Afsaneh Gächter Briefe aus Persien Jacob E. Polaks medizinische

Afsaneh Gächter
Briefe aus Persien
Jacob E. Polaks medizinische Berichte
Meiner Freundin Hertha Schaffer gewidmet
Afsaneh Gächter
Briefe aus Persien
Jacob E. Polaks medizinische Berichte
With an English Summary and
Translation of Polak’s “Letters from Persia”
Gedruckt mit Unterstützung von
Phytopharma GesmbH, Ternberg
www. phytopharma.at
Östereichisch-Iranische Ärztegesellschaft, Wien
www.avicenna.at
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© 2013 by new academic press, Wien
www.newacademicpress.at
ISBN: 978-3-7003-1867-5
Titelbild:
Letzte Seite aus Jacob E. Polak: „Über die Anatomie des menschlichen Körpers“, lithographiert am
Dār al-Funūn in Teheran (1270/1854), Österreichische Nationalbibliothek, Sign. 30163-B.
Umschlaggestaltung: www.b3k-design.de
Satz: Peter Sachartschenko
Übersetzung: David Hill und Lisa Lawrence
Druck: CPI buch bücher.de
5
Inhalt
Author’s note . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .9
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Jacob Eduard Polak: Biografischer Abriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
Berufung nach Persien: Historischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . 21
Briefe aus Persien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
(1852) – „Tout comme chez nous“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .26
(1853) – „Übrigens hält kein Patient der Welt strenger Diät als der Perser.“ . . . . . .32
(1854) – „Die Schule macht mir jetzt manche Vergnügung.“ . . . . . . . . . . . . . .37
(1855) – „Prof. Dr. J. E. Polak, königlicher Leibarzt in Teheran“ . . . . . . . . . . . .42
(1857) – „Als Curiosum in der medicinischen Literatur der Wiener Schule findet
sich eine Chirurgie von mir abgefasst und geschrieben in persischer Sprache.“ . . . . 44
(1859) – „So setzte ich drei Maassregeln durch, die sehr
nutz­bringend in der Zukunft sein können.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
Abschied von Persien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Transfer und Verflechtung: Polak im Netzwerk der
„erlauchten Institutionen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Transkription der „Briefe aus Persien“ von Jacob E. Polak . . . . . . . . . 59
English Summary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
English translation of Polak’s “Letters from Persia” . . . . . . . . . . . 102
Abbildungen/Plates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
7
Author’s note
The “Letters from Persia” by Jacob E. Polak, originally published in the “Wiener
medizinische Zeitschriften”, have been translated into English by David Hill and Lisa
Lawrence. They are prefaced by an English summary of my analysis.
9
Vorbemerkung
Auffällig viele junge Menschen aus Iran studieren in Österreich Medizin. Der Beitrag von Ärzten iranischer Herkunft zum öffentlichen Gesundheitswesen und zur Gesundheitsförderung in Österreich ist heute nicht mehr wegzudenken. Als Organisatoren internationaler Fachtagungen und Kongresse tragen sie zur weltweiten Verknüpfung und Verbreitung von medizinischem Wissen und Technologie bei – auch zwischen ihrem Herkunftsland und ihrer Wahlheimat.
Die Geschichte der Vermittlung medizinischen Wissens zwischen Österreich und
Iran geht jedoch über 160 Jahre zurück. An ihrem Beginn steht der humanistisch gebildete Mediziner Jacob Eduard Polak (1818 – 1891). In Iran gilt er als Begründer der
wissenschaftlichen Medizin. Dieses Buch zeigt, dass er durch seine Tätigkeit in Teheran auch ein Fundament für den heutigen wechselseitigen Wissenstransfer zwischen
beiden Kulturen gelegt hat. Die Erforschung seines Briefwechsels mit Vertretern der
weltberühmten Wiener Schule für Medizin eröffnet eine neue Perspektive auf transkulturelle Vernetzungen im 19. Jahrhundert. Polak steht hier exemplarisch für die interkulturelle Vermittlung von Inhalten und für die dynamischen Prozesse von Wissensbeständen zwischen beiden Ländern.
Das vorliegende Buch ist ein thematischer Ausschnitt eines Projektes, das vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) finanziert wurde: „Wissens- und Kulturtransfer zwischen Österreich und Iran – Der österreichische Mediziner und Ethnograph Jacob Eduard Polak.“
Das Projekt habe ich 2007–2008 konzipiert und 2009–2012 unter Leitung von
Bert G. Fragner am Institut für Iranistik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) durchgeführt. Zu den ersten Ergebnissen gehört auch die Veröffentlichung einer Übersetzung von Polaks Briefen ins Persische. Sie ist 2013 mit einer
kommentierenden Einleitung im Verlag der „Universität für Medizinische Wissenschaften“ in Teheran erschienen. Eine Monografie zu Polak als Vermittlerfigur zwischen dem habsburgischen Österreich und dem qāǧārischen Iran im Kontext der
Wissens- und Institutionengeschichte und der ungewöhnlichen, aber vielleicht auch
typischen Karriere eines jüdischen Arztes soll separat vorgelegt werden.
Ein wesentlicher Bestandteil des Projektes war die systematische Erschließung
von schriftlichem Material und Quellen in gut zwei Dutzend Archiven in Österreich,
Israel, der Tschechischen Republik, Iran, Ungarn und England. Die Auswertung der
Materialien ermöglicht es, Polak als eine der zentralen Figuren im Prozess der Wissensvermittlung zwischen Mitteleuropa und Iran auf den Gebieten der Medizin, Geografie, Anthropologie, Wirtschaft und Bildung zu erkennen und zu untersuchen. Die-
10
ser Wissenstransfer war reziprok, entgegen gängiger Vorstellungen der postkolonialen Debatten zu „Orientalismus“ und „Eurozentrismus“.
