simon GarField Die Geschichte einer aussterbenden Kunst Simon Garfield nimmt uns mit auf eine wunderbare Reise durch die Welt der Briefe: von den alten Römern im entlegenen Vindolanda bis zur Email und der Frage, ob sie unser Leben besser oder schlechter macht. Er erzählt, wie sich schon Petrarca über den miserablen Zustelldienst beklagte, warum Jane Austens Briefe stinklangweilig sind und was es damit auf sich hat, dass Charlie Brown nie eine Valentinskarte bekommt. Simon Garfield Briefe! Ein Buch über die Liebe in Worten, wundersame Postwege und den Mann, der sich selbst verschickte Aus dem Englischen von Jörg Fündling 520 Seiten mit 100 s/w-Abb., geb. mit Schutzumschlag € 29,95 ISBN 978-3-8062-3175-5 Erscheint September 2015 Briefe! Ein Buch über die Liebe in Worten, wundersame Postwege und den Mann, der sich selbst verschickte Zuletzt von Simon Garfield erschienen: Simon Garfield ist Journalist (u. a. BBC, The Independent, The Observer) und Autor zahlreicher erfolgreicher internationaler Sachbücher. Ihm wurde der Somerset Maugham Award verliehen und sein Buch »Karten!« wurde von »Bild der Wissenschaft« zum »Wissensbuch des Jahres 2014« gewählt. Er lebt in London und St. Ives, Cornwall. Bereits in 3. Auflage! »Hervorragend, oft witzig und manchmal rührend.« F inanc ial Tim e s »Von Holztäfelchen aus der römischen Garnison im britischen Vindolanda bis zu den meisterhaften Briefen der Schriftstellerin Virginia Woolf ist dies ein Liebesbrief an zwei Jahrtausende der leidenschaftlichen, oft auch lebensverändernden Macht der privaten Korrespondenz.« N at ure € 29,95 ISBN 978-3-8062-2847-2 »Ein lesenswertes Buch – nicht nur für Nostalgiker und Freunde von Karten, sondern für jeden, der erfahren möchte, wie die Welt Gestalt annahm.« dpa »Simon Garfields neues Buch ist ein ausgelassener Ritt durch die Geschichte der Kartographie, voller Kuriositäten und mit Verve geschrieben … ein großartiges Buch!« Ind e pe nd e nt on Su nday Simon Garfield Briefe! Ein Buch über die Liebe in Worten, wundersame Postwege und den Mann, der sich selbst verschickte Aus dem Englischen von Jörg Fündling Die englische Originalausgabe ist 2013 bei Canongate Books unter dem Titel To the Letter. A Journey through a Vanishing World erschienen. Published by arrangement with Canongate Books Ltd, 14 High Street, Edinburgh EH1 1TE © Simon Garfield, 2013 Leseprobe Bitte nicht vor dem 16. September 2015 besprechen Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Konrad Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG. © der deutschen Ausgabe 2015 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Lektorat: Rainer Wieland, Berlin Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth Einbandabbildungen: Briefe mit Füller, © fotolia / Scisetti Alfio; Brief des „Schutzhäftlings“ Josef Wantula vom 28.6.1942 aus dem Konzentrationslager Auschwitz an eine Verwandte, ©akg-images; Brief von Vincent van Gogh an den Bruder Theo, Arles, Ende Oktober 1888, mit Skizze nach dem „Sämann“ © akg-images / CDA / Guillot Einbandgestaltung: Stefan Schmid Design, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.theiss.de Inhalt 1 Die Magie der Briefe Worin wir auf Umwegen erfahren, wie man eine Kugel nicht mit den Zähnen auffängt, und den Wert der Briefe im Zeitalter der E-Mail erwägen. 2 Aus Vindolanda Grüße Worin die Einwohner einer Garnisonsstadt am Hadrianswall mit der Gegenwart kommunizieren und wir entdecken, dass es schon im alten Rom wichtig war, für Besucher die Kissen aufzuschütteln. 3 Die Tröstungen Ciceros, Seneca und Plinius des Jüngeren Worin wir eine anständige Portion Bildung verpasst bekommen. Briefe aus der Fremde 4 Liebe in ihren frühesten Formen Worin Marc Aurel sich in seinen Lehrer verknallt, ein Liebespaar des zwölften Jahrhunderts sein Fett wegbekommt und Petrarca sich über den beschissenen Zustelldienst beschwert. Wie baue ich eine Pyramide? 5 Wie schreibe ich den perfekten Brief – Teil 1 Worin wir lernen, wie man einen Papst anredet, wenn er gerade erst Papst geworden ist, und einen englischen Satiriker dabei beobachten, wie er einer abservierten Geliebten einheizt. Eindruck schinden, wenn’s geht Inhalt 6 Weder Schnee noch Regen noch die Plattheit von Norfolk … Worin uns Familie Paston in ihrem entzückenden Heim in der Grenzstadt Norwich begrüßt, Heinrich VIII. sich wieder einmal verliebt und das Schicksal Rosenkrantz und Güldenstern ereilt. Dein Frischverliebter 7 Wie schreibe ich den perfekten Brief – Teil 2 Worin Madame de Sévigné und Lord Chesterfield zufällig zu Helden werden und uns The Ladies Complete Letter-Writer verrät, wie man eine Freundin darum bittet, bei ihr den Sommer auf dem Land verbringen zu dürfen. Völlig hin und weg 8 Briefe zu verkaufen Worin aus Briefen wertvolle Scheibchen Geschichte werden, Napoleon und Nelson sich im Aktionsraum brillieren und ein britischer Soldat in Indien seine liebe Not mit den Einheimischen hat. Sprechen wir übers Heiraten 9 Warum Jane Austens Briefe so langweilig sind (und andere gelöste Probleme rund um die Post) Worin Briefe zur Fiktion werden und die Briefmarke uns alle zu Briefschreibern macht. Mehr, als mir gut tut 10 Ein Brief ist ein Gefühl fast wie Unsterblichkeit Worin ein Bauer seine Post einsammelt, falls er die Zeit hat, Emily Dickinson einen virtuellen Buchclub gegründet und wir uns bemühen, nicht übers Ohr gehauen zu werden. Außerdem: Reginald Bray wird zum lebenden Einwurf. Alles, was eine Hausfrau sein sollte Inhalt 11 Wie schreibe ich den perfekten Brief – Teil 3 Worin Lewis Carroll eine lebenswichtige Zutat für das fruchtbare Korrespondieren erfindet, den Chinesen beigebracht wird, wie sie in makellosen Englisch Fische verschicken, und die Briefmarkenverkanter der Jahrhundertwende neue Arten entdecken, wie man „Ich heirate dich nicht“ sagt. Fotografien 12 Noch mehr Briefe zu verkaufen Worin wir Virginia Woolf bis ans Ufer folgen, herausbekommen, wozu ein Briefschreiber einen Makler in Manhattan braucht, und die verrückte, auskunftsfreudige Wahrheit über Jack Kerouac erfahren. Griechenland und London, Befreiung und Gefangennahme 13 Liebe in ihren Spätformen Worin Charlie Brown keine Karte zum Valentinstag bekommt, Charles Schulz jedoch seiner Flamme schreibt, John Keats letzte Worte an Fanny Brawne hervorsprudelt und Henry Miller sich Anaïs Nin hingibt. Aus Tagen werden Wochen 14 Der Meister von heute Worin wir von Ted Hughes und Sylvia Plath lernen, was wir können, und über den Gedanken hinter gesammelten Briefen nachsinnen. Die Heimkehrfrage 15 Posteingang Worin @ unser Leben zum Guten oder Schlechten verändert, wir untersuchen, was mit unseren E-Mails passiert, wenn wir sterben, und die Kuratoren weltweit führender Universitäten den Performa 5400 von Salman Rushdie entstauben. In Fleisch und Blut Epilog: Liebe(r) Leser(in) Worin der Autor überlegt, wie man die Geschichte lebendig halten kann, und eine Brieffreundschaft mit einem Englischprofessor in Connecticut beginnt. 