to get the file - Goethehaus Frankfurt

Gewinner des Gedichtwettbewerbs „lyrix“ zum Thema „Vielleicht ist Heimat…“
Im September 2015 fragte das Goethe-Haus zusammen mit dem deutschlandradio im
Gedichtwettbewerb „lyrix“ nach den Vorstellungen junger Dichterinnen und Dichter
von „Heimat“. Als Schreib-Inspiration diente die Erstausgabe von Goethes „Westöstlichem Divan“ und das Gedicht „Möglicherweise ganz und gar“ von der Offenbacher
Lyrikerin Safiye Can.
Zahlreiche junge Schreibende haben sich beteiligt. Wir freuen uns, heute die fünf
Gewinner-Gedichte präsentieren zu können.
Herzlichen Glückwunsch an die Monatsgewinner und herzlichen Dank für alle
Einsendungen und Beiträge zum Wettbewerb.
Vielleicht ist Heimat nur ein Wort
Heimat ist ein Wort, für das
es in den meisten Sprachen keine
Übersetzung gibt. Ist Heimat also
typisch deutsch? Mitnichten.
Und doch lässt sich auch auf Deutsch
vortrefflich über Heimat dichten…
„Denn es geschieht, dass man von diesem leisen
und zarten Windhauch fort sich ziehen lässt.
So geht der Geist im Leben oft auf Reisen,
doch etwas in der Seele hält uns fest.“
Heimat ist es, wenn der Deutsche
am Sonntagnachmittag spazieren geht
und beglückt vom bunten Glanze
an der Blumenwiese steht.
Ist es noch Heimat, wenn am nächsten Sonntag
von dieser Blütenpracht nichts mehr zu sehen,
weil auf der Wiese große Zelte
als Heimat nun für tausend Heimatlose stehen?
Und ist es eigentlich noch Heimat, wenn
vor siebzig Jahren sogenannte Heimatvertriebene,
die hier eine neue Heimat fanden, wenn
diese nun als erste und am schlimmsten
gegen jene tausend Heimatlosen schimpfen,
die hier eine neue Heimat suchen?
„Heimat ist verstecktes Streben
nach Verwurzelung der Welt.
Heimat finden, Heimat leben,
die Heimat ist es, die uns hält.“
Vielleich ist Heimat gar kein Ort.
Vielleicht ist Heimat nur ein Wort.
Christian Bernert, Jahrgang 1997
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Vielleicht ist Heimat...
Das Haus, in dem du lebst.
Die Geräusche.
Das Tapsen kleiner Füße auf Steinboden
Das Sprudeln im Wasserglas
Das Entfalten eines zerknüllten Papiers
Als würden die weggeworfenen Ideen
leise meckern.
Die Gerüche.
Das Fach mit den Gewürzen darin
Die Lösung für zu wenig Zeit
Die lachenden Lillien
Die jeder fürchterlich findet
und doch niemand wegschmeißt.
Die Augenblicke.
Der Staub, der im goldenen Lichtstrahl schwebt Der einsame Küchentisch Der Mond, der nachts über
dich wacht, Und der Schokoladenkuchen, der Opfer eines brutalen Anschlags geworden ist.
Die Erinnerungen.
"Mach die Musik leiser!"
"Gute Nacht, Schatz."
"Wir haben uns auseinander gelebt."
"Wie war dein Tag?"
"Ich hasse dich."
"Ich hab dich lieb."
"Ich mache mir Sorgen."
"Lass uns eine Höhle bauen!"
"Wir sind spät dran!"
"Wann kommst du nach Hause?"
"Mach's gut!"
"Es tut mir leid."
Vielleicht aber auch nicht.
Vielleicht bemerkst du irgendwann,
Während du wartend am Fenster sitzt,
versuchst den Blumen zuzuhören,
an deinem Wasserglas riechst
und nicht mehr weißt,
wie Mondschein schmeckt
( - süß und traurig zugleich),
dass Heimat kein Ort ist,
Sondern ein Gefühl.
Vivian Knopf, Jahrgang 1999
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o.T.
ich ging von dort nach hier
und machte aus dem nirgendwo
ein irgendwo, wo ich sein möchte
an meine H e i m a t bindet mich nicht mehr
als eine Geburtsurkunde
ich habe den Glauben an ein Zuhause wiedergefunden
hier oben, zwischen Wald, Wodka und
der finnischen Einfachheit des Lebens
die alte Welt existiert nur in der Vergangenheit
und auf gepunkteten Linien
ich konstruiere mir die neue
aus den besseren Molekülen
Patricia Machmutoff, Jahrgang 1996
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Heimat
Vielleicht ist Heimat - "Was heißt vielleicht?",
Hört man den dreisten Dresdner sagen,
"Heimat sind - das ist doch ganz leicht -
Die abendländischen Werte."
Auch der Asylkritiker aus Heidenau meldet sich zu Worte:
"Heimat ist Nation und Volk für immerdar,
Und was nicht, obwohl im Land, wird bejubelt zum brennenden Orte,
Dass niemals der Mensch vergesse, was Großdeutsche Größe war!"
"Mia san mia!", hört man sie in Bayern feiern,
"Heimat ist Weißwurst, Bier und Kraut
Sowie Betreuungsgeld und Maut,
Denn Deutschland wär' nichts ohne Bayern!"
So leb' ich dahin, ganz ohne Nation und Stolz,
Ohne Region im Gefühl, ohne Religion im Herz.
Weder zugewandt bin ich heimischem Holz
Noch fühle ich, wenn die eigne Mannschaft verliert, den Schmerz.
Denn Heimat ist nicht an den Ort gebunden:
Wo das Haus sich aus dem Wald erhebt,
Der Mensch die nächtlichen Straßen belebt,
Der Wanderer den Sand in der Wüste verweht
Und der Menschheit Werk den Gedanken säht,
Dass der Nationen Grenzen seien verschwunden,
Hält Elysiums Tochter die Flügel geweitet
Und hat die frohe Kunde verbreitet,
Dass Heimat genau dort zu finden ist,
Wo der Mensch Bruder des Menschen ist.
Jonathan Pernaß, Jahrgang 1998
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[auf dem bahndamm]
auf dem bahndamm hinterm haus ziehen züge überland
bringen ratternd diesen ort ins wanken lassen einen leichten wind
zurück der die scheiben klirren lässt. bist du noch da? fragt mutter
und tastet nach dir. und hier sind die gepackten koffer
und die fremde hinterm hauptbahnhof. wenn ich bleibe
kommst du dann zurück? aber du bist längst ein rattern
hinterm haus als mutter ihre koffer packt und in die andre richtung fährt.
draußen ziehen die septembervögel knapp der hitze hinterher
heimwehkrank nach einem heim das niemand kennt.
Ansgar Riedißer, Jahrgang 1998
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Der Gedichtwettbewerb „lyrix“ geht weiter. Weitere Informationen und die aktuellen
Monatsthemen finden Sie unter http://www.deutschlandfunk.de/lyrix.1284.de.html