Die vorliegende Untersuchung befasst sich aus Sicht der Kulturtransferforschung
zum ersten Mal mit jenen Briefen, die Polak in der Zeit als Lehrer am neuen Polytechnikum in Teheran und als Leibarzt des Qāǧārenherrschers Nāṣir ad-Dīn Šāh
1852–1859 an Wiener Ärztekollegen geschickt hat, die sie sogleich auszugsweise unter
dem Titel „Briefe aus Persien“ in medizinischen Zeitschriften veröffentlichen ließen.
Um den geschichtlichen und kulturellen Dimensionen von Polaks Briefen gerecht
zu werden, war es erforderlich, sich intensiv mit der Geschichte der Medizin in Österreich und in Iran des 19. Jahrhunderts zu befassen. Die gesammelten „Briefe aus Persien“ werden im Anhang vollständig im Original und in englischer Übersetzung für
die Wissenschaft zugänglich gemacht. Die wichtigsten Punkte meiner Analyse sind in
einem „English Summary“ zusammengefasst.
Die Transliteration im deutschsprachigen Text folgt den Richtlinien der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft.
Mein besonderer Dank gilt Bert G. Fragner für seine Unterstützung. Er hat es mir
seinerzeit ermöglicht, den Projektantrag auszuarbeiten und einzureichen. Dem FWF
verdanke ich die Bewilligung des Forschungsvorhabens. Den wissenschaftlichen Experten des Projektes, Erika Friedl (Anthropologie, University of Michigan) und
Friedhelm Kröll (Soziologie, Universität Wien) bin ich dankbar für ihre stete und kritische Unterstützung. Von der Expertise des österreichischen Dermatologen und Medizinhistorikers Karl Holubar (Institut für Geschichte der Medizin in Wien) konnte
ich bis zu seinem beklagenswert frühen Ableben im Januar 2013 außerordentlich profitieren. David Venclik (Pädagogische Fakultät der Karls-Universität in Prag) verdanke ich Dokumente zu Polaks Familiengeschichte. Markus Ritter (Institut für Kunstgeschichte, Universität Wien) danke ich herzlich für Vorschläge zur Verbesserung des
Textes. Karin Röck (Nürnberg), Elke Maria Faull (Düsseldorf ) und Bettina Hofleitner (Wien) gilt mein Dank für Korrekturen und redaktionelle Hilfe. Lisa Lawrence
(Historikerin in Santa Fé) danke ich sehr für die Arbeit an der Übersetzung der Briefe
und des „English Summary“. Der Österreichisch-Iranischen Ärztegesellschaft und
Helmut Olesko (Phytopharma GmbH in Ternberg und Akademie für Traditionelle
Europäische Medizin) danke ich nachdrücklich für ihre finanzielle Unterstützung der
Publikation. Elisabeth Freismuth (Leiterin der Sektion III im Bundesministerium für
Wissenschaft und Forschung) gilt mein bester Dank für moralische und praktische
Unterstützung in der Abschlussphase des Buches.
Durch dieses Projekt habe ich Hertha Schaffer (Wien) kennenglernt. Aus den Gesprächen über österreichisch-iranische Beziehungen entstand eine tiefe Freundschaft
und Sympathie.
A. G., Wien, im Juli 2013
11
Einleitung
Als einen besonderen Fall kulturellen Transfers lässt sich die Tätigkeit des österreichischen Mediziners Jacob Eduard Polak (1818–1891) in Iran ansehen. Er wurde
1851 vom iranischen Staat beauftragt, an der ersten säkularen Hochschule in Teheran,
dem Polytechnikum Dār al-Funūn, zu unterrichten. Polak ist Fachkreisen, insbesondere Iranhistorikern, in erster Linie durch sein landeskundliches Buch Persien. Das
Land und seine Bewohner. Ethnographische Schilderungen (1865) bekannt.1 Weniger
ist in Erinnerung, dass er in seiner Funktion als Lehrer für „Medizin, Chirurgie und
Anatomie“, wie es in seinem Arbeitsvertrag hieß, an der Institutionalisierung eines
regulären und modernen medizinischen Unterrichts entscheidend beteiligt war. Er
vermittelte den seinerzeit auch im internationalen Maßstab fortgeschrittenen Wissensbestand der „Wiener Medizin“ nach Iran.
Aus seiner neunjährigen Wirkungszeit in Iran sind Briefe und Berichte erhalten,
die er regelmäßig an die Kollegen und „Wiener Doktoren“ schickte, darunter der Orientalist, Epidemiologe und Medizinhistoriker Abraham Romeo Seligmann (1808–
1892) und der Dermatologe Ferdinand von Hebra (1816–1880).2 Die Wiener Medizinische Wochenschrift veröffentlichte zwischen 1852 und 1857 unter der Rubrik „Briefe
aus Persien“ Polaks Korrespondenz mit den Kollegen in Wien. Ein weiterer Brief erschien 1859 in zwei Teilen in der Zeitschrift der k. k. Gesellschaft der Ärzte zu Wien. Als
Medium informeller Kommunikation stellen sie eine wesentliche Ergänzung der
nach Polaks Rückkehr nach Wien von ihm publizierten Schriften dar.
