Leseprobe »Briefe

simon GarField
Die Geschichte
einer
aussterbenden
Kunst
Simon Garfield nimmt uns mit
auf eine wunderbare Reise durch die Welt der Briefe:
von den alten Römern im entlegenen Vindolanda bis zur
Email und der Frage, ob sie unser Leben besser oder
schlechter macht.
Er erzählt, wie sich schon Petrarca über den miserablen
Zustelldienst beklagte, warum Jane Austens Briefe
stinklangweilig sind und was es damit auf sich hat, dass
Charlie Brown nie eine Valentinskarte bekommt.
Simon Garfield
Briefe!
Ein Buch über die Liebe in Worten,
wundersame Postwege und den Mann,
der sich selbst verschickte
Aus dem Englischen von Jörg Fündling
520 Seiten mit 100 s/w-Abb., geb. mit Schutzumschlag
€ 29,95
ISBN 978-3-8062-3175-5
Erscheint September 2015
Briefe!
Ein Buch über
die Liebe in Worten,
wundersame Postwege
und den Mann, der sich
selbst verschickte
Zuletzt von Simon Garfield erschienen:
Simon Garfield
ist Journalist (u. a. BBC, The Independent, The Observer)
und Autor zahlreicher erfolgreicher internationaler Sachbücher.
Ihm wurde der Somerset Maugham Award verliehen
und sein Buch »Karten!« wurde von »Bild der Wissenschaft«
zum »Wissensbuch des Jahres 2014« gewählt.
Er lebt in London und St. Ives, Cornwall.
Bereits
in
3. Auflage!
»Hervorragend, oft witzig und
manchmal rührend.«
F inanc ial Tim e s
»Von Holztäfelchen aus der römischen Garnison im britischen
Vindolanda bis zu den meisterhaften
Briefen der Schriftstellerin
Virginia Woolf ist dies ein Liebesbrief an zwei Jahrtausende der
leidenschaftlichen, oft auch lebensverändernden Macht der privaten
Korrespondenz.«
N at ure
€ 29,95
ISBN 978-3-8062-2847-2
»Ein lesenswertes Buch – nicht nur für
Nostalgiker und Freunde von Karten, sondern
für jeden, der erfahren möchte, wie die Welt
Gestalt annahm.«
dpa
»Simon Garfields neues Buch ist ein ausgelassener Ritt durch die Geschichte der Kartographie, voller Kuriositäten und mit Verve
geschrieben … ein großartiges Buch!«
Ind e pe nd e nt on Su nday
Simon Garfield
Briefe!
Ein Buch über die Liebe in Worten,
wundersame Postwege und den Mann,
der sich selbst verschickte
Aus dem Englischen von
Jörg Fündling
Die englische Originalausgabe ist 2013 bei Canongate Books unter dem Titel
To the Letter. A Journey through a Vanishing World erschienen.
Published by arrangement with Canongate Books Ltd, 14 High Street,
Edinburgh EH1 1TE
© Simon Garfield, 2013
Leseprobe
Bitte nicht vor dem 16. September 2015 besprechen
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,
Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung
durch elektronische Systeme.
Der Konrad Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG.
© der deutschen Ausgabe 2015 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft),
Darmstadt
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG
ermöglicht.
Lektorat: Rainer Wieland, Berlin
Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth
Einbandabbildungen: Briefe mit Füller, © fotolia / Scisetti Alfio;
Brief des „Schutzhäftlings“ Josef Wantula vom 28.6.1942 aus dem
Konzentrationslager Auschwitz an eine Verwandte, ©akg-images;
Brief von Vincent van Gogh an den Bruder Theo, Arles, Ende Oktober 1888,
mit Skizze nach dem „Sämann“ © akg-images / CDA / Guillot
Einbandgestaltung: Stefan Schmid Design, Stuttgart
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier
Printed in Germany
Besuchen Sie uns im Internet: www.theiss.de
Inhalt
1 Die Magie der Briefe
Worin wir auf Umwegen erfahren, wie man eine Kugel nicht mit den
Zähnen auffängt, und den Wert der Briefe im Zeitalter der E-Mail
erwägen.