6 Weder Schnee noch Regen noch die Plattheit von Norfolk … 1633 zeigte The Prompters Packet of Letters, ein beliebtes Selbsthilfehandbuch für ein zunehmend schreibkundiges Europa, auf seiner Titelseite einen Holzschnitt mit zwei galoppierenden Reitern. Der erste trug die Post in seiner Satteltasche, der zweite, ein vornehmer Typ mit Peitsche, war vermutlich da, um den ersten zu beschützen. Der Postreiter bläst beim Reiten in ein Horn und der Klang, den er erzeugt, erscheint als Sprechblase, die einfach „Post Hast“ (schnellstens) lautet. Der Ausdruck war damals schon mindestens 60 Jahre gängig, eine Anweisung zur schnellen Zustellung, die außen auf den Brief als „haste, post, haste“ (eile, Post, eile) geschrieben wurde. Wie typisch war aber dieser galoppierende Anblick im ländlichen England? F F F Die ersten Regungen dessen, was wir heute als modernen, geregelten Postdienst erkennen würden, zeigten sich langsam im 16. 6 Weder Schnee noch Regen noch die Plattheit von Norfolk … Jahrhundert, und dafür sollten wir einem großen Skandalfall dankbar sein – den Leidenschaften und der Paranoia Heinrichs VIII. Es half jedem, dem es um die Briefzustellung ging, dass Heinrich Grund dazu hatte, selber Briefe zu schreiben, die über die normale Aufstellung höfischer Haushaltsangelegenheiten hinausgingen. Seine Briefe an Anne Boleyn, einige der ganz wenigen, die er eigenhändig schrieb, zählen zu den besten Beispielen, die wir von einem Monarchen haben, den es schwer erwischt hat. Der Tonfall der Korrespondenz ist ungeschützt und ausgiebig blumig, und wenn wir nicht wüssten, wie die Geschichte ausging, stünde sie in den Geschichtsbüchern als klassische Romanze. Die Briefe stellen eine vollständige Serie dar, wie es sie nur selten gibt, ein Werben, das sich über 18 Monate vom ersten Tändeln der beiden etwa im Mai 1527 bis zum Oktober 1528 erstreckt. Vermutlich waren es früher mehr; Heinrichs Scheidung von Katharina von Aragon und der Bruch mit Rom, der sie begleitete, dauerten fünf weitere Jahre. Dank der Briefe können wir verfolgen, wie ein stolzes, ehrgeiziges Werben des Königs auf anfangs unverbindliche Antworten seiner Auserwählten stieß und wie sich sein Liebesleben rund um seinen seuchendurchzogenen, jagdfiebrigen Alltag rankte. Weil die Stücke keine Daten tragen, sind sich die 7 Briefe! Historiker uneins, was die korrekte Reihenfolge der Briefe betrifft, obwohl es genug Hinweise gibt, um wenigstens einen groben Zeitrahmen zu erstellen. „Während ich mir den Inhalt Eures letzten Briefes durch den Kopf gehen lasse“, setzt der Briefwechsel ein, „habe ich mir große Qualen bereitet, weiß ich doch nicht, wie ich sie deuten soll, ob zu meinem Nachteil, wie Ihr an manchen Stellen zeigt, oder zu meinem Vorteil, wie ich es an einigen anderen verstehe, und beschwöre Euch dringlich, mich ausdrücklich Eure ganze Ansicht wissen zu lassen, was die Liebe zwischen uns beiden angeht. Es ist für mich absolut unerlässlich, diese Antwort zu erhalten, bin ich ja über ein ganzes Jahr schon vom Pfeil der Liebe getroffen und doch noch nicht sicher, ob ich damit scheitern soll, einen Platz in Eurem Herzen und Euren Gefühlen zu finden, welch letzter Punkt mich schon einige Zeit davon abhält, Euch meine Geliebte zu nennen (...) Beliebt es Euch aber, die Stelle einer wahren, treuen Geliebten und Freundin auszufüllen und Euch mit Leib und Herz mir zu geben (…), so will ich Euch als meine einzige Geliebte nehmen, alle anderen außer Euch aus meinen Gedanken und Gefühlen verstoßen und Euch allein dienen. Zwei andere Briefe in einem ähnlich zögernden Tonfall folgen, einer mit Nachrichten über „einen (Reh-)Bock, spät am letzten Abend von meiner eigenen Hand getötet“, der, wie der König hofft, Anne „an den Jäger denken“ lassen sollte, wenn sie ihn aß. Anschließend scheint der Klatsch bei Hof und in der Öffentlichkeit für die Verbannung Annes an den Ort ihrer Kindheit, nach Hever Castle in Kent, gesorgt zu haben. Dorthin schickt ihr Heinrich, der ihre Abwesenheit bedauert, „ein in ein Armband gefasstes Bild mit der vollständigen Devise, die Ihr schon kennt, und wünsche mich an ihre Stelle“. Noch bis zum sechsten Brief bleibt Anne kühl, obwohl ihr Verehrer sicher ist, „dass ich seitdem nie etwas getan habe, um Euch zu beleidigen, und das scheint ein sehr schlechter Dank für die große Liebe, die ich für Euch hege, dass Ihr mich fernhaltet sowohl von den Worten wie der Person jener Frau, die ich auf der Welt am höchsten achte“. 8 Weder Schnee noch Regen noch die Plattheit von Norfolk … „Mich in die Arme meines Schatzes wünschend“: Heinrich verspricht Anne Boleyn die Welt. Im neunten Brief, einige Wochen später, drückt er seine Sorge über ihre jüngste Erkrankung aus, vielleicht die Pest, und verspricht seinen Arzt zu schicken, so schnell er kann; auch spätere Briefe bringen Krankheitsnachrichten, mehr Ratschläge, wie Anne gesund bleiben kann, und noch einen getöteten Hirsch, der ihre Genesung fördern soll. Im zwölften Brief ist Heinrichs üblicher Briefbote Suche ebenfalls „am Schweiß erkrankt“, also schickt er einen anderen Mann. Im fünfzehnten Brief, gerichtet an „meinen mir eigenen SCHATZ“, schmachtet er wieder offen und berichtet, wie bekümmert und Schmerz erfüllt ihn ihre Abwesenheit macht. Der Brief ist kurz (Heinrich hat Kopfweh), doch er schließt „mich (besonders abends) in meines Schatzes Arme wünschen, dessen hübsche Früchtchen* ich bald zu küssen hoffe“. Der letzte Brief spricht von Hoffnungen auf die Annullierung der Ehe, die Beschaffung eines Quartiers für Anne, um mehr Geliebtennähe zu garantieren, und weiteren Jagdgeschichten. Der siebzehnte Brief ist, was vielleicht nicht überrascht, „Geschrieben * Brüste 9 Briefe! nach dem Töten eines Hirschen, um elf auf der Uhr, in dem Vorsatz, so Gott will, morgen reichlich früh einen weiteren zu töten mit der Hand, die, wie ich hoffe, bald die Eure sein wird.