ALSt XXIV/18/45 - Universität Hamburg

Gutzeit, Barbara
Anlagen:
Rieckmann, Hans-Joachim <[email protected]>
Montag, 22. Februar 2016 19:14
Gutzeit, Barbara; Alewell; Böschen ; Bosse; Bruske; Busemann; Franzen;
Geisweller; Gräber; Hüneke; Job; Jung; Kantack, Andrea; Kanzler (Universität
Hamburg); Kryg; Lagod; BAN9359_Contact; Matheis; Neumann; O'Mahony,
Maura-Dell; Orth; Pauls; Präsident; Schneider; Schröder; Schwabl; Sommer;
Struckmeier; Tschirkov, Carmen; VP/Fr; VP/L; VP/R; VP/Ru Sekretariat;
Warninck, Burkhard; Zeese, Anja; Zemene, Susanne; Lübke
Block; Gross; Hesselbarth; Riecke; Rolof; Youett ; Altenhoff; Claussen;
Dehghani; Epple; Vogt; Bassen Alexander; Benthien; Bismayer; Boenigk;
Burger; Clement, Michel (Kontakt); Felix; Gutmann; Hauschildt; Kühn;
Luinstra; Nöth, Markus (Kontakt); Oepen; Oettingen; Platzer, Ursula; Seifert;
Sekretariat Oettingen; Spiess; Flick; Floigl; Mätschke, Elke; Meissner;
Nötzold; Senke; AStA UHH (Kontakt); Degenhardt; G; G Stellvertretung;
Gattermann-Kasper; Stabsstelle Gleichstellung; tvpr, Universität; UKE NPR;
UKE WIPR; WPR
AW: Weitere Vorlage zur 18.Sitzung des ALSt am 24.02.2016 | Anmerkung
zum Thema "Anwesenheitspflicht"
Bildungspolitik_Geht doch einfach heim.docx
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Liebe Ausschusskolleginnen und -Kollegen,
beim Thema „Anwesenheitspflicht“ vertrete ich bekanntlich eine andere Ansicht als die Mehrheit des ALSt. Ich
möchte dies noch einmal kurz begründen. Es geht bei der Anwesenheitspflicht nicht um eine Verschulung des
Studiums, sondern zunächst um die Voraussetzungen zur Teilnahme an der Prüfung eines inhaltlich und terminlich
selbstgewählten Seminars (zumindest am FB Sozialwissenschaften sind die Wahlmöglichkeiten recht groß). Wenn
mehr als zwei von 14 Terminen versäumt werden, kann die/der Lehrende zusätzliche Studienleistungen verlangen,
die sich auf den Inhalt der versäumten Stunden beziehen sollen. Wer diese Prüfungsvoraussetzungen nicht erfüllen
kann oder will, kann sich am FB Sozialwissenschaften bis zum letzten Tag der Vorlesungszeit, also jeweils Ende
Januar bzw. Mitte Juli, von einer Prüfung im Seminarkontext wieder abmelden und in einem der folgenden Semester
zu einer anderen Veranstaltung + Prüfung anmelden. Wegen der Nichterfüllung der Anwesenheitspflicht fällt also
niemand durch eine Prüfung durch.
Die derzeit am FB Sozialwissenschaften geltende Prüfungsordnung gibt den Lehrenden das Recht, auf die
grundsätzlich in Seminaren bestehende “Anwesenheitspflicht“ zu verzichten. Grob geschätzt ist dies in mindestens
der Hälfte der Seminare der Fall.
Das Argument, dass Lehrende, die auf Anwesenheit im Seminar bestehen, sich mit der Seminargestaltung weniger
Mühe machen müssen, halte ich aus zwei Gründen für nicht überzeugend. Erstens halte ich diese
lehrendenzentrierte Auffassung für falsch: gute Seminare sind nicht die Leistung guter DozentInnen, sondern immer
das Ergebnis einer Gemeinschaftsproduktion von Lehrenden und Studierenden. Zweitens gibt es m. M. n. wenn
überhaupt, dann eher einen umgekehrten Zusammenhang zwischen Anwesenheitspflicht und DozentInnenEngagement: wer auf Anwesenheit besteht, muss sich tendenziell mehr Mühe geben, als jemand, der es den
Studierenden freistellt, ob sie am Seminar teilnehmen oder nicht.