2 Aus Vindolanda Grüße
Worin die Einwohner einer Garnisonsstadt am Hadrianswall mit der
Gegenwart kommunizieren und wir entdecken, dass es schon im alten
Rom wichtig war, für Besucher die Kissen aufzuschütteln.
3 Die Tröstungen Ciceros, Seneca und Plinius des
Jüngeren
Worin wir eine anständige Portion Bildung verpasst bekommen.
Briefe aus der Fremde
4 Liebe in ihren frühesten Formen
Worin Marc Aurel sich in seinen Lehrer verknallt, ein Liebespaar des
zwölften Jahrhunderts sein Fett wegbekommt und Petrarca sich über
den beschissenen Zustelldienst beschwert.
Wie baue ich eine Pyramide?
5 Wie schreibe ich den perfekten Brief – Teil 1
Worin wir lernen, wie man einen Papst anredet, wenn er gerade erst
Papst geworden ist, und einen englischen Satiriker dabei beobachten,
wie er einer abservierten Geliebten einheizt.
Eindruck schinden, wenn’s geht
Inhalt
6 Weder Schnee noch Regen noch die Plattheit von
Norfolk …
Worin uns Familie Paston in ihrem entzückenden Heim in der Grenzstadt
Norwich begrüßt, Heinrich VIII. sich wieder einmal verliebt und das
Schicksal Rosenkrantz und Güldenstern ereilt.
Dein Frischverliebter
7 Wie schreibe ich den perfekten Brief – Teil 2
Worin Madame de Sévigné und Lord Chesterfield zufällig zu Helden
werden und uns The Ladies Complete Letter-Writer verrät, wie man eine
Freundin darum bittet, bei ihr den Sommer auf dem Land verbringen
zu dürfen.
Völlig hin und weg
8 Briefe zu verkaufen
Worin aus Briefen wertvolle Scheibchen Geschichte werden, Napoleon
und Nelson sich im Aktionsraum brillieren und ein britischer Soldat in
Indien seine liebe Not mit den Einheimischen hat.
Sprechen wir übers Heiraten
9 Warum Jane Austens Briefe so langweilig sind
(und andere gelöste Probleme rund um die Post)
Worin Briefe zur Fiktion werden und die Briefmarke uns alle zu
Briefschreibern macht.
Mehr, als mir gut tut
10 Ein Brief ist ein Gefühl fast wie Unsterblichkeit
Worin ein Bauer seine Post einsammelt, falls er die Zeit hat, Emily
Dickinson einen virtuellen Buchclub gegründet und wir uns bemühen,
nicht übers Ohr gehauen zu werden. Außerdem: Reginald Bray wird
zum lebenden Einwurf.
Alles, was eine Hausfrau sein sollte
Inhalt
11 Wie schreibe ich den perfekten Brief – Teil 3
Worin Lewis Carroll eine lebenswichtige Zutat für das fruchtbare
Korrespondieren erfindet, den Chinesen beigebracht wird, wie sie in
makellosen Englisch Fische verschicken, und die Briefmarkenverkanter
der Jahrhundertwende neue Arten entdecken, wie man „Ich heirate dich
nicht“ sagt.
Fotografien
12 Noch mehr Briefe zu verkaufen
Worin wir Virginia Woolf bis ans Ufer folgen, herausbekommen, wozu
ein Briefschreiber einen Makler in Manhattan braucht, und die verrückte,
auskunftsfreudige Wahrheit über Jack Kerouac erfahren.
Griechenland und London, Befreiung und Gefangennahme
13 Liebe in ihren Spätformen
Worin Charlie Brown keine Karte zum Valentinstag bekommt, Charles
Schulz jedoch seiner Flamme schreibt, John Keats letzte Worte an
Fanny Brawne hervorsprudelt und Henry Miller sich Anaïs Nin hingibt.
Aus Tagen werden Wochen
14 Der Meister von heute
Worin wir von Ted Hughes und Sylvia Plath lernen, was wir können,
und über den Gedanken hinter gesammelten Briefen nachsinnen.
Die Heimkehrfrage
15 Posteingang
Worin @ unser Leben zum Guten oder Schlechten verändert, wir
untersuchen, was mit unseren E-Mails passiert, wenn wir sterben, und
die Kuratoren weltweit führender Universitäten den Performa 5400 von
Salman Rushdie entstauben.
