesondere
junge Frauen haben längst begonnen, sich in
Graswurzelorganisationen zu engagieren, eigene Unternehmen im Hintergrund zu gründen und zu leiten, führende Funktionen in
Medien zu übernehmen oder in Wohlfahrtsinstitutionen für Frauenrechte einzutreten.
Insbesondere im Vergleich zum zentralarabischen Najd können Frauen im liberaleren
Hijaz, und vor allem in der Wirtschaftsmetropole Jeddah, offener ihr wirtschaftliches und
politisches Engagement zeigen und sich
sogar mit einer gewissen Vorsicht ohne
‘abāya mit nicht-saudischen Männern treffen.
Viele Frauen fordern politische Reformen,
indem sie über Weblogs oder Facebook-Initiativen auf Missstände hinweisen und die politische Führung kritisieren. Beispiele hierfür
sind u.a. die Frauenaktivistin Manal al-Sharif,
die mit einem youTube-Video Aufmerksamkeit erregte, in dem sie beim Autofahren die
politischen Zustände im Königreich kritisierte37 oder die Facebook-Initiative „Saudi
Women to Drive“, die das Fahrverbot anprangert.38 Ensaf Haisar, die Ehefrau des wegen
angeblichen religionskritischen Äußerungen
zu zehn Jahren Haft und 1.000 Peitschenhieben verurteilten Bloggers Ra’if Badawi, engagiert sich auf internationaler Bühne stark für
die Freilassung ihres Mannes und macht auf
die desaströsen Menschenrechtsverletzungen im Königreich aufmerksam. Mittlerweile
sind die Schriften ihres Mannes auch in deutscher Übersetzung erschienen39 und sie hat
Robehmend, Saudi Startup Finding Women Jobs Acquired For $16M, 2013.
Siehe Borger, Saudi Arabia appoints first female minister, 2009.
36
Sons, Eine egalitäre Geschlechterordnung in Saudi-Arabien? Frauen als Akteure des Wandels, 2013.
37
Siehe das Video unter https://www.youtube.com/watch?v=sowNSH_W2r0, 27. Mai 2011.
38
Siehe weitere Informationen unter https://www.facebook.com/Saudi-Women-To-Drive227817097234537/timeline/.
39
Badawi, Schreiber, 1000 Peitschenhiebe. Weil ich sage, was ich denke, 2015.
34
35
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Saudi-Arabien
ein Buch über das Leben ihrer Familie geschrieben.40 Hierbei werden auch die für Dezember 2015 geplanten Gemeinderatswahlen
als wichtiger Schritt zur besseren Inklusion
der Frau in das politische Leben gewertet, an
denen zum ersten Mal Frauen aktiv und passiv teilnehmen dürfen. Zwar stellt vor allem
die Registrierung für viele potenzielle Wählerinnen ein logistisches Problem dar, doch u.a.
die Initiative Baladī („mein Heimatland“) engagiert sich, um diese und ähnliche Schwierigkeiten auszuräumen. Dennoch werden
auch diese Wahlen keine realpolitische Bedeutung haben, da die Gemeinderäte keine
legislative oder exekutive Entscheidungsgewalt besitzen, sondern ausschließlich beratende Funktion ausüben. Somit dienen die
Wahlen dem Königshaus dazu, sich als volkszugewandt und partizipatorisch zu präsentieren, ohne echte demokratische Partizipation
zuzulassen.
Viele saudische Frauen lehnen diesen Aktivismus jedoch ab, da sie eher schrittweise
Reformen im Einklang mit den moralischen
und religiösen Werten der saudischen Gesellschaft und mit der politischen Führung
wollen. So fürchten viele Frauen eine Aufweichung der traditionellen Werte und eine zunehmende
Verwestlichung
der
Frauenbewegung. Sie empfinden sich zwar
als integralen Bestandteil der saudischen Gesellschaft, streben jedoch nicht nach einer
„Revolution der Frau“, sondern nach Konsens
und Dialog im Einklang mit den saudischen
Gesellschaftsnormen.
III.2 Soziale Netzwerkaktivisten: Das
„andere Gesicht“ des autoritären Systems
Die aktive Partizipation junger Männer und
Frauen über Weblogs, Twitter, Facebook oder
WhatsApp ist in den letzten Jahren zu einem sozialen Massenphänomen in Saudi-Arabien geworden. 30% der Gesamtbevölkerung nutzen
mittlerweile aktiv soziale Medien, davon 22%
WhatsApp und 21% Facebook.41 Im Oktober
2013 lag die Nutzungsrate für Twitter gar mit
33% an der weltweiten Spitze.42 Die meisten
Nutzer sind zwischen 26 und 34 Jahren alt.43
Auch wenn das Königshaus gegen einige
Blogger und Netzwerkaktivisten repressiv vor-
geht (siehe den Fall von Ra’if Badawi), gelingt
es den Autoritäten immer weniger, die mannigfaltigen Aktivitäten zu unterbinden oder zu
kontrollieren. So hat sich eine rege saudische
Netzcommunity gebildet, die von einem erhöhten Grad an Politisierung geprägt ist, ohne
in der Regel die bekannten „roten Linien“ zu
überschreiten. Kritik am Königshaus ist zwar
weitgehend ein Tabu und auch die Jemen-Offensive wird in der Öffentlichkeit nur vereinzelt
in Frage gestellt. Themen wie Missstände im
Gesundheits- oder Bildungssystem, die steigende Arbeitslosigkeit, die Rolle der Frau
oder der Umgang mit dem Terrorismus werden jedoch ebenso kontrovers diskutiert wie
in vielen anderen Gesellschaften. Allerdings
verlaufen diese Diskurse nicht automatisch in
eine liberal-moderate Richtung. Ebenso nutzen konservative Kleriker oder Salafisten das
Netz, um Modernisierungs- und Pluralisierungstendenzen entgegenzutreten.44 Es ist
daher zu kurzsichtig, die extensive Netznutzung der jungen Generation per se als Zeichen für mehr Fortschritt, Öffnung und
Toleranz zu werten. Ebenso existieren
Gegendiskurse, die oftmals vom Staat unterstützt oder initiiert werden, sodass sich im
Internet ein ebenso heterogenes und ambivalentes Bild der saudischen Gesellschaft
zeichnet wie außerhalb der virtuellen Realität.
III.3 Junge Männer: Verlust ihrer Maskulinität
In vielen jungen Saudis wächst das Gefühl,
im Vergleich zu ihren Eltern in einer vollkommen anderen globalen und regionalen Bedrohungssituation aufwachsen zu müssen.
Während ihre Eltern noch in vollem Maße von
den Alimentierungsmaßnahmen des Rentierstaates profitierten und in einer Situation der
relativen inneren und äußeren Stabilität lebten, muss die Generation der 20-35-Jährigen
heute mit einer gänzlich anderen Bedrohungslage umgehen lernen.
Dies äußert sich bei einigen jungen saudischen Männern in einem Gefühl der verlorenen Maskulinität.45 Die Widersprüche und die
oftmals vorhandene Doppelmoral innerhalb
der saudischen Gesellschaft erschweren es
jungen Männern, ihre traditionelle Rolle als
Familienvater und Ehemann aufrecht zu erhalten. Innerhalb einer konservativen Gesell-
Haidar, Freiheit für Raif Badawi, die Liebe meines Lebens, 2015.
Statista: Penetration of leading social networks in Saudi Arabia as of 4th quarter 2014,
http://www.statista.com/statistics/284451/saudi-arabia-social-network-penetration/.
42
The Social Clinic, Saudi Arabia ranks first on Twiter – worldwide, 2013.
43
The Economist, A virtual revolution, 2014.
44
Aarts, Roelants, Saudi Arabia. A Kingdom in Peril, 2015, S. 71ff.
45
Al-Rasheed, A Most Masculine State: Gender, Politics, and Religion in Saudi Arabia, 2013.
40
41
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Saudi-Arabien
schaft, in der die patriarchalischen Familienstrukturen und religiöse Normen auch das soziale Prestige des Einzelnen bestimmen,
fühlen sich junge Männer oftmals in ihrer
Männlichkeit bedroht, zunehmend vom wachsenden gesellschaftlichen Einfluss der Frauen
marginalisiert und von deren Erfolg überfordert. Bessere Bildungsoptionen für Frauen,
ihre zunehmende Inklusion in den Arbeitsmarkt und ihr Wille, um soziale Partizipation
zu kämpfen, fordern das traditionelle Geschlechterbild in Saudi-Arabien heraus. Dies
hat Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung saudischer Männer, während sie registrieren, dass sie für ihre berufliche und
familiäre Zukunft mehr investieren müssen als
ihre Eltern. Viele sind nicht mehr in der Lage,
eine Familie alleine zu ernähren, das Brautgeld aufzubringen oder ein Eigenheim zu finanzieren.
Darüber hinaus lehnen viele saudische Männer das traditionelle Leben nicht ab, haben
aber durch ihr Studium oder Aufenthalte im
europäischen oder US-amerikanischen Ausland pluralistische und offene Gesellschaften
kennengelernt, nutzen intensiv soziale Medien und pendeln somit regelmäßig zwischen
zwei Welten. Zwar scheint es übertrieben zu
sein, von einer Identitätskrise der saudischen
Männer zu sprechen, doch müssen sie sich
neuen Realitäten stellen, die traditionelle Geschlechterbilder und moralische Normen in
Zeiten der Globalisierung herausfordern. Sexuelle Frustration und der Mangel an Freizeitmöglichkeiten führen nicht selten zu
exzessivem Drogenkonsum, einer gestiegenen Suizidrate oder illegalen Autorennen in
den Außenbezirken der Großstädte, die häufig tödlich enden.46
III.4 Saudische Radikalisierung:
„Jugend“ als Triebkraft des Jihadismus
Eine weitere Kanalisierung gesellschaftlicher
Frustration scheint auch in einer zunehmenden Radikalisierung saudischer Männer zu
liegen. Wissenschaftlich ist dieses Phänomen
bislang noch nicht ausreichend erforscht,
aber es ist zu vermuten, dass die beschriebenen gesellschaftlichen und sozioökonomischen
Herausforderungen
in
den
vergangenen Jahren die Attraktivität von jihadistischen Gruppierungen erhöht haben. Mitt-
lerweile haben sich etwa 2.500 saudische
Kämpfer dem „Islamischen Staat“ (IS) angeschlossen – die zweitgrößte Gruppe nach den
Tunesiern.47 Zum einen sehen sie im IS eine
Möglichkeit, regelmäßig Sold zu verdienen,
eine Aufgabe zu erhalten und in der Gemeinschaft Schutz zu suchen. Zum anderen spielen aber sehr wohl religiöse Aspekte eine
Rolle: Saudi-Arabiens Gesellschaft wird geprägt durch die ultraorthodoxe sunnitische Islamauslegung des Wahhabismus, die Mitte
des 18. Jahrhunderts durch den lokalen Prediger Muhammad Ibn Abd al-Wahhab
entwickelt wurde und die sich an der frühislamischen Urgemeinde, den „frommen Altvorderen“ (as-salaf al-ṣālih) orientiert und in
vielen Aspekten der jihadistisch-salafistischen
Ideologie des IS und anderen militanten Gruppen ähnelt.48 Ohne Frage beruft sich der Jihadismus moderner Prägung in bestimmten
Aspekten auf den Wahhabismus, sodass
viele junge saudische Männer bei der Hinwendung zum IS glauben, sich wieder am reinen, wahren Islam zu orientieren, der in
Saudi-Arabien aufgrund der Dekadenz und
der verwestlichten Korruption des Königshauses pervertiert werde. Sie sehen somit in
den Al Saud eine Marionette der USA und
nicht mehr als ein zu stürzendes Regime weltlicher Herrscher, die sich zwar als „Hüter der
beiden Heiligen Stätten“ Mekka und Medina
definieren, aber längst ihre religiöse Vorreiterrolle verloren haben. Demzufolge bildet die
Kombination aus sozioökonomischer Unzufriedenheit, sozialer Verlorenheit und dem
Wunsch nach religiöser Erfüllung eine explosive Melange, die viele saudische Männer in
die Radikalisierung treibt.
Dies unterminiert nicht nur die religiöse Führungskraft, auf die die Legitimität des
Königshauses fußt, sondern auch die sicherheitspolitische Lage innerhalb des Königreiches. In der ersten Jahreshälfte 2015 kam es
zu zwei schweren Anschlägen im Osten des
Landes auf schiitische Moscheen, zu denen
sich der IS bekannte.49 Allein zwischen Juli
und September 2015 haben die saudischen
Sicherheitskräfte mehr als 900 Jihadisten
festgenommen, in den letzten Jahren wurden
mehr als 4.700 mutmaßliche Terroristen inhaftiert.50 An der Grenze zum Irak kam es vereinzelt zu IS-Attacken und in den Medien wird
über saudische IS-Zellen diskutiert. Dazu fühlt
Menoret, Joyriding in Riyadh. Oil, Urbanism, and Road Revolt, 2014.
Neumann, Foreign fighter total in Syria/Iraq now exceeds 20,000; surpasses Afghanistan conflict in the
1980s, 2015.
48
Siehe u.a. Steinberg, Kalifat des Schreckens. IS und die Bedrohung durch den islamistischen Terror, 2015.
49
Siehe u.a. Matthiesen, Sectarianism after the Saudi mosque bombings, 2015.
50
Siehe Alawi, 4,777 held on terror charges in 6 years, 2015.
46
47
Deutsches Orient-Institut
59
Saudi-Arabien
sich die saudische Geistlichkeit zunehmend
unter Druck, erfolgreiche Gegenpropaganda
zu betreiben, weil viele wahhabitische Prediger mit den religiösen Ideen des IS sympathisieren und IS-Ideologie und saudischer
Wahhabismus in vielen Bereichen die gleiche
Seite derselben Medaille darstellen. Dies hat
ein Argumentationsvakuum geschaffen, welches dem IS hilft, weitere saudische Kämpfer
zu rekrutieren. Weiterhin wird dadurch zunehmend die Fähigkeit der saudischen Klerus
minimiert, die Deutungshoheit über den sunnitischen Islam zu bewahren. Der Staat reagiert mit Repression und mit der
Kriminalisierung jeglicher Opposition, ohne jedoch die Wurzeln für Radikalisierungstendenzen
zu
bekämpfen
oder
effiziente
Gegenmaßnahmen im politischen oder sozialen Bereich zu ergreifen.
III.5 Die „anderen Saudis“: Aktivismus unter
saudischen Schiiten
In der Ostprovinz des Königreiches leben
etwa 3-5 Mio. Schiiten, die einen Anteil an der
Gesamtbevölkerung von 10-15% ausmachen.
Sie sind zwar Bestandteil der saudischen Gesellschaft, wenngleich sich die saudische Nation explizit über die anti-schiitische Ideologie
des Wahhabismus definiert. Der Wahhabismus denunziert die Schiiten als „Abtrünnige“ oder „Verweigerer“ (rāfiḍūn), die
diskriminiert werden dürfen und die aufgrund
ihrer Heiligenverehrung und ihrer angeblichen
Nähe zum schiitischen Iran nicht als Muslime
gelten. Demzufolge müssen die saudischen
Schiiten als „andere Saudis“51 und sozialpolitischer Außenseiter bezeichnet werden, da
sie nicht zu den kooptierten Eliten des Königshauses gehören (können). Allerdings
leben sie in der Region, in der die wichtigsten
Ölquellen liegen. So geht es auch deswegen
dem saudischen Königshaus darum, die politische Einheit aufrecht zu erhalten, um Stabilität durch den kontrollierten Zugriff auf die
Ölquellen zu bewahren. Aufgrund der antischiitischen wahhabitischen Islamauslegung
leiden die saudischen Schiiten jedoch traditionell unter politischer, ökonomischer und sozialer Marginalisierung. Sie werden als
Untertanen zweiter Klasse bewertet, die keine
Möglichkeit haben, in der Verwaltung oder Politik (führende) Positionen einzunehmen,
sowie nicht in dem Maße von den Alimentierungsmaßnahmen oder von der Modernisierungspolitik des Staates wie sunnitische
Saudis profitierten. Ihre Löhne liegen im
60
51
Schnitt unter denen der Sunniten und das Bildungs- und Gesundheitssystem sowie die Infrastruktur befand sich in der Ostprovinz
al-Ahsa jahrzehntelang auf einem niedrigeren
Niveau als in den anderen Provinzen.
So wurden auch bereits vor 2011 schiitische
Proteste und Demonstrationen gewaltsam
niedergeschlagen, ohne politische Forderungen zu erfüllen bzw. zu akzeptieren. Führende
schiitische Oppositionelle wie Hassan as-Saffar wurden in den letzten Jahren vom Staat
kooptiert, aber eine grundlegende Integration
der Schiiten ins saudische Staatssystem und
das nationalistische Narrativ erfolgte nicht.
Auch die mehrfache Einreichung von Petitionen, die die Entlassung von politischen Gefangenen,
eine
Verbesserung
der
Menschenrechtslage oder die Einführung
einer konstitutionellen Monarchie forderten,
blieb weitgehend erfolglos. Nur zurückhaltend
wurden in den letzten zehn Jahren politische
Maßnahmen zur besseren Integration der
Schiiten implementiert: 2003 erlaubte der damalige Kronprinz und spätere König Abdullah
die Teilnahme von Schiiten am Nationalen Dialog. Damit sollte allerdings keine Änderung
der bestehenden Zustände herbeigeführt werden. Stattdessen gilt der Nationale Dialog als
vom Staat kontrolliertes Kommunikationsforum, das vom Staat moderiert wird und gesellschaftliche Minderheiten kooptieren soll.
König Abdullah wollte damit zeigen, dass er
sich zwar die Forderungen seiner Untertanen
anhöre, ohne jedoch daraus zwingend politische Entscheidungen abzuleiten. 2005 wurden weiterhin zum ersten Mal seit
Jahrzehnten wieder Gemeinderatswahlen
durchgeführt, was von den Schiiten als weiterer Schritt zu mehr politischer Partizipation gesehen wurde. An der allgemeinen Situation
der Schiiten änderte sich dadurch jedoch nur
wenig.
Inspiriert durch die Demonstrationen in Ägypten und Tunesien, formierten sich nach 2011
regelmäßige schiitische Proteste in der Ostprovinz. Die Demonstranten forderten wirtschaftliche Verbesserungen, die Entlassung
von inhaftierten schiitischen Aktivisten sowie
soziale und politische Inklusion: Sie fühlen
sich vom saudischen Sozialvertrag ausgeschlossen. Kurz nach dem saudischen Einmarsch in Bahrain im März 2011 kam es zu
Massenprotesten, nachdem bereits die Inhaftierung des schiitischen Gelehrten Tawfiq alAmir im Februar für Unruhen gesorgt hatte.