Ein weiteres Argument gegen die Möglichkeit des Bestehens auf Anwesenheit als Prüfungsvorleistung geht von der
Prüfung aus. Lehrende, die ein Motiv für die freiwillige Seminarteilnahme schaffen wollen, könnten ihre Seminare so
gestalten, dass die Kompetenzen, die am Ende geprüft werden, gleichzeitig der hochschuldidaktisch vermittelte und
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lebendig erfahrbare Lerngegenstand des Seminars sind, so dass Seminarteilnahme und ‚kompetenzorientierte‘
Prüfung eine erkennbare Einheit bilden. Wenn Studierende dann die Leistung, die in der Prüfung gefordert wird,
auch ohne Seminarteilnahme erbringen können, warum soll man sie dann zwingen, etwas zu lernen, was sie schon
können oder wissen oder sich anderweitig beibringen konnten? – So in etwa die Position einer Lehrenden der
Fakultät Wirtschaft und Soziales der HAW, Department Soziale Arbeit, die mir erklärte, warum es an der HAW in der
Alexanderstraße auch in Seminaren keine Anwesenheitspflicht gibt und die Seminare trotzdem meist gut besucht
sind. Man muss hinzufügen, dass es an der HAW eine sehr entwickelte Kultur der Weiterentwicklung und
Qualitätssicherung der Lehre durch kollegiale Beratung und Hospitation gibt.
Das vorstehende Argument ist nicht ganz unplausibel. Allerdings sehe ich zum einen Unterschiede zwischen dem
Studium an der UHH und der HAW (in Soziologieseminaren des FB Sozialwissenschaften beispielsweise werden nicht
oder nicht nur anwendungsorientierte Kompetenzen vermittelt, die man im Seminar einüben und erfahrbar machen
kann). Zum anderen sehe ich Unterschiede in der Qualität der Lehre, der Lehr-/Lernkultur und der Kultur der
kollegialen Kooperation und Beratung in Fragen der Seminargestaltung: hier scheint mir die HAW der Uni weit
voraus zu sein.
Schwerer als diese Unterschiede wiegt m. E. jedoch der Einwand, dass Bestrebungen, die Anwesenheitspflicht in
Universitätsseminaren generell abzuschaffen, eine falsche und hochschulpolitisch riskante, weil dem neoliberalen
Denken unfreiwillig in die Hände spielende Reaktion auf die z. T. ja durchaus immer noch unbefriedigende Qualität
von Seminarveranstaltungen darstellt („Referateseminare“). Mit der generellen Aufhebung der Anwesenheitspflicht
degradiert sich nämlich eine vom Diskurs unter Anwesenden lebende Institution selbst, statt vehement für eine
Personalausstattung einzutreten, die anspruchsvolle akademische Lehre ermöglicht (siehe dazu auch den
beiliegenden Artikel aus der Süddeutschen Zeitung vom 8. 2. 2016). Lehrende könnten zudem vermehrt auf die Idee
kommen, ihre Veranstaltungen auf online-Seminare, sog. Webinare oder Mischformen umzustellen, wenn immer
wieder so sehr betont wird, dass man zu Hause viel besser lernen könne und die Anwesenheitspflicht eine
Zumutung sei. Ich würde eine solche Entwicklung bedauern.
Soweit in Kürze meine Argumente für die Beibehaltung eines Passus in der Prüfungsordnung, der die Pflicht zur
Teilnahme an einer Lehrveranstaltung als Prüfungsvoraussetzung weiterhin möglich macht. Und zwar möglich
macht, ohne dass die wenigen „hochschuldidaktisch begründeten Ausnahmefälle“ (Beschluss ALSt vom 8. 7. 2015)
nach dem Vorbild der Erziehungswissenschaft in den FSB explizit aufgeführt werden müssen.