In Fleisch und Blut
Epilog: Liebe(r) Leser(in)
Worin der Autor überlegt, wie man die Geschichte lebendig halten kann,
und eine Brieffreundschaft mit einem Englischprofessor in Connecticut
beginnt.
6
Weder Schnee noch Regen
noch die Plattheit von
Norfolk …
1633 zeigte The Prompters Packet of Letters, ein beliebtes Selbsthilfehandbuch für ein zunehmend schreibkundiges Europa, auf seiner
Titelseite einen Holzschnitt mit zwei galoppierenden Reitern. Der
erste trug die Post in seiner Satteltasche, der zweite, ein vornehmer
Typ mit Peitsche, war vermutlich da, um den ersten zu beschützen.
Der Postreiter bläst beim Reiten in ein Horn und der Klang, den
er erzeugt, erscheint als Sprechblase, die einfach „Post Hast“
(schnellstens) lautet. Der Ausdruck war damals schon mindestens
60 Jahre gängig, eine Anweisung zur schnellen Zustellung, die
außen auf den Brief als „haste, post, haste“ (eile, Post, eile) geschrieben wurde.
Wie typisch war aber dieser galoppierende Anblick im ländlichen England?
F
F
F
Die ersten Regungen dessen, was wir heute als modernen, geregelten Postdienst erkennen würden, zeigten sich langsam im 16.
6
Weder Schnee noch Regen noch die Plattheit von Norfolk …
Jahrhundert, und dafür sollten wir einem großen Skandalfall
dankbar sein – den Leidenschaften und der Paranoia Heinrichs
VIII. Es half jedem, dem es um die Briefzustellung ging, dass
Heinrich Grund dazu hatte, selber Briefe zu schreiben, die über
die normale Aufstellung höfischer Haushaltsangelegenheiten hinausgingen. Seine Briefe an Anne Boleyn, einige der ganz wenigen,
die er eigenhändig schrieb, zählen zu den besten Beispielen, die
wir von einem Monarchen haben, den es schwer erwischt hat.
Der Tonfall der Korrespondenz ist ungeschützt und ausgiebig blumig, und wenn wir nicht wüssten, wie die Geschichte ausging,
stünde sie in den Geschichtsbüchern als klassische Romanze. Die
Briefe stellen eine vollständige Serie dar, wie es sie nur selten gibt,
ein Werben, das sich über 18 Monate vom ersten Tändeln der
beiden etwa im Mai 1527 bis zum Oktober 1528 erstreckt. Vermutlich waren es früher mehr; Heinrichs Scheidung von Katharina von Aragon und der Bruch mit Rom, der sie begleitete, dauerten fünf weitere Jahre. Dank der Briefe können wir verfolgen,
wie ein stolzes, ehrgeiziges Werben des Königs auf anfangs unverbindliche Antworten seiner Auserwählten stieß und wie sich sein
Liebesleben rund um seinen seuchendurchzogenen, jagdfiebrigen
Alltag rankte. Weil die Stücke keine Daten tragen, sind sich die
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Briefe!
Historiker uneins, was die korrekte Reihenfolge der Briefe betrifft, obwohl es genug Hinweise gibt, um wenigstens einen groben Zeitrahmen zu erstellen.
„Während ich mir den Inhalt Eures letzten Briefes durch den
Kopf gehen lasse“, setzt der Briefwechsel ein,
„habe ich mir große Qualen bereitet, weiß ich doch nicht, wie ich sie
deuten soll, ob zu meinem Nachteil, wie Ihr an manchen Stellen zeigt,
oder zu meinem Vorteil, wie ich es an einigen anderen verstehe, und
beschwöre Euch dringlich, mich ausdrücklich Eure ganze Ansicht wissen
zu lassen, was die Liebe zwischen uns beiden angeht. Es ist für mich absolut unerlässlich, diese Antwort zu erhalten, bin ich ja über ein ganzes
Jahr schon vom Pfeil der Liebe getroffen und doch noch nicht sicher, ob
ich damit scheitern soll, einen Platz in Eurem Herzen und Euren Gefühlen zu finden, welch letzter Punkt mich schon einige Zeit davon abhält,
Euch meine Geliebte zu nennen (...) Beliebt es Euch aber, die Stelle
einer wahren, treuen Geliebten und Freundin auszufüllen und Euch mit
Leib und Herz mir zu geben (…), so will ich Euch als meine einzige
Geliebte nehmen, alle anderen außer Euch aus meinen Gedanken und
Gefühlen verstoßen und Euch allein dienen.