Siehe Matthiesen, The Other Saudis. Shiism, Dissent and Sectarianism, 2014.
Deutsches Orient-Institut
Saudi-Arabien
Im Oktober folgten erste gewalttätige Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften
und Demonstranten. Als 2012 der einflussreiche schiitische Kleriker Nimr al-Nimr angeschossen und verhaftet wurde, nahm das
Gewaltpotenzial auf beiden Seiten nochmals
zu. 2014 wurde er zum Tode verurteilt.
Dabei spielte die konfessionelle Dimension zu
Beginn jedoch nicht die entscheidende Rolle
bei den jungen schiitischen Aktivisten: Stattdessen betonten die Demonstranten stets die
Zugehörigkeit zur saudischen Nation und kooperierten konfessionsübergreifend in der anfänglichen Phase der Proteste. Schiiten
vernetzten sich mit Sunniten über soziale
Netzwerke, erarbeiteten gemeinsame Petitionen, organisierten über Blogs, Facebook und
Twitter Demonstrationen und gründeten Komitees.52 Allerdings wurden die Proteste von
der Regierung zunehmend konfessionalisiert.
So wurden die saudischen Schiiten von der
politischen Elite als fünfte Kolonne Irans und
als Agenten einer iranischen Bedrohung denunziert. Diese Diffamierungspolitik beruht
auf der bereits erwähnten „Iranoia“, die die
politische Diskussionskultur innerhalb der
saudischen Eliten bestimmt. Der saudische
Staat ist getrieben von dem großen Schatten
Iran, der die politische Stabilität Saudi-Arabiens zerstören und mithilfe von Klienten wie
den saudischen Schiiten die iranische Revolution exportieren will. Dadurch wurde ein Keil
zwischen sunnitische und schiitische Demonstranten mit ähnlichen Forderungen getrieben.
Weiterhin entstand zwischen jungen und älteren schiitischen Oppositionellen ein Generationenkonflikt:
Während
die
jungen
Demonstranten aufgrund der staatlichen Repression gewaltbereiter agierten, forderten die
älteren Führer der Bewegung weiterhin Ausgleich und Dialog. Dies entzweite die
schiitische Bewegung. Ziel des Regierungsvorgehens war es, genau diesen Bruch herbeizuführen, die politischen Forderungen zu
delegitimieren und die Demonstranten als gewaltbereite Kriminelle zu denunzieren, um
damit Rückhalt bei der sunnitischen Bevölkerung zu erreichen. Hierbei wurde vor allem
darauf abgezielt, anti-schiitische salafistischwahhabitische Gruppierungen zu befrieden,
die man benötigt, um die jihadistische Gefahr
des IS ideologisch zu bekämpfen. Als Gegen-
leistung wurde die anti-schiitische Polemik
ausgeweitet.53 Das Königshaus verfolgt also
eine janusgesichtige Taktik: Einerseits sollen
die Salafisten kooptiert werden, andererseits
geriert sich das Königshaus als Schutzpatron
der Schiiten gegen jihadistische Radikale.54
Vor allem der Vorwurf, die saudischen Schiiten würden durch Iran kontrolliert, kann sich
jedoch als selbsterfüllende Prophezeiung erweisen. Zwar lehnen die saudischen Schiiten
enge Kontakte zu Iran aus vielerlei ethnischen
wie religiösen Gründen ab, doch je stärker
ihnen eine Allianz mit dem saudischen Erzrivalen nachgesagt wird, desto eher könnten sie
diese Alternative als letzten Ausweg in Betracht ziehen.
Allerdings haben die Anschläge auf schiitische Moscheen auch eine gewisse interkonfessionelle Unterstützung gezeigt. So wurden
in sozialen Medien vermehrt Stimmen laut,
die sunnitisch-schiitischen Konflikte zu überwinden, um als „geeinte saudische Nation“
gegen den Terrorismus vorzugehen. Dennoch: Die saudischen Schiiten bleiben nach
wie vor ein Außenseiter der saudischen Gesellschaft und es bleibt abzuwarten, ob sich
der Radikalisierungsgrad der jungen schiitischen Aktivisten nicht noch verschärft, was zu
einer weiteren Fragmentierung der saudischen Gesellschaft beitragen würde.
IV. Ausblick
Saudi-Arabiens junge Bevölkerung prägt
den gesellschaftlichen Wandel mit und fordert das Königshaus und die traditionellen
Eliten zunehmend heraus. Forderungen
nach politischer Partizipation, wirtschaftlichen Perspektiven und sozialer Inklusion
dominieren den öffentlichen Diskurs der
saudischen Jugend ebenso wie Fragen
nach der individuellen und religiösen Identität oder dem Geschlechterverhältnis. Die
Wünsche und Ambitionen der Jugend dürfen nicht mehr von den alten Eliten ignoriert
werden, will Saudi-Arabiens politisches
System weiterhin stabil bleiben. Doch die
Integration der jungen Bevölkerung gestaltet sich schwierig: Alimentierungsinstrumente
schwinden
ebenso
wie
Verteilungsressourcen, während gleichzeitig die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt
steigen, wodurch sich das soziale Frustrationspotenzial erhöht. Dementsprechend
Siehe Wehrey, Sectarian Politics in the Gulf: From the Iraq War to the Arab Uprisings, 2014.
Diese Strategie wurde bereits zwischen 2003 und 2008 angewendet, als al-Qaida zu einer Bedrohung für
die saudische Stabilität geworden war.
54
Siehe auch Steinberg, Sunniten gegen Schiiten. Der konfessionelle Gegensatz wird durch Machtpolitik
geschürt, 2013.
52
53
Deutsches Orient-Institut
61
Saudi-Arabien
fühlen sich viele Vertreter der jungen Generation nicht mehr ausreichend geschützt, da
politische und soziale Netzwerke wie Familien- oder Stammesrückhalt zunehmend
aufbrechen. Politische Radikalisierung und
steigende Perspektivlosigkeit sind ebenso
Charakteristika dieses Phänomens wie politische Mobilisierung oder sozialer Aktivismus. Insbesondere saudische Frauen
zeigen sich zunehmend als „Agenten des
Wandels“.
Das saudische Königshaus wird in Zukunft noch
mehr als bisher gezwungen sein, diese Ent-
wicklungen aktiv zu begleiten, um die Ambitionen der Jugend nicht nur zu realisieren, sondern
auch zu erfüllen. Mehr Arbeitsplätze und mehr
politische Freiheiten müssen gewährt werden,
um die eigene Legitimation zu bewahren und
der jungen saudischen Generation eine Perspektive und eine neu definierte Identität zu
geben. Gelingt dem saudischen Establishment
dies nicht, droht nicht nur das Aufbrechen des
traditionellen Gesellschaftsvertrages, sondern
eine breite Unzufriedenheit mit dem Regierungsstil des Königshauses.
Sebastian Sons
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Türkei
Türkei
W
I. Einleitung
ie auch die anderen Länder der
Mittelmeerregion bzw. des Nahen
und Mittleren Osten so gilt auch die
Türkei als relativ „junges“ Land, in dem Kinder und Jugendliche die Altersstruktur der Gesellschaft maßgeblich prägen: Fast jeder
zweite Einwohner ist unter 30 Jahre alt und
jeder sechste gehört der Jugend, der Gruppe
der 15- bis 24-Jährigen, an. Diese Größenordnung spiegelt sich allerdings nur undeutlich in der sozialen Teilhabe und politischen
Teilnahme der Jugendlichen wider. Obwohl
„der Jugend“ im öffentlichen Diskurs vor allem
des kemalistischen Nationalismus eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird, spielen spezifische jugendpolitische Themen in
der Tagespolitik kaum eine Rolle. Dementsprechend tritt auch das 2011 neu aufgestellte
Ministerium für Jugend und Sport mit seiner
ambitionierten Agenda kaum wirksam in Erscheinung. Dagegen prägten einschneidende
Entwicklungen und Ereignisse der Vergangenheit – vor allem der Militärputsch von
1980, das Erdbeben von Gölcük 1999 und die
Gezi-Proteste von 2013 – das vorherrschende Bild einer türkischen1 Jugend, die
entweder entpolitisiert und pragmatisch-konformistisch lebt oder sich zivilgesellschaftlich
und/ oder (partei-) politisch engagiert. Angesichts der tiefen Spaltlinien in Politik und Gesellschaft der heutigen Türkei ist an eine freie
und autonome Entwicklung der Jugend kaum
zu denken, obwohl sie wie keine andere Generation von Bildung, Medien und der Globalisierung profitieren könnte.
II. Ausgangslage
Nach Angaben des Türkischen Amts für Statistik (TÜİK) lag 2014 die Zahl der 0- bis 141
2
3
4
5
6
66
Jährigen in der Türkei bei ca. 18,9 Mio. und
die der 15- bis 24-Jährigen bei 12,8 Mio. Menschen. Gemessen an der Gesamtbevölkerung von ca. 78,0 Mio. Menschen entsprach
dies einem Anteil von 24,1 bzw. 16,3 Prozent.
Gemeinsam kommt die Gruppe der 0- bis 24Jährigen in der Türkei damit auf 40,5 Prozent
und inklusive der bis zu 29-Jährigen auf 48,8
Prozent. Somit machen diese Altersgruppen
annähernd die Hälfte der Bevölkerung aus.2
Im Verlauf vergangener Jahrzehnte verringert
sich allerdings speziell der Anteil der 15- bis
24-Jährigen stetig von 20,0 Prozent im Jahr
1990 auf 17,0 Prozent im Jahr 2010.3 Bisherigen Berechnungen des Statistikamts zufolge
wird der Anteil der Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung 2023 auf 15,1 und bis 2050
auf 11,7 Prozent zurückgehen, d. h. sich eine
relative Alterung der Gesellschaft fortsetzen.4
Die demographische Transformation der Türkei wird vielfach mit dem rapiden ökonomischen Wandel des Landes in Verbindung
gebracht, woraus sich veränderte Wert- und
Familienvorstellungen insbesondere der jungen, städtischen Bevölkerung ergeben. Von
2003 bis 2012 wuchs das BIP um durchschnittlich 5,1 Prozent p. a., seither steigt es
jährlich um durchschnittlich 3,0 Prozent. Mit
der boomenden Wirtschaft gingen Millionen
neu geschaffene Arbeitsplätze bzw. eine
lange konstant unter 10 Prozent liegende offizielle Arbeitslosenrate einher. Steigende Einkommen veränderten das Konsumverhalten
sowie auch die Lebensvorstellungen und Familienplanungen junger Menschen.5 Allerdings gilt vieles davon nur für die westlichen
und z. T. die südlichen Landesteile sowie für
die städtischen Zentren und Metropolen.
Deutlich von traditionellen Familienstrukturen
und Wertvorstellungen geprägt bleiben die
ost- und südostanatolischen Provinzen, die
bis heute zwar einen Kinderreichtum verzeichnen,6 aber den Kindern und Jugend-
Gemäß gängiger Praxis fokussiert diese Analyse die Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen. Im Folgenden
werden „Jugend der Türkei“ oder „türkische Jugend“ aus stilistischen Gründen synonym verwendet, wobei
letzteres ethnische Unterschiede der Bevölkerung bzw. dieser Kohorte impliziert.
Vgl. TÜİK, İstatistiklerle çocuk / Statistics on child, 2014, 9 [eigene Berechnungen]; TÜİK, İstatistiklerle
gençlik / Youth in statistics, 2014, 9f. Seit 2011 definieren die Regierung und TÜIK die Altersgruppe der 15bis 24-Jährigen als „Jugend“ im Einklang mit internationaler Praxis. Allerdings sei erwähnt, dass es in der
Türkei bislang weiterhin keine einheitliche, gesetzlich festgelegte Kohortenabgrenzung gibt. So gilt die Volljährigkeit ab 18, wohingegen bspw. das Strafgesetzbuch Jugendstrafen bei der Altersgrenze von 15
Jahren unterscheidet. Vgl. Baird, Ending the penalization of youth in Turkey?, 2015.
Vgl. TÜİK, İstatistiklerle çocuk / Statistics on child, 2014, 9 [eigene Berechnungen]; TÜİK, İstatistiklerle
gençlik / Youth in statistics, 2014, 9.
Vgl. TÜİK, İstatistiklerle gençlik / Youth in statistics, 2014, 9. Der potentielle Einfluss der anhaltenden
Einwanderungen und ggf. sozialen Eingliederung syrischer Flüchtlinge auf die demographische
Entwicklung wurde bislang noch nicht ausreichend untersucht.
So sank die Fertilitätsrate in der Türkei von 2,38 Prozent im Jahr 2001 auf 2,04 Prozent 2011, stieg
seither jedoch wieder auf 2,17 Prozent an. Vgl. TÜİK, Temel doğurganlık ve ölümlülük göstergeleri / Basic
fertility and mortality indicators, 2014.
Bspw. liegt der Anteil der unter 18-Jährigen an der Gesamtbevölkerung in einigen südöstlichen Provinzen
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Türkei
lichen nur eine beschränkte sozio-ökonomische Perspektive bieten können. Entsprechend ausgeprägt bleiben die Bewegungen
der Landflucht und der Urbanisierung mit all
ihren problematischen sozialen, ökonomischen und politischen Folgen.
II.1 Ein bislang ungenutztes demographisches Gelegenheitsfenster
Der Rückgang des Wirtschaftswachstums seit
2013 erschwert die ökonomische Lebenssituation vieler Jugendlicher in der Türkei, doch
schon während der Zeit des Wirtschaftsbooms ließen sich kritische Aspekte verzeichnen.
So
konstatierte
2008
das
Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) erstmals gesondert für den Fall
der türkischen Jugend:
„The high rates of youth unemployment […] and the low rates of youth
participation in the labour force […]
speak to the limited opportunities for
youth in Turkey. Long years of education do not guarantee a high quality
job in urban Turkey at this stage of
Turkey’s demographic and labour
market transition. These transitional
pressures will only ease after the next
couple of decades.”7
Allerdings hatte der UNDP-Bericht von 2008
mit Blick auf die demographische Entwicklung
auch darauf hingewiesen, dass sich für die
Türkei für 15 Jahre ein „demographisches Gelegenheitsfenster“ öffne, welches das Land für
die wirtschaftliche Modernisierung und soziopolitische Anpassung an sich abzeichnende
Strukturen nutzen sollte. Insbesondere betrifft
dies die Verbindung aus der mittel- bis langfristig sinkenden Zahl junger Menschen und
der Zunahme an Menschen im erwerbsfähigen Alter. Nicht nur aus politischen Gründen
sollten langfristige sozioökonomische Ziele
(wie etwa die „Vision 2023“8) verfolgt werden,
wodurch das Land Fortschritte mit Blick auf
Investitionen und Einkommenszugewinne,
aber auch bei der Reifung einer liberalen Wissensgesellschaft machen könnte. Der Bericht
folgerte daher, die Türkei müsse damit beginnen “to invest much more intensively in its
young people to equip them with advanced
skills, including to a significant degree those
required by the knowledge economy in preparation for the challenges of 15 years ahead.“9
Doch infolge sowohl innertürkischer politischer als auch regionaler und weltwirtschaftlicher Entwicklungen der vergangenen Jahre
erscheint dieses Gelegenheitsfenster zumindest bislang kaum genutzt worden bzw. nutzbar gewesen zu sein.
Tatsächlich hat sich seither an den Hauptproblemfeldern Bildung und Jugendarbeitslosigkeit bzw. Einstieg in den Arbeitsmarkt kaum
etwas verändern. 2013 lag die Gesamtrate
der Jugendarbeitslosigkeit bei 18,7 Prozent,
mit deutlichen Unterschieden zwischen Männern und Frauen (17,0 bzw. 21,9 Prozent).10
Auch der Perspektivmangel für eine Vielzahl
(wenn auch nicht die Mehrheit) der Jugendlichen mit höheren Qualifikationen konnte bislang nicht wirksam bekämpft werden: So
waren 2014 28,3 Prozent der Jugendlichen
mit Hochschulabschluss und 19,8 Prozent mit
Abschluss höherer Bildungseinrichtungen arbeitslos. Insbesondere stehen Frauen vor diesem Problem: Jede dritte mit Hochschul- bzw.
jede vierte Frau mit höherem Schulabschluss
war von Arbeitslosigkeit betroffen (33,1 bzw.
24,9 Prozent).11 Zudem lebten 2013 mehr als
ein Viertel (27,1 Prozent) der Jugendlichen in
Haushalten unterhalb der nationalen Armuts-
bei 44 bis fast 52 Prozent, während er in Thrakien allenfalls 12 bis 20 Prozent erreicht. TÜİK, İstatistiklerle
çocuk / Statistics on child, 2014, 13.
7
UNDP, Human development report. Turkey 2008. Youth in Turkey, 2008, 14.
8
Der Plan der AKP-Regierung bzw. des türkischen Staatspräsidenten aus dem Jahr 2008 sieht ein
politisches und gesamtgesellschaftliches Engagement mit dem Ziel, die Türkei bis zum Jahr 2023 – dem
100. Gründungsjahr der Republik – zu einem der leistungsstärksten Ländern der Welt (inklusive
Mitgliedschaft in der Europäische Union) zu machen, vor. Dazu gehören insbesondere Investitionen
in Bildung, Innovation und Arbeitsplätze, soziale Sicherheit und Gesundheit. Vgl. http://tsv2023.org oder
auch das Parteiprogramm „Political vision of AK Parti for 2023. Politics, society and the world“ von 2012;
darin auch ein eigener Abschnitt zu jugendpolitischen Ambitionen der AKP, S. 35-37.
9
UNDP, Human development report. Turkey 2008. Youth in Turkey, 2008. 87. Die Betonung von „skills“ für
Bildung, Arbeit und Lebensführung sowie weitere moderne Aspekte wurde in mehreren Reviews der
„Vision 2023“ aufgenommen, an deren Erarbeitung Ministerien und Nichtregierungsorganisationen sowie
die Europäische Union beteiligt waren. Vgl. bspw. T. C. Ministry of Development, Turkey’s Sustainable
Development Report. Claiming the Future 2012, 2012; European Training Foundation, Skills Vision 2020.
Turkey, 2014.
10
Vgl. TÜİK, İstatistiklerle gençlik / Youth in statistics 2014, 2014, 30. Die Werte lagen noch deutlich höher,
wenn der Landwirtschaftssektor herausgerechnet wurde: Demnach waren 2013 19,0 Prozent der Männer
und 28,4 Prozent der Frauen erwerbslos. Vgl. ebd., 31.
11
Ebd., 35.
