Rede anlässlich der Ausstellungseröffnung "I got Rhythm"

MINISTERIUM FÜR WISSENSCHAFT, FORSCHUNG UND KUNST
Rede von Staatssekretär Jürgen Walter
anlässlich der Eröffnung der Ausstellung "I got Rhythm“
im Kunstmuseum Stuttgart
am 09.10.2015 in Stuttgart
Es gilt das gesprochene Wort!
Begrüßung,
wenn man dieser Tage in einer Suchmaschine die Begriffe Dix und Jazz
eingibt, landet man überraschenderweise bei einer Internetpartnervermittlung. Unter dem Titel Sex, Jazz und Kokain wird zu einer Führung im
Stuttgarter Kunstmuseum eingeladen.
Nun kann Ihnen niemand sagen, ob aus diesem Führungsangebot langfristige Beziehungen entstehen werden. Aber eins steht fest: der Jazz und die
Moderne Kunst sind seit über hundert Jahren eine inspirierende Liaison.
Wie kommt das? Was ist eigentlich Jazz, was prädestiniert ihn dazu in die
Nähe der bildenden Kunst zu rücken. Oft wurde versucht, den Jazz zu definieren. Joachim Ernst Berendt hatte darin eine große Meisterschaft erlangt,
nur helfen seine Versuche nicht richtig weiter.
Königstraße 46, 70173 Stuttgart, Telefon 0711 279-0, Telefax 0711 279-3080, [email protected],
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Ebenso wenig, wie die oft zitierte lakonische Bemerkung von Miles Davis:
„Jazz sei ein Wort der Weißen selbstverständlich nicht.“
Versuchen wir es deshalb mit Martin Luther King. Er schrieb das Vorwort
zu den ersten Berliner Jazztagen 1964. Darin heißt es u.a.:
„Jazz handelt vom Leben.
Jazz ist triumphale Musik.
Der Jazz singt die Lieder einer komplizierter gewordenen großstädtischen
Existenz.
Wenn das Leben keine Ordnung und keinen Sinn mehr bietet, dann schafft
der Musiker Ordnung und Sinn mit den Klängen der Erde, die durch sein
Instrument fließen.“
Ja, Jazz ist triumphale Musik. Deswegen fasziniert er uns. Ein Triumph
über Mittelmaß, über Intoleranz, ein Triumph für die Freiheit und die Demokratie. Der Jazz triumphiert über Konventionen und Normen. Der Jazz
blickt nicht zurück, sondern will sich ständig erneuern und Neues schaffen.
So ist es kein Wunder, dass nach dem 1. Weltkrieg eine erste große Jazzwelle nach Europa und Deutschland schwappte. Dort fiel er auf besonders
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fruchtbaren Boden, denn nach dem Ende der Monarchie und dem 1. Weltkrieg saugte man – zumindest ein Teil der Gesellschaft – alles Neue und
Moderne wie ein Schwamm das Wasser auf.
„Der Klang des Jahrhunderts“, wie Cocteau den Jazz nannte, war in jeder
Hinsicht salonfähig geworden. Denn der Jazz hatte wie die Moderne Tempo, Rhythmus und Bewegung.
Wolfgang Sandner fasst das Neue, Faszinierende am Jazz in seiner Biographie über Keith Jarrett so zusammen: „Dieser Rhythmus war die erste musikalische Auflehnung der Afro-Amerikaner gegen das europäische Zeitgefühl, ein Knüppel zwischen marschierende Beine. Die Synkopen brachten
alles durcheinander, danach wollte keiner mehr geradeaus musizieren. Das
virtuose Hakenschlagen um die Eckpfeiler bürgerlichen Denkens und Fühlens war zur sinnlichen Mode geworden“.
Gleichzeitig lassen sich amerikanische Jazzmusiker bis zum heutigen Tag
von moderner Kunst inspirieren. Auf beiden Seiten wurde an einer radikalen Erneuerung, dem Brechen von Konventionen gearbeitet. Und amerikanische Maler wie beispielsweise der große Jazzfan Jackson Pollock sahen
im Jazz die einzig authentische amerikanische Kunst, sozusagen die klassische Musik der Neuen Welt.
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Und es ist sicherlich kein Zufall, dass auf dem Cover von Ornette Colemans
epochalem Werk „Free Jazz – A collective Improvisation“ Pollocks „White
Light“ abgebildet ist. Pollock hielt den Jazz nach eigenen Angaben für das
einzig wirklich Kreative im Land.
Bildende Künstler und Jazzmusiker (oder auch moderne Komponisten wie
Schönberg oder später Stockhausen) entdeckten in der Kunst des Anderen
sich selbst, ihre eigenen Vorstellungen und Ideen. Der Jazzmusiker Bob
Brookmeyer beschrieb dieses Gefühl so: „Nachdem ich Klees farbige Quadrate gesehen hatte, im MoMa gewesen war und Drucke von Modigliani und
De Kooning besaß, eröffnete sich mir eine neue Welt des Gesichtssinns und
des Vergnügens. Nun konnte ich so sehen, wie ich hören konnte!“ Maler
versuchten Töne zu malen und Musiker Farben zu spielen.
