Tod dem Verräter!“ – Vor 30 Jahren starb Lutz Eigendorf Braunschweig Bis heute fehlt der letzte Beweis. Doch neue Erkenntnisse legen nahe, dass der Tod des Fußballstars nicht nur ein Unfall war. Braunschweig. Als der Leipziger Sportjournalist Frank Müller, heute 56, nach dem Ende der DDR auf den Fall Eigendorf stieß, entdeckte er einen nicht für möglich gehaltenen persönlichen Bezug. „Ich kniete mich immer tiefer in die Akten und Dokumentationen – und da wurde mir klar, dass ich eine der Schlüsselfiguren der Operation gegen Lutz Eigendorf gut kenne“, sagt Müller im Gespräch mit unserer Zeitung. Es ist ein gewisser Peter H. alias KP „Peter“, den der Sportjournalist jetzt am Telefon zur Rede stellte. KP steht für Kontaktperson im Dienste der DDR-Staatssicherheit. Als solcher war „Peter“ ausweislich der Stasi-Unterlagen auf Gabriele Eigendorf angesetzt, die Frau des DDR-Fußballstars Lutz Eigendorf, der 1979 in den Westen zum 1. FC Kaiserslautern flüchtete, 1982 zu Eintracht Braunschweig wechselte – und am 5. März 1983 in Braunschweig unter bis heute nicht restlos geklärten Umständen bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Am Dienstag ist das 30 Jahre her. Frank Müller, der für die „Leipziger Volkszeitung“ arbeitet, hatte in dieser Sache ein AhaErlebnis nach dem anderen. Er hatte 1979 zufällig als Kamerad des KP „Peter“ in einer Offiziersschule der Luftwaffe der Nationalen Volksarmee mitbekommen, wie dieser gleichsam „über Nacht“ verschwunden war. Sogar die Vorgesetzten seien darüber verstört gewesen – und hätten keine schlüssige Erklärung abgeben können. Heute weiß man sicher, dass KP „Peter“ es war, der von der Stasi gezielt als „Romeo“ auf Gabriele Eigendorf angesetzt wurde, um sie daran zu hindern, ihrem Mann in den Westen zu folgen. „Peter“ war ihr Jugendfreund, Lutz Eigendorf hatte sie ihm ausgespannt. Der eher zweitklassige Fußballer hasste darüber hinaus den DDR-Star Eigendorf, dem trotz seiner Allüren und Eskapaden alles zufiel. Jetzt spielte er drüben in der Bundesliga. KP „Peter“ gewann das Vertrauen von Gabriele Eigendorf, die sich in ihn verliebte. Der StasiInformant, der seinen Führungsoffizieren über alles haarklein berichtete, betrieb erfolgreich ihre Scheidung von Eigendorf, adoptierte dessen kleine Tochter, heiratete sein Opfer – und zeugte mit ihr ein Kind. Von dieser Seite hatten Stasi-Boss Erich Mielke und insgesamt 70 haupt- und nebenamtliche Spitzel, die auf Lutz Eigendorf in den Vorgängen „Verräter“ und „Rose“ angesetzt waren, also nichts mehr zu befürchten. Sportjournalist Frank Müller hat diese Geschichte akribisch recherchiert, ebenso wie Dokumentarfilmer und Autor Heribert Schwan, früher WDR. Diese Geschichte macht klar, dass die DDR und Stasi-Chef Erich Mielke zwischen 1979 und 1983 den „Verräter und Staatsfeind“ Lutz Eigendorf nach den Gesetzen der Tscheka jagten, jener Geheimpolizei Stalins zur Bekämpfung der Konterrevolution. Mit allen Mitteln. Ob Lutz Eigendorf tatsächlich wie geplant in Braunschweig ermordet wurde, steht bis heute nicht endgültig fest. „Der letzte Beweis fehlt immer noch“, sagt der einstige Oberstaatsanwalt Hans-Jürgen Grasemann. Der frühere Sprecher der Erfassungsstelle Salzgitter für das DDR-Unrecht gilt als einer der besten Experten bei der Untersuchung der Stasi-Verbrechen. Vor 30 Jahren – am Samstag, 5. März 1983 – kam Lutz Eigendorf mit seinem Alfa Romeo eine Stunde vor Mitternacht auf der regennassen Forststraße zwischen Querum und Bienrode von der Fahrbahn ab und prallte gegen einen Baum. Am 7. März, 9.15 Uhr, erlag er in der Klinik Holwedestraße seinen schwersten Verletzungen. Eigendorfs Blutalkoholgehalt betrug 2,2 Promille, der Mann fuhr gern schnell und hatte