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67
Türkei
grenze, insbesondere dann, wenn es ihnen
an Schulbildung mangelte.12 Dies bedeutet
mit anderen Worten, dass es bislang kaum
Auswege für un- oder unterqualifizierte Jugendliche aus der Armutsfalle gibt, vor allem
dann nicht, wenn sie in wirtschaftlich peripheren Gebieten – etwa im anatolischen Hinterland oder auch am Rand oder in
Problemvierteln von Großstädten leben.
II.2 Rechtlicher und politischer Rahmen:
Staatszentrismus und sozio-politische
Polarität
Während ein Gesetzeskörper, mit dem die politischen und gesellschaftlichen Belange von
Jugendlichen umfassend geregelt werden
soll, erst seit kurzer Zeit entwickelt wird, hat
„die Jugend“ durchaus eine hervorgehobene
Bedeutung im politischen System und der Öffentlichkeit der Türkei. So weist die Verfassung, die nach dem Putsch des Militärs 1980
im streng kemalistischen Geist erlassen
wurde, in ihrem kurzen „Teil Ix. Jugend und
Sport“ dem Staat eine besondere Schutzfunktion gegenüber der Jugend zu:
A. Schutz der Jugend
Artikel 58. Der Staat trifft die Maßnahmen zur Gewährleistung der Entwicklung und Erziehung der Jugend,
welcher unsere Unabhängigkeit und
unsere Republik anvertraut sind, im
Lichte der Naturwissenschaft, im
Sinne der Prinzipien und Reformen
Atatürks und gegen Anschauungen,
welche die Aufhebung der unteilbaren
Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk zum Ziel haben.
Der Staat trifft die notwendigen Maßnahmen, um die Jugendlichen vor Alkoholismus,
Betäubungsmitteln,
Kriminalität, Glücksspiel und ähnlichen schädlichen Gewohnheiten und
vor Unwissenheit zu schützen.
Zudem wird im Alltag, etwa an Schulen und
anderen Bildungseinrichtungen oder auch an
hohen staatlichen Feiertagen, wie dem Tag
der Jugend und des Sports am 19. Mai, „der
Jugend“ im Sinne des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk gedacht.13 Auf diesen geht
das Diktum zurück, dass es der türkischen
Jugend „erste Pflicht ist […], die türkische Unabhängigkeit und die Türkische Republik für
alle Zeiten zu schützen und zu verteidigen.
Dies ist die alleinige Grundlage deiner Existenz und deiner Zukunft. Diese Grundlage ist
dein teuerster Schatz.“14 Davon und von weiteren allgemeinen Gesetzen, wie etwa dem
2005 eingeführten internationalen Standards
entsprechenden Kinderschutzgesetz (Nr.
5395), abgesehen, gibt es in der Türkei keine
dezidierten Kinder- und Jugendhilfegesetze
wie etwa in der Bundesrepublik Deutschland.
Das in den obigen pathetischen Worten zum
Ausdruck gebrachte und im Verfassungsauftrag verankerte nationalistisch-paternalistische Staatsverständnis prägte die Türkei seit
ihrer Gründung.15 Die von den Kemalisten
„von oben“ und z. T. repressiv umgesetzten
Reformen von Staat und Gesellschaft verschärfte die bereits in Ansetzen bestehende
Polarität der Gesellschaft zwischen religiös
geprägten, mitunter ethnisch-nationalistischen Traditionalisten einer- und sich dem
Säkularismus und dem rein-türkischen Nationalismus verpflichteten, elitären kemalistischen Modernisten andererseits. Letztere
sprachen „der Jugend“ jene wichtige Rolle für
Zukunftsgestaltung der Nation zu, sahen sich
dabei jedoch selbst in der ideologisch-legitimierten Position, die staatliche Schutzaufgabe wahrzunehmen – auch und gerade
hinsichtlich „schädlicher“ Einflüsse, die meist
dem liberalen bzw. kapitalistischen Westen
zugesprochen wurden. Dazu wurden dieser
Logik nach auch Individualisierung, Liberalismus u. a. Normen und Werte gezählt, die
der Konstruktion einer homogenen Nationalgemeinschaft scheinbar zuwiderliefen.
Ebd., 55. Demnach galten 57,1 Prozent der Jugendlichen in armen Haushalten als ungebildet und 32,2
Prozent besaßen keinen weiterführenden Schulabschluss. Daraus ergibt sich auch das Problem der
Kinderarbeit: Nach amtlichen Statistiken und bei seit einigen Jahren rückläufigen Gesamtzahlen
arbeiteten im Jahr 2012 29,8 Prozent der 6-14-Jährigen und 46,9 Prozent der 15- bis 17-Jährigen, um zum
Familieneinkommen beizutragen. (Vgl. TÜİK, İstatistiklerle çocuk / Statistics on shild 2014, 2014, 101.)
13
Der von Atatürk der Jugend gewidmete Feiertag soll an den Beginn des Befreiungskrieges gegen die
Besatzungsmächte 1923 erinnern. Um den Feiertag herum finden in vielen Städten und Dörfern Feste und
Veranstaltungen im Rahmen einer „Jugendwoche“ statt.
14
Mustafa Kemal Atatürk: Rede an die türkische Jugend, 20.10.1927; zitiert nach Hecker, ‚A clash of
lifestyles?‘ – Jugendliche Lebensstile im politischen Diskurs der Türkei, 2015, 326.
15
Zum Folgenden mit Blick auf die türkische Jugend vgl. grundlegend Neyzi, Object or subject? The paradox
of “youth“ in Turkey, 2001; oder Lüküslü, Constructors and constructed: youth as a political actor in
modernising Turkey, 2005; sowie zur Genese der türkischen Zivilgesellschaft vgl. einführend Özler,
12
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Türkei
1945 unternahm die Türkei mit der Einführung
des Mehrparteiensystems eine erste demokratische Öffnung. Auch im Bildungsbereich
gab es einen Modernisierungsschub mit der
Übernahme westlicher Bildungsformen und inhalte an den Schulen und Universitäten.
Dazu gehörten allerdings auch radikale
staats- und kapitalismus-kritische Ansätze,
wie sie ebenso in linken Zirkeln westlicher Intellektueller debattiert wurden. Im Zuge des
Regierungswechsels zur Demokratischen
Partei (DP) unter Adnan Menderes im Jahr
1950 und des Machtaufstiegs der Traditionalisten, der abrupt durch einen Militärputsch
gegen die Regierung 1960 unterbrochen
wurde, sollte das Verhältnis der Gesellschaft
zum Staat neu austariert werden: 1968 erfasste die Studentenbewegung auch die Türkei,
woraufhin linke und rechte, kurdische und religiöse extremistische (Jugend-) Gruppierungen gewaltsam aufeinander losgingen. Trotz
einer Militärintervention 1970 und der Verabschiedung einer liberalen Verfassung versagten die parteipolitischen Eliten dabei, die
anhaltende gesellschaftliche Polarisierung zu
beenden, woraufhin das Militär 1980 erneut
putschte. Die Zeit danach war durch die Maßgabe des Militärs des Landes geprägt, „die
Jugend“ unter staatlicher Kontrolle zu halten.
Jugend- und Studentenorganisationen wurden verboten, insbesondere linke und kurdische Bewegungen wurden als „reaktionär“
gebrandmarkt und unterdrückt. Dagegen wurden einige kemalistisch-nationalistische Gruppierungen sowie erste religiös motivierte, v. a.
der „Nationalen Sicht“ (Millî Görüş)16 nahestehenden Bewegungen, die im Zuge der
Wirtschaftsliberalisierungen der 1980er Jahre
sozialpolitische Aufgaben auf kommunaler
Ebene wahrzunehmen begannen, als Instrumente des Staates gefördert.
Der Mehrheit der Jugendlichen wurde während der 1980er und 1990er Jahre als Alternative zur gewaltsamen Vergangenheit der
Weg in einen apolitischen Konsumismus – im
Zuge des Wirtschaftswachstums – und in
einen nationalistisch-islamischem Konfor-
mismus bzw. Konservatismus – die so genannte „Türkisch-Islamische Synthese“ – gewiesen. Viele Jugendliche beschritten diesen
Weg, doch blieb trotz aller Entpolitisierungsund Konformismusversuche der staatlichen
Bildungsinstitutionen und der politischen Eliten die Prägekraft der grundlegenden sozialen Polaritäten entlang religiös-säkularer,
ethnisch-nationalistischer sowie später auch
wirtschaftsliberal-kapitalismuskritischer Spaltlinien bestehen (s. III.).
In einem engeren Sinn stand die staatliche
Jugendpolitik demnach lange im Schatten
einer kontrollorientierten Sozial-, Bildungsund Familienpolitik oder wurde auf den nationalen Sport als Verwaltungsaufgabe reduziert. Auch wissenschaftlich blieb die
Erforschung der Jugend – per se und bis
heute ein gering berücksichtigtes Forschungsgebiet17 – lange auf v. a. psychologische Programme und Ansätze, die oft nach
„Fehlentwicklungen“ der „nationalen“ Jugend
und Kontrollmöglichkeiten des Staates suchten, beschränkt. Erst die sukzessive Öffnung
des türkischen Bildungs- und Arbeitsmarktes
in den 1990er Jahren (Zollunion mit der
Europäischen Union 1996, Beginn des Beitrittsprozesses zur EU 1999), größere zivilgesellschaftliche Bewegungen sowie der
fortschreitende Globalisierungs- und Digitalisierungsdruck wirkten sich modernisierend
auf Bildungsformen und -inhalte sowie Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen aus. Liberale
Demokratisierung,
bürgerliche
Partizipation und zivilgesellschaftliches Engagement wurden feste Bestandteile des –
weiterhin staatlich kontrollierten – Bildungskanons, stehen allerdings anhaltend im Spannungsverhältnis
mit
den
etablierten
staatszentriert-nationalistischen und religiösmoralistischen Verständnissen von Jugend
und Gesellschaft.
Obwohl 1983 ein Ministerium für Nationale
Bildung, Jugend und Sport gebildet worden
war,18 entwickelten sich lange Zeit keine Ansätze für eine moderne und einheitliche Ju-
Sarkissian, Stalemate and stagnation in Turkish democratization: The role of civil society and political
parties, 2011, 367-369.
16
Unter diesem ideologischen Sammelbegriff werden seit den 1970er Jahren Parteien, Vereine und
Verbände in der Türkei und weltweit zusammengefasst, die sich einer auf islamischen Moralvorstellungen
fußenden politischen Agenda verpflichtet fühlen, welche auf den islamistischen Politiker, mehrmaligen
Parteigründer und u. a. späteren Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan (1926-2011) zurückgeht. Die
Agenda vereinigt zudem pan-islamische und türkisch-nationalistische als auch antiwestliche,
antikapitalistische und antisemitische Aspekte. In einigen Ländern, wie etwa Deutschland, stehen der
Bewegung nahestehende Organisationen unter Beobachtung der Verfassungsschutzorgane.
17
Zur Jugendforschung in der Türkei vgl. Demir, The development and current state of youth research in
Turkey: An Overview, 2012.
18
Ein erstes Ministerium für Jugend und Sport wurde 1969 gegründet und eine Generaldirektion für
Leibeserziehung geht auf das Jahr 1938 zurück.
Deutsches Orient-Institut
69
Türkei
gendpolitik. Die Aufgaben mit jugendpolitischem Bezug verteilten sich über verschiedene Ressorts, insbesondere Arbeit,
Gesundheit, Familien und Soziales, bzw.
stellte das Generaldirektorium für Jugend und
Sport, angesiedelt beim Amt des Ministerpräsidenten, die zentrale operative Stelle dar.
Erst mit dem neunten Entwicklungsplan
(2007-2013) und der Umbenennung und Umstrukturierung des Ministeriums in das Ministerium für Jugend und Sport im Jahr 2011
kann dezidiert vom Beginn einer modernen
Jugendpolitik in der Türkei gesprochen werden. Grundlage dafür ist das „Dokument für
die nationale Jugend- und Sportpolitik“ aus
dem Jahr 2013, an dessen Umsetzung –
unter gegenwärtig schwierigen politischen
Umständen und anhaltend starker soziopolitischer Polarisierungen – seither gearbeitet
wird (s. III.2).
II.3 Sozio-ökonomische Bedingungen:
Zukunftssorgen trotz Bildungserfolgen
Neben den Themen Beschäftigung und Erwerbsmöglichkeiten besitzt für die Jugend
auch in der Türkei der Aspekt der Bildung eine
zentrale Bedeutung. Darauf fokussiert, ergibt
sich für die Türkei zunächst ein verhältnismäßig positives Bild – nicht zuletzt weil gerade
staatlicherseits in der vergangenen Dekade in
den Bildungssektor investiert und privatwirtschaftliche Initiativen sowie eine Öffnung
gegenüber der europäischen Bildungsstrukturen und -programmen (Bologna-Prozess,
Socrates- und Erasmus-Programme etc.) zugelassen wurde.
So bringt die Türkei mit einem landesweit bestehenden, in der vergangenen Dekade
enorm ausgebauten Netz an staatlichen und
privaten Kindergärten, Grund-, Sekundar- und
Hochschulen die Grundvoraussetzungen für
nachhaltigen Erfolg im Bildungsbereich mit.
Während die Analphabetismusrate zwischen
2000 und 2011 allgemein bei Männern über
15 Jahren von 6,1 auf 1,7 Prozent, bei Frauen
von 19,4 auf 8,1 Prozent fiel, lag sie im Jahr
2013 bei männlichen Jugendlichen bei 0,3
Prozent und bei weiblichen bei 1,7 Prozent.19
Im Schuljahr 2013-2014 besuchten laut offiziellen Angaben 99,6 Prozent der 6- bis 10Jährigen die Grundstufe, 94,5 Prozent der 10bis 14-Jährigen die Mittelstufe und 76,7 Prozent der 14- bis 18-Jährigen die höhere Sekundarstufe20 – wobei gerade hier eine
Steigerung von fast 15 Prozent gegenüber
2008-2009 verbucht werden konnte.21 Auch
belegen Vergleichsstudien der Ergebnisse
der PISA-Tests für die qualitative Ausbildung
von Schulkindern in der Türkei deutliche Verbesserungen – wenngleich sich das Land mit
Rang 44 von 65 (PISA 2012) weiterhin unterhalb der OECD-Durchschnittswerte positioniert.22 So dürfen weder die statistischen
Werte noch positive Einschätzungen zur AKPBildungspolitik auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass z. T. massive Unterschiede
zwischen westlich-urbanen und östlich-ruralen Regionen fortbestehen und sozio-ökonomische
sowie
geschlechterspezifische
Faktoren eine weiterführende Schulbildung
gerade für Mädchen bzw. für Kinder und Jugendliche aus ärmeren Familien erschweren.23 Zudem besteht ein Hauptproblem in
administrativer Hinsicht weiterhin im stark
zentralistischen Bildungssystem mit dem Ministerium für Nationale Bildung und dem
Hochschulrat (yükseköğretim Kurulu, yÖK)
als Schaltstellen sowie in der anhaltend großen Reserviertheit der Behörden und politischen Entscheidungsträger gegen die volle
Anerkennung einer pluralistischen Gesellschaft mit den daraus folgenden Konsequenzen, etwa für die Entideologisierung von
Curricula, Schulgebäuden etc.24
Vgl. TÜİK, İstatistik göstergeler / Statistical indicators. 1923-2011, 2012, 21 bzw. TÜİK, İstatistiklerle
gençlik / Youth in statistics 2014, 2014, 25.
20
Vgl. TÜİK, İstatistiklerle gençlik / Youth in statistics 2014, 2014, 26. Unterschiede zwischen Jungen und
Mädchen sind laut der Statistik kaum nennenswert.
21
Politisch ist hierfür die AKP-Regierung mit ihrer Bildungsreform aus dem Jahr 2012 („4+4+4“)
verantwortlich zu machen. Damals wurde u. a. die obligatorische Schulzeit von acht auf zwölf Jahre
verlängert sowie Flexibilisierungen beim Schulzugang (etwa längere Pausen zwischen den Übertritten)
und die Option religiöser Schulausbildung, aber auch Kurdisch und andere Minderheitensprache als
Wahlfächer eingeführt. Vgl. die relativ positive Bilanzierung der AKP-Bildungspolitik bei çelik, Gür, Turkey’s
education policy during the AK Party era (2002-2013), 2013, 151-176.
22
Als maßgebliche Faktoren für die Fortschritte werden die höheren Bildungsausgaben des Staates sowie
die personelle Verstärkung an Schulen und eine bessere Bezahlung für Lehrerinnen und Lehrer, aber auch
die Einführung innovativer Unterrichtsansätze genannt. Vgl. Durmaz, Rivera-Batiz, Why did PISA test
scores rise in Turkey?, 2014.
23
Dazu sowie zur politischen Debatte um die „4+4+4“-Schulreform der AKP-Regierung vgl. bspw. Schwarz,
Das Bildungssystem der Türkei. Schulische Bildungslandschaft, nationale, internationale und
zivilgesellschaftliche Einflussfaktoren, 2014.
24
Zu Recht verweisen çelik und Gür auf die wichtige Abschaffung des nationalistischen Schuleids durch die
19
70
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Türkei
Nichtsdestotrotz entwickelte sich auch der
Hochschulbereich verhältnismäßig positiv:
Von 2006 bis 2014 erhöhte sich die Zahl der
Universitäten um 100 auf 176.25 Die Zugangsrate für die Hochschulbildung lag mit
39,9 Prozent der Schulabgänger insgesamt
etwas höher als 2009 (27,0 Prozent), befindet
sich jedoch ebenso noch weit unter dem
OECD-Durchschnitt von 58,0 Prozent.26 Im
akademischen Jahr 2013-2014 besuchten
schätzungsweise 5,5 Mio. Studierende die
Hochschulen, wobei 39 Prozent ein Fernstudium absolvierten,27 was auf die hohe Belastung, Studium und Auskommen finanziell
vereinbaren zu müssen, hinweist. Zahlen zu
Studienabbrechern werden nicht gesondert
erhoben, stattdessen werden Absolventenzahlen genannt: Im Jahr 2012-2013 schlossen fast 650.000 Studierende ihr Studium ab,
davon 450.000 ein reguläres Hochschulstudium.28 Allerdings trifft die insbesondere
wegen des abflauenden Wirtschaftsbooms
zunehmende Arbeitslosigkeit auch die Abgänger von höheren Sekundar- und Hochschulen (siehe II.1).