“ Mit diesem letzten Brief scheinen wir eine Art Auflösung des Knotens erreicht zu haben. Der päpstliche Legat aus Paris mit entscheidenden Neuigkeiten über Heinrichs mögliche Scheidung ist zwar krank, sonst aber scheinen „all meine Mühen und Not“ ein Ende zu haben, und „dadurch soll für Euch wie für mich der größte Friede kommen, der in dieser Welt bestehen kann“. Anne ist in einer Wohnung in der Nähe des Königs untergebracht und die Notwendigkeit zum Briefeschreiben ist geringer. Beider Ehe jedoch liegt immer noch mehr als vier Jahre in der Zukunft, und der „Friede“, von dem Heinrich schreibt, leitete die Reformation in England ein und sollte die Hallen der Verfassungsinstitutionen noch jahrhundertelang erschüttern. Heute liegen die Briefe in der Bibliothek des Vatikans, in ein Buch eingeklebt und mit einem vatikanischen Siegel versehen. Vielleicht wurden sie nicht lange nach Boleyns Hinrichtung gestohlen und als Kriegsbeute nach Rom gebracht, während die Exkommunikation Heinrichs noch für Wirbel sorgte. Annes Antworten auf seine Sehnsuchtsbekundungen besitzen wir nicht, und ihr einziger erhaltener Brief von Belang aus dieser Zeit ging an Kardinal Wolsey, dem sie für seine Unterstützung während dieser Monate dankt, in der Hoffnung, dass der Legat bald die gute Nachricht einer Eheauflösung bringen wird. Aber es gibt noch einen anderen Brief von Anne, der berühmt geworden ist – ihren letzten an Heinrich aus dem Jahr 1536, geschrieben im Tower, wo sie sich unter Anklage des Ehebruchs und Hochverrats befand. Er ist ebenso bemerkenswert wegen seiner Fassung wie wegen seines Inhalts, und es ist ein Brief, der in seiner herzzerreißenden Schlichtheit mehr getan hat, um einen Ruf strahlender Unschuld zu besiegeln, als jeder andere Brief in englischer Sprache. Hauptsächlich auf ihn stützt sich der Kult um Anne Boleyn, der all die Romane, Filme und Verehrer-Websites hervorgebracht hat: 10 Weder Schnee noch Regen noch die Plattheit von Norfolk … Anne Boleyn schreibt aus dem Tower 1536 an Heinrich. 11 Briefe! Sir, Euer Gnaden Missfallen und meine Kerkerhaft sind Dinge, die mir so fremd erscheinen, dass ich ganz und gar nicht weiß, was ich schreiben oder was entschuldigen soll … Aber wollen Euer Gnaden sich niemals vorstellen, dass Eure arme Frau je dazu gebracht werden wird, eine Schuld einzugestehen, wo nicht einmal so viel wie ein Gedanke daran vor sich gegangen ist. Und um eine Wahrheit auszusprechen, nie hat ein Fürst eine treuere Frau gehabt in aller Pflichterfüllung und aller aufrichtigen Zuneigung, als Ihr je in Anne Boleyn gefunden habt; mit welchem Namen und Rang ich mich willig hätte begnügen können, hätte es Gott und Euer Gnaden Belieben so gefallen. Auch habe ich mich zu keiner Zeit dermaßen vergessen in meiner Erhöhung oder der mir verliehenen Königinnenwürde, dass ich nicht stets mit einem solchen Umschwung gerechnet hätte, wie ich ihn jetzt vorfinde; denn da der Grund meiner Erhebung auf keinem festeren Fundament stand als auf Euer Gnaden Laune, so war der kleinste Umschwung, wie ich wusste, genug und hinreichend, diese Laune auf ein anderes Objekt zu lenken. Ihr habt mich aus einem niedrigen Stand als Eure Königin und Gefährtin erwählt, weit über mein Verdienst oder Verlangen hinaus. Wenn Ihr mich damals einer solchen Ehre würdig befandet, wollen Euer gute Gnaden keine flüchtige Laune oder bösen Rat meiner Feinde Eure fürstliche Gunst mir entziehen lassen; und möge auch nicht jener Makel, jener unwürdige Makel, eines gegenüber Euer guten Gnaden untreuen Herzens jemals einen solchen Schandfleck auf Eure ergebenste Frau und auf die junge Prinzessin, Eure Tochter, drücken. Stellt mich vor Gericht, guter König, doch lasst mich ein Verfahren nach dem Gesetz haben und lasst nicht meine eingestandenen Feinde über mich als Ankläger und Richter sitzen; ja, lasst mich einen offenen Prozess erhalten, denn meine Wahrheit wird keine offene Flamme fürchten; dann werdet Ihr entweder meine Unschuld bewiesen, Euren Verdacht und Euer Gewissen zur Ruhe gebracht, die Schmähungen und Verleumdungen der Welt beendet oder aber meine Schuld offen ausgesprochen sehen. (…) Falls Ihr aber schon über mich entschieden habt und nicht nur mein Tod, sondern eine schändliche Verleumdung Euch zum Genuss Eures ersehnten Glückes verhelfen muss – so er flehe ich von Gott, dass er Euch Eure große Sünde dabei verzeihen möge und ebenso meinen Feinden, 12 Weder Schnee noch Regen noch die Plattheit von Norfolk … deren Handlangern, und dass er über Euer eines Fürsten unwürdiges und grausames Verfahren mit mir nicht strenge Rechenschaft von Euch fordere vor seinem allgemeinen Richterstuhl, wo Ihr wie ich in Kürze erscheinen müsst und vor dessen Gericht, wie ich nicht bezweifle (gleich was die Welt von mir denken mag), meine Unschuld allgemein bekannt und hinreichend bewiesen werden wird (…) Habe ich je Gefallen in Euren Augen gefunden, hat der Name Anne Boleyn Euren Ohren je angenehm geklungen, so lasst mich dies Erbetene erhalten, und dann will ich aufhören, Euer Gnaden weiter zu bedrängen, unter aufrichtigen Gebeten an die Dreifaltigkeit, Euer Gnaden in ihren Schutz zu nehmen und Euch in all Eurem Handeln zu leiten. Aus meinem trübseligen Gefängnis im Tower, heute am 6. Mai, Eure ergebenste und stets getreue Frau Anne Boleyn Nun ist das wahrscheinlich kein echter Brief. Oder vielmehr war es zwar ein echter Brief, der sich angeblich unter den Papieren von Thomas Cromwell nach dessen Tod fand und anschließend häufig abgeschrieben wurde, aber es war kein Brief, den Anne Boleyn im Tower geschrieben hat. Zu viele Unstimmigkeiten – etwa dass sie ihren Namen „Bullen“ schrieb (was sie seit vielen Jahren nicht mehr getan hatte) oder sich selbst einen „niedrigen Stand“ zuerkennt – deuten in den Augen der Historiker darauf hin, dass er nicht authentisch ist. Der Grund für die Fälschung kann religiös, politisch motiviert oder auch nur Unruhestiftung sein. Daran, dass Heinrich VIII. sich vor Betrügern und Spionen fürchtete, ist nicht zu zweifeln, und sein Versuch, sie im Griff zu halten (die vereinten Anstrengungen dazu würden wir heute als Geheimdienstarbeit bezeichnen), führte zur Bildung der ersten königlichen Post, um für die sichere Beförderung der Korrespondenz des Hofes zu sorgen. 