Allerdings waren diese Briefe bislang sowohl in der irankundlichen als auch in der
medizinhistorischen Forschung kaum bekannt. In der einschlägigen Literatur zu den
Themen Polak und moderne Medizin- und Sozialgeschichte in Iran wurden die Briefe
nur vereinzelt genutzt. Der Medizinhistoriker Marcel Chahrour verwendete einige in
1
2
Kaikāvūs Ǧahāndārī hat Polaks Persien 1982 ins Persische übersetzt: Safarnāma-i Pulak. Īrān va
Īrānīyān. Angelsächsische Iranhistoriker haben sich vor allem auf diese Übersetzung gestützt, weniger auf das deutsche Original, und ihr dürfte die relative Bekanntheit von Polak in der zeitgenössischen englischsprachigen Fachliteratur zu verdanken sein. Das gilt auch für den bekannten Aufsatz
Polaks zu Sexualität und Geschlechtsleben in Iran: „Die Prostitution in Persien“. In: Wiener Medizinische Wochenschrift 1861, Nr. 32, 516–517; Nr. 33, 563–565; Nr. 34, 627–629. Persische Übersetzung
von Kjell Madsen, George Warning und Mansour Saberi. In: Homan. 1998, Nr. 13, 13–18. Siehe hierzu:
Kathryn Babayan und Afsaneh Najmabadi (Hgg.): Islamicate Sexualities: Translations Across Temporal Geographies of Desire. Harvard 2008, 294, 356.
Für eine vollständige Liste aller Briefe und Berichte, die Polak während seiner Dienstzeit in Iran
verfasste, siehe Literaturverzeichnis.
12
einem biografischen Aufsatz zu Polak.3 Der Historiker und Iranist Willem Floor in
seinem Werk über das öffentliche Gesundheitswesen im modernen Iran4 und der Orientalist Heinz-Georg Migeod in seiner Untersuchung der iranischen Gesellschaft im
19. Jahrhundert benutzten je einen der Briefe.5
Das vorliegende Buch wertet Polaks Briefe erstmals vollständig aus und setzt sie
insgesamt als Quelle in einen Zusammenhang. Die Briefe und dazu eine von Polak
verfasste Buchbesprechung über sein zweites Lehrbuch in persischer Sprache, das
der Chirurgie gewidmet war, werden im medizinhistorischen Kontext analysiert. Sie
lassen sich im Rahmen der Kulturtransferforschung nutzen, um herauszuarbeiten,
wie Polak sich als Repräsentant der Wiener Medizinischen Schule verstand und die
erste moderne medizinisch-praktische Lehrschule am Dār al-Funūn nach dem Modell der Wiener Medizinischen Schule organisierte. Sie werfen ein neues Schlaglicht
auf die Geschichte der modernen Medizin in der Habsburgermonarchie und in Iran
sowie ihre Verbindungen untereinander.6
In ihrer chronologischen Reihenfolge dokumentieren die Briefe tagebuchartig Polaks Beobachtungen und Erfahrungen als praktizierender Arzt, seine Tätigkeit am
Dār al-Funūn und seinen Werdegang. Sie zeigen auch die Zielstrebigkeit, mit welcherer der ambitionierte Mediziner seiner Tätigkeit und seinen weit gefächerten Forschungen in Iran nachging. Polak lernte die persische Sprache und übersetzte mithilfe seiner Schüler medizinische Texte, die er nach Iran mitgenommen hatte. Er befasste sich intensiv mit Seuchen (Cholera, Typhus), infektiösen Krankheiten (Wechselfieber) und Hautkrankheiten, stellte die geografische und topografische Verbreitung
bestimmter Krankheiten fest und stellte zudem meteorologische Beobachtungen an.
Im Sinne des humanistisch orientierten Bürgertums zeigte er an neuen Entwicklungen innerhalb der Wissenschaft Interesse, wie sie sich durch das Wirken des Naturforschers Alexander von Humboldt (1769–1859) und des Geografen Carl Ritter (1779–
1859) im deutschsprachigen Raum entfalteten. Polak legte botanische Sammlungen
an und unternahm geologische sowie zoologische Exkursionen. Als Naturforscher
strebte er nach dem Beispiel Humboldts und anderer Zeitgenossen eine „Vermessung“, eine empirische, allumfassende Dokumentation von Land und Menschen an.
Im Jahre 1855 wurde er zum Leibarzt des Qāǧārenherrschers Nāṣir ad-Dīn Šāh beru-
3
4
5
6
Marcel Chahrour: „Der gewesene Leibarzt des Schahs von Persien. Ergänzungen zu Biographie und
ärztlicher Leistung des Dr. Jacob Eduard Polak“. In: Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin.
Wien 2008, 41–52.
Willem Floor: Public Health in Qajar Iran. Washington DC, 2004, 184–190.
Heinz-Georg Migeod: Das persische Volk im Wandel. Studien zur Sozialgeschichte der Zeit von Nāṣiru‘d-Dīn Šāh (1848–1896). Berlin 2006.
Für eine persische Übersetzung der „Briefe aus Persien“ siehe Afsaneh Gächter (Hg.): Nāmahā va
guzārišhā-i piziškī-i Yākūb Iduwārd Pūlāk az Īrān 1852–1862 [ Jacob Eduard Polaks Medizinische
Briefe und Berichte aus Iran 1852–1862]. Čaugān und Universität für Medizinische Wissenschaften.
Teheran 1392/2013.
Einleitung
13
fen. In dieser Funktion war er verpflichtet, den König auf dessen Reisen innerhalb des
Landes zu begleiten. Das ermöglichte ihm, die verschiedenen Regionen Irans kennenzulernen, die Menschen in ihrem alltäglichen Leben zu beobachten und ethnografische Daten zu erheben.