an diesem Tag richtig Frust. Eintracht-Trainer Uli Maslo hatte den formschwachen Profi in der Partie gegen VfL Bochum auf der Bank schmoren lassen. Die Sache schien klar. Ein Unfall. Eigenverschulden. Damals war die DDR von der Bundesrepublik faktisch anerkannt, sogar Franz-Josef Strauß fädelte gerade einen Milliardenkredit für die Kommunisten ein. Ein Mordanschlag durch die Tschekisten auf dem Gebiet der Bundesrepublik hätte hierfür sicherlich einen schweren Rückschlag bedeutet. Aber die Gerüchte kamen sofort auf, verstummten nie – und heute formen sich viele Mosaikteile fast zur Gewissheit. Wenn es doch ein Unfall war, so wäre das Schicksal der Stasi höchstens zuvorgekommen. Sie hatte mit dem IM „Schlosser“ – Karl-Heinz F. – einen alten Freund Eigendorfs aus DDRZeiten direkt wieder in sein persönlichstes Umfeld eingeschleust. Er hatte das Vertrauen seiner neuen Frau im Westen, übernachtete im Haus in Grassel im Landkreis Gifhorn, durfte das neugeborene Baby sehen. Es ist bestürzend, wenn man heute liest: IM „Schlosser“ war auch dazu ausersehen gewesen, sich an Gabriele Eigendorf in Ost-Berlin als „Romeo“ heranzumachen. Diese hatte ihn jedoch abgewiesen. Das macht auch die Erinnerungen des Leipziger Sportjournalisten Frank Müller so interessant. Sichtbar wird das Bild von einer Art Soldaten, die am Einsatzort der menschlichen Beziehungen zu Waffen werden – auch im „Operationsgebiet“, der Bundesrepublik Deutschland. Karl-Heinz F., der in diesen Tagen mit Altersdemenz sein Dasein in einem Pflegeheim fristet, hat den Autor Heribert Schwan („Tod dem Verräter – der lange Arm der Stasi“) per Kurzmitteilung mit dem Tod gedroht. Vor dem Düsseldorfer Landgericht wegen eines Raubüberfalls angeklagt und verurteilt, hatte Karl-Heinz F. 2010 eingeräumt, den Auftrag zur Ermordung Lutz Eigendorfs erhalten zu haben. Diesen habe er jedoch nicht ausgeführt. Heribert Schwan wird auch heute noch fuchsteufelswild, wenn er auf F. angesprochen wird. Mit Hilfe eines ehemaligen Offiziers war es ihm gelungen, in der Stasi-Unterlagenbehörde ein bemerkenswertes Dokument ausfindig zu machen. Zwar sind in Bezug auf IM „Schlosser“ tatsächlich zwischen 1980 und 1983 keine Akten auffindbar, was als eines der schlagendsten Indizien gewertet werden kann. Hier ist offenbar systematisch Material vernichtet worden. Das eine Blatt aber, in dem effektive Tötungsarten diskutiert werden, liegt vor. Und man kann dort die handgeschriebene Notiz lesen: „verblitzen, Eigendorf.“ So könnte es gewesen sein: Lutz Eigendorf, ohnehin in einer psychischen Krise, wird bedroht, bekommt Alkohol und Medikamente eingeflößt. Er jagt im Alfa Romeo davon. In der Kurve auf der Forststraße, damals ein berüchtigter Unfallschwerpunkt, wird er durch wirkungsvolles Blenden („verblitzen“) exekutiert. Hans-Jürgen Grasemann glaubt nach wie vor nicht, dass es so war. „Warum ein solcher Aufwand? Gift, das schwer nachzuweisen ist, gehörte doch auch zum Arsenal der Stasi“, sagt er. Und erinnert an den Fall des Fluchthelfers Wolfgang Welsch, der im Israel-Urlaub das Gift Thallium in Bouletten durch IM „Alfons“ verabreicht erhielt. Der bekam sechs Jahre und sechs Monate wegen versuchten Mordes. Stasi-General Heinz Fiedler als Chefplaner hat sich inzwischen in der U-Haft in Berlin erhängt. Die mutmaßlichen Mörder Lutz Eigendorfs und ihre Chefplaner sind in dieser Sache bislang nicht belangt worden – ein Skandal. Auf dem Waldfriedhof in Kaiserslautern, wo Lutz Eigendorf am 17. März 1983 beerdigt wurde, liegen die sterblichen Überreste eines Opfers. Mit den Möglichkeiten, die die Wissenschaft heute kennt, könnte endgültig der letzte Beweis geliefert werden.
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