Dabei gehören dies bzgl. zu den seit langem
bestehenden Hauptproblemen der Türkei die
eingeschränkten Möglichkeiten des Bildungstransfers in den Arbeitsmarkt bzw. die vorherrschenden Strukturen des Arbeitsmarktes
per se (v. a. ein großer informeller Sektor,
mangelnde administrative Flexibilität und Anreize für unternehmerische Eigeninitiative,
nachteilige Bedingungen für Frauen etc.).29
Wegen der nunmehr schon seit Dekaden an-
haltenden neoliberalen Wirtschaftsagenda
verzeichnen Studien daher zum einen eine
Orientierung der Jugendlichen am konformistischen sozialen Erfolgsideal, wirtschaftlich
„funktionieren“ zu müssen, um finanziell und
materiell „gut dazustehen“; zum anderen aber
auch zunehmende Frustration und Kritik an
diesem Ideal.30 Entsprechend geben amtliche
Statistiken eine nicht gering verbreitete Unzufriedenheit und Hoffnungslosigkeit der Jugend mit Blick auf die eigene gesellschaftliche
Positionierung wieder:31 So beschrieb 2013
fast jeder vierte der 18- bis 30-Jährigen sein
Dasein als hoffnungslos und erwartete eine
Verschlechterung seiner Lebensverhältnisse,
v. a. in wirtschaftlicher Hinsicht. Jeder Zehnte
kritisierte seine Arbeitsbedingungen und seine
Familienstruktur und erlebte soziale Diskriminierung aus verschiedenen Gründen. Mit
Blick auf die weiteren Lebensverhältnisse bemängelte jeder Dritte das unzureichende Familieneinkommen, jeder Vierte seinen
persönlichen Bildungsstand und jeder Fünfte
die geringen Möglichkeiten, sich weiterzubilden. Seit 2011 ging der Anteil der Jugendlichen zwischen 18 und 29 Jahren, die sich
als glücklich empfanden, von 66,5 auf 60,5
zurück, wohingegen der Anteil der Indifferenten und Unglücklichen von 25,8 auf 30,8 bzw.
von 7,7 auf 8,7 Prozent stieg.
Diese Werte lassen den Schluss zu, dass sich
die türkische Jugend vermehrt Zukunftssorgen macht. In gesondertem Maß profitierte
die gegenwärtige Jugend in der Türkei zwar
wie kaum eine zuvor von den tiefgreifenden
Regierung 2013. Vgl. çelik, Gür, Turkey’s education policy during the AK Party era (2002-2013), 2013,
170f.
25
Davon sind 104 staatlich organisiert und 72 private Stiftungsuniversitäten. Hinzu kommen acht
berufsbildende Fachhochschulen sowie sechs Akademien. Vgl. yÖK, Higher education system in Turkey,
2014, 10.
26
Das zentrale Prüfungsverfahren (yükseköğretime Geçis Sınavı-Lisans yerleştirme Sınavı, yGS-LyS), an
dem jährlich etwa zwei Millionen übertrittsberechtigte Schülerinnen und Schüler teilnehmen und welches
die landesweite Verteilung der Studierenden an die Universitäten steuert, steht seit Jahren wegen
Unfairness und anderer negativer Aspekte in der Kritik. Vgl. bspw. Kalaycı, A look at the Turkish higher
education system from the institutional economics point of view, 2012. Vgl. auch die z. T. nicht
umgesetzten Reformvorhaben in der AKP-Zeit bei çelik, Gür, Turkey’s education policy during the AK Party
era (2002-2013), 2013, 160-163 und 166f. Zum Problem der z. T. teuren Nachhilfeschulen (dershane),
in denen Jugendliche für die Qualifikationsprüfung trainiert werden, vgl. aus pädagogischer Sicht
Berberoğlu, Tansel, Does private tutoring increase students’ academic performance? Evidence from Turkey,
2014.
27
Vgl. yÖK, Higher education system in Turkey, 2014, 16.
28
Den Rest machen v. a. Absolventen der Fachhochschulen aus. Vgl. TÜİK, İstatistiklerle gençlik / Youth in
statistics 2014, 2014, 29.
29
Vgl. dazu in Einzelnen UNDP, Human development report. Turkey 2008. Youth in Turkey, 2008, 63-73.
30
Vgl. Buz et al., Youth and political participation: case in Turkey, 2013, 253f. In der nicht-repräsentativen
Studie erklärten 84,3 Prozent von 127 befragten Studierenden der staatlichen Hacettepe Universität Ankara
ihre Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Wirtschaftssystem. Vgl. ebd., 256f.
31
Vgl. im Folgenden verschiedene Ergebnisse aus TÜİK, İstatistiklerle Gençlik / Youth in Statistics 2014,
2014, 99-147. Im Einklang dazu stehen die Ergebnisse nicht-repräsentativer Studien wie bspw. Buz et al.,
Youth and political participation: case in Turkey, 2013, 258f. oder Şener, Civic and political participation of
women and youth in Turkey: An examination of perspectives of public authorities and NGOs, 2014, 76.
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Türkei
sozio-ökonomischen Veränderungen der vergangenen Dekade – insbesondere der Bildungsoffensive, dem wenngleich auf
niedrigerem Niveau noch anhaltendem Wirtschaftsboom sowie der Globalisierung und Digitalisierung der Lebensverhältnisse – und sie
gestaltete diesen Wandel insbesondere durch
verstärktes zivilgesellschaftliches Engagement mit (s. III.1). Jedoch ist sie auch betroffen und involviert in die an Schärfe
zunehmenden politischen Konflikte der vergangenen Jahre, die das Land mehr und
mehr zu lähmen drohen.
III. Gegenwärtige gesellschaftspolitische
Entwicklungen
Die vielfältigen Veränderungsprozesse, die
die Türkei seit v. a. Mitte der 1990er Jahre
durchläuft, gehören zu den Faktoren mit der
größten Prägekraft auf die heutigen Jugendlichen.32 Dazu zählen, wie bereits erwähnt,
vor allem der seit dem Militärputsch von 1980
staatlicherseits geförderte Konsumismus, der
meist mit einer staatsgläubigen, tendenziell
apolitischen Haltung verbunden war, und ein
nationalistisch-islamischer Konformismus
bzw. Konservatismus, der im Sinne des staatlich verordneten kemalistischen Gesellschaftsideals wirken sollte. Allerdings wurden
im offiziellen Diskurs auch kollektive Abgrenzungs- und Abwehrreflexe gegen „reaktionäre
Bewegungen“, wie bspw. ethnische oder religiöse Minderheiten, oder gegen starke Einflüsse westlicher Normen und Werte,
gefördert. Sonderrollen spielten daher während der 1990er Jahre drei politisch aktive
Gruppierungen mit stetem Bedarf an jugendlichem Nachwuchs:
•
•
kurdische Organisationen, die entweder
friedlich die staatliche Anerkennung und
Achtung von Minderheitenrechten einforderten oder sich militant in den Kampf der
vom türkischen Staat als terroristische Organisation eingestuften Arbeiterpartei
Kurdistans (Partîya Karkerén Kurdîstan;
PKK) für ein eigenständiges Südostanatolien („Kurdistan“) einschalteten;
nationalistische türkische Organisationen,
wie bspw. die Grauen Wölfe bzw. Idealistenvereine (Ülkü Oçakları), die z. T.
ebenso gewaltsam für die nationale Ein-
•
heit von Staat und Gesellschaft und
gegen Separatismus und Pluralismus
kämpften;
zunächst sozial-, dann auch parteipolitisch aktive Organisationen des religiöskonservativen bzw. islamistischen Lagers,
welches in den 1990er Jahren Wahlerfolge zunächst auf kommunaler, dann
auch auf nationaler Ebene verzeichnen
konnte, jedoch im Februar 1997 durch
eine erneute Putschandrohung des Militärs gegen die von der islamistischen
Wohlfahrtpartei (Refah Partisi) angeführten Koalitionsregierung sukzessive in ein
orthodoxes und ein progressives Lager
(letzteres ab 2001 angeführt von der AKP)
gespalten wurde.
Zwar dominierte unter den meisten Jugendlichen zunächst weiterhin die Politikferne: So
belegen diverse Sozialstudien seit den
1990er Jahren (zumindest bis zu den GeziProtesten 2013), dass die Werte für politisches Engagement von Jugendlichen in
Parteien, Gewerkschaften und anderen Nichtregierungsorganisationen stets im ein- oder
niedrigen zweistelligen Prozentbereich liegen;
dass „nur“ die Beteiligung an Wahlen und Petitionen als hauptsächliche Mobilisierungsformen auftreten; oder dass allein eine geringe
Zahl an Jugendlichen an öffentlichen Foren
oder auch in Wahlkämpfen aktiv teilnimmt.33
Dabei mag eine solche Politikskepsis von Jugendlichen weder Türkei-spezifisch sein;
noch sind ein z. T. ebenso stark ausgeprägter
Lebenspragmatismus und ein gleichsam feststellbarer, wie auch immer begründeter jugendlicher
Liberalismus
ausreichend
untersucht – verglichen etwa mit typisierten,
mitunter allerdings doch nur eine Minderheit
betreffenden „Stile“ und subkulturelle Trends
jugendlicher Lebensführung in der Türkei.34
Auch für die dortige Jugend gilt, dass Fragen
der Identifikation und die Suche nach dem Ich
für junge Heranwachsende unter zunehmend
spannungsreichen Umständen stattfindet –
aus Gründen sozioökonomischen Leistungsdrucks ebenso sehr wie wegen der zunehmenden Konfrontation mit diversen medial
vermittelten, globalisierten Realitäten, insbesondere der individualisierten und kapitalistischen Lebenswelt Jugendlicher in Europa
bzw. im Westen auf der einen, und den z. T.
Zurückgerechnet wurden die Angehörigen der Gruppe der heute 15- bis 24-Jährigen in den Jahren 1991
bis 1995 geboren und entwickelten somit zunehmend ab der Jahrtausendwende ihr soziopolitisches
Bewusstsein.
33
Vgl. UNDP, Human development report. Turkey 2008. Youth in Turkey, 2008, 79f. sowie insbesondere Buz
et al., Youth and political participation: case in Turkey, 2013, 257-261.
34
Buz et al. verweisen bspw. auf die konsumorientierten Sprösslinge („yuppies“ bzw. „Tiki“) neureicher
Familien aus Istanbul und anderen Städten, während Hecker „Rock’n’Roll-“ und „Modern Islamic32
72
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äußerst prekären ökonomischen und soziokulturell angespannten Verhältnissen in der
östlichen bzw. arabisch-islamischen Nachbarschaft auf der anderen Seite.35
Mit anderen Worten: Während übliche berufliche und Freizeitinteressen, der Erwerb von
Bildungsstandards und skills sowie pragmatische Herangehensweisen an alltägliche Aufgaben des Lebens ein vereinigendes Band
um die Jugend der Türkei legen können, zerren die tiefgreifenden Polarisierungskräfte in
Politik und Gesellschaft ihres Landes und der
umliegenden Region(en) sie mal weniger, mal
mehr auseinander. In zunehmendem Maß erscheint die heutige Jugend daher geradezu
gezwungen, sich entlang der innergesellschaftlichen ethnisch-nationalistischen und
religiös-säkularen Spaltlinien (zu denen in den
Zeiten des Wirtschaftsbooms der 2000er
Jahre noch eine wirtschaftsliberal-kapitalismuskritische Linie hinzukommt) zu orientieren
und zu organisieren36 – oder wenn v. a. finanziell möglich, vorübergehend eine „Auszeit“,
etwa für ein Auslandsstudium,37 zu nehmen.
III.1 Zivilgesellschaftliche Dynamiken bis 2013
Wie schon erwähnt setzte Ende der 1990er
Jahre eine politische Liberalisierungsbewegung ein, die eng mit der Bewerbung der Türkei um Aufnahme in die Europäische Union
zusammenhing. 1995 wurde das aktive Wahlalter von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt. 1999
trat eine Verwaltungsnovellierung in Kraft, die
nach 1980 erstmals wieder die Gründung von
freien Jugendorganisationen (Jugendclubs)
erlaubte.38 Schulen und Hochschulen, die ab
2004 aktiv an den EU-Austauschprogrammen
Socrates und Erasmus bzw. am Bologna-Prozess teilnahmen, sowie Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wurden ebenso zu jener
Zeit mit Bildungs- und Beratungsangeboten
aktiv, die auf die Stärkung von Demokratie
und Rechtsstaat, bürgerlichen Rechten und
Freiheiten, partizipativer Teilhabe und zivilgesellschaftlichem Engagement sowie unabDiese
hängigen
Medien
abzielten.39
Programme wurden vor allem von Jugendlichen in westlich orientierten städtischen
Schichten angenommen, aber meist mit internationaler Unterstützung auch in rückständigen östlichen Landesteilen angeboten.
Allerdings erreichten sie nur einen kleinen Teil
der Gesellschaft.
Gleichermaßen engagierten sich auch Bürgerinnen und Bürger innerhalb ihrer politischen Lager. Es entstanden u. a. Bildungsund Sozialisierungsangebote kemalistisch
bzw. nationalistisch ausgerichteter Vereine
von und für Jugendliche, z. B. die Türkische
Jugendvereinigung (Türkiye Gençlik Birliği;
TGB) im Jahr 2006 als Zusammenschluss
von 65 Studentenvereinigungen. Ebenso wurden weiterhin bspw. Angebote gegen Armut
und soziale Ausgrenzung durch zahlreiche
private, religiös motivierte Initiativen auf lokaler Ebene bereitgestellt.40 Insbesondere das
Versagen staatlicher Institutionen bei der Bewältigung des Erdbebens von 1999 (zirka
15.000 Opfer) lösten eine breite Welle freiwilligen Engagements für die unmittelbare Nothilfe, den Wiederaufbau zerstörter Häuser,
Schulen und Ortschaften oder auch im Bereich Fundraising für weitere Initiativen aus.
2002 wurde der Stiftungsverband Gemeinschaft Freiwilliger (Toplum Gönüllüleri Vakfı;
Lifestyles“ einander gegenüberstellt. Vgl. Buz et al., Youth and political participation: case in Turkey, 2013,
253f., bzw. Hecker, ‘A clash of lifestyles?’ – Jugendliche Lebensstile im politischen Diskurs der Türkei,
2014, 338-349.
35
Zu ersterem vgl. bspw. die Ergebnisse der Länderstudie Kay, Ziebertz (Hg.), Youth in Europe: An
international empirical study about life perspectives, 2005, und zu Letzterem die Beiträgen in diesem Band.
Allgemein zum „Jugendlich-Sein“ unter heutigen, globalisierten Bedingungen vgl. Arnett Jensen, Going
global: New pathways for adolescents and emerging adults in a changing world, 2012.
36
Vgl. dazu auch Ergebnisse der Studie zur Partei-Politisierung und Polarisierung neu entstandener
zivilgesellschaftlicher Organisationen bei Özler, Sarkissian, Stalemate and stagnation in Turkish
democratization: The role of civil society and political parties, 2011.
37
Die Zahl türkischer Studierender im Ausland steigt seit Jahren an: von knapp 50.000 im Jahr 2010 auf
nunmehr schätzungsweise das Doppelte. Die meisten gehen nach Deutschland, Großbritannien und in die
USA. (Vgl. British Council, The importance of international education: a perspective from Turkish students,
2013; bzw. Daily Sabah, Turkish students spend $1.5 billion for education abroad, 2014) Als
hauptsächliche Motivationsgründe werden verbesserte Jobchancen, eine bessere Ausbildung und neue
Erfahrungen angegeben.
38
Wenngleich das Vereinsrecht aus dem Jahr 1983 weiterhin restriktiv gehandhabt wird. Vgl. IJAB, Kinderund Jugendpolitik – Grundlagen und Strukturen – Türkei, 2011, 2.
39
Vgl. dazu bspw. Ercevik Amado, İlkkaracan, Human rights education as a tool of grassroots organizing and
social transformation: a case study from Turkey, 2005.
40
Zum Aufstieg großer islamisch orientierter Organisationen, wie bspw. der Stiftung für Menschenrechte,
Freiheiten und Humanitäre Hilfe (İnsan Hak ve Hürriyetleri ve İnsani yardım Vakfı, İHH, gegründet 1992)
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73
Türkei
TOG) gegründet. Unter diesem Dach engagieren sich landesweit mehr als 50.000 Studierende in über 1.300 Bildungs- u. a.
sozialen Projekten ehrenamtlich.41
Bemerkenswert ist zudem, dass neben zahllosen Nichtregierungsorganisationen, die seither entstanden sind und sich in einem breiten
Spektrum in kinder- und jugendpolitischen
Aufgabenfeldern engagieren,42 Jugendlichen
staatlicherseits die Möglichkeit gegeben wird,
in über 100 Jugendzentren sowie in über 150
Jugendclubs (unter Vereinsrecht) zusammenzukommen und gemeinsam aktiv zu
sein. Gemessen an den 81 Provinzen des
Landes sowie an Millionen junger Menschen
ist die Anzahl dieser Einrichtungen zweifellos
ausbaubar. Allerdings besteht weiterhin noch
kein Nationaler Jugendring oder ein ständiges
Jugendparlament, welches – wie in anderen
europäischen Ländern – als offizielles Forum
und Sprachrohr für jugendpolitische Anliegen
gegenüber der Politik auf nationalstaatlicher
Ebene gilt. Zwar gehen erste Initiativen dafür
in das Jahr 1997 zurück, als die Behörden u.
a. mit der UNDP eine „Local Agenda 21“
(LA-21) entwickelten, die die Kompetenzerweiterung von 75 lokalen Jugendplattformen
vorsah.43 Nach einer Kommunalrechtsreform
im Jahr 2004 wurde eine „LA 21 National
youth Parliament“ genannte Initiative mit fast
300 Delegierten aus 75 Provinzen im Alter
von 15 bis 29 Jahren auf den Weg gebracht.
Diese jährlich tagende Versammlung erreichte 2006 eine weitere Stärkung des kommunalen und regionalen Mitspracherechts für
Jugendorganisationen sowie die Senkung
des passiven Wahlalters von 30 auf 25 Jahre.
2011 übergaben sie der Regierung einen Nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. Davon abgesehen
blieben die politischen Partizipationsmöglich-
74
keiten von Jugendlichen auf nationaler Ebene
auf konventionelle Wege, wie das Wählen, die
Teilnahme an Kundgebungen oder die Mitgliedschaft in den Jugendorganisationen von
Parteien, Gewerkschaften u. a. staatlich verankerten Organisationen, beschränkt – und
das tatsächliche Engagement wie ausgeführt
anhaltend niedrig (s. III.).