13 10 Ein Brief ist ein Gefühl fast wie Unsterblichkeit Nehmen wir an, wir schreiben das Jahr 1794 und Sie sind ein Landarbeiter in New Hampshire namens Abner Sanger. Was würden Sie von anderen Leuten über das Leben jenseits des Wurzelgemüses hören? Anfang Juni erfahren Sie von einem, der es gut mit Ihnen meint, dass in einem Bostoner Postamt ein Brief Ihres Bruders auf Sie wartet. Der Brief kommt aus dem Norden von Vermont und enthält vielleicht wichtige Nachrichten, denn warum sonst würde jemand 1794 einen Brief schreiben? Also bitten Sie einen ortsansässigen Ladenbesitzer, ihn mitzunehmen, wenn er das nächste Mal Vorräte in der Stadt einkaufen fährt. Noch ehe das geschieht, entdeckt die Cousine Ihrer Frau den Brief im Postamt und denkt sich, sie täte Ihnen einen Gefallen, wenn sie ihn einsammelt und in größere Nähe zu Ihnen bringt; jetzt liegt er in Keene, einer Kleinstadt, die rund 15 km entfernt ist. Nach ein paar weiteren Tagen Landarbeit gehen Sie nach Keene, um ihn abzuholen, aber obwohl Sie sich in allen Läden und Saloons des Ortes erkundigen, ist der Brief nirgends zu finden. Und zehn Tage später, an die zwei Monate nach Absenden des Briefes, trifft Ihr eigener Sohn den Bruder des Ladenbesitzers, 14 Ein Brief ist ein Gefühl fast wie Unsterblichkeit dem Sie die Briefabholung ursprünglich anvertraut hatten, und er bringt ihn nun mit zurück, so dass Sie das Schreiben lesen oder sich vorlesen lassen können. Die Geschichte endet weder traurig noch fröhlich, denn wir wissen nicht, was in dem Brief stand. Aber aus der Postperspektive waren die Nachrichten so gut wie eben möglich: Der Brief kam durch und vielleicht galten zwei Monate als ein gar nicht so schlechtes Ergebnis. Seine Reise verrät uns jedoch noch einiges andere, nicht zuletzt, dass die Vereinigten Staaten für postalische Abenteuer genau dieser Art noch nicht startbereit waren. Niemand trug die Post aus, es sei denn, Sie organisierten einen Suchtrupp. Und es war unwahrscheinlich, dass jemand, der nicht mit dringenden Tagesgeschäften zu tun hatte, überhaupt Post erwartete. Hauptsächlich waren Briefe für wichtige Stadtmenschen gedacht, die die Zustellung untereinander regelten; alle anderen bestellten weiter ihren Acker. J J J Was die Leistungen der Post betrifft, hatte die Alte Welt eindeutig die Nase vorn. Um 1900 hatte die Zustellung hier andere Standards inklusive Sonderlocken erreicht, wie eine Geschichte aus dem London der Jahrhundertwende illustriert. 1898 bekam Reginald Bray, ein fahrradverrückter Neunzehnjähriger, der im Süden Londons lebte, ein Exemplar des Post Office Guide in die Hand, ein wuchtiges Handbuch, das vierteljährlich vom britischen Postministerium herausgebracht wurde, um seine Kunden über seine zahlreichen Dienstleistungen auf dem Laufenden zu halten. Für sechs Pence nach alter Währung erfuhr man die richtige Art, einen Brief zu adressieren, und dass man der Post alle möglichen Dinge anvertrauen konnte, sofern sie denn ordentlich verpackt und gestempelt seien. So konnten Sie zum Beispiel Lebewesen per Post schicken, darunter eine einzelne lebende Biene, „falls in einem passenden Behältnis befindlich“, und „besondere Vorkehrungen können im Bedarfsfall für Hunde getroffen werden“. Flüssigkeiten dürfen versandt werden, „vorausgesetzt, die 15 Briefe! Flaschen sind ordnungsgemäß verschlossen“. Das Verlockendste aber war folgende Zeile, die bewies, wie weit man seit der schwarzen Penny-Marke von 1840 fortgeschritten war: „Die Postmeister können die Beförderung einer Person zu einer Adresse per Eilboten sicherstellen.“ Reginald Bray beschloss, diese Möglichkeiten bis zum Äußersten auszureizen. Er fing bescheiden an, mit dem Versand eines Kaninchenschädels und einer Rübe, und als sie sicher bei ihm zuhause ankamen (den Kaninchenschädel adressierte er entlang des Nasenbeins und klebte die Marken auf die Schädeldecke), versandte er ohne Verpackung eine Melone (den Hut), eine Bratpfanne, eine Fahrradpumpe, Hundekekse, Zwiebeln und eine Handtasche (in der die Marken waren). Reginald Bray (mit FahrAus der Rückschau erklärte er einige rad) wird nach Hause zugestellt. Jahre später im Royal Magazine, dass „ich diesen Weg nicht ohne viel Überlegen und Zögern einschlug, denn es wäre überaus unfair, um kein stärkeres Wort zu wählen, eine Menge unnötigen Ärger zu verursachen, nur um einen hirnlosen Streich zu spielen. Mein Ziel war von Anfang an, den Einfallsreichtum der Postbehörde zu testen und sie, wenn möglich, von den ‚Vorwürfen der Fahrlässigkeit und Unachtsamkeit‘ freizusprechen.“ Aber natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis er ehrgeizig wurde. An 10. Februar 1900 versandte er seinen irischen Terrier Bob; praktisch bedeutete das, dass er das Postministerium bezahlte, damit ein Postbote Bob für drei Pence pro Meile an der Leine nach Hause führte, doch das, so Bray, könne ganz nützlich sein, wenn man den Hund zu einem Freund oder zum Tierarzt schaffen müsse. Gegenstände und Haustiere waren allerdings vor allem 16 Ein Brief ist ein Gefühl fast wie Unsterblichkeit des Spektakels wegen dabei – der Löwenanteil seiner Aufgaben bestand in Briefen und Postkarten. Auch in diesem Fall behauptete Bray, das solle das Postministerium und vor allem die Briefvermittlungsstelle auf Zack halten: Sendungen trugen die Adresse „An die Postämter rund um die Welt“ oder „an jeden Einwohner von London“. 1902 verschickte er eine Postkarte mit einer Abbildung des Old Man of Hoy, der berühmten Felsnadel auf den Orkneys, und adressierte sie an „den diesen Felsen am nächsten Wohnenden“. Eine andere ging an „den Besitzer des bemerkenswertesten Hotels der Welt auf der Straße zwischen Santa Cruz und San José, Kalifornien“. 17 Briefe! Es war nur ein Katzensprung von Santa Cruz zu „Santa Claus, Esq.“, dem Bestimmungsort einer Bray-Postkarte vom Dezember 1899. Eindeutig die Urheberrechte darf Bray für einen anderen Trick beanspruchen: 1900 gelang es ihm, sich selbst zu verschicken, und er bezahlte das Postministerium, ihn zu Fuß nach Hause zu begleiten. Diese Übung wiederholte er 1903 und verschaffte sich einen Vordruck, der in der Zeile, die für das Wort „Brief“ oder „Paket“ vorgesehen war, die Beschreibung „Person, Radfahrer“ enthielt. Das tat er nochmals 1932, aber da war es schon ein alter Hut und das Postministerium wurde langsam ärgerlich. Bienen zu verschicken ist immer noch zulässig, doch die Option, einen Hund oder einen Menschen zu versenden, ist seitdem den Weg allen Fleisches gegangen. Und das ist eine Schande, denn sie war nützlich, so erklärte Bray. „Einmal konnte ich an einem sehr nebligen Abend das Haus eines Freundes nicht finden, und statt stundenlang umherzuirren, gab ich mich per Post auf und wurde in wenigen Minuten zugestellt.