Mit freundlichen Grüßen
Hans-Joachim Rieckmann
Hans-Joachim Rieckmann
Universität Hamburg
Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
Fakultätsverwaltung: Abteilung Studienmanagement
Studienbüro Sozialwissenschaften
Leiter des Studienbüros Sozialwissenschaften
Studienkoordinator:
Teilstudiengänge Sozialwissenschaften (Lehramt)
Allendeplatz 1, Raum 254
D-20146 Hamburg
Telefon: +49 40 42838-3980
Telefax: + 49 40 42838-8395
E-Mail: [email protected]
Website: www.wiso.uni-hamburg.de/studienbuero-sowi
Persönliche Sprechzeiten:
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Von: Gutzeit, Barbara [mailto:[email protected]]
Gesendet: Mittwoch, 17. Februar 2016 12:22
An: Alewell; Böschen ; Bosse; Bruske; Busemann; Franzen; Geisweller; Gräber; Hüneke; Job; Jung; Kantack, Andrea;
Kanzler (Universität Hamburg); Kryg; Lagod; BAN9359_Contact; Matheis; Neumann; O'Mahony, Maura-Dell; Orth;
Pauls; Präsident; Rieckmann, Hans-Joachim; Schneider; Schröder; Schwabl; Sommer; Struckmeier; Tschirkov,
Carmen; VP/Fr; VP/L; VP/R; VP/Ru Sekretariat; Warninck, Burkhard; Zeese, Anja; Zemene, Susanne; Lübke
Cc: Block; Gross; Hesselbarth; Riecke; Rolof; Youett ; Altenhoff; Claussen; Dehghani; Epple; Vogt; Bassen Alexander;
Benthien; Bismayer; Boenigk; Burger; Clement, Michel (Kontakt); Felix; Gutmann; Hauschildt; Kühn; Luinstra; Nöth,
Markus (Kontakt); Oepen; Oettingen; Platzer, Ursula; Seifert; Sekretariat Oettingen; Spiess; Flick; Floigl; Mätschke,
Elke; Meissner; Nötzold; Senke; AStA UHH (Kontakt); Degenhardt; G; G Stellvertretung; Gattermann-Kasper; Gutzeit,
Barbara; Stabsstelle Gleichstellung; tvpr, Universität; UKE NPR; UKE WIPR; WPR
Betreff: Weitere Vorlage zur 18.Sitzung des ALSt am 24.02.2016
Sehr geehrte Mitglieder des ALSt,
anbei finden Sie eine weitere Vorlage zur Sitzung des Ausschusses für Lehre und Studium am 24.02.2016.
Mit freundlichem Gruß
Barbara Gutzeit
Universität Hamburg
Geschäftsführung Akademischer Senat
Mittelweg 177, D-20148 Hamburg
+49 (040) 428 38 - 1806 (Fon)
+49 (040) 427 977 - 023 (Fax)
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Bildungspolitik
Geht doch einfach heim
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Von Steffen Martus
Schleswig-Holstein hat gerade die allgemeine Anwesenheitspflicht für Studierende
abgeschafft. Die Landespolitik folgt damit einem Trend. Zuvor wurde in Nordrhein-Westfalen
um eine entsprechende Veränderung des Hochschulgesetzes und seine Durchführung erbittert
gerungen. Vielleicht sind die rechtlichen Argumente für diese Entwicklung triftig. Es gibt
zudem gute Gründe dafür, dass sich Studierende für diese oder jene Seminarsitzung
entschuldigen: weil sie sich um Angehörige oder Kinder kümmern müssen, weil ihnen selbst
eine Krankheit zu schaffen macht oder weil sie sich ihren Unterhalt verdienen müssen, um
studieren zu können. Auch schadet es nicht, sich dort von einer Fremdverpflichtung zu
verabschieden, wo man ohnehin Selbstmotivation erwarten darf.
Problematisch ist die Abschaffung der Anwesenheitspflicht jedoch aus einem ganz anderen
Grund: Der Bildungspolitik scheint es weitgehend gleichgültig zu sein, ob die von ihr
beschworene "Gemeinschaften der Lehrenden und Lernenden" sich wechselseitig darauf
verlassen darf, dass man sich zu gegebener Zeit in einem Raum zusammenfindet. Die
politischen Verlautbarungen zeigen kein Verständnis dafür, was mit der regelmäßigen
Anwesenheit auf dem Spiel steht.