III.2 Jugendpolitische Initiativen von
staatlicher Seite auf nationaler Ebene
Von den 1980er Jahren bis zum Jahr 2011
teilte sich die Jugendpolitik der diversen Regierungen – sofern explizit vorhanden – auf
verschiedene Ressorts auf, darunter vor
allem auf die Ministerien für Nationale Bildung, Arbeit und soziale Sicherheit, Gesundheit oder für Kultur und Tourismus sowie auf
diverse weitere Behörden. Gemäß dem Verfassungsauftrag widmete sich das Generaldirektorium für Jugend und Sport, angesiedelt
beim Amt des Ministerpräsidenten, jugendund sportpolitischen Themen. Hierfür war es
in allen 81 Provinzen vertreten, wobei allerdings der Sport im Vordergrund der Aktivitäten dieser Behörde stand.44
Nach den zwischen der regierenden AKP und
dem kemalistischen Lager hart umkämpften
Parlamentswahlen 2007, die die AKP unter
dem damaligen Ministerpräsidenten Recep
Tayyib Erdoğan gewann, beschied die staatliche Planungsbehörde im Premierministeramt
in ihrem neunten Entwicklungsprogramm
2007-2013 und im Midterm-Programm 20092011 zum einen, die Bedingungen für junge
Menschen auf dem Arbeitsmarkt verbessern
zu wollen, und zum anderen, die Bedeutung
der Jugend als wichtigen Teil der Gesellschaft
zu heben und ihre Teilhabe an Entscheidungsprozessen zu sichern („[…] to ensure
oder den Solidaritätsverbänden Leuchtturm (Deniz Feneri yardımlaşma Derneği, 1996), Niemand hier
(Kimse yok Mu, 2004) sowie Lebenswasser (Cansuyu, 2005) und zu den dafür nötigen sozial- und
wirtschaftspolitischen Reformen gerade ab 2002 vgl. Göçmen, Religion, politics and social assistance in
Turkey: The rise of religiously motivated associations, 2014.
41
Diese Zahlen des Jahres 2014 basieren auf Eigenangaben des Verbands, vgl. http://tog.org.tr/tr/hakkimizda. Bemerkenswert ist, dass der UNDP-Bericht von 2008 für den TOG noch 13.000 engagierte
Jugendliche und 375 Projekte benennt, woraus sich ein deutlicher Zuwachs an Personal und Aktivitäten
ergibt. (Vgl. UNDP, Human development report. Turkey 2008. Youth in Turkey, 2008, 81.) Zu Rolle des
Ehrenamts in der Türkei vgl. auch United Nations Volunteers Programme in Turkey, Volunteerism in Turkey
- a snapshop. Exploring the role and contributions of volunteering, 2013.
42
Die NGO-Datenbank des EU-geförderten Civil Society Development Center (Sivil Toplum Geliştirme
Merkezi; STGM) verzeichnet aktuell landesweit 411 Organisationen von Jugendlichen bzw. mit einem
speziell an Jugendlichen ausgerichtetem Aktivitätenprofil. Vgl. http://stgm.org.tr/en/stoveritabani.
43
Vgl. dazu und im Folgenden UNDP, UNDP Turkey experience in youth civic engagement and youth
political participation, o.J.
44
Der jugendpolitischen Abteilung des Generaldirektoriums standen nur zwei bis drei Prozent des
Gesamtbudgets zu. Vgl. dazu und auch im Folgenden bspw. Arıkan, Deutsch-Türkische Zusammenarbeit
in der Jugendpolitik nach der Einrichtung des Jugend- und Sportministeriums, 2011, 6.
45
State Planning Organization 2008-2010 Medium-term Programme, zitiert nach UNDP, Human
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Türkei
better communication between the young
people and their families and the society, to
improve their confidence and to increase their
feeling of belonging to the society they live in
and their participation in decision making processes“45). Die Generaldirektion für Jugend
und Sport wurde mit der Umsetzung dieser
Aufgaben sowie mit dem Entwurf einer Nationalen Jugendstrategie beauftragt. Zudem sollten die Leistungen der der Generaldirektion
unterstellten Servicezentren (Gençlik Servisleri Merkezileri; GSM) für die landesweite Jugendarbeit (Jugendzentren, -clubs, -camps
und -workshops für Jugendliche und Jugendarbeiter; soziale und kulturelle Aktivitäten
sowie internationale Beziehungen) ausgebaut
werden. 2011, nach den erneut von der AKP
deutlich gewonnenen Parlamentswahlen,
wurde die Generaldirektion auf den Aufgabenbereich Sport reduziert und der jugendpolitische
Aufgabenbereich
in
das
eigenständige, nun aufgewertete Ministerium
für Jugend und Sport übertragen.
Neben üblichen ministerialbürokratischen Einheiten verfügt das Ministerium nun vor allem
über die drei Generaldirektorate für Jugenddienste, für Projekte und Koordination sowie
für Erziehung, Kultur und Forschung. Ferner
erwähnenswert ist die Abteilung Außenbeziehungen für die internationale Zusammenarbeit, u. a. mit Deutschland.46 Zudem wurden
die Personal- und finanziellen Ressourcen
vergrößert, wodurch erstmals Programme
aufgelegt werden konnten, die eine Projektförderung von NGOs möglich machen sollten.
Entsprechend konnten in der ersten Ausschreibungsphase insgesamt 120 Projekte
mit einem Gesamtfördervolumen von 1,5 Mio.
TL (damals ca. 750.000 Euro) gefördert werden. Weitere Neuerungen waren, dass das
Ministerium alle vier Jahre einen Jugendrat
(Gençlik Şûrası) mit 450 Jugendvertretern abhalten werde – der erste fand 2012 statt – und
die Gründung eines ständigen Jugendrings
vorantreiben sollte.47
Auf große Beachtung im In- und Ausland stieß
zudem das angekündigte „Dokument für die
nationale Jugend- und Sportpolitik“, welches
Anfang 2011 dekretiert und vom Ministerrat
verabschiedet wurde. Es beschreibt Ziele,
Zielgruppen und Stakeholders sowie Maßnahmen für 13 Aufgabenbereiche mit jugendpolitischem Bezug.48 Wie kein offizielles
Dokument zuvor vermittelt es im Ansatz einen
„Paradigmenwechsel“49 weg von staatlicher
Vormundschaft und hin zu den Interessen,
Bedürfnissen sowie Entwicklungspotenzialen
der Jugendlichen. Es gelte die „Vision“ einer
Jugendpolitik, deren Zweck es sei,
“to provide opportunities and to establish a ground where young people
can truly realize their own potentials
as individuals who have international
and humanitarian values, respect for
the environment, a sense of social belonging, who participate actively in social life, make use [of; sic!]
fundamental rights and liberties efficiently and who are committed to national and moral values, are informed,
self-confident, active and enterprising
and at a level to be able to compete
with their peers in the international
arena.”
Trotz dieses viel versprechenden Ansatzes
schafften es auch Formulierungen alter staatszentrierter und kontrollorientierter Überzeugungen in das Dokument, wie etwa: „In addition to
this, youth policies are the body of means which
protects young people from abuse and neglect.”50 Dies wurde in der Folge ebenso sehr
von NGO-Vertretern der ersten Stunde kritisiert
wie die Intransparenz und Befangenheit der
Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung
Development Report. Turkey 2008. Youth in Turkey, 2008, 19.
1994 wurde eine Ressortvereinbarung über jugendpolitische Zusammenarbeit zwischen der
Bundesrepublik und der Türkei geschlossen, um u. a. den Jugendaustausch beider Länder finanziell zu
fördern. Jährlich finden nunmehr etwa 50 Austauschprogramme mit zirka 1000 Jugendlichen und
Fachkräften statt. Vgl. dazu auch das Protokoll der 19. Fachausschusssitzung vom 1. bis 14.11.2014 in
Istanbul, https://www.ijab.de/fileadmin/user_upload/documents/PDFs/Protokolle/2014_Protokol_
Almanca.pdf.
47
Vgl. im Einzelnen Arıkan, Deutsch-Türkische Zusammenarbeit in der Jugendpolitik nach der Einrichtung des
Jugend- und Sportministeriums, 2011, 7 sowie 9-11.
48
Bildung und Lebenslanges Lernen, Familie, Ethik und humanistische Werte, Beschäftigung,
Benachteiligung, Gesundheit und Umwelt, demokratische Beteiligung und bürgerschaftliches Bewusstsein,
Kultur und Kunst, Naturwissenschaft und Technik, Internationales und Interkultureller Dialog, Freizeit,
ehrenamtliche Arbeit und Jugendinformation. Im Einzelnen vgl. youthpolicy.org, The National Youth and
Sports Policy Document, 2013, 6-46.
49
Kurtaran, Ein Paradigmenwechsel in der Jugendpolitik der Türkei, 2011, 17.
50
youthpolicy.org, The National Youth and Sports Policy Document, 2013, 5.
51
Vgl. Kurtaran, Ein Paradigmenwechsel in der Jugendpolitik der Türkei, 2011, 18f.
46
Deutsches Orient-Institut
75
Türkei
bei der Erstellung des Dokuments. Ferner gerieten die einseitige Fördermittelvergabe an der
Regierungspolitik nahestehende Organisationen sowie Fehlentwicklungen bei der Projektumsetzung (z. B. der Abkehr von Prinzipien der
koedukativen Erziehung etwa bei der Organisation von Jugendcamps oder Workshops) in
Kritik.51 Damit wurden schon bald nach Erlass
des Strategiedokuments jene soziopolitischen
Spaltlinien wieder deutlich, die im Frühjahr
2013 am Istanbuler Gezi-Park in einem offenen
Konflikt eines Teils der türkischen Jugend mit
der Staatsmacht bzw. der AKP-Regierung mündeten.
III.3 Die Gezi-Proteste und anschließende
Destabilisierungen
In den Augen einiger Beobachter stellten die
Mai- und Juniwochen des Proteste um den
Istanbuler Gezi-Park und darüber hinaus zum
einen den eindeutigen Wendepunkt in der Regierungszeit von Ministerpräsident Erdoğan
hin zu einem zwar demokratisch gewählten,
jedoch zunehmend autoritär agierenden Politiker dar, der „seine“ Staatsmacht mobilisiert
hatte, um den von Tausenden Menschen
kundgetanen Widerstand gegen seine Politik
zu brechen. Zum anderen sahen viele hoffnungsvoll auf die zahlreichen Jugendlichen,
die sich im Gezi-Park und auf dem TaksimPlatz in Istanbul, auf landesweiten Protestund Solidaritätsmärschen, in Diskussionsrunden an Schulen und Universitäten, in NGOs
oder den sozialen Medien engagierten, die
kämpferisch Gehör und politische Teilhabe
einforderten und die Courage im Angesicht
der übermächtigen und exzessiv Gewaltmittel einsetzenden Sicherheitskräfte zeigten.52
Dabei hatte sich der Protest gegen Erdoğan
und die AKP nicht erst am Bebauungsplan für
den Istanbuler Gezi-Park sowie einigen Vorkommnissen im Vorfeld, wie etwa gewaltsamen Zusammenstößen zwischen der
Istanbuler Polizei und Demonstranten der
Kundgebungen am 1. Mai 2013, die den damals abgeriegelten Taksim-Platz erreichen
wollten, entzündet. Vielmehr wurden die
wiederkehrenden politischen Äußerungen
und Initiativen Erdoğans und seiner AKP –
etwa seine Aufforderung an junge Frauen, der
Nation mindestens drei Kinder zu schenken,
die gesetzlich verordneten Einschränkung
von öffentlichem Alkoholkonsum oder
Erdoğans Wunsch, eine „religiöse Generation
heranziehen“ zu wollen – als Einmischung in
private Angelegenheiten, als Verletzung der
individuellen Würde und Freiheit sowie als
skandalöse Provokation gegen die säkulare
Gesellschaftsordnung empfunden. Jedoch
änderte sich an der tief sitzenden politischen
Passivität vieler Jugendlicher über Jahre nur
wenig. Vielmehr sicherten sich Erdoğan und
die AKP durch ihre politischen Erfolge und
durch die zunehmend klientelistische Politik
und polarisierende Rhetorik in weiten Teilen
der Gesellschaft Anerkennung und Gefolgschaft: So gaben noch im März 2013 62 Prozent der Befragten einer Umfrage an, eine
positive Meinung zum Ministerpräsidenten zu
haben.53
Die Hoffnung auf eine breite „Repolitisierung“
der Jugend kam jedoch nicht von ungefähr.
Tatsächlich zeigten verschiedene Sozialstu
dien über die Zusammensetzung der GeziBewegung, dass ein Großteil der Protestierenden zwischen 21 und 30 Jahre alt war und
ein höheres Bildungsniveau hatte, sich weder
einem bestimmten politischen Parteilager zugehörig gefühlt, noch zuvor an Demonstrationen beteiligt hatte. Oft stammten sie aus
konformistischen Familien und befolgten
daher auch die Anweisungen der sorgenvollen Eltern, sich nicht an vorderster Front bzw.
nur mit friedlichen Mitteln am Protest zu beteiligen.54 Die Hoffnung auf Wandel durch
diese Jugend wurde allerdings vor allem
durch den viel beschworenen „Geist von
Gezi“ genährt, der in der großen Liberalität
und Solidarität, die die Demonstranten gleich
welcher Couleur (ob türkisch, kurdisch oder
alevitisch, ob kemalistisch-nationalistisch oder
antikapitalistisch-links) untereinander zeigten,
und der in dem kleinen, im Park entstandenen
Utopia-Protestcamp mit seinen kreativen Protestformen, seiner Tauschwirtschaft u. a. al-
Für Details über die spannungsgeladenen und wechselhaften politischen Entwicklungen sowie die hitzigen
Debatten, die mit der Regierung der AKP und ihrer islamisch-konservativen bzw. konservativdemokratischen Reformpolitik seit 2002 einhergingen, sowie für die Hintergründe und den Verlauf der
Gezi-Proteste im Mai und Juni 2013 vgl. bspw. Gümüşçü, Keyman, Democracy, identity and foreign policy
in Turkey. Hegemony through transformation, 2014. Ferner einführend und im Folgenden zu Gezi vgl.
Schulz, Viel Lärm um nichts? Erdoğan, Gezi und die Türkei 2013, 2013, sowie Özkırımlı (Hg.), The
making of a protest movement in Turkey: #occupygezi, 2014.
53
Vgl. Pewresearch.org, Prime Minister Erdogan popular in Turkey broadly, but less so in Istanbul, 2013.
54
Vgl. dazu und im Folgenden Böcü, The “Gezi Generation“: Youth, polarization and the „New Turkey“, 2015,
52.
55
Vgl. Böcü, The “Gezi Generation“: Youth, polarization and the „New Turkey“, 2015.
52
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Türkei
ternativer Werte, spürbar gewesen sei. Dieser Geist sollte nach Ansicht mancher Beobachter eine „Generation Gezi“55 erschaffen, d.
h. die gegenwärtige Jugend aus der politischen Apathie und dem Konformismus reißen, in die diese in den 1990er Jahren
hineingeboren war. Hauptorganisator des
Protests war zwar die zivilgesellschaftliche
Solidaritätsgruppe
Taksim
(Taksim
Dayanışması) gewesen, die sich gegen die
Bebauung des Parks und die Umwandlung
des Taksim-Platzes stellte; doch Hauptmedien der Protestierenden waren Facebook,
Twitter, das türkische Portal Ekşi Şözlük und
andere Messenger-Dienste und -Portale, die
die Jugendlichen mittels ihrer Smartphones
nutzen, um sich zu solidarisieren, Unterstützung zu mobilisieren und um den Protest zu
organisieren.56
Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, dass
die erste Aktivistengruppe der Naturschützer und Abrissgegner früh von anderen, gut
strukturierten und ebenso v. a. von jungen
Menschen getragenen Kräften unterstützt
worden waren, die den Widerstand gegen
die Polizei organisierten und deren z. T. offensiver Widerstand gegen den Ministerpräsidenten und die Regierung die
Eskalation der Situation mitbeförderten.57
Dazu gehörten vor allem die „çarşı“ genannte Fan- bzw. Hooligan-Gruppe des Istanbuler Fußballvereins Beşiktaş, die in der
Auseinandersetzung mit Sicherheitskräften
am Rande der Spiele ihres Vereins erprobt
war; außerdem v. a. linke Oppositionsparteien und deren Jugendorganisationen, Mitglieder
von
z.
T.
linksradikalen
Gewerkschaften sowie von autonomen Bewegungen. Ihnen gemein war jenseits der
Ablehnung der AKP-Regierung und der Solidarität mit der Gezi-Protestbewegung die
Bewahrung des Taksim-Platzes als eine Art
„heiliger“ Ort des solidarischen Auf-
marschs.58 Anders als die vom „Geist von
Gezi“ beschworene Mehrheit präsentierte
sich mit diesen Gruppierungen auch ein Teil
der Jugend, die weniger ad hoc, sondern
vorbereitet in den Widerstand eintraten und
so bereit und in der Lage waren, den Konflikt über Wochen auszutragen.
Während insbesondere die westlichen Medien in ihrer Berichterstattung den Schwerpunkt auf den friedlichen, kreativen Protest
und auf die zahlreichen Opfer der willkürlichen Polizeigewalt legten, ging es der Regierung (und den ihr nahestehenden
Medien) darum, die v. a. jungen Demonstranten als Unruhestifter und Krawallmacher („çapulcular“) darzustellen, die
gesetzes- und ordnungswidrig handelten,
indem sie öffentliche Räume besetzt hielten, Eigentum beschädigten und Widerstand gegen die Staatsgewalt leisteten.59 In
eben diese Richtung – zusammengefasst
unter der konspirativen Argumentation
eines z. T. aus dem Ausland gesteuerten
Putschversuches gegen die Regierung –
liefen nach Beendigung der Protestwochen
auch die Ermittlungen, Gerichtsverfahren
und Inhaftierungen zahlreicher Anhänger
der çarşı, der Gewerkschaften sowie auch
der friedlich agierenden Plattformen und Organisationen. Zudem unterstrich die Regierung stets trotz der Demonstrationen, die
auch in fast alle Provinzen des Landes stattgefunden hatten, dass es sich bei den Protestierenden um eine Minderheit handelte,
die sich widerrechtlich gegen den in der gewählten Alleinregierung der AKP und deren
„konservativ-demokratischen“ Politik zum
Ausdruck gebrachten Mehrheitswillen der
Bevölkerung stellte. Nicht der Staat, sondern die Demonstranten hätten somit jenseits demokratischer Grundregeln agiert,
während der Staat seine Pflicht tat und für
Ordnung und Sicherheit sorgte.60
Zwischen 2008 und 2013 stieg die Zahl der Menschen mit einem Facebook-Account in der Türkei von ca.
7,8 auf 32,8 Mio. Die Zahl der Twitter-Nutzer liegt bei ca. 12 Mio. Während der Gezi-Protesttage ging die
Zahl der abgesetzten Tweets in die Millionen, an manchen Protesttagen wurden durchschnittlich 3000
Tweets pro Minute mit den gängigen Protest-Hashtags #geziparki, #occupygezi oder #direngezipark (dt.