“ Wenn man das Postministerium schon für persönliche Gags nutzte, warum nicht auch für politische Gags? Ende Februar 1909 wurden zwei Frauenrechtlerinnen, Daisy Solomon und Elspeth McClellan, als menschliche Post im Postamt West Strand vorstellig und verlangten die Zustellung nach Nr. 10, Downing Street, um für das Frauenwahlrecht zu werben. Sie wurden von einem Telegrafenjungen und einer beträchtlichen Menge aus Unterstützern und Journalisten zu Fuß dorthin begleitet, doch da ihnen Premierminister Asquith den Zutritt verwehrte, erklärte man sie offiziell für „unzuDie Auslieferung der Suffragetten stellbar“ und sie kehrten in ihr in die Downing Street. Hauptquartier zurück. 18 12 Noch mehr Briefe zu verkaufen Sogar Virginia Woolf fuhr manchmal an den Strand. Wie das typische Strandmädchen kommt sie einem nicht gerade vor, nicht in ihren Schriften und nicht in dem Bild, das wir von ihr haben. Da erscheint sie uns vielmehr eher wie ein Schreibtisch- und Löschblattmensch, ein blasses Stück Inventar für den Großen Lesesaal im British Museum, eine, die im Regen quer über den Russell Square in Bloomsbury läuft. Leidenschaftlich besessen von ihrer Arbeit und ihren Geliebten, das ja, aber wenn sie schon an die Küste reiste, dann blickte sie aus trüb verhangenen Fenstern hinüber zum Leuchtturm. Können Sie sich Virginia etwa in einem gestreiften Badeanzug und mit Stirnband am Strand vorstellen? Das brauchen Sie auch nicht – wir haben nämlich ein Foto. Aufgenommen ist es auf dem Sandstrand von Studland in Dorset, wahrscheinlich 1908, als Woolf 26 war und noch den Familiennamen Stephen trug. Das Bild zeigt sie fröhlich lächelnd zusammen mit Clive Bell, der ein Jahr zuvor ihre Schwester Vanessa geheiratet hatte (wer es aufgenommen hat, ist unbekannt, aber es kann gut Vanessa selbst gewesen sein). Der Badeanzug war nur gemietet und in ihren Notizbüchern beschrieb Virginia ihn als „unisex“. Sie er19 Briefe! innerte sich daran, weit aufs Meer hinausgeschwommen zu sein, „eine treibende Seeanemone“. In einem Begleitbrief zu dem Foto, den sie am 19. Februar 1909 an Clive Bell schrieb, schilderte sie ihren Besuch einer Dinnerparty, die der Zeitungsherausgeber Bruce Richmond veranstaltet hatte; „ich fühlte mich wie eine Kannibalin, weil das Essen so gut war, und dabei wusste ich, woraus es gekocht war – aus dem Blut achtbarer junger Männer und Frauen wie ich“. Ich fürchte, heutzutage kann man an die Geschichte vom hungernden Genie, das in einer Dachkammer erfriert, nicht mehr glauben.Wir waren ein fürchterlicher Haufen Harpyien; mäßig renommierte Schriftsteller mittleren Alters sind für meinen Geschmack etwas einmalig Unangenehmes. Sie erinnern mich an diese Geier mit ihren kahlen Hälsen im Zoo, mit ihren zufallenden, blutunterlaufenen Augen, die ständig nach einem Klumpen rohen Fleisches Ausschau halten. Du hättest das Geschwätz und Gezänk hören sollen, das unter ihnen herrschte, und das sanfte, selbstgefällige Gurren derjenigen, die gefüttert waren. Diese große Gans Lady G[regory?] war im Kreischen die Lauteste; der Rest von uns saß rundherum und zwitscherte, halb neidisch und halb spöttisch.* Im mittleren Alter war Woolf noch nicht, und bei ihrem Anspruch, auch nur mäßiges Renommee zu genießen, kann es sich um Wunschdenken gehandelt haben. Bis zum Erscheinen ihres ersten Romans The Voyage Out sollten noch sechs Jahre vergehen, und ihre bis dahin besten Schriften bestanden in Briefen und Beiträgen zu Literaturzeitschriften. Aber ihre Anwesenheit im BloomsburyKreis hatte ihr aus nichtliterarischen Gründen viele Bewunderer eingetragen, darunter Anträge von Sydney Waterlow, der Diplomat im Außenministerium und ein Jugendfreund von Clive Bell war. 1911 bat Waterlow Woolf, ihn zu heiraten, eine Aussicht, die sie verwarf. Er aber bemühte sich weiterhin und ihr Widerstand * Virginia adressierte den Brief an „James“ und unterzeichnete mit „Eleanor Hadyng“, ein Spiel, das die Mitglieder ihres Kreises spielten. 20 Noch mehr Briefe zu verkaufen To the Letter Nicht ertrinkend, sondern lachend: Virginia Woolf und Clive Bell in Dorset 21 Briefe! wuchs, teils – so mag man sich denken – weil er schon verheiratet war, und teils, weil er ihr gleichgültig war. „Ich glaube nicht, dass ich je für Sie empfinden werde, was ich für den Mann empfinden muss, den ich heirate“, schrieb sie im Dezember 1911. „Ich habe den Eindruck, dass es in Ihrer Macht steht, nicht weiter an mich als an die Person zu denken, die Sie heiraten wollen. Es wäre unverzeihlich, wenn ich nicht alles täte, um Sie vor etwas zu retten, das – soweit ich sagen kann – eine ungeheure Verschwendung wäre.“ Und dann der letzte furchtbare Sargnagel: „Ich hoffe, wir werden auch so weiterhin gute Freunde bleiben.“ Diese Briefe stehen am einen Ende einer Karriere, und am anderen steht eine bemerkenswerte Folge von acht Briefen, die zwischen dem 28. März und dem 6. April 1941 von Leonard Woolf – dem Mann, den Virginia sich dann tatsächlich zu heiraten entschloss – und ihrer Schwester Vanessa Bell geschrieben wurden. Gerichtet waren sie an Vita Sackville-West, Virginias glühende Freundin und wohl auch Geliebte, und sie behandelten die Zeit unmittelbar nach Virginias Suizid.* Woolf hatte zwei Abschiedsbriefe an Leonard und einen an Vanessa geschrieben, die heute berühmt sind.** Was aber dann passierte, ist nicht so bekannt. Der Wissensstand vom Mai 2013 ist, dass sich folgender Brief, von ihrem Mann in grüner Tinte am Tag ihres Todes – dem 28. März – verfasst, in Privatbesitz befindet. * ** 22 Woolfs Roman Orlando beschrieb Sackville-Wests Sohn Nigel Nicolson, der Woolfs Briefe herausgab, als „den längsten und bezaubernden Liebesbrief der ganzen Literatur“. Einer der beiden Briefe, die Virginia für Leonard hinterließ und vielleicht zehn Tage vor ihrem Tod verfasste, lautet in gekürzter Form: „Liebster, ich bin mir sicher, dass ich wieder wahnsinnig werde: ich habe das Gefühl, daß wir nicht noch eine dieser schrecklichen Zeiten durchmachen können. Und dieses Mal werde ich nicht wieder gesund werden. Ich fange an, Stimmen zu hören, und kann mich nicht konzentrieren. Also tue ich, was das Beste zu sein scheint. Du hast mir das größtmögliche Glück geschenkt. Du warst in jeder Hinsicht alles, was jemand mir sein konnte. Ich glaube nicht, dass zwei Menschen glücklicher hätten sein können, bis diese schreckliche Krankheit kam. (...) Wenn überhaupt jemand mich hätte retten können, wärst Du es gewesen (...)