Der Bassist Eberhard Weber, den wir dieses Jahr mit dem neuen Jazzpreis
für das Lebenswerk ausgezeichnet haben, nannte Mitte der siebziger Jahre
seine Band: Colours. Und wer seinen singenden Bass in den Ohren hat, der
weiß, hier hat einer mit seinem Instrument gemalt. Natürlich konnte die gegenseitige Inspiration nur gelingen, weil sowohl Musiker als auch Künstler
gegenseitig die hohe künstlerische Qualität anerkannten und sich darin wiederfanden.
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Henri Matisse nannte sein 1947 veröffentlichtes Künstlerbuch „Jazz“, weil
es sich, wie er schrieb, bei den Werken um „chromatische und rhythmisierte
Improvisationen“ handelte.
Die Improvisation ist ein wesentliches Element des Jazz, ein Teil seiner
Faszination liegt gerade darin, das gleiche Stück jedes Mal anders zu spielen. Darin liegt auch der Unterschied zur Bildenden Kunst. Nur in Ausnahmefällen wird eine Künstlerin oder ein Künstler ein veröffentlichtes Bild
wiederholen und dann auch noch verändern.
Bilder sind eben einmalig und statisch, Musik kann man in diesem Sinne
nie besitzen. Vielleicht waren und sind Künstler auch deswegen bis heute
vom Jazz so angetan.
Der Pianist Kenny Werner nannte eine CD schlicht „Paintings“. Nach etlichen Besuchen des New Yorker MoMa widmete er die Stücke seiner CD
Malern wie Picasso, Kandinsky oder den Kubisten.
Aber man muss gar nicht so weit gehen. An der Staatlichen Akademie für
Bildende Künste in Stuttgart lehrte der Schweizer Niklaus Troxler fünfzehn
Jahre Kommunikationsdesign. Schon lange zuvor hatte er das Willisauer
Jazzfestival mitten in den Schweizer Bergen gegründet. Die von ihm entworfenen Festivalplakate sind kleine Kunstwerke, in denen die Kunst den
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Jazz feiert und umgekehrt. Und auch einer unser bekanntesten zeitgenössischen Maler, nämlich Ben Willikens, ist vom Jazz beeinflusst, wie im Übrigen auch seine Vorbilder des Bauhauses.
Der Jazz, sage ich aus eigener Erfahrung, kann das Denken und Fühlen verändern. John Coltranes „A Love Supreme“ hat mir als 16-Jähriger das Gefühl gegeben, ein neues Leben beginnt.
Michael Köhlmeier hat dies in seinem Buch „Abendland“ so beschrieben:
„Und weg war mein Trübsinn! Weg meine Langeweile. Hier wurde mir ein
neues Elixier angeboten: Jazz. (...) Der Jazz war das Blut, das Odysseus vor
der Pforte des Hades ausgießt, damit sich die grauen Seelen etwas frische
Farbe ansaufen“.
Nach der 2009 in Paris abgehaltenen Ausstellung „Le siècle du Jazz“ ist die
Stuttgarter Ausstellung die erste umfassende Manifestation, die auf beeindruckende Weise die wechselseitige Inspiration von Moderner Kunst und
Jazz zeigt. Sie erleben, welche große Stimulanz für jeden Einzelnen, aber
auch für die gesamte Gesellschaft von Kunst und Kultur ausgehen. Großartige Werke von Künstlern wie Otto Dix, Henri Matisse, Jackson Pollock,
Piet Mondrian, Ernst Ludwig Kirchner scheinen den Rhythmus und das
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Tempo des Jazz auf Leinwand festzuhalten. Die Musik springt einem förmlich ins Auge.
Spätestens als ich den Katalog in den Händen hielt, wurde mir klar: auf diese Ausstellung habe ich schon immer gewartet. Hinzu kommt ein umfangreiches und viel versprechendes Rahmenprogramm. Deshalb mein herzlicher Dank an Ulrike Groos, die ich oft beim Jazz treffe, an die Kuratoren
Sven Beckstette und Markus Müller. Und auch an alle anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die zur Umsetzung dieser wunderbaren Idee beigetragen haben. Die 100.000 Euro, die das Land über die Stiftung zum Gelingen beigetragen hat, sind bestens angelegt!
Lassen Sie sich also inspirieren von dieser wunderbaren Ausstellung, hören
Sie viel Jazz, es wird ihr Leben bereichern! Mögen die Besucherinnen und
Besucher Schlange stehen. Mit dieser Ausstellung wird Stuttgarts Ruf als
Kulturhauptstadt befördert. Stuttgart hat eben viel mehr zu bieten als sinnentleerte Konsumtempel!
Meine Damen und Herren, der Jazz wurde oft tot gesagt, oder ihm zumindest bescheinigt, er würde komisch riechen. Wer weiß, wie lebendig der
Jazz auch heute noch daherkommt, wer seine Vielfalt schätzt, der denkt eher in eine andere Richtung: wir leben in einer Zeit der Umbrüche und Krisen. Dies bedeutet, wir müssen offen und neugierig für neues und weltoffen
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sein - und - womöglich mehr improvisieren müssen. Ich kann Ihnen versichern, den Soundtrack dazu liefern uns sicher nicht Helene Fischer oder
Madonna.
Deshalb lassen Sie es uns mit Miles Davis, John Coltrane, Wayne Shorter
und den anderen großen Jazzmusikern versuchen.
Vielen Dank!