Dieser Beitrag analysiert die Briefe aus der Perspektive des Kultur- und Wissens­
transfers. Diese schließt unmittelbar an die Erfahrungen der untersuchten Akteure in
ihrer Vermittlungsfunktion an.7 Die damit verbundene Frage nach „räumlich-dynamischer Bewegung kultureller Austauschprozesse“ zielt einerseits auf sachliche Materialität und anderseits auf die Ebene von Individuen oder Gruppen.8 Die Transferforschung bezieht Anregungen u. a. aus der Kulturanthropologie, die sich mit der
Übertragung und Aneignung von kulturellen Objekten und Praktiken beschäftigt.
Darüber hinaus bieten Ansätze aus Rezeptionsforschung und Netzwerkanalyse ein
„terminologisches Reservoir“ und ermöglichen eine differenzierte Beschreibung der
sozialen und kulturellen Interaktion, vor allem von soziologisch definierbaren Trägergruppen, also Vermittlerfiguren, so Helga Mitterbauer.9
Der Kulturwissenschaftler Hans-Jürgen Lüsebrink nennt in diesem Zusammenhang drei Bereiche der Übertragung: Selektionsprozesse, d. h. die Auswahl von Texten, Praktiken und Diskursen, die von einem Sprach- und Kulturraum in einen anderen transferiert werden; zweitens die Rolle und Funktion der Vermittlungsinstanzen,
also Akteure oder Institutionen, durch die die Übertragung in Gang gesetzt wird; und
drittens der Prozess der Rezeption bzw. Nachahmung und Formen der kulturellen
Adaption und deren Transformationsabläufe.10
Der Terminus „Kulturtransfer“ „umfasst sowohl inter- als auch intrakulturelle
Wechselbeziehungen“ zwischen den Gesellschaften. Er schließt somit die „Reziprozität ein und lenkt den Blick auf die Prozessualität des Phänomens.“11 Zentrale Anliegen sind die Überwindung einer nationalen Segmentierung und eine Beschreibung
7
Das Konzept der Kulturtransferforschung wurde von Michel Espagne und Michael Werner in den
1980er-Jahren am Pariser Centre national de la recherche scientifique entwickelt. Siehe hierzu Michel Espagne und Michael Werner (Hgg.): Transfers. Les Relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIIIe et XIXe siècle). Paris 1988; Michael Werner: „Transfer und zwei Perspektiven
zum Studium soziokultureller Interaktionen“. In: Helga Mittelbauer und Katharina Scherke (Hgg.):
Ent-grenzte Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart: Studien zur Moderne 22.
Wien 2005, 155–169. Bernd Kortländer und Lothar Jordan (Hgg.): Nationale Grenzen und Internationaler Austausch. Literatur – Geschichtsschreibung – Wissenschaft. Tübingen 1995, 6–10.
8 Hans-Jürgen Lüsebrink: „Kulturtransfer – neuere Forschungsansätze zu einem interdisziplinären
Problemfeld der Kulturwissenschaften“. In: Mittelbauer/Scherke (Hgg.) 2005, 27
9 Helga Mitterbauer: „Kulturtransfer – Ein vielschichtiges Beziehungsgeflecht“. In: Newsletter MODERNE. Zeitschrift des Spezialforschungsbereichs Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900. Graz
1999, 2 Jahrgang, Heft 1, 23.
10 Lüsebrink 2005, 28.
11 Mitterbauer 1999, 23.
14
„mikrologischer Verflechtungsmechanismen zwischen den Kulturräumen“.12 Transferforschung konzentriert sich auf historische Prozesse, die nicht immer kontinuierlich oder in eine Richtung verlaufen, sondern „Multiplexität und Dys-Chronizität des
Prozesses“ beinhalten.13 Diese Phänomene können vor allem im biografischen Kontext und unter Berücksichtigung von historischen Zeugnissen und Artefakten untersucht werden.
Im Rahmen einer „Reziprozität der Perspektiven“ zeigt Polaks Korrespondenz mit
Kollegen in Wien, dass es sich nicht um eine einseitige Übertragung handelte. Polak
fungierte vielmehr als Vermittler in beide Richtungen: Er übermittelte einerseits das
Wiener medizinische Wissen nach Iran und andererseits das in Iran von ihm gewonnene Wissen und seine Erfahrungen nach Österreich. Diese Wechselwirkung wirft
bei der Analyse u. a. folgende Fragen auf: Wie organisierte Polak den Transfer des
medizinischen Wissens nach Iran; welche medizinischen Beobachtungen führte er
durch; welche Möglichkeiten ergaben sich für ihn, Wissen zu erwerben; welches
Wissen übermittelte er in seiner Korrespondenz nach Wien und welchen Zwecken
sollte es dienen?
„Transfer ist“, wie der Historiker Michael Werner schreibt, „ein Grundbaustein
kultureller Entwicklungen.“14 In dem Sinne bringt die wissenschaftliche Annäherung
an Polak in diesem Beitrag seine Leistungen als Innovator und Vermittler von Wissen
hervor. Er ist ein Beispiel dafür, wie neben Systemen und Institutionen auch und gerade Individuen auf sozio-kulturelle Prozesse einwirken und Kulturgeschichte schreiben. Das hier verwendete Analysemodell trägt in einem interdisziplinären Problemfeld der Kulturwissenschaften zum Verständnis und zur Veranschaulichung der Beziehungen von Biografie und Interkulturalität auf der Basis historischer Quellen bei.
12 Michel Espagne: „Die Rolle der Mittler im Kulturtransfer“. In: Hans-Jürgen Lüsebrink und Rolf
Reichardt (Hgg.): Kulturtransfer im Epochenumbruch. Frankreich – Deutschland 1770–1815. Leipzig
1997, 309–310.