“ [Bd. 2 S. 475f. übs. Walitzek] Noch mehr Briefe zu verkaufen Ich will nicht, dass Du erst in der Zeitung liest oder vielleicht im Rundfunk hörst, was Virginia Schreckliches zugestoßen ist. Sie ist wirklich sehr krank gewesen in den letzten Wochen & lebte in panischer Angst, sie könnte wieder wahnsinnig werden. Es war, vermute ich, der Druck des Krieges & ihr Buch abzuschließen* & sie konnte wieder schlafen noch essen. Heute ging sie spazieren und hinterließ einen Brief, in dem stand, dass sie Selbstmord beging. Ich glaube, sie hat sich ertränkt, denn ich fand ihren Stock im Fluss treiben, aber wir haben die Leiche nicht gefunden. Ich weiß, wie Dir zumute sein wird & Du für sie empfunden hast. Sie hatte Dich sehr gern. Sie ist in diesen letzten Tagen durch die Hölle gegangen. Am nächsten Tag schreibt Vanessa an Vita. Leonard sagt, er schriebe an Dich, also kommt das hier nur, weil ich spüre, dass ich irgendwie mit Dir in Kontakt sein will – als der Person, die Virginia, glaube ich, außerhalb der eigenen Familie am meisten liebte. Zufällig war ich gestern da & traf ihn. Er hatte sich natürlich sagenhaft im Griff & war ruhig & bestand darauf, allein gelassen zu werden. Es gibt im Augenblick nichts, was ich tun kann. Vielleicht können Du & ich uns irgendwann treffen? Das ist schwierig, ich weiß. Aber wir werden es bald schaffen. Jetzt können wir nur abwarten, bis das erste Entsetzen vorbei ist, das es irgendwie fast unmöglich macht, viel zu empfinden. Entschuldige das Gekrakel. Über eine Woche später war Virginias Leiche immer noch nicht gefunden worden. Am 6. April schrieb Leonard Woolf erneut an Vita: „Sie haben letzte Woche den Fluss abgesucht, geben aber, glaube ich, die Suche jetzt langsam auf.“ Und dann schreibt ihr am selben Tag auch noch Vanessa: „Es gibt natürlich nichts Neues. Es ist wohl wahrscheinlich, dass wir nie etwas hören, was vielleicht das Beste ist.“ Wir wissen, was geschah, und während wir lesen, wissen wir mehr als die Beteiligten; dass dies bei Briefen so oft der Fall ist – dass die Fehlerhaftigkeit sie begleitet – erhöht noch ihren Wert. * Ihr letzter Roman Zwischen den Akten. 23 Briefe! Aus der Rückschau geschriebene Briefe wären etwas Schreckliches. Denn hier sehen wir Woolf nur drei Jahre früher, unauslöschlich entzückt von ihrem Lebenslos, in einem Brief an ihre Schwester, der sie die heiteren Tage mit Leonard im Haus der beiden im Dörfchen Rudnell in Sussex schildert, nach einem Besuch dessen, was sie das „Getümmel“ des „unerträglichen“ London nannte: „Hier erleben wir Bruchstücke himmlischer Einsamkeit, einen oder zwei Tage“, schrieb sie mit 56 im Oktober 1938, und zuversichtlich wie ich bin, sagte ich zu L., als wir durch die Pilzwiesen schlenderten, dem Himmel sei Dank, wir werden allein sein; wir werden Bowls spielen; dann werde ich Sévigné lesen; dann werden wir gegrillten Schinken und Pilze zum Abendessen haben, dann Mozart – und warum nicht für immer und ewig hierbleiben, diesen unsterblichen Rhythmus genießen, in dem Auge und Seele Ruhe finden? (…) Wir waren so vernünftig; so glücklich (…)* Ihr Glück wird verdorben durch Besuch, der einfach nicht wieder gehen will („ein Intervall schieren Entsetzens; ungemilderter Verzweiflung“), aber am Ende war es die Vernunft, die sie im Stich ließ. Zwei Wochen, nachdem Vanessa an Vita geschrieben hatte, die Leiche ihrer Schwester sei nicht aufgetaucht, schrieb sie erneut; inzwischen waren Kinder an einem weiter entfernten Ufer auf den Körper gestoßen. Es war natürlich ein weiterer Schock & man hatte so gehofft, es käme nicht dazu. Aber ich glaube, es war Leonard ernst, als er sagte, wer das zu mir getan hat, dass es auch nicht schrecklicher sei als das ganze übrige (…) Er hat dafür gesorgt, dass gestern in Brighton die Einäscherung stattfand, & wollte nicht, dass ich hinging, also ließ ich es. Es gab keine Feier. Nichts. Die arme alte Ethel,** die mir geschrieben hatte und an- * ** 8. Oktober 1938, S. 419 übs. Walitzek (A. d. Ü.) In späteren Jahren hatte Woolf oft an Ethel Smyth geschrieben, eine Komponistin und Vorkämpferin der Wahlrechtsbewegung für Frauen, die sich in sie verliebt hatte; allerdings steht fest, dass Woolf sie teilweise unausstehlich fand, und in einem Brief nennt sie sie „eine Katastrophe“. 24 Noch mehr Briefe zu verkaufen scheinend einen Dorfkirchhof wollte, wird enttäuscht sein, aber schließlich wäre alles andere auch zu untypisch gewesen. Das Bild, wie Virginia Woolf ans Ufer der nahen Ouse geht und sich die Taschen mit Steinen füllt, ist ebenfalls unauslöschlich, vielleicht noch mehr, weil wir das Kontrastbild besitzen, wie sie als Zwanzigjährige auf diesem Foto lächelnd am Strand steht. Doch damit endet die Geschichte in Briefen nicht. Woolf definierte das Briefeschreiben einmal als „die humane Kunst, die ihren Ursprung der Freundesliebe verdankt“.* Also ist es angemessen, dass sich ihre Geschichte über ihren Tod hinaus im Dialog ihrer Freunde fortsetzt; es gibt eine weitere Serie von fünf Briefen zwischen Leonard Woolf und Vita Sackville-West, zu der es zwischen Mai und Juni 1941 kam, damit Virginias Testament vollstreckt wurde. Die Blätter sind mit der Maschine geschrieben (im Gegensatz zu den handschriftlichen Todesnachrichten) und entfalten eine Meinungsverschiedenheit unter Freunden. „Virginia hat Dir eins ihrer Manuskripte hinterlassen und mich angewiesen, es auszusuchen“, schrieb Woolf am 24. Mai, „und jetzt bitten mich die Nachlassleute, ihnen mitzuteilen, welches das sein soll.“ Woolf schlägt vor, Vita The Years oder Flush zu schenken, die überaus erfolgreiche Biographie des Cockerspaniels von Elizabeth Barrett Browning (angeregt durch Virginia Woolfs Lektüre des Briefwechsels zwischen den Brownings), aber offensichtlich wollte Vita etwas anderes, vielleicht The Waves oder To the Lighthouse. Fünf Tage später schreibt Woolf: „Ich bin froh, dass Du wie immer kein Blatt vor den Mund nimmst, und das werde ich auch nicht.“ Die Manuskripte wurden zum Gegenstand heftigen Feilschens: The Waves möchte er behalten, bietet ihr aber Mrs Dalloway an. Außerdem bittet er darum, dass ihm Vita die ungedruckten Seiten aus Orlando zuschickt, die sich in ihren Besitz befinden, und in einem späteren Brief sendet er sie in * Zitiert nach der Einleitung zu Nigel Nicholson (Hg.), Leave the Letters Till We’re Dead: The Letters of Virginia Woolf,Vol.VI. Nicholson, der Sohn von Harold Nicholson und Vita SackvilleWest, sagte über Woolf: „Ein Brief war ein Weinglas, das ihre Wonnen fasste, oder auch ein Sumpf für ihre Verzweiflung.