Die Politik sollte lieber für mehr Dozentenstellen sorgen, als den Seminarbetrieb in Frage zu
stellen
------------------------------------------------------------------------------So erlaubt etwa die nord-rheinwestfälische "Begründung" für das neue "Gesetz über die
Hochschulen" nur noch in besonders ausgezeichneten einzelnen Fällen, dass die Universität
von der kontinuierlichen Präsenz aller Lernenden ausgeht. In solchen Ausnahmesituationen
muss "ohne jeden Zweifel vermutet werden" können und für "jeden Durchschnittsbeobachter
unmittelbar einsichtig" sein, dass das "konkrete Lernziel der konkreten Lehrveranstaltung"
nur dann erreicht wird, wenn Anwesenheit gegeben ist. Auf dieser Grundlage wird
insbesondere das Selbstverständnis einer gemeinsamen Arbeitsweise radikal infrage gestellt,
die im 18. Jahrhundert an deutschen Universitäten entwickelt und als Erfolgsmodell seit dem
19. Jahrhundert weltweit exportiert wurde - in der "Begründung" heißt es: "Bei der
Lehrveranstaltungsform des Seminars liegen diese Erfordernisse offensichtlich nicht vor."
"Offensichtlich"? Schon diese Formulierung macht misstrauisch. Tatsächlich lassen sich
Enttäuschungen im Lehrbetrieb aus hochschulpolitischen Gründen nicht immer vermeiden: Es
fehlt an Stellen für Lehrpersonal. Aufgrund des hohen Lehrdeputats kann zudem neben
Forschung, Drittmitteleinwerbung und Selbstverwaltung nicht jede Veranstaltung den hohen
Ansprüchen genügen, die die Lehrenden und die Lernenden an Seminare stellen. An der IvyLeague-Universität Princeton, die die Politik den Hochschulen hierzulande als Vorbild
empfiehlt, wird gerade eine Debatte über das Deputat geführt: ob man von vier auf drei
Seminare im Jahr zurückgehen sollte, um die Ausbildung zu verbessern. Das entspräche
einem Drittel der Lehrverpflichtung eines hiesigen Professors. Solche Gedankenspiele würde
man sich in Deutschland wünschen. Einige Bemerkungen im gerade erschienenen "ImbodenBericht" zur Evaluation der vergangenen Exzellenzinitiative gelten daher der "Qualität der
Lehre" als einer wichtigen "Baustelle". Die Expertenkommission weist auf einen wichtigen
Sachverhalt hin: Es hilft den Studierenden generell nicht weiter, wenn sie die Verkörperungen
wissenschaftlicher Exzellenz aus der Ferne beobachten.
Die neuen Hochschulgesetze dagegen degradieren das Seminar generell: "Das mit derartigen
Lehrveranstaltungen oftmals verfolgte Lernziel der Einübung in den wissenschaftlichen
Diskurs lässt sich auf vielfältige Weise und angesichts heutiger Medien nicht ausschließlich
bei Anwesenheit vor Ort erreichen" - eine gewagte These. Sie missachtet alle Einsichten in
die soziale Konstitution von Erkenntnis, die die Wissenschaftstheorie der letzten Jahrzehnte
erbracht hat. Die Universität ist unter anderem deswegen eine "Anwesenheitsinstitution"
(Rudolf Stichweh), weil in Seminaren die "Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden" in
der wechselseitigen Beobachtung aller Beteiligten gebildet wird. Dies gilt gerade auch für die
Studierenden untereinander. Jeder erinnert sich noch gut an Seminare, in denen man zwar
auch wegen der Dozenten sehr viel gelernt hat, vor allem aber, weil kluge, interessierte und
diskussionsfreudige Kommilitonen und Kommilitoninnen zusammen in einem Raum saßen.
Genau davon berichten Studierende auch heute. Hat man eine Sitzung verpasst, ist der Zug
erst einmal abgefahren, und man muss sich um Anschluss bemühen. Oder man muss darauf
vertrauen, dass diejenigen, die permanent anwesend sind, zum Konvoi-Prinzip zurückkehren
und auf Nachzügler, die bei ihren Stippvisiten von der geleisteten Seminararbeit profitieren,
Rücksicht nehmen.