Zwei andere Briefe in einem ähnlich zögernden Tonfall folgen,
einer mit Nachrichten über „einen (Reh-)Bock, spät am letzten
Abend von meiner eigenen Hand getötet“, der, wie der König
hofft, Anne „an den Jäger denken“ lassen sollte, wenn sie ihn aß.
Anschließend scheint der Klatsch bei Hof und in der Öffentlichkeit für die Verbannung Annes an den Ort ihrer Kindheit, nach
Hever Castle in Kent, gesorgt zu haben. Dorthin schickt ihr Heinrich, der ihre Abwesenheit bedauert, „ein in ein Armband gefasstes
Bild mit der vollständigen Devise, die Ihr schon kennt, und wünsche mich an ihre Stelle“. Noch bis zum sechsten Brief bleibt Anne
kühl, obwohl ihr Verehrer sicher ist, „dass ich seitdem nie etwas
getan habe, um Euch zu beleidigen, und das scheint ein sehr
schlechter Dank für die große Liebe, die ich für Euch hege, dass
Ihr mich fernhaltet sowohl von den Worten wie der Person jener
Frau, die ich auf der Welt am höchsten achte“.
8
Weder Schnee noch Regen noch die Plattheit von Norfolk …
„Mich in die Arme meines Schatzes wünschend“: Heinrich verspricht Anne Boleyn
die Welt.
Im neunten Brief, einige Wochen später, drückt er seine Sorge
über ihre jüngste Erkrankung aus, vielleicht die Pest, und verspricht seinen Arzt zu schicken, so schnell er kann; auch spätere
Briefe bringen Krankheitsnachrichten, mehr Ratschläge, wie Anne
gesund bleiben kann, und noch einen getöteten Hirsch, der ihre
Genesung fördern soll. Im zwölften Brief ist Heinrichs üblicher
Briefbote Suche ebenfalls „am Schweiß erkrankt“, also schickt er
einen anderen Mann. Im fünfzehnten Brief, gerichtet an „meinen
mir eigenen SCHATZ“, schmachtet er wieder offen und berichtet, wie bekümmert und Schmerz erfüllt ihn ihre Abwesenheit
macht. Der Brief ist kurz (Heinrich hat Kopfweh), doch er schließt
„mich (besonders abends) in meines Schatzes Arme wünschen,
dessen hübsche Früchtchen* ich bald zu küssen hoffe“.
Der letzte Brief spricht von Hoffnungen auf die Annullierung
der Ehe, die Beschaffung eines Quartiers für Anne, um mehr Geliebtennähe zu garantieren, und weiteren Jagdgeschichten. Der
siebzehnte Brief ist, was vielleicht nicht überrascht, „Geschrieben
*
Brüste
9
Briefe!
nach dem Töten eines Hirschen, um elf auf der Uhr, in dem Vorsatz, so Gott will, morgen reichlich früh einen weiteren zu töten
mit der Hand, die, wie ich hoffe, bald die Eure sein wird.“
Mit diesem letzten Brief scheinen wir eine Art Auflösung des
Knotens erreicht zu haben. Der päpstliche Legat aus Paris mit entscheidenden Neuigkeiten über Heinrichs mögliche Scheidung ist
zwar krank, sonst aber scheinen „all meine Mühen und Not“ ein
Ende zu haben, und „dadurch soll für Euch wie für mich der
größte Friede kommen, der in dieser Welt bestehen kann“. Anne
ist in einer Wohnung in der Nähe des Königs untergebracht und
die Notwendigkeit zum Briefeschreiben ist geringer. Beider Ehe
jedoch liegt immer noch mehr als vier Jahre in der Zukunft, und
der „Friede“, von dem Heinrich schreibt, leitete die Reformation
in England ein und sollte die Hallen der Verfassungsinstitutionen
noch jahrhundertelang erschüttern.
Heute liegen die Briefe in der Bibliothek des Vatikans, in ein
Buch eingeklebt und mit einem vatikanischen Siegel versehen.