“ 25 Briefe! 298 „Sie haben den Fluss abgesucht …“ Briefe an Vita Sackville-West von 1941. der Meinung zurück, sie seien „unzusammenhängend“. Nun schlägt Sackville-West anscheinend vor, sie solle das Manuskript von To the Lighthouse erben, was Woolf ablehnt. Sein letzter, bislang unveröffentlichter Brief in dieser Sache lautet: Liebe Vita, hier ist das Buch. Außerdem schicke ich das MS von Mrs Dalloway. Ich nehme an, dass ich das von Rechts wegen tun darf, ehe das Testament vollstreckt ist. Der erste Bd. heißt The Hours, was nach V.s Wunsch ursprünglich der Titel sein sollte. 26 Noch mehr Briefe zu verkaufen Der Garten hier ist vom Wetter ziemlich durchgeschüttelt worden. Ich glaube, wir haben weniger Obst als in all den Jahren, seit wir hergekommen sind. Dein Leonard Woolf L L L Die Briefe, die sich bis auf einen alle auf ein einzelnes Blatt beschränken, sind auf blassblaues oder beiges Papier geschrieben und mit eiliger, aber gut lesbarer Hand in grüner oder schwarzer Tinte verfasst. Sie in Händen zu halten, macht einem Herzklopfen. Ich tat das an einem unwahrscheinlichen Ort: in einem Büroraum im sechsten Stock an der West 18th Street mitten in Manhattan, in der New Yorker Niederlassung von Glenn Horowitz Bookseller Inc. Ich zog die Woolf-Briefe aus Plastikhüllen und steckte sie wieder zurück, während ich an einem großen Tisch mitten in einem Unternehmen saß, das ich – wie die Briefe – für eine verstaubte Angelegenheit hielt: ein Spezialantiquariat, in dem man signierte Erstausgaben kaufen und in obskuren oder verlockenden Sachen stöbern kann, die man online nie entdeckt hätte. Aber das Büro von GHB wirkt weder verstaubt noch ist es das, denn es ist zugleich noch etwas anderes: ein Handel mit literarischen Seelen. Horowitz, Ende 50, gelockte graue Haare, hat ein wenig etwas von einer stahlharten Version der Marx Brothers und führt einen literarischen Maklerbetrieb, der mit den Archiven (hauptsächlich Manuskripte, Notizbücher und Briefe) großer und berühmter Autoren handelt. Horowitz hat (unter anderem) die Nachlassverkäufe von Vladimir Nabokov, Norman Mailer, Bernard Malamud, Joseph Heller, Kurt Vonnegut, Nadine Gordimer, J. M. Coetzee und David Foster Wallace abgewickelt. Er hat außerdem Briefe amerikanischer Präsidenten gekauft und für angeblich neun Millionen Dollar die Notizbücher der Watergate-Journalisten Woodward und Bernstein. Die kleineren Nachlässe gehen mitunter auch an Privatkunden, die meisten großen jedoch enden bei Körperschaften: vielleicht in der Emory University in Atlanta oder 27 Briefe! auch in Harvard, bei der Berg Collection an der Stadtbibliothek New York oder in der British Library – oder in der spektakulärsten und anscheinend unersättlichsten überhaupt, im Harry Ransom Center an der University of Texas in Austin. Es liegt Horowitz nicht, nur dazusitzen und abzuwarten, dass etwas in den freien Handel kommt; er sucht aktiv nach den Autoren, die seiner Ansicht nach etwas Wertvolles zu verkaufen haben. So hat er beispielsweise mit Tom Wolfe Gespräche geführt; er versucht ihn noch zu überzeugen, dass der Ankauf seines Nachlasses (zu Lebzeiten) kein Anzeichen dafür ist, dass Wolfe in künstlerischer Hinsicht ein toter Mann sei oder auch nur den Status eines ‚Master of the Universe‘ eingebüßt habe – sondern dass sein Manuskript von The Kandy-Kolored Tangerine-Flake Streamline Baby oder von Jahrmarkt der Eitelkeiten, inklusive Korrekturen der Lektoren und zugehöriger Briefe leicht irrer Fans, möglicherweise mehr wert ist, solange er noch lebt, an den Feiern zum Geschäftsabschluss teilnehmen und von der nicht unbedeutenden Menge an Kohle profitieren kann. Glenn Horowitz hat, wie man es erhoffen durfte, etwas von einem Showman. Er spricht die Sprache eines Showmans, eine eigenartige Mischung aus Übertreibung und Bejahen durch doppelte Verneinung, und sein Vokabular spürt das Dramatische im Alltag auf. So etwa sein Bericht, wie er mit Mitte 20 sein Antiquariat um den Verkauf von Nachlässen erweiterte. „Da konnte ich Scheiße nicht von Schuhcreme unterscheiden“, erzählte er mir. „Aber Instinkt hatte ich offensichtlich. Ich stamme von jüdischen Hausierern ab, Leuten, die als Einwanderer hier rübergekommen waren und ihre Handkarren buchstäblich durch die Straßen schoben und zerrten.“ Sein erstes Nachlassgeschäft fand 1981 zwischen dem Dichter und Pulitzer-Preisträger W. S. Merwin und der Universität von Illinois statt. „Ich brachte einen Deal zustande, der damit anfing, dass die Universität mir $ 25.000 für seine Papiere bot, und damit endete, dass wir uns auf $ 185.000 einigten. Ich hatte Anspruch auf 15 % des Abschlusses, und als der Scheck über $ 28.000 auf meinem Schreibtisch landete, war das nicht nur der größte Scheck, den ich je mit 28 Noch mehr Briefe zu verkaufen meinem Namen drauf gesehen hatte, sondern ich brauchte auch nicht sehr lange, um zu kapieren, dass ich für einen Profit in dieser Größenordnung mit dem Verkauf von Büchern richtig lange arbeiten müsste. Also sah ich mir die Sache an und stellte fest, dass das grundsätzlich eine hochinteressante neue Richtung weg von der traditionellen Käufer-Händler-Dynamik in der Buchwelt war.“ Im nächsten Jahrzehnt betreute er noch mehrere andere Sammlungen, aber nichts Spektakuläres. Dann aber wurde er 1991 in die Schweiz „einbestellt“, um Vera und Dmitri Nabokov „zu helfen, das scheinbar unlösbare Problem abzuwickeln, was mit Vladimirs Archiv passieren sollte. Ich flog immer hin und her zwischen Montreux und New York, und nach 6–9 Monaten intensiver Verhandlungen brachte ich die New York Public Library dazu, diese Papiere für anderthalb Millionen Dollar zu kaufen.“ Das, bemerkt er, war „das Geschäft, das den Wandel brachte, das nicht nur mir, sondern auch denen, die mich beobachteten, sagte, dass ich nicht nur das Talent eines Unterhändlers hatte, verschiedene Seiten mit unterschiedlichen Interessen zusammenzubringen, sondern dass ich außerdem einen damals noch nie dagewesenen Dollarbetrag auftreiben und an ein Archiv anhängen konnte.