Das Mantra der Beschleunigung, Kapitalisierung, Flexibiliserung und Internationalisierung...
------------------------------------------------------------------------------Entscheidend ist, dass ein Erkenntnisgegenstand nicht einfach da ist, sondern in der
gemeinsamen Arbeit erzeugt wird. Das ist ein sehr aufwendiger, langwieriger Prozess, der
nicht per definiertem "Lernziel" angewiesen werden kann. Seit den 1970er-Jahren haben
Laborstudien selbst für den Bereich der "harten" experimentellen Wissenschaften gezeigt, wie
viel nebenbei in informellen Kontakten geschieht. Für die Geisteswissenschaften gab der
große Berliner Literaturwissenschaftler Wilhelm Scherer einen wichtigen Hinweis. Er meinte
1884, Seminare hätten "einen ähnlichen Vortheil für die philologischen und historischen
Wissenschaften wie die Laboratorien für die Naturwissenschaften". Scherer spielte damit auf
die fundamentale Bedeutung kontinuierlicher und regelmäßiger Zusammenarbeit in der
"Gegenwart" von unterschiedlichen Personen an. Denn weder die Programme der Natur- noch
die der Geisteswissenschaften können fixieren, wie man in der Praxis angemessen mit Wissen
umgeht.
Daher lässt sich nur im unmittelbaren, schnellen und vor allem kontinuierlichen Kontakt
verstehen, was es heißt, "bei der Sache zu bleiben". Dies mag in kleinen Gruppen besser als in
einem überfüllten Seminar gelingen. Daher sollte die Politik lieber für genügend
Dozentenstellen sorgen, als den Seminarbetrieb infrage zu stellen. Aber selbst in großen
Lehrveranstaltungen wird beiläufig ein unerlässliches Gespür dafür vermittelt, was relevant
und was irrelevant ist, wo es sich nachzuhaken lohnt, wie man mit der stets übergroßen Fülle
an Informationen sinnvoll hantiert. In der Wissenschaftstheorie spricht man nicht umsonst
von "schweigendem Wissen" und weist damit auf Kompetenzen hin, die im Umgang
miteinander erworben werden. So entstehen infolge des Seminars in der Einsamkeit des
Schreibtischs Hausarbeiten, die sich zwar auch auf den zuvor behandelten Stoff beziehen, die
jedoch vor allem von der gemeinsam gemachten Erfahrung zeugen, was eine fruchtbare
Fragestellung ist und wie man sie richtig anwendet. Solche kulturellen Entwicklungen, das hat
die Verhaltensforschung gezeigt, vollziehen sich zunächst in "Szenen geteilter
Aufmerksamkeit" (Michael Tomasello).
Noch einmal: Es ist nicht zu bestreiten, dass der Verzicht auf Anwesenheitspflicht für
Studierende, denen die regelmäßige Teilnahme an Veranstaltungen Probleme bereitet, einiges
erleichtert. Auch dass das Selbststudium seine ganz eigenen Vorteile hat, liegt auf der Hand.
Aber man muss daran zweifeln, dass Abwesenheit keinen Einfluss auf die Qualität jener
Lerneffekte hat, die Universitäten erzielen wollen. Die Gegner der Anwesenheitspflicht
verwenden eine rhetorische Grundfigur, die die Debatten um die Universitätsreformen der
letzten fünfzehn Jahre immer wieder geprägt hat: Man geht davon aus, dass Beschleunigung,
Kapitalisierung, Internationalisierung oder eben Flexibilisierung von
Ausbildungsverhältnissen eine bessere Universität erzeugen. Aus der Innenperspektive der
Wissenschaft entsteht jedoch keine bessere, sondern eine andere Universität, weil unter den
neuen Rahmenbedingungen nicht einfach dieselben Ziele erreicht werden können wie zuvor.
Man mag diese Veränderung gutheißen, aber wenn man dies tut, sollte man die
fundamentalen Konsequenzen reflektieren, um nicht später wie von einem Naturphänomen
überrascht zu werden. Dies gilt vor allem dann, wenn man exzellent in der Lehre sein möchte.
Steffen Martus ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu
Berlin. 2015 bekam er den Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis. Zuletzt erschien von ihm
"Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert" (Rowohlt).