Widerstand Gezi-Park) verschickt, die international von Millionen Followern abonniert worden waren. Auch
sendeten die Gegner der Proteste und Anhänger der Regierung Nachrichten unter #oyunagelmeturkiyem
(dt. Geh nicht dahin, meine Türkei). Vgl. dazu und weiterführend Paul, Seyrek, Internet “freedom” in
Turkey, 2015; Uğurlu, Ozutku, An evaluation on the use of social media in Turkey, 2014; sowie Tunç,
Twitter vs. Penguens on TV: #GeziParkProtests, social media usw, and the Generation Y in Turkey, 2014.
57
Vgl. dazu und im Folgenden Ete, Taştan, The Gezi Park protests: A political, sociological, and discursive
analysis, 2014, 37-40
58
Zur politischen und auch blutigen Geschichte des Platzes vgl. kurz Kreiser, Angekommen im 21.
Jahrhundert, 2005.
59
Vgl. dazu auch die kritische Nachzeichnung der folgenden Argumentation auch bei yiğiter, An analysis of
polarisation in relationship with Gezi resistance, 2014.
60
An dieser Stelle kann darauf verwiesen werden, dass die absichtlich konstruierte Gleichsetzung einer
Gemeinschaft (wie bspw. der Nation oder einer Gemeinschaft der Demokraten in Abgrenzung zu „Nicht56
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77
Türkei
Über die Gründe, die das schnelle Abflauen
der „Gezi-Bewegung“ verursachten, kann nur
spekuliert werden, da bislang keine verlässlichen Erhebungen vorliegen. Oft wird darauf
verwiesen, dass das Entsetzen vieler Beteiligter über die angeordnete Niederschlagung
der Protestwelle durch die Regierung bald der
Enttäuschung wich, nicht das Ziel erreicht und
die Regierung zum Rücktritt gezwungen zu
haben. Andere dagegen sehen einen Hauptgrund in dem Umstand, dass mit „Gezi“ der
Wahlkampf für die Kommunalwahlen im Frühjahr 2014 eingeläutet worden war, der eher
nach konventionellen Formen politischer Mobilisierung und Partizipation verlangte und so
die Rückkehr der Menschen in alte Verhaltensmuster – ob nun ins entpolitisierte Private
oder in die jeweiligen parteipolitischen Lager
– befördert wurde.61
Zwar blieb die Hoffnung, aus den Ereignissen
könnte eine von der repolitisierten Jugend getragene, breite Demokratisierungswelle entstehen, zunächst noch lebendig: So fanden
sich tatsächlich bald darauf Bürger zu offenen
Dialogforen ein, gründeten Solidaritätsvereine
und Parteien. Zudem konnten zwei Erfolgsgeschichten geschrieben werden: Zum einen
bildete sich kurz vor den Kommunalwahlen
2014 mit „Wählen und mehr“ (Oy ve Ötesi)
eine Organisation mit inzwischen rund 15.000
freiwilligen Mitgliedern, die seither landesweit
bei Wahlen vor Ort sind und die Rechtmäßigkeit der Stimmenabgabe und -auszählung
überwachen. Zum anderen hatten bereits
noch im März 2013 26 Jugendorganisationen
u. a. mit Unterstützung des Europäischen Jugendforums beim Ministerium für Jugend und
Sport für einen Neustart beim Aufbau des geplanten Nationalen Jugendrings geworben.
Die daraufhin begonnenen Verhandlungen
wurden jedoch selbstbewusst von den NGOs
im Januar 2014 auf Protest gegen den Plan,
den Jugendring unter der Kontrolle des Ministeriums zu belassen, gestoppt. Stattdessen
formierte sich ein Forum der Jugendorganisationen (Gençlik Örgütleri Forumu; GÖF),
welches demokratisch und transparent ver-
78
fasst die Partizipation aller Jugendlicher ermöglichen und sich als unabhängig Instanz
für die Belange Jugendlicher einsetzen
wolle.62
Von solchen, zweifellos wichtigen Initiativen
abgesehen, scheint der „Geist von Gezi“ jedoch nicht gegen die Dominanz der etablierten politischen Akteure bestanden zu
haben; nicht zuletzt deshalb, weil die maßgeblichen Akteure der Bewegung kaum eine
massenmediale Plattform – schon gar nicht
aus dem Lager der regierungsnahen bzw.
– hörigen Medien – bekamen. „Gezi“ geriet
aber auch deshalb schnell in Vergessenheit,
weil die öffentliche Debatte und die politischen Entwicklungen seither eher vom
Gegenteil, der Zunahme an autoritären und
repressiven Tendenzen, zeugten: Überwachungen, Ermittlungen und Festnahmen,
Medienzensur, erweiterte Kompetenzen für
Sicherheitskräfte, die Beschneidung der
justiziellen Unabhängigkeit sowie die Kriminalisierung von Menschen- und Bürgerrechten
wie
etwa
der
freien
Meinungsäußerung, der Presse- und Versammlungsfreiheit – all dies nahm seit dem
Frühsommer 2013 unter dem Deckmantel
einer mehrheitsdemokratisch legitimierten
Staatsmacht, die vorgibt, für Ordnung und
Sicherheit zu sorgen, in äußerst bedenklichem Maße zu und führte zu deutlicher
internationaler Kritik.63
Einigermaßen rational erklären lässt sich das
autoritäre Handeln der AKP-Führung allenfalls
mit deren erratischer Perzeption, trotz aller
Stärke in der „Megawahlperiode 2013-15“ und
anlässlich weiterer skandalöser und destabilisierender Entwicklungen öffentlich in die
Enge gedrückt worden zu sein:
•
Bald auf „Gezi“ folgte der v. a. erneut über
soziale Netzwerke öffentlich gewordene
Verdachtsfall massiver Korruption in Regierungskreisen, der zu einer hektischen
Kabinettsumbildung zum Jahreswechsel
2013/14, zu Tausenden, z. T. äußerst kri-
Demokraten“) mit der eigenen Meinung bzw. mit der perzipierten Meinung einer Anhängerschaft typisch für
populistisch agierende Politiker in Machtpositionen ist. Dies bzgl. mit Blick auf Premier Erdoğan vgl. yiğiter,
An analysis of polarisation in relationship with Gezi resistance, 2014, 4f.; sowie Müller, Erdoğan and the
paradox of populism, 2014.
61
Vgl. IJAB.de, Jugendarbeit in der Türkei: „Gezi-Park war unser Stuttgart 21”, 2014; bzw. İnceoğlu, The
Gezi resistance and its aftermath. A radical democratic opportunity?, 2014, 5.
62
Vgl. Benmajor, One other winner of the elections: Vote and Beyond, 2015; bzw. DIJA.de, Türkische
Jugendverbände plädieren für demokratischen Prozess bei der Gründung eines Nationalen Jugendrings,
2013; EyF, An emerging youth council in Turkey, 2014; AEGEE.org, AEGEE-Ankara on the establishment
of a Youth Council in Turkey, 2014; sowie Kömür, Gençlik Örgütleri Forum, 2014.
63
Zur besonderen Situation unzähliger, meist wegen Verstoßes gegen das oft rigide angewandte
Antiterrorgesetz Nr. 3713 verurteilter und inhaftierter Kinder und Jugendlicher vgl. Baird, Ending the
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•
•
tischen Personalversetzungen im Staatsdienst der ermittelnden Justiz sowie zu
weiteren Zensurmaßnahmen führte;
Während damit ein Machtkampf im konservativen Lager zwischen der AKP-Führung und der Bewegung des in den USA
lebenden Predigers und vormaligen Mitstreiters Fethullah Gülen entbrannte, den
Erdoğan letztlich für sich und die AKP entscheiden konnte, musste er gleichzeitig
die wegen der intensivierten Friedensverhandlungen mit der kurdischen PKK aufgebrachte konservativ-nationalistische
Gefolgschaft beruhigen und zudem den
internen Machtwechsel an der Partei- und
Regierungsspitze vor den anstehenden
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
vollziehen;64
Sein selbstherrliches, autoritäres Auftreten nach der Wahl brachte ihm erneut öffentliche Kritik an breiter Front ein;
Erdoğans Umfragewerte in der Bevölkerung fallen seither; 65
Auch zeichnete sich im Sommer 2015 ein
relativer Machtverlust seiner AKP ab, die
bei den Parlamentswahlen im Juni nach
13 Jahren das Recht, die Alleinregierung
zu stellen wegen Stimmenzuwächsen bei
der kurdisch geprägten Partei der Demokratischen Völker (Halkların Demokratik
Partisi; HDP) und der Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket
Partisi; MHP) verlor. Während die Koalitionsverhandlungen der AKP-Führung mit
der Opposition noch liefen, insistierte
Erdoğans stets auf Neuwahlen, was gemeinhin als Hinweis gedeutet wurde, er
wolle dadurch eine Rückkehr der AKP zur
absoluten Macht und somit die von ihm
favorisierte Einführung eines Präsidialsystems herbeiführen wollen;66
Schließlich führten die Verstrickungen der
Regierungsbehörden in den syrischen
Bürgerkrieg mit ihren blutigen Konsequenzen, den Bombenanschlägen von
Suruç und Ankara im Sommer und Herbst
2015, sowie das damit zusammenhängende Scheitern des Friedensprozesses
und die erneute Eskalation des Konflikts
mit der PKK zu einer erneuten Polarisierung und Destabilisierung der allgemeinen politischen Lage.67
IV. Fazit und Ausblick: Das Dilemma einer
viel versprechenden Generation
Angesichts dieser gegenwärtigen politischen
und sozioökonomischen Lage, in der sich
viele Jugendliche heute in der Türkei wiederfinden, bedeuten diese Ereignisse kaum
Gutes für einen ungestörten, autonomen
Entwicklungsweg, wie ihn junge Heranwachsende benötigen, um in ihrem Leben reüssieren zu können – und dies, obwohl die
heutige Jugend wie keine andere Generation
vor ihr von Bildung, Medien und der Globalisierung profitieren könnte. Neben den drei
bereits seit längerem bestehenden und von
der AKP-Regierung nicht oder nicht nachhaltig gelösten Hauptproblemen – der verbreiteten Jugendarmut, die sich in
Verbindung mit mangelnder Qualifikation zu
einem Dauerzustand auswächst; der Jugendarbeitslosigkeit bzw. dem Risiko auch
und gerade für besser Qualifizierte und für
viele junge Frauen, keine Arbeit zu finden;
und dem weiterhin stark zentralisierten, ideologisch umkämpften und unfair funktionierenden Bildungssystem – könnte nun als
viertes eine (Partei-) Politisierung weiter Teile
der Jugend entlang der sich mehr und mehr
vertiefenden Spaltlinien (religiös vs. säkular,
türkischer vs. kurdischer Nationalismus und
neoliberal vs. kapitalismuskritisch) hinzukommen und in einem höheren Mobilisierungsgrad münden. Erste Anzeichen dafür
geben bereits neu auftretende, aktivistische
und in Konfrontation zueinander stehende
Jugendorganisationen, wie bspw. die PKKnahe militante Bewegung der revolutionären-
penalization of youth in Turkey?, 2015.
Für Hintergrundinformationen zum Machtkampf vgl. Seufert, Die Gülen-Bewegung in der Türkei und
Deutschland, 2014; sowie zu den Friedensverhandlungen vgl. Gürbey, Die Kurdenpolitik der AKPRegierung im Kontext des Bürgerkrieges in Syrien und des Vormarsches des IS – Zwischen Konfrontation
und Kooperation, 2014.
65
Einer Umfrage aus dem Frühjahr 2015 zufolge sank Erdoğans Akzeptanz in der Bevölkerung auf 39
Prozent, relativ niedrig verglichen mit 51 Prozent bei der Wahl zum Staatspräsidenten 2014. Vgl.
Pewresearch.org, Deep divisions in Turkey as election nears, 2015.
66
Vgl. zur Wahl und den darauffolgenden Entwicklungen Aydın, Die Parlamentswahlen in der Türkei im Juni
2015 – Ist das Wahlergebnis ein Sieg für die Demokratie und für den nationalen Zusammenhalt?, 2015. Mit
der Rückkehr der AKP an die Regierungsmacht durch die Neuwahlen vom 1. November 2015 rückt diese
Option in greifbare Nähe.
67
Vgl. dazu bspw. Dalay, Militant nationalism is threatening Turkey’s social fabric, 2015; oder Ekim, Kirişci,
Is civil war coming to Turkey?, 2015.
68
Vgl. dazu bspw. das Interview mit einem Aktivisten der yDG-H bei Schaber, „Wir werden die Waffen nicht
64
Deutsches Orient-Institut
79
Türkei
patriotischen Jugend (yurtsever Devrimci
Gençlik Hareketi; yDG-H) oder die Osmanischen Vereinigungen (Osmanlı Oçakları),
welche sich als parteipolitisch unabhängig,
jedoch Erdoğan-treu bezeichnen und sich v.
a. kulturell engagieren, in denen die Gegner
der AKP aber eine „Schlägertruppe“ der Partei sehen.68
Durch die spätestens seit die „Gezi-Protesten“ aufgeheizte politische Stimmung und
durch die zuvor nur angedeutete schnelle Aufeinanderfolge destabilisierender Entwicklungen sowohl innerhalb der Türkei wie auch in
ihrem regionalen Umfeld (mit entsprechenden
negativen Rückkopplungseffekten auf die türkische Politik und Gesellschaft) ist fraglich,
welche Faktoren es der türkischen Jugend ermöglichen, sich mittel- bis langfristig jenen
Polarisierungs- und Mobilisierungstendenzen
zu entziehen. Zwar zeigten Teile der städtischen und gebildeten Jugend bei der GeziProtesten 2013 selbst, dass es ein teilweise
die bestehenden Spaltlinien überbrückendes,
solidarisches Verständnis für die gemeinsamen Bedürfnisse nach politischer Anerkennung und Partizipation gibt und dass daraus
auch „Großes“ entstehen kann. „Gezi“ darf
allerdings auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Proteste v. a. gegen den
amtierenden Staatspräsidenten Erdoğan und
die AKP richteten, die bislang noch von einem
Großteil der türkischen Bevölkerung als legitime Führung betrachtet werden.69 Entsprechend unterstrichen die „Gezi-Proteste“ die
bestehende Polarität mehr noch, als dass aus
ihnen eine neue, übergreifend konsensorientierte Bewegung hervorging.
Allerdings können potenziell drei Faktoren dazu
beitragen, die aktuellen Spannungen mittel- bis
langfristig abzumildern und der Jugend eine alternative Perspektive zu geben, die ihr es
gleichsam ermöglicht, ein gewisses Maß an
Autonomie zur Eigenentwicklung zu erreichen.
Dabei kommt allen Faktoren zu Gute, dass sie
bereits in Ansätzen in der Gesellschaft gegriffen
haben. Somit kommt es insbesondere auf die
entscheidenden Akteure in Politik, Wirtschaft,
Zivilgesellschaft und Medien in der Türkei, aber
auch außerhalb, v. a. in Europa, an, die Wirkungskraft dieser drei Faktoren zu intensiveren:
•
80
die tatsächliche Nutzung des von der
UNDP ausgemachten „Gelegenheitsfen-
•
sters“ für den sozioökonomischen Fortschritt der Türkei: Wie schon in der Dekade zuvor muss die Türkei weiterhin in
eine wirtschaftliche Modernisierung investieren, um dem Land und ihrer Jugend
Arbeitsplätze, soziale Sicherheit und Steigerungen ihrer Bildungsquote zu ermöglichen. Die Fortschritte der Türkei gerade
im Bildungssektor, zusammen mit der anhaltenden Verflechtung der türkischen mit
der Weltwirtschaft, lassen hierfür Raum
für weitere Renditen. Dies muss allerdings mit einem verbreiteten Bewusstsein
zu sozioökonomisch und ökologisch
nachhaltigem Fortschritt, d. h. mit der Reifung einer Wissensgesellschaft einhergehen, die nicht in ideologisch verbrämter
Abgrenzung zum, sondern vielmehr geradezu vorbildlich das Entwicklungsmodell
einer pluralistischen, liberalen Gesellschaft implementiert.
der fortgesetzte Auf- und Ausbau der Zivilgesellschaft in all ihren Facetten: Gerade
westliche Gesellschaften geben Beispiele
dafür ab, welch großes Potenzial nicht nur
im einzelnen Menschen steckt, wenn seine
Talente und Fähigkeiten gefördert werden,
sondern welche lange Wertschöpfungskette
sich ergibt, wenn sich Bürger für Bürger engagieren. Dabei mag die These Gültigkeit
besitzen, dass sich breiter bürgerschaftlicher Aktivismus nur dann gegen den Staat
richtet, wenn dieser Grundvoraussetzungen
gesellschaftlicher Teilhabe und politischer
Teilnahme – wie die Akzeptanz und der
Schutz der Menschen- und Bürgerrechte
sowie Rechtsstaatlichkeit, ein funktionierendes demokratisches Parteiensystem
und ein unabhängiges und freies Medienwesen – nicht oder nur unzureichend erfüllt.
Die Türkei käme in diesem Bereich große
Schritte voran, wenn v. a. sich die Entscheidungsträger aller politischen Lager ihrer
Verantwortung für die Gesellschaft als Ganzes bewusst und an einer Einebnung der
tiefen Spaltlinien interessiert wären und
wenn die staatlichen Akteure an einer Aufweichung des Staatszentrismus arbeiteten
und somit eine Dekonzentration der Macht
zulassen würden. Mit Blick auf die Rolle der
Jugendpolitik lautet die Aufgabe schlichtweg: Die Strategie, wie sie im Dokument für
die nationale Jugendpolitik 2011 beschlossen worden war, in einem demokratischen
Geist umzusetzen.
niederlegen“, 2015; bzw. Today’s Zaman, Osmanlı Ocakları being groomed as paramilitary force for AK
Party, 2015.