13 Helga Mitterbauer: „König Harlekin oder die Degeneration. Zur Position zweier Budapester Autoren im europäischen Fin de Siècle“. In: Studia Caroliensia. Sonderband Ungarn in Europa. Budapest
2004, Bd. 1, 74.
14 Michael Werner: „Zum theoretischen Rahmen und historischen Ort der Kulturtransferforschung“.
In: Michael North (Hg): Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung.
Köln 2009, 15.
Jacob Eduard Polak: Biografischer Abriss
15
Jacob Eduard Polak: Biografischer Abriss
Jacob Pol(l)ak wurde am 12. November 1818 als dritter Sohn des jüdischen Ehepaares Elias Pollak und Sara Neumann in der Stadt Groß-Moržin (Mořina, Abb. 1) in
Böhmen (damals Teil der Donaumonarchie, heute der Tschechischen Republik) geboren.15 Er hinterließ keine Lebenserinnerungen bzw. autobiografische Schriften.
Die Geburtsurkunde, Studien-Kataloge im Archiv der Karls-Universität in Prag und
ein Registerbuch, in dem alle Häuser in seinem Geburtsort registriert sind, liefern
uns spärliche Informationen über seine Familienverhältnisse. Der Beruf des Vaters
wurde in Polaks Geburtsschein als „Händler“ angegeben. Er besaß wahrscheinlich
ein Kleinwarengeschäft. Die Familie scheint mittellos gewesen zu sein. Er kam im
Haus Nr. 6 im jüdischen Viertel von Groß-Moržin auf die Welt. Nach einem Registerbuch handelte es sich dabei um ein Armenhaus.
Über Polaks Schullaufbahn liegen keine Dokumente vor. Er absolvierte im Jahr
1838 im Prager Altstädter Gymnasium seine schulische Ausbildung.16 Zu Beginn seines Studiums war er Halbweise. Ob der Vater im Jahre 1833 oder 1838 starb, kann nicht
genau identifiziert werden. Polak stand unter Vormundschaft des aus Amschelberg in
Böhmen stammenden Landmanns Leopold Fürth und war laut einem Gubernialdekret vom 1. Mai 1833 von Studiengebühren befreit.
Im Wintersemester 1838/39 immatrikulierte Polak an der Karls-Universität in Prag
im Fach Medizin und Chirurgie. In seiner Zeit war eine umfassende Bildung (studium
generale) neben dem spezifischen Fachstudium noch selbstverständlich. Wie der
Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger Eric Kandel ausführt, gehörten einst
„Natur- und Geisteswissenschaften noch nicht zwei verschiedenen Kulturen“17 an. In
15 Státní oblastní archiv v Praže („State Regional Archives in Prague“): Geburtsbuch der israelitischen
Kultusgemeinde in Groß-Moržin (1790–1850). Im Geburtsbuch und in der Geburtsurkunde ist „Jacob Pollak“ eingetragen. Der Name „Eduard“ erscheint zum ersten Mal in einem 1851 von Polak
selbst verfassten Schreiben an die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften. Die Bedeutung eines
zweiten Vornamens konnte im 19. Jahrhundert als Annährung an ein christliches Umfeld verstanden
werden. Es gibt aber keinen Hinweis auf eine Konvertierung. Wie die Dokumente zeigen, unterschrieb Polak mit einem „l“. Seine Frau Therese (geb. Blumberg), die nach seinem Tod die Hinterlassenschaft verwaltete, unterschrieb mit „Pollak“. In der Sekundärliteratur kommen folgende
Schreibweisen vor: Polak, Pollak und Polack.
16 Archiv der Karls-Universität in Prag: Studien-Kataloge des ersten und zweiten philosophischen
Jahrganges (1838–1840). Polak wohnte zu Beginn seines Studiums in der Prager Altstadt, Johannesplatz 885.
17 Eric Kandel: Das Zeitalter der Erkenntnis. Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn
von der Wiener Moderne bis heute. Wien 2012, 41. Nach Kandel war das Studium der Medizin aufgrund
der „heilenden Kräfte“ und „umfassenden kulturellen Gelehrsamkeit“ damals hoch angesehen.
16
einem zweijährigen Propädeutikum an der Philosophischen Fakultät studierte Polak
die Fächer Religionswissenschaften, Philosophie, Kleine Elementar-Mathematik, lateinische Philosophie, allgemeine Naturgeschichte, Physik und allgemeine Weltgeschichte. Er schloss alle Fächer mit dem Vermerk „sehr fleißig“ ab. 1840/41 nahm er
das Medizinstudium in Prag auf. Zu dieser Zeit waren für medizinisch-chirurgisches
Studium fünf Jahrgänge zu je zwei Semestern vorgesehen:18
Erstes Jahr – Anatomie, Mineralogie, Zoologie und Botanik.
Zweites Jahr – Anatomie und Physiologie sowie Chemie.
Drittes Jahr – Allgemeine Pathologie und Therapie, Pharmakologie, Theoretische
Geburtshilfe sowie Lehre von Krankheiten.
Viertes Jahr – Spezielle medizinische Pathologie und Therapie, Medizinisch-praktischer Unterricht, Chirurgisch-operative Lehre, Spezielle chirurgische Pathologie und Therapie, Chirurgisch-praktische Unterricht.
In Prag studierte Polak u. a. auch bei Josef Hyrtl (1810–1894), dessen deskriptive
menschliche Anatomie viele Studenten seiner Zeit begeisterte. Beide, der Professor
und sein Student, wechselten 1845 nach Wien. Hyrtl folgte einem Ruf an die Universität in Wien. Polak setzte nach dem Abschluss des vierten Semesters das Studium an
der Wiener Medizinischen Fakultät fort.