“ Und von da an war es anscheinend unvermeidlich, dass er auch die Watergate-Papiere von Woodward und Bernstein abwickeln würde, John Updike, Mailer („für den brauchten wir einen kleinen Lkw-Anhänger“), Cormac McCarthy, die Fotografien von Elliott Erwitt, das Magnum-Fotoarchiv, „weiter und weiter und weiter“. Horowitz schätzt, dass rund 85 % seines Marktes aus gemeinnützigen Forschungseinrichtungen bestehen, „die die Markenreichweite ihrer Forschung erweitern wollen“. Aber schließlich hatten diese Einrichtungen viele wichtige Sammlungen erworben, ehe Horowitz und seinesgleichen die Bühne betraten, und das auf weit billigere Weise – durch Schenkung. Die Schriftsteller betrachteten es als Ehre, wenn Harvard ihr Leben auf Papier hortete, und man stritt sich sogar darum, ob ihre Erben finanzielle Beiträge zur Erhaltung dieser Dokumente leisten mussten. Nach dem Krieg änderten sich die Dinge allmählich. Bi29 Briefe! bliotheken und Universitäten genossen einen Zustrom an Kapital und Gönnern; Orte wie die Universität von Texas sahen die Ansammlung einmaliger Literaturtexte als Möglichkeit, sich einen Namen als Forschungsinstitution von Weltrang zu machen. Horowitz schuf dann für solche Papiere, was er als „eine Wettbewerbsumgebung“ bezeichnet, weist aber darauf hin, dass er seine Kommission nur dann gezahlt bekommt, wenn er die Interessen von Käufer und Verkäufer gleichermaßen wahrt. Auf die Stimmung geschlagen ist ihm diese Mission nie. Die Aufregung, sagt er, „besteht darin, Werke zu identifizieren, von denen die Leute bisher nicht gedacht hatten, dass sie signifikanten Forschungswert besitzen, und anschließend ein Institut dazu zu bringen, diese Vision zu teilen.“ Es handelt sich um eine Vision, die, bevor er ins Spiel kam, „nur Schatten und Nebel war“. L L L Durch die Woolf-Briefe führt mich Sarah Funke Butler, die leitende Literaturarchivarin in der Firma. Sie ist Ende 30 und gehört seit 15 Jahren zum Unternehmen, zu dem sie kurz nach Abschluss ihrer Dissertation über Nabokov in Harvard stieß. Funke Butler nennt sich „eine bekennende Brieffetischistin“, eine Leidenschaft, die damit begann, als ihr in der sechsten Klasse ein Brieffreund an einer französischen Schule zugewiesen wurde. „Die Handschrift war bei ihnen allen einheitlich, leserlich, voller Schnörkel, und sie alle schrieben auf kariertem Papier“, erinnert sie sich. „Ich fand das weder besser noch schlechter als unser amerikanisches Gekritzel auf allen möglichen Arten von unlinierten Blättern, nur anders, aber bezeichnend anders. Nur dachte ich mit zehn noch nicht in Begriffen wie ‚kulturelle Kohärenz‘ – hauptsächlich war es mir bloß peinlich, dass mein neuer Freund Joel am Ende ‚Hab Dich lieb‘ geschrieben hatte.“ In den letzten paar Jahren hat sie die Archive von Don DeLillo, Tim O’Brien und Cormac McCarthy betreut, von Erica Jong (inklusive bewundernder Fanpost von Sean Connery und anderen für Angst vorm Fliegen), John Updike (inklusive Dutzender Stan30 Noch mehr Briefe zu verkaufen dardabsagen von Verlegern), Norman Mailer (der über Jahrzehnte Durchschläge seiner eigenen Briefe verwahrt hat), Hunter S. Thompson (der ihr das Schießen beigebracht hat), James Salter, David Mamet, Alice Walker, Timothy Leary „und so vielen anderen“. In dieser Zeit hat sie zwangsläufig viele eigene Dokumente mit Briefbezug hervorgebracht, unter denen das eindrucksvollste ein zahlreiche Seiten langes Fax des verblüfften Dmitri Nabokov ist, der sich über den Gebrauch bestimmter Ausdrücke in einem Buch beklagt, das Funke Butler gerade über seinen Vater zusammenstellte. Er schrieb, seit seinem dortigen Aufenthalt hätten sich „die Standards für das Englischstudium in Harvard eindeutig verändert“. Ehe ich die Woolf-Briefe in Augenschein nehme, gibt mir die Archivarin den verschwenderisch ausgestatteten Woolf-Katalog. Er enthält nicht allein die oben angeführte Korrespondenz, sondern auch viele andere Dokumente und Raritäten rund um Privatleben und Werk der Schriftstellerin. Es gibt Korrekturfahnen und signierte Erstausgaben aller großen fiktionalen und nicht fiktionale Schriften. Dann gibt es da die Fotoseite aus ihrem Reisepass von 1923, ausgestellt auf A. V. Woolf (ihr selten gebrauchter Vorname 31 Briefe! Adeline).Weitere großartige Briefe gibt es, darunter einer von Virginia an Vanessa, geschrieben am Abend vor der Hochzeit ihrer Schwester, unterzeichnet mit den Tiernamen Billy, Bartholomew, Mungo und Wombat, in dem sie Clive Bell als „sauber, fröhlich und klug, einen kostspieligen Esser und Fossilien zugetan“ beschreibt.* Und dann ist da noch ein weiterer Brief von Leonard Woolf an Vita Sackville-West, entstanden ca. 1927, mit Anweisungen für die Pflege seiner Frau. „Ich vertraue Dir für die Nacht ein wertvolles Tier aus meiner Menagerie an. Es ist nicht so ganz richtig im Oberstübchen. Es sollte gut gefüttert & pünktlich um elf ins Bett gesteckt werden. Es wäre s. nett von Dir, wenn Du Dich darum kümmerst & nichts darauf achtest, was es selbst vielleicht dazu sagen möchte.“ L L L Die Woolf-Stücke stehen nur en bloc zum Verkauf. Glenn Horowitz Bookseller fordert 4,5 Millionen Dollar für die Sammlung, obwohl mich Funke Butler wissen lässt, das seien „weiche“ 4,5 Millionen, vielleicht weil das Konvolut seit über einem Jahr zum Verkauf steht und noch keinen Käufer hat. Was hätte Virginia Woolf über den Preis gedacht? Vielleicht hätte sie sich in einer post-poststrukturalistischen Welt mit der Idee angefreundet. Auf jeden Fall war sie von der Aussicht eines literarischen Nachlebens im New Yorker Büro eines Händlers nicht entzückt, als sie starb. Ihre allerletzten Worte, die sie auf den Rand der zweiten Abschiedsnachricht für ihren Mann schrieb, lauten – und ein Fragezeichen kommt darin nicht vor: „Würdest Du bitte all meine Papiere vernichten.“** * ** 32 6. Februar 1907, Bd. 1, S. 82 übs. Walitzek (A. d. Ü.) Bd. 2, S. 478 übs. Walitzek (A. d. Ü.). simon GarField Die Geschichte einer aussterbenden Kunst Simon Garfield nimmt uns mit auf eine wunderbare Reise durch die Welt der Briefe: von den alten Römern im entlegenen Vindolanda bis zur Email und der Frage, ob sie unser Leben besser oder schlechter macht. Er erzählt, wie sich schon Petrarca über den miserablen Zustelldienst beklagte, warum Jane Austens Briefe stinklangweilig sind und was es damit auf sich hat, dass Charlie Brown nie eine Valentinskarte bekommt. Simon Garfield Briefe! Ein Buch über die Liebe in Worten, wundersame Postwege und den Mann, der sich selbst verschickte Aus dem Englischen von Jörg Fündling 520 Seiten mit 100 s/w-Abb., geb. mit Schutzumschlag € 29,95 ISBN 978-3-8062-3175-5 Erscheint September 2015 Briefe! Ein Buch über die Liebe in Worten, wundersame Postwege und den Mann, der sich selbst verschickte
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