69
Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 ging die AKP mit 40,9 Prozent der Stimmen trotz hoher Verluste
(-8,9 Prozent) immer noch deutlich als stärkste Kraft hervor. Ergebnisse für die AKP der für Anfang
November 2015 geplanten Parlamentswahl und anschließende Entwicklungen konnten in dieser Studie
Deutsches Orient-Institut
Türkei
•
die Fortsetzung des Integrationsprozesses der Türkei mit der Europäischen
Union: Wie auch in anderen Politikfeldern
so zeigte auch der Rückblick auf die Genese der Strukturen und Institutionen mit
jugendpolitischem Bezug, wie stimulierend der Annäherungsprozess der Türkei
an die EU auf die türkische Gesellschaft
wirken konnte – von wichtigen Reformen
in der Wirtschaft, auf dem Arbeitsmarkt
und im Bildungssektor bis hin zu „Selbstläufern“, wie etwa der enorm gestiegenen
Zahl an NGOs und Initiativen, die den Demokratisierungsprozess der Türkei – auch
mutig gegen Widerstände – fortsetzen
wollen. Eine anhaltende, v. a. finanzielle
Förderung dieser Entwicklungen, wie sie
die EU auch im Rahmen ihrer Beitrittspartnerschaften vorsieht und umsetzt, ist
für den mittel- bis langfristigen sowie
nachhaltigen Erfolg allerdings ebenso unerlässlich, wie eine wenngleich auch
grundsätzlich offen gehaltene, so doch
glaubwürdige Perspektive, dass die Reformbemühungen schließlich auch mit
einem EU-Beitritt belohnt werden. Ein vorzeitiger Abbruch des Beitrittsprozesses
würde trotz aller bestehender Skepsis
über die EU im Allgemeinen und über
einen Erfolg der Beitrittsbemühungen der
Türkei im Speziellen von der Mehrheit70
der Jugendlichen nichtsdestotrotz als
große Enttäuschung, wenn nicht gar als
Verrat an ihren Zukunftserwartungen
empfunden.
Rückblickend und abschließend noch ein Gedankenspiel: Wenngleich eine Mischung an
Alltagspragmatismus, sozioökonomischer und
politischer Frustration sowie Ansätzen kritischer Reflexion unter türkischen Jugendlichen
schon in den 1990er Jahren verbreitet war (s.
III.), dann könnte sich gegenwärtig auch „nur“
ein ähnliches Bild präsentieren, wie es sich
auch von jugendlichen Kohorten in anderen v.
a. (post-) kapitalistisch und westlich-globalisiert geprägten Gesellschaften zeigt:71 ein relativ ausgeprägtes soziales Behütetsein im
kleineren, lokalen Familien- und Freundeskreis (inklusive des zunehmend internationalen Bekanntenkreises mittels sozialer Medien)
sowie eine größere Zufriedenheit in Verbindung mit persönlichen materiellen und immateriellen Gütern einerseits, gegenüber eines
teilweise kritisch-reflexiven Individualismus mit
verbreiteten Orientierungszweifeln trotz vorhandener Grund- und weiterführender Bildung
sowie des Gefühls, als junge Altersgruppe in
Politik und Gesellschaft ungehört bzw. marginalisiert zu sein, andererseits. In gesondertem
Maß profitierte die gegenwärtige Jugend in der
Türkei zwar wie keine Generation zuvor von
den tiefgreifenden sozio-ökonomischen Veränderungen der vergangenen Dekade und sie
ist zunehmend in der Lage, diesen Wandel
insbesondere durch verstärktes zivilgesellschaftliches Engagement mitzugestalten.
Doch spätestens mit Blick auf die harte Realität endet das Gedankenspiel: Denn wie selten zuvor ist die Jugend der Türkei betroffen
und involviert in die an Schärfe zunehmenden
politischen Konflikte der vergangenen Jahre,
die das Land mehr und mehr zu lähmen drohen. Diesem Dilemma entsprechend ist es
mehr als fraglich, wie autonom und unbelastet sich die Jugend des Landes fortentwickeln
und für die wichtige Aufgabe der Zukunftsgestaltung „rüsten“ kann. Hilfestellungen hierfür
muss sie sich offenbar selbst schaffen, da sie
gegenwärtig weder auf ihre eigene politische
Elite noch auf die der Europäischen Union
bauen kann.
Ludwig Schulz
nicht mehr verarbeitet werden. Erwähnt sei an dieser Stelle noch, dass Präsident Erdoğan im Frühjahr
2015 weiterhin noch große Akzeptanz unter den AKP-Anhängern (87 Prozent) sowie unter Bürgern über
50 Jahren und mit geringerer Bildung (54 bzw. 53 Prozent) sowie unter gläubigen Muslimen (71 Prozent)
genoss. Vgl. Pewresearch.org, Deep divisions in Turkey as election nears, 2015.
70
2013 gaben 52,4 Prozent der 18- bis 29-Jährigen an, im Fall eines Referendums für einen EU-Beitritt der
Türkei stimmen. Daneben erwartete eine relative Mehrheit von 43,4 Prozent positive Auswirkungen eines
Beitritts auf ihr Leben. Vgl. TÜİK, İstatistiklerle gençlik / Youth in statistics 2014, 2014, 143, 147. Konkret
heißt dies einer anderen aktuellen Umfrage zufolge, dass sich Jugendliche durch einen EU-Beitritt ihres
Landes vor allem größere Möglichkeiten bei der Freizügigkeit erhoffen, während bei der Gruppe der über30-Jährigen Fortschritte bei Demokratie und Menschenrechten ausschlaggebend sind. Vgl. İKV, Türkiye
kamuoyunda AB desteği ve Avrupa algısı, 2015, 12f.
71
Vgl. dazu auch bspw. die Resultate der World youth Identity and Citizenship-Umfrage von Our World
Alliance von 2006 (vgl. https://www.edc.org/newsroom/press_releases/global_youth_survey_explores_
perspectives_social_cultural_identity) sowie die Beiträge in Leccardi, Ruspini (Hg.), A new youth?: Young
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Deutsches Orient-Institut
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Jugend in Tunesien - Ist die
Revolution ein Fortschritt für
die wirtschaftliche Situation
der 15 bis 29 Jährigen?
A
I. Einleitung
m 17. Dezember 2010 verbrannte sich
der damals 26 Jahre alte Tunesier Mohammed Bouazizi auf dem Marktplatz
der Provinzstadt Sidi Bouzid. Sein Selbstmord
wird als Ausdruck der Perspektivlosigkeit seines Daseins und als Reaktion auf die Willkür
der Sicherheitsbehörden des Langzeitpräsidenten Zine el-Abidine Ben Ali, die ihm um
seine Existenz und Würde bringen wollten,
gedeutet. Zudem provozierte sein Tod die tunesische Revolution, die gleichsam unmittelbar Proteste in weiteren Ländern des Nahen
und Mittleren Osten auslöste.1 Maßgeblicher
Träger dieser Revolutionen waren Jugendliche wie Bouazizi, die wie er unter den prekären sozialen und politischen Umständen des
Regimes und Perspektivlosigkeit zu leiden
hatten. Im Jahr 2010 machten die jungen Tunesier 29% der Gesamtbevölkerung aus, und
in etwa ebenso hoch war der offizielle Anteil
derjenigen Jugendlichen ohne Arbeit, obwohl
sie sogar mit 43% fast die Hälfte der Arbeitskräfte insgesamt stellten.2
II. Wirtschaftliche Situation
Schon lange vor der Revolution konnte Tunesien eine positive Wirtschaftsentwicklung verzeichnen. Doch obwohl Tunesien offiziell eine
freie Marktwirtschaft war, dominierte die Kleptokratie der Familie des seit 1987 regierenden
Präsidenten Ben Ali und seiner Frau Leila Trabelsi das Wirtschaftssystem. Zu dem Familienclan konnten rund 220 Firmenkonglomerate
und Unternehmen gezählt werden.3 In der
Folge der Flucht und Absetzung Ben Alis und
der Revolution 2011 wurde die Praxis der Begünstigung von Firmen verboten, trotzdem ermöglicht auch die aktuelle Gesetzgebung noch
monopolistische Strukturen – der eingeleitete
Transformationsprozess dauert noch lange an.
Die drei wesentlichen Sektoren, welche zum
Wirtschaftswachstum beitragen und in denen
die erwerbstätige Bevölkerung offiziell haupt-
1
2
3
4
5
86
sächlich beschäftigt ist, sind der Dienstleistungssektor bzw. der Tourismus (ca. 50 % der
Erwerbstätigen), die Industrie (32 %) und die
Landwirtschaft (ca. 25 %). Unberücksichtigt
bleibt dabei allerdings ein großer informeller
Sektor: Schätzungsweise 85% aller tunesischen Unternehmen gelten als nicht gemeldet, gleichsam beschäftigen sie tausende, v.
a. jugendliche Menschen, und generieren so
einen geschätzten Umsatz in Höhe von 115
Milliarden US-Dollar. Dadurch entsteht auch
heute noch für den tunesischen Staat ein starkes Defizit, bedingt durch die ausfallenden
Steuereinnahmen.4
Die offizielle Arbeitslosenquote in der Gesamtbevölkerung lag im Jahr 2015 bei 15%
und stagniert auf etwa diesem Wert seit einigen Jahren. Die Zahl von Arbeitslosen ist
unter jungen Menschen zwischen 15 und 24
Jahren jedoch weitaus höher und liegt mit
31,2% heute etwas höher als vor der Revolution.5
Grundlegend kann von einer deutlichen Diskrepanz zwischen den Anwohnern der Küstenregionen in Tunesien und denen im
Landesinneren gesprochen werden. Nicht nur
eine wirtschaftliche, sondern vor allem auch
soziale Kluft sorgt für Unstimmigkeiten innerhalb der tunesischen Bevölkerung. Die infrastrukturell besser ausgebaute Küstenregion,
in der der Tourismus in den letzten Jahrzehnten wuchs, wurde vor der Revolution vom
Staat stark gefördert. Die Wohlhabenden sind
in der Region rund um Sousse oder im Nobelviertel Berges du Lac in Tunis ansässig.
Doch auch die Mittelschicht profitiert von dem
für tunesische Verhältnisse umfangreichen
Sozial- und Freizeitangebot, welches bis zum
Sturz Ben Alis in den Küstenregionen florierte.
Der nationale und internationale Tourismus
dort prägte die Menschen, auch die Jugendlichen, in Form liberalerer Wertvorstellungen
und politischer Einstellungen.
Weiter im Landesinneren sind dagegen völlig
andere Verhältnisse anzutreffen. Vereinzelte
Industrie, oft jedoch „nur“ die Landwirtschaft
bieten begrenzte und oder kaum einträgliche
Erwerbsmöglichkeiten. Nach der Revolution
zogen sich immer mehr Investoren aus Tunesien zurück, ein Zustand der gegenwärtig anhält und erneut zu Perspektivlosigkeit, Frust
Drissi, Breaking the barriers to youth inclusion, 2014.
Wirtschaftskammer Österreich, Länderprofil Tunesien, 2015.
Kolb, Der Clan von Leila Trabelsi, 2011.
Mersch, Wirtschaftsentwicklung Tunesien, 2015.
Wirtschaftskammer Österreich, Länderprofil Tunesien, 2015. Dabei ist allerdings zwischen der Situation in
der touristisch geprägten Küstenregion (23,6%) und dem Landesinneren (47,9%) zu unterscheiden.
Deutsches Orient-Institut
Tunesien
und Abwanderungsplänen insbesondere
unter Jugendlichen führt. Urbane Zentren des
Hinterlandes bieten dabei kaum attraktive Alternativen: So entwickelte sich etwa die zentral gelegene Stadt Kairouan – seit jeher ein
Zentrum des konservativen Islam in Tunesien
und darüber hinaus – zu einer Hochburg sehr
konservativer Strömungen, vor allem des Salafismus. Hier lebte auch der junge Attentäter,
der am 26. Juni 2015 einen blutigen Aufschlag auf ein Touristenhotel in Sousse verübte und damit nicht nur den Tourismus
sondern auch den westlich geprägten, liberalen Lebensstil des „anderen“ Tunesiens traf.
Von dieser offensichtig gewordenen Polarität
der tunesischen Gesellschaft sind auch die
Jugendlichen nicht gefeit.
Eine der wenigen positiven Bilanzen der Ära
Ben Alis lässt sich bzgl. der Bildung ziehen.
Seit jeher wurde ein substanzieller Anteil der
Wirtschaftskraft in den Auf- und Ausbau des
Bildungswesens investiert. Die Einschulungsquote liegt heute bei nahezu 100%, Schulpflicht besteht für Kinder bis 14 Jahre und der
Universitätsbesuch ist für Tunesier kostenlos.
Dabei hat sich Tunesien ganz am internationalen Trend orientiert und vor allem die so genannten MINT-Studienfächer (Mathematik,
Ingenieurwesen, Naturwissenschaften und
Technik) in den letzten Jahrzehnten massiv
ausgebaut. Die Anzahl der Hochschulabsolventen liegt bei über 100.000 pro Jahr.6
Doch hohe Bildungsausgaben sind kein Garant
für wirtschaftliches Wachstum und die Absolventen treffen auf einen Arbeitsmarkt, der nicht
über die Kapazitäten verfügt, sie aufzunehmen.
Es gibt zu viele junge Menschen mit abgeschlossener Ausbildung oder sogar einem
Hochschulabschluss, die arbeitslos bleiben.
Selbst Fachkräfte finden in Tunesien nur
schwer eine Beschäftigung, in welcher sie
auch ihr gelerntes Handwerk ausüben können. Meist stehen dagegen nur Arbeitsplätze
im niedrigen Lohnsektor zur Verfügung.
III. Politische und gesellschaftliche
Situation
Die Zeit vor der Revolution war von einer großen Apolitisierung der Gesamtbevölkerung,
vor allem der Jugend, geprägt. Mangelndes
6
7
8
Selbstbestimmungsrecht und Politikverdrossenheit führten zu einer Distanzierung der
Menschen von politischen Themen. Unter
dem autoritären Regime Ben Alis versuchte
die Regierung, die Bürger weitestgehend aus
dem politischen Prozess auszuschließen.
Die politische Partizipation blieb, lässt man
die Möglichkeit sich in Parteien wie Ben Alis
Massenpartei „Konstitutionelle Demokratische Sammlung“ oder bspw. in Gewerkschaften zu engagieren einmal außen vor, auf
Wahlen reduziert. Diese liefen jedoch pro
forma ab und dienten dazu, dem Regime eine
pseudo-demokratische, elektorale Fassade
zu geben.7
Nach der Revolution verdeutlichten die Resultate aus dem Jahr 2014, dass diese Abstimmungen weiteraus freier und fairer
abliefen: So konnte 2014 eine Wahlbeteiligung von ca. 64% verzeichnet werden und
die Stimmenanteile wurden über ein weiteres
und vielfältigeres Parteienspektrum, als in den
Wahljahrgängen zuvor, verteilt.
Maßgeblichen Anstoß für die Revolution gab
auch der hohe Repressionsgrad im Regime
Ben Alis. Oppositionelle und Kritiker wurden
unter Ben Ali unterdrückt oder in Scheinprozessen zu hohen (Haft-)Strafen verurteilt.
Im Zuge dessen kam es auch zu Folter und
anderen Menschenrechtsverletzungen. Kritische Medien wurden zensiert oder vollständig verboten.8 Auch islamisch politisch
motivierte Bewegungen und Verbände waren
streng observiert worden. Beispielsweise
war die islamisch-konservative Ennahda
Partei als kriminell eingestuft und ihre Mitglieder, Sympathisanten und Unterstützer
dementsprechend unter Beobachtung gestellt und teilweise auch strafrechtlich verfolgt worden. Insbesondere die in
konservativen Teilen der Gesellschaft eng
verwurzelte Ennahda, aber auch andere religiöse Gruppierungen, Organisationen und
Parteien, gleich ob moderat, konservativ
oder auch extremistisch, wurden durch den
Sturz Ben Alis darin bekräftigt, ihre Anhänger zu mobilisieren und gruppenspezifische
Interessenpolitik zu verfolgen – ggf. auch mit
bewusst antiliberaler und antisystemischer
Agenda.
Beppler-Spahl, Starke Bildung, schwache Wirtschaft, 2011.
Loetzer, Wahlsieg der islamistischen Ennahda, 2011. So wurde etwa zu den Wahlen im Jahr 2009 offiziell
bekanntgegeben, dass es eine Wahlbeteiligung von ca. 90% gegeben hätte, wobei der amtierende
Präsident der Republik, Ben Ali, ein Ergebnis von über 89% der Stimmen erreichte – sein bis dahin
schlechtestes Ergebnis. Sein größter Kontrahent, Mohamed Bouchiha von der „Partie de l’unité populaire“,
konnte einen Stimmenanteil von nur etwas mehr als 5% verzeichnen.
Amnesty International, Annual report Tunisia, 2010.
Deutsches Orient-Institut
87
Tunesien
So spielten nicht nur Armut, Arbeitslosigkeit
und Hoffnungslosigkeit eine Rolle unter Jugendlichen, sich radikalen islamischen Strömungen anzuschließen, auch verschaffte der
Sturz Ben Alis bzw. das entstandene Machtvakuum Gruppierungen wie Ansar Al-Sharia
einen vergrößerten Handlungsspielraum.9 Bestätigt durch die regionalen Entwicklungen –
die UN-gestützte Intervention der NATO im
Libyen und die sich verschärfenden Bürgerkriege in Syrien und im Jemen – konnten radikale islamische Bewegungen ein hohes
Maß an Zuwachs verzeichnen. So sollen
heute über 3000 Tunesier auf Seiten des so
genannten Islamischen Staates in Syrien
kämpfen. Erklären lässt sich dieses Phänomen damit, dass der Großteil der tunesischen
IS-Kämpfer aus dem Landesinneren, speziell
aus der Gegend um die Stadt Kasserine,
kommt. Diese Grenzregion zu Algerien galt
bereits unter Ben Ali als rückständiger Raum,
ein Zustand, der sich mit der Revolution nicht
änderte. So macht die dort grassierende Perspektivlosigkeit und die Wut auf konventionelle politische Eliten allgemein die Jugend
anfällig für jene radikalen ‚Sinnstifter‘.10
Was allerdings dagegen eine größere Gruppe
der jungen Tunesier betrifft, so sieht nun diese
wegen und im Zuge der Revolution in der Beteiligung am politischen Tagesgeschehen eine
zukunftsorientierte und sinnvolle Tätigkeit. Es
geht ihnen darum, trotz aller Folgeprobleme
der Transformation die Nachhaltigkeit ihrer revolutionären Bemühungen zu sichern. Viele
haben die Revolution als Chance genutzt, um
ihre und vor allem die Interessen anderer junger Tunesier zu sammeln, und arbeiten nun
daran, diese auf der tagespolitischen Agenda
zu repräsentieren – ob nun mit staatlichen
Mitteln, etwa innerhalb des parlamentarischen
Bereichs, oder mit zivilgesellschaftlichen Mitteln in NGOs, unabhängigen Medien oder in
anderen Feldern des öffentlichen Lebens.