Jene Studenten, die wie Polak Doktoren der Medizin und Chirurgie werden
wollten, waren verpflichtet, dies zu Beginn des vierten Jahres dem Vizerektor und
dem Professor der chirurgischen Klinik zu melden. Zudem sollte der werdende
Mediziner im vierten und fünften Jahr den Vorlesungen und Übungen des chirurgisch-praktischen Unterrichts, der chirurgischen Operationslehre sowie Vorlesungen über spezielle chirurgische Pathologie ohne Unterbrechung beiwohnen und
darüber Prüfungen ablegen.
Für das fünfte Jahr war vorgesehen, alle im vierten Jahrgang verpflichtenden Fächer fortzusetzen und außerdem auch Vorlesungen über die Augenkrankheiten zu
hören; dazu klinischer Unterricht über die Augenkrankheiten am Krankenbett, Vorlesungen über die gerichtliche Arzneikunde, Vorlesungen über die medizinische Polizei, gerichtliche Leichensektionen und Vorübungen zu den gerichtlichen Leichensektionen am Leichnam zu belegen.19
Am 26. Mai 1846 promovierte Jacob Polak an der Medizinischen Fakultät in Wien20
(Abb. 2) und ein Jahr später erlangte er zusätzlich den Magistergrad in den Fächern
18 Zum damaligen Studienplan siehe Richard Meisner: Entwicklung und Reformen des Österreichischen
Studienwesens. Wien 1963, 189–225.
19 Siehe Polaks Studienzeugnisse im Department of Archives (Israel, Jerusalem) – Akt ARC. 4° 1597
(L), folie 1.
20 Archiv der Universität Wien: Medizinisches Promotionsprotokoll. Med. 11- Nr. 2 (1839–1846).
Jacob Eduard Polak: Biografischer Abriss
17
Geburtshilfe und Augenheilkunde an der Wiener medizinisch-chirurgischen Joseph-Akademie (auch Josephinum genannt).21
Während seiner Studienzeit in Prag hatte Polak Kontakt mit dem literarischen
Kreis um Moritz Hartmann (1821–1872), Alfred Meißner (1822–1885) und Siegfried
Kapper (1821–1879).22 Sie tarten gegen die restaurative Politik des Staatsmanns Fürst
von Metternich auf und gingen in die Literaturgeschichte als „Junges Böhmen“ ein.
Hartmann und Meißner standen in enger Freundschaft mit Heinrich Heine (1797–
1856).
Polaks Rolle als Vermittler des Wiener medizinischen Wissens nach Iran und die
Bedeutung seiner Briefe an Fachkollegen lässt sich im Spiegel historischer Entwicklungen seiner Zeit erläutern bzw. kontextualisieren.
Er studierte in einer Periode, in der die Lehre und die Wissenschaft der Medizin im Habsburgerreich, aber auch in Europa einer grundlegenden Transformation ausgesetzt waren, nämlich dem Übergang von der Humoralpathologie (Galensche Viersäftelehre, in der durch die Analyse der Körpersäfte der Charakter der
Krankheiten bestimmt wurde) hin zu modernem naturwissenschaftlichen Methodenverständnis.23
Die Pioniere dieses Transformationsprozesses waren Ärzte der medizinischen
Schule in Paris. In ihrer ärztlichen Praxis gewannen die klinische Forschung, die pathologische Anatomie und der Befund an der Leiche immer mehr an Bedeutung. Obgleich die Schule in Paris eine Mischung zwischen physikalischen Untersuchungen
und Sektionen als Grundlage einer klinischen Forschung anwendete, blieb die Humoralpathologie weiterhin Bestandteil der Heilkunde. Einerseits weichte sich die
Trennung zwischen Medizin und Chirurgie auf und andererseits führte die Individualisierung der Organe zu einer Spezialisierung innerhalb der Medizin, sodass ab Mitte
des 19. Jahrhundert jene Spezialgebiete (Chemie, Physik, Physiologie usw.) entstanden, die die Zweite Wiener Schule für Medizin weiter differenzieren sollte.24 Damit
setzte die Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ein. Das alte Bildungsideal eines studium generale wurde zugunsten eines naturwissenschaftlich
orientieren Medizinstudiums aufgegeben.
Die ersten Schritte zu einem Wandel innerhalb der Medizin setzten während Polaks Studienzeit ein. Die chemischen und physikalischen Analysen, die experimentellen Detailuntersuchungen, die mit der Entwicklung der Zellularpathologie (Rudolf
21 Seit 1786 konnte man in Wien nicht nur an der Wiener Fakultät für Medizin, sondern auch am Josephinum einen Magister- und Doktorgrad erlangen.
22 Siehe den Nekrolog zu Polak in: Neue Freie Presse vom 9. Okt. 1891, 5.
23 Zur Geschichte der Medizin in Österreich siehe Erna Lesky: Die Wiener medizinische Schule im 19.
Jahrhundert. Graz Köln 1974. Zu Transformationsprozessen der Medizin in Europa: W. F. Bynum:
Science and the Practice of Medicine in the Nineteenth Century. Cambridge 2006.
24 Siehe hierzu Elena Taddei: Franz von Ottenthal. Arzt und Tiroler Landtagsabgeordneter (1818–1899).
Wien 2010, 20–21.
18
Virchow) einhergingen, und die Etablierung der Bakteriologie verdrängten schrittweise die Humoralpathologie.25
Vor allem die „Bakteriologie […] zeigte durch die Existenz von spezifischen Krankheitserregern den Vorgang der Infektion auf und ermöglichte durch die weiteren Entwicklungen der Antisepsis […] und infolgedessen durch die Sterilisierung der Instrumente die Eindämmung der Infektionsgefahr bei Operationen und in der Geburtshilfe […]“.26 Der wiederholte Ausbruch von Epidemien wie der Cholera, die teilweise
mit Wucht in Europa wütete, führte in der Bakteriologie zur Einführung hygienischer Maßnahmen, „welche im Rahmen der zunehmenden Medikalisierung immer
mehr zum Ausgangspunkt“ staatlicher Fürsorge wurden. Das Einrichten von Krankenhäusern und Polikliniken, die Instandsetzung von Kanalisation, die Kontrolle hygienischer Vorkehrungen und der Einsatz von ärztlichem Personal sollten vor allem
die Verbreitung der Seuchen verhindern.27 Wie unten erläutert wird, spiegelten sich
diese Aspekte in Polaks Korrespondenz mit Wien wider.
Der Übergang von einem vormodernen Bildungsberuf zu einer modernen Profession transformierte den Beruf des Arztes und führte zur Entstehung eines neuen sozialen Expertentums. Die akademisch gebildeten Ärzte waren bemüht, sich von den
sogenannten „Wundärzten“ und „Badern“ abzugrenzen. Im Verlauf der Professionalisierung des Berufes galt der Machtkampf also den „Kurpfuschern“.28 Also jenen, die
ohne akademische Ausbildung in den Tätigkeitsfeldern der Ärzte agierten.
Ab den 1840er-Jahren war das Ringen der wissenschaftlich gebildeten Mediziner
um eine berufliche Vormachtstellung und Identitätsbildung durch bestimmte Kriterien gekennzeichnet: Autonomie, monopolistische Kontrolle des Berufes und Homogenisierung ärztlicher Leistungen. Dies wurde vor allem in der Entstehung von ärztlichen Gesellschaften in Europa sichtbar, „die sich durch streng geprüfte Exklusivität
auszeichneten“.29 Ziel war es, durch die wissenschaftliche Tätigkeit das Ansehen der
Ärzte „in der Öffentlichkeit zu heben“.30
Vor diesem Hintergrund sah die 1837 in Wien gegründete Gesellschaft der Ärzte
ihre Zweckmäßigkeit in der: „a) Förderung und Vervollkommnung der gesamten
25 Ebd., 21. Über Leben und Werk Rudolf Virchows siehe Constantin Goschler: Rudolf Virchow. Mediziner – Anthropologe – Politiker. Köln 2009. Als Begründer der Zellularpathologie legte Virchow
den Grundstein für das Verständnis der Entstehung von Krankheiten. Außerdem gründete er im
Jahre 1869 in Berlin die Gesellschaft für Anthropologie.
26 Ebd., 22.
27Ebd.
28 Siehe hierzu Claudia Huerkamp: „Ärzte und Professionalisierung in Deutschland. Überlegungen
zum Wandel des Ärzteberufes im 19. Jahrhundert“. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für
Historische Sozialwissenschaften. 1980, Jahrgang 6, 349–382.
29 Taddai 2010, 23–24.
30 Robert Jütte: „Die Entwicklung des ärztlichen Vereinswesen und des organsierten Ärztestandes bis
1871“. In: Ders. (Hg.): Geschichte der deutschen Ärzteschaft. Organisierte Berufs- und Gesundheitspolitik im 19. und 20. Jahrhundert. Köln 1997, S. 17. Hier zitiert nach Taddei 2010, 24.
Jacob Eduard Polak: Biografischer Abriss
19
Heilkunde; b) Befestigung und Erweiterung des freundschaftlichen, kollegialen Verhältnisses unter den Ärzten im Interesse des wissenschaftlichen Fortschrittes“.31
Rund zwanzig Jahre später, also während Polaks Tätigkeit in Iran, wählte die Wiener
Gesellschaft der Ärzte ihn zum korrespondierenden Mitglied im Ausland.
Die medizinischen Fachzeitschriften sind als Folge der Professionalisierung des
Ärzteberufes32 und der Gründung der ärztlichen Gesellschaften entstanden. Die Präsentation von aktuellen Ergebnissen galt einerseits als Indikator für Fortschritt und
anderseits intensivierte dies den Forschungsprozess, indem wissenschaftliche Ergebnisse periodisch veröffentlicht wurden.
Polaks Studienzeugnisse im Archiv der Universität Wien (Abb. 3 und 4) und seine
Personalakte, die mit anderen Unterlagen vermutlich in den 1960er-Jahren nach Jerusalem (Israel) gelangt sind,33 zeigen, dass er in Wien bei namhaften Professoren der
Wiener Medizinischen Schule studiert hatte: Carl von Rokitansky, Joseph Hyrtl, Stanislaus von Töltenyi, Ernst von Feuchtersleben, Jacob Kolletschka, Johann N. Raimann, Anton von Rosas, Carl Wedl, Joseph von Wattmann und Franz Schuh. Viele
seiner Professoren gehörten zu den bedeutenden Persönlichkeiten der Kulturwelt
des Vormärz in der Habsburgermonarchie und wurden nach Polaks Rückkehr aus
Iran wissenschaftliche Weggefährten ihres einstigen Schülers. Wie die Medizinhistorikerin Felicitas Seebacher konstatiert, waren die „Wiener Doktoren“ von den Ideen
des Aufbruchs in ein neues Zeitalter und von Humboldts Bildungsideal geprägt und
traten für Reformen innerhalb der Hochschulen sowie für die „Freiheit der Forschung und Lehre“ ein.34 Durch ihre naturwissenschaftlichen Leistungen entwickelten und förderten sie die Spezialisierung einzelner Fächer und trugen damit zum
weltweiten Ruf der Zweiten Wiener Medizinischen Schule bei.35 Die Wiener Schule
etablierte also „einen Standard der wissenschaftlichen Medizin, der die medizinische
Praxis noch heute prägt“.36
Die Vermutung liegt nahe, dass Polak – wie viele Ärzte seiner Zeit – aktiv an der
Märzrevolution 1848 teilnahm. Den verhältnismäßig großen Anteil von Juden an der
Revolution führte der Medizinhistoriker Isidor Fischer darauf zurück, dass die Medizin der einzige akademische Beruf war, dem sich die Juden damals mit einer gewissen
31 Karl Hermann Spitzy: „Die interdisziplinären Aufgaben der Gesellschaft der Ärzte in Wien“. In:
Ders (Hg.): Gesellschaft der Ärzte in Wien (1837–1987). Wien–München 1987, 6–8.