Selbstverständlich versuchen die engagierten
Jugendlichen weitere gleichaltrige mit einzubeziehen und diese an der Gestaltung der Zukunft ihres Landes teilhaben zu lassen. Doch
die größten Hürden, die sie dabei zu überwinden versuchen, sind nicht etwa Repression oder Bürokratie, sondern die
Politikverdrossenheit eines Großteils der Jugend und deren Zurückhaltung gegenüber politischer
Partizipation
und
aktiver
zivilgesellschaftlicher Projektarbeit. Auch hier
kann wieder eine Diskrepanz zwischen Ju-
gendlichen in den Küstenregionen und denen
im Landesinneren festgestellt werden. Dies
zeichnet sich in Projektfeldern wie der Gestaltung der lokalen Entwicklung oder auch
der politischen Bildungsarbeit deutlich ab. Nur
12% aller jungen Menschen in den ländlichen
Regionen partizipieren an solchen lokalen
Vorhaben, während der Anteil in der Küstenregion bei 38,5% liegt. Und an Maßnahmen
zur politischen Bildungsarbeit liegt der Beteiligungsgrad von Jugendlichen im Hinterland
bei 17,5%, an der Küste bei 25%. In beiden
Fällen sind Männer engagierter als Frauen.11
Eine Organisationsform neben der Neugründung von und Arbeit in Parteien ist das Engagement in Nichtregierungsorganisationen
(NGOs). Viele unterschiedliche Formen dieser Organisationskategorie haben sich einen
mittlerweile festen Platz in der tunesischen
politischen Landschaft verschafft. Initiativen
wie bspw. „IWATCH“, die sich gegen Korruption und für mehr Transparenz im politischen
Feld einsetzt, oder „Sawty“ (arabisch für
„Meine Stimme“), deren Mitarbeiter versuchen, Jugendlichen und ihren Forderungen
eine Stimme zu verleihen, leisten wertvolle Arbeit, um jungen Menschen in dem Land politisch zu sozialisieren und ihre Bereitschaft
zum politischen Engagement zu stärken.
Doch auch individuellere Möglichkeiten wie
die der Kunst und der Musik finden Gehör und
Zulauf. Zu Zeiten Ben Alis waren regimekritische Aussagen in Musiktexten verboten, wurden geahndet und Künstler inhaftiert.
Mittlerweile dienen sie als Sprachrohr, um die
anhaltende Frustration von Jugendlichen über
Arbeitslosigkeit, Armut und Perspektivlosigkeit zu verdeutlichen.12
Und doch haben viele der jungen Menschen
die Hoffnung auf eine aussichtsreiche Zukunft
in ihrem Land aufgegeben. Wenngleich in
mittlerweile abnehmendem Maße, so lassen
doch immer noch viele ihr Schicksal hinter
sich und versuchen mittels Flucht nach Europa zu gelangen, um sich dort eine Existenz
aufzubauen und durch hinzuverdientes Geld
ihren Familien in der Heimat zu helfen.
IV. Jugendpolitisch relevante Maßnahmen der Regierung und internationale
Kooperation
Auf unterschiedlichen Ebenen versucht die tunesische Regierung der aktuellen wirtschaft-
Petré, Tunisian youth counter radicalization, 2015.
Lorenzo, Radical Militant Groups Are Feeding Off of Tunisia’s Marginalized Youth, 2015.
11
Drissi, Breaking the barriers to youth inclusion, 2014.
12
Ebd.
9
10
88
Deutsches Orient-Institut
Tunesien
lichen Notlage in Tunesien entgegenzuwirken
– sowohl mit Präventivmaßnahmen als auch
mit Soforthilfe. Bezüglich des Ausbaus von
Wirtschaft und Industrie, also der Schaffung
von Arbeitsplätzen im Land, wird Tunesien
aus unterschiedlichen Gründen von ausländischen Investoren als wichtiger wirtschaftlicher
Standort bewertet. Nicht nur die Nähe zu Europa, sondern auch der im regionalen Vergleich hohen Grad der Industrialisierung, die
preisliche Wettbewerbsfähigkeit und die gut
ausgebaute Infrastruktur bilden hier positive
Anreize. Es wird mittelfristig damit gerechnet,
dass der zaghafte Wirtschaftsaufschwung mit
der Stabilisierung der politischen Verhältnisse
anhalten kann. Im Hinblick auf die 2014 demokratisch gewählte Regierung und die
davon ausgehenden politischen Aktivitäten
und Fortschritte, verbessert sich die allgemeine Situation im Land deutlich.
Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass
junge Menschen einen so großen Anteil an
der Gesamtbevölkerung ausmachen, sollte
der Fokus auf deren Förderung gelegt werden. Die Zusammenlegung von Arbeitsangebot und -nachfrage spielen hierbei eine
wichtige Rolle: Im Bereich des Personalmanagements könnten maßgebliche Fortschritte
durch qualifiziertes Personal erzielten werden, wünschenswert wäre auch eine
Neuvermessung der Zugänglichkeit zu Arbeitsmarktinformationen.13
Ein weiteres Handlungsfeld ist die Förderung
kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU).
Diese können mehr Arbeitsplätze schaffen,
wenn sie Zugang zu Krediten haben. Der
Mikrofinanzsektor ist in Tunesien jedoch noch
unterentwickelt. Daher unterstützt Deutschland
den Aufbau einer Aufsichtsbehörde für Mikrofinanzinstitutionen und stellt tunesischen Banken
Refinanzierungsmittel zur Verfügung, damit
diese Kredite an KMU ausgeben können.
Im Bereich von Dienstleistungen weisen sowohl der Gesundheitssektor als auch die ITBranche Wachstumspotenziale auf. Der
Tourismus sollte weiterhin als wichtigste Investition in die wirtschaftliche Zukunft Tunesiens angesehen werden. Die Regierung
sollte das Ziel verfolgen, das touristische
Angebot weiter aufzufächern und zu
modernisieren, um ein noch breiteres Kundenspektrum anzusprechen. Neben dem bereits existenten und wirtschaftlich gut
situierten Hoteltourismus für Badeurlauber
sollte vor allem der Natur- und Ökotourismus
13
14
BMZ, Tunesien: Situation und Zusammenarbeit, 2015.
Ebd.
weiter angetrieben werden. Diese Ziele verfolgt die Regierung bereits.14
Eine Lukrativitätssteigerung wird auch durch
Musikfestivals und ähnliche internationale
Veranstaltung erhofft, die vor allem jüngere
Menschen ansprechen sollen und den auch
im Ausland wahrgenommenen Charakter des
revolutionär Neuen im ‚neuen Tunesien’
unterstreichen soll. Nicht zuletzt setzte dabei
der 2015 an ein Quartett tunesischer zivilgesellschaftlicher Organisationen vergebene
Friedensnobelpreis ein ermutigendes Signal
auch an die Jugend des Landes, dass das
Ausland den Weg der sich etablierenden
Demokratie und die bisher erbrachten Leistungen im Rahmen des Transformationsprozesses wertschätzten.
Schließlich wird auch gegen die Korruption im
Land angekämpft. Maßnahmen wie bspw.
„AntiCor“ im Rahmen des UN-Sonderprogramms „PUND“ (Programme des Nations
Unies pour le Développement en Tunisie) stoßen auf überwiegend positive Resonanz
seitens der Bevölkerung, insbesondere der
Jugendlichen.
V. Fazit
Im Grunde fordert die tunesische Jugend vor
und auch noch nach der Revolution vom
Staat und der Politik Selbstverständlichkeiten
ein: eine Perspektive darauf, die Zukunft in
ihrem Land gestalten zu dürfen; bessere Lebensverhältnisse und nicht etwa das Leben
knapp über der Armutsgrenze; mindestens
eine angemessene, wenn möglich aber eine
zufriedenstellende Beschäftigung; und ein
Mitspracherecht an politischen Entscheidungsprozessen. Sie sind bereit, ihre Zukunft
und die Zukunft ihres Landes gemeinsam zu
formen, sofern sie eine Perspektive dafür
sehen und Vertrauen in staatliche Institutionen und Entscheidungsträger haben. Vertrauen und Hoffnung sind jedoch noch
mangelhaft ausgeprägt.
Die tunesische Jugend daher davon abzuhalten, das Land zu verlassen, sondern in Tunesien zu bleiben, ist eine schwierige Aufgabe,
derer sich nicht nur die tunesische Regierung,
sondern auch die EU als Zielregion vieler
Flüchtlinge annehmen muss. Im Vordergrund
der Bemühungen sollte demnach das Ziel stehen, ein stabiles und freundliches Investitionsumfeld zu schaffen und Tunesien als
wirtschaftlich attraktiven Standort für auslän-
Deutsches Orient-Institut
89
Tunesien
dische Investoren zu bewerben. Die Konditionen sind günstig und die Arbeitnehmer sind
vorhanden. Das ist ein essentieller Faktor um
Arbeitsplätze zu schaffen und somit die Jugend im Land zu halten.
Dieses Ziel ist jedoch nur durch eine politische
Konsolidierung und die zu schaffende verbes-
serte Sicherheitslage im Land möglich. Es liegt
nun an dem demokratisch gewählten Parlament und der Exekutive unter Präsident Beji
Caid Essebsi, Maßnahmen zu treffen, um die
tunesische Politik und die Wirtschaft auf den
richtigen, zukunftsorientierten Weg zu weisen.
Amin Maya
Literaturangaben
AMNESTy INTERNATIONAL, „Annual report: Tunisia 2010,“ 28. Mai 2010, http://www.amnestyusa.org/
research/reports/annual-report-tunisia-2010.
BEPPLER-SPAHL, SABINE, „Tunesien: Starke Bildung, schwache Wirtschaft,“ Novo Argumente, 18. Januar 2011, http://www.novo-argumente.com/magazin.php/novo_notizen/artikel/000775.
BMZ, „Tunesien: Situation und Zusammenarbeit“, 2015, https://www.bmz.de/de/was_wir_machen/laender_regionen/naher_osten_nordafrika/tunesien/zusammenarbeit/index.html.
DRISSI, MALIKA, „Breaking the barriers to youth inclusion,“ Worldbank, 2014, http://www.worldbank.org/en/country/tunisia/publication/tunisia-breaking-the-barriers-to-youth-inclusion.
LOETZER, KLAUS, „Wahlsieg der islamistischen Ennahda,“ Konrad-Adenauer Stiftung, 01. November 2011, http://www.kas.de/tunesien/de/publications/29284/.
LORENZO, KAMEL, „Radical Militant Groups Are Feeding Off of Tunisia’s Marginalized youth,“ Muftah, 26. Juni 2015, http://muftah.org/radical-militant-groups-are-feeding-off-of-tunisias-marginalized-youth/#.VlHM24S-Pq3.
MERSCH, SARA, „Wirtschaftsentwicklung Tunesien,“ GIZ, September 2015, http://liportal.giz.de/tunesien/wirtschaft-entwicklung/.
PETRé, CHRISTINE, “Tunisian youth counter radicalization with innovation,” Weltbank, 31. Juli 2015,
http://blogs.worldbank.org/arabvoices/tunisian-youth-counter-radicalization-innovation.
WIRTSCHAFTSKAMMER ÖSTERREICH, „Länderprofil Tunesien“, 2015, http://wko.at/statistik/laenderprofile/lp-tunesien.pdf.
Alle Internetquellen wurden am 11. Dezember 2015 geprüft.
90
Deutsches Orient-Institut
Vorstand und Kuratorium der Deutschen Orient-Stiftung
Vorstand der Deutschen Orienrt-Stiftung
Klaus Uwe Benneter
Rechtsanwalt und Notar
HEUSSEN Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
Vorsitzender
Dr. Gerald Bumharter
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Staatssekretär a.D.
Dr. Ralf Brauksiepe
Parlamentarischer Staatssekretär
Mitglied des Deutschen Bundestages
Stellvertretende Vorsitzende
Henry Hasselbarth
Vizepräsident für Nord- und Zentraleuropa der
Fluggesellschaft Emirates Airlines a.D.
Peter Brinkmann
Journalist
Dr. Michael Lüders
Islamwissenschaftler
Mitglied des Beirats von NUMOV
Michael Lüders Nahostberatung
Jürgen Chrobog
Staatssekretär a.D.
Mitglied des Vorstandes des NUMOV
Inhaber, The Foxhall-Group
Helene Rang
Stellvertretende Vorsitzende und Geschäftsführender
Vorstand von NUMOV
Inhaberin Helene Rang & Partner
Thomas Ellerbeck
Mitglied des Beirats des NUMOV
Mitglied des Vorstandes
TUI AG
Mitglieder des Vorstandes
Professor Dr. O. Faruk Akyol
Direktor
yunus Emre Enstitüsü
Prof. Dr. Friedhelm Gehrmann
Steinbeis University Berlin
Institut “Global Consulting and Government”
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Vorsitzender des Vorstandes der Gouverneure
Abu Dhabi University
Günter Gloser, MdB
Mitglied des Deutschen Bundestages 1994-2013
Staatsminister des Auswärtigen Amtes a.D.
Philipp Lührs
Deugro Middle East Regional Headquarters
Regional Vice President (RVP) - Middle East,
c/o deugro Qatar Co.
Saffet Molvali
Eren Holding A.S.
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ZDF Zweites Deutsches Fernsehen, German Television
Foreign Affairs
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Direktor des Deutschen Orient-Instituts / Botschafter a.D.
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hermann Parzinger
Präsident Stiftung Preußischer Kulturbesitz /
Prussian Cultural Heritage Foundation
Prof. Dr. Susanne Schröter
Professorin für "Ethologie kolonialer und postkolonialer
Ordnungen" an der Goethe-Universität Frankfurt
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Vorsitzender des NUMOV
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Kuratorium der Deutschen Orient-Stiftung
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Friedrich Alexander Universität, Erlangen-Nürnberg
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Inhaber
PrinzMedien
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Mitglied des NUMOV Juniorenkreises
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Direktor Generaldirektion für Zivilluftfahrt
Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
der Bundesrepublik Deutschland
Dr. Gerhard Sabathil
Direktor East Asia, Australia, Pacific
European External Service
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Vizepräsident Amtsgericht Tiergarten
Freie Universität Berlin
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Mitglied des Deutschen Bundestages a.D.
RA Rainer Wietstock
PricewaterhouseCoopers Aktiengesellschaft
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
Deutsches Orient-Institut
91
Vorstand und Beirat des Nah- und Mittelost-Vereins NUMOV
Vorstand des Nah- und MittelostVereins
Ehrenvorsitzender
Gerhard Schröder
Bundeskanzler a.D.
Geschäftsführender Vorstand
Helene Rang
Inhaberin
Helene Rang & Partner
Vorsitzender
Dr. Rainer Seele
Vorsitzender des Vorstandes
OMV Aktiengesellschaft
Stellvertretende Vorsitzende
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MB Zeppelin
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Sprecher der Geschäftsführung
SMS Holding GmbH
Dr. Martin Herrenknecht
Vorsitzender des Vorstandes
Herrenknecht AG
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Bilfinger SE
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und Technologie a.D.
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92
Oliver Hermes
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Flughafen Berlin Brandenburg GmbH
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VEM motors GmbH
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Flughafen Berlin Brandenburg GmbH
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S.E. Ing. Mubarak A. Al-Khafrah
Vorsitzender des Vorstandes, National
Industrialization Company (TASNEE),
Saudi-Arabien
Co-Vorsitzender des Vorstandes des
Saudi-German-Business Dialogue
Ehrenvorstand 1998-2005
Hans-Jürgen Wischnewski
Bundesminister a.D. †
Beirat des Nah- und Mittelost-Vereins
Jürgen Bubendey
Botschafter a.D.
Auswärtiges Amt
Ulrich Dill
VP Business Development GreenGulf
Rudolf Dreßler
Botschafter a.D.
Auswärtiges Amt
Dr. Aly Masednah El-Kothany
Botschafter a.D.
Thomas Ellerbeck
Mitglied des TUI AG
Management Board
Deutsches Orient-Institut
Bernd Erbel
Botschafter a.D.
Dr. Henryk Frystacki
Mitglied des Vorstandes a.D.
Siemens AG
Wilfried H. Graf
Mitglied des Vorstandes a.D.
Arab Bank AG
Dr. Gabriela Guellil
Referatsleiterin
Außenwirtschaftsförderung
Auswärtiges Amt
Dr. Jürgen Hellner
Botschafter a.D.
Auswärtiges Amt
Dr. Herbert Honsowitz
Botschafter a.D.
Auswärtiges Amt
Wolfgang Kenntemich
Chefredakteur a.D. Fernsehen
Mitteldeutscher Rundfunk
Dr. Hubert Lang
Botschafter a.D.
Auswärtiges Amt
Michael Ludwig
Rechtsanwalt /
Mitglied der Geschäftsführung a.D.
Verbundnetz Gas AG
Dr. Michael Lüders
Michael Lüders Nahostberatung
Stv. Vorsitzender der Deutschen OrientStiftung
Dr. Gunter Mulack
Botschafter a.D.
Direktor des Deutschen Orient-Instituts
Bernd Mützelburg
Botschafter a.D.
Auswärtiges Amt
Dr. Jürgen K. Nehls
Vorsitzender der Geschäftsführung a.D.
Giesecke & Devrient
Dietmar Ossenberg
Leiter des ZDF-Studios in Kairo
Bernhard von der Planitz
Protokollchef a.D.
Auswärtiges Amt
Klaus Rollenhagen
Managing Director a.D.
Verband Beratender Ingenieure VBI
Dr. Gerhard Sabathil
Direktor außenpolitische Strategie
und Koordination
EU Kommission
Eberhard Schanze
Botschafter a.D.
Auswärtiges Amt
Gerhard Smolibowski
Geschäftsführer
Excellence Building & Security GmbH
Dr. Rainald Steck
Botschafter a.D.
Auswärtiges Amt
Folkmar W. O. Stoecker
Botschafter a.D.
Auswärtiges Amt
Knut Witschel
Managing Director und Leiter der Abteilung Naher und Mittlerer Osten / Afrika
a.D.
Deutsche Bank AG
Karl Heinz Wittek
Botschaftsrat a.D.
Auswärtiges Amt
Dr. Thomas Wülfing
Rechtsanwalt
Germela (German Middle East Lawyer
Association)
Impressum
IMPRESSuM
Studie des Deutschen Orient-Instituts
Jugend im Nahen und
Mittleren Osten
Herausgeber:
Deutsches Orient-Institut
Projektleiter:
Benedikt van den Woldenberg
Redaktion:
Ludwig Schulz
Benedikt van den Woldenberg
Autoren der Analysen
Ägypten: Salma Hamed (Januar 2016)
Algerien: Hichem Bouguerra und Cai Schultz (Januar 2016)
Iran: Nilofar Bahadorvand Sheni (Januar 2016)
Jordanien: Benedikt van den Woldenberg (Januar 2016)
Marokko: Katharina Griethe (Januar 2016)
Saudi-Arabien: Sebastian Sons (Januar 2016)
Türkei: Ludwig Schulz (Januar 2016)
Tunesien: Amin Maya (Januar 2016)
[email protected]
www.deutsches-orient-institut.de
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Alle Rechte vorbehalten.
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Layout und Grafiken: Bülent Saǧlam
Deutsches Orient-Institut
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