32 Zur Frage der Professionalisierung des Berufes siehe Max Weber: Berufssoziologie. Köln 1972; und
Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Tübingen 1920, 3.
33 Archiv der Universität Wien: Mikrofilm, Medizinisches Rigorosumsprotokoll. Medizin, Chirurgie.
Med. 16. 34 (1844–1850). Eine Akte Polaks mit einzelnen persönlichen Unterlagen befindet sich
in der Jewish National & University Library ( JNUL), Department of Archives in Jerusalem: Akte
ARC, 4° 1597 (L), folio 1.
34 Felicitas Seebacher: „Freiheit der Naturforschung!“ Carl Freiherr von Rokitansky und die Wiener Medizinische Schule. Wissenschaft und Politik im Konflikt. Wien 2006, 11–19.
35 Lesky 1978, 119–298. Siehe auch Erna Lesky: Wien und die Weltmedizin. Graz 1974.
36 Kandel 2012, 40.
20
Aussicht auf spätere Beschäftigung widmen konnten. Die jüdischen Ärzte wie Polak
versprachen sich also von einer Veränderung des herrschenden Systems „auch die
Befreiung von drückenden Fesseln“.37 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war
die „formale Möglichkeit der medizinischen Ausbildung“ für Studierende jüdischer
Herkunft mit bestimmten Reglementierungen verbunden wie etwa „speziellen Aufenthaltsbewilligungen“. Dazu kam, dass die Praxisausübung nur selten genehmigt
wurde und die Anstellung in einer Institution – wie einem Spital oder einer Universität – praktisch unmöglich war.38
Die Integration und der Aufstieg jüdischer Ärzte (ausgenommen einzelner Konvertierter wie A. R. Seligmann) in die „Wiener Medizin“ erfolgte erst in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts. Leopold Ritter von Dittel (1815–1898), Begründer der
Urologie im deutschen Sprachraum, wurde als erster jüdischer Mediziner 1861 zum
Vorstand der Chirurgischen Abteilung am Wiener Allgemeinen Krankenhaus ernannt,39 also ein Jahr nach Polaks Rückkehr aus Iran.
Isidor Fischer weist auf zwei mit „J. Polak“ signierte revolutionäre Artikel im Freymüthigen und in der Neuesten Wiener Stadtpost (erschien nur ein einziges Mal) hin.40
Ob sie Jacob Eduard Polak zuzurechnen sind, kann nicht eindeutig festgestellt werden. Fakt ist, dass er nach Beendigung seines Studiums 1847 ein Jahr im Wiener Allgemeinen Krankenhaus tätig war. Dann ging er als Fabriksarzt für die Zuckerraffinerie des Ritters von Neuwall nach Klobouky u Brna (deutsch: Klobouk) in Mähren und
kehrte nach zwei Jahren nach Wien zurück, wo er als Chirurg arbeitete und nach eigenen Angaben Versuche bei der „Behandlung von Geschwüren“ machte.41
Im Jahr 1851 gab es einen Wendepunkt in Polaks Leben, der seinen Werdegang entscheidend prägen sollte. Er nahm einen Lehrauftrag in Iran an; einen solchen in seiner Heimat wahrzunehmen, war ihm aufgrund seiner religiösen Herkunft in dieser
Zeit noch nicht möglich.
37 Isidor Fischer: Wiens Mediziner und die Freiheitsbewegung des Jahres 1848. Wien 1935, 26.
38 Helmut Gröger: „Bedeutende Ärzte der Wiener medizinischen Schule mährisch-jüdischer Herkunft“. In: E. Kordiovsky, J. Stzarek, H. Teufel (Hgg.): XXVI. Nikolsburger Symposion 2000, Mährische Juden in der österreichisch-ungarischen Monarchie (1780–1918). Brno 2003, 345. Erst nach dem
Toleranzpatent vom 18. Januar 1782 bestand zumindest formal auch für Juden die Möglichkeit, an
den Universitäten des Habsburgerreiches eine medizinische Ausbildung zu erhalten. Der erste jüdische Student promovierte sieben Jahre später an der Wiener Universität.
39 Ebd., 346.
40Fischer 1935, 85. Siehe auch Chahrour 2008, 41.
41 „Polack [sic], Jacob Eduard.“ In: Constant von Wurzbach (Hg.): Biographisches Lexikon des Kaiserthums Österreichs. Wien, 1872, Bd. 23, 73–75. „Polack [sic], Jakob Eduard.“ In: Salomon Wininger (Hg.): Grosse Jüdische National-Biographie. Czernowitz (Chernivtsi) 1931, Bd. V, 55–56. Werner,
Christoph: „Jakob Eduard Polak“. In: Encyclopaedia Iranica. New York 2009. http://www.iranicaonline.org/articles/polak-jakob-eduard (Aufruf 15.03.2011).