Vielleicht wurden sie nicht lange nach Boleyns Hinrichtung gestohlen und als Kriegsbeute nach Rom gebracht, während die Exkommunikation Heinrichs noch für Wirbel sorgte. Annes Antworten auf seine Sehnsuchtsbekundungen besitzen wir nicht, und ihr
einziger erhaltener Brief von Belang aus dieser Zeit ging an Kardinal Wolsey, dem sie für seine Unterstützung während dieser Monate dankt, in der Hoffnung, dass der Legat bald die gute Nachricht einer Eheauflösung bringen wird.
Aber es gibt noch einen anderen Brief von Anne, der berühmt
geworden ist – ihren letzten an Heinrich aus dem Jahr 1536, geschrieben im Tower, wo sie sich unter Anklage des Ehebruchs und
Hochverrats befand. Er ist ebenso bemerkenswert wegen seiner
Fassung wie wegen seines Inhalts, und es ist ein Brief, der in seiner
herzzerreißenden Schlichtheit mehr getan hat, um einen Ruf
strahlender Unschuld zu besiegeln, als jeder andere Brief in englischer Sprache. Hauptsächlich auf ihn stützt sich der Kult um Anne
Boleyn, der all die Romane, Filme und Verehrer-Websites hervorgebracht hat:
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Weder Schnee noch Regen noch die Plattheit von Norfolk …
Anne Boleyn schreibt aus dem Tower 1536 an Heinrich.
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Briefe!
Sir,
Euer Gnaden Missfallen und meine Kerkerhaft sind Dinge, die mir so
fremd erscheinen, dass ich ganz und gar nicht weiß, was ich schreiben
oder was entschuldigen soll …
Aber wollen Euer Gnaden sich niemals vorstellen, dass Eure arme Frau
je dazu gebracht werden wird, eine Schuld einzugestehen, wo nicht einmal so viel wie ein Gedanke daran vor sich gegangen ist. Und um eine
Wahrheit auszusprechen, nie hat ein Fürst eine treuere Frau gehabt in
aller Pflichterfüllung und aller aufrichtigen Zuneigung, als Ihr je in Anne
Boleyn gefunden habt; mit welchem Namen und Rang ich mich willig
hätte begnügen können, hätte es Gott und Euer Gnaden Belieben so
gefallen. Auch habe ich mich zu keiner Zeit dermaßen vergessen in meiner Erhöhung oder der mir verliehenen Königinnenwürde, dass ich nicht
stets mit einem solchen Umschwung gerechnet hätte, wie ich ihn jetzt
vorfinde; denn da der Grund meiner Erhebung auf keinem festeren Fundament stand als auf Euer Gnaden Laune, so war der kleinste Umschwung, wie ich wusste, genug und hinreichend, diese Laune auf ein
anderes Objekt zu lenken. Ihr habt mich aus einem niedrigen Stand als
Eure Königin und Gefährtin erwählt, weit über mein Verdienst oder
Verlangen hinaus. Wenn Ihr mich damals einer solchen Ehre würdig befandet, wollen Euer gute Gnaden keine flüchtige Laune oder bösen Rat
meiner Feinde Eure fürstliche Gunst mir entziehen lassen; und möge
auch nicht jener Makel, jener unwürdige Makel, eines gegenüber Euer
guten Gnaden untreuen Herzens jemals einen solchen Schandfleck auf
Eure ergebenste Frau und auf die junge Prinzessin, Eure Tochter, drücken. Stellt mich vor Gericht, guter König, doch lasst mich ein Verfahren
nach dem Gesetz haben und lasst nicht meine eingestandenen Feinde
über mich als Ankläger und Richter sitzen; ja, lasst mich einen offenen
Prozess erhalten, denn meine Wahrheit wird keine offene Flamme fürchten; dann werdet Ihr entweder meine Unschuld bewiesen, Euren Verdacht und Euer Gewissen zur Ruhe gebracht, die Schmähungen und
Verleumdungen der Welt beendet oder aber meine Schuld offen ausgesprochen sehen.
(…) Falls Ihr aber schon über mich entschieden habt und nicht nur mein
Tod, sondern eine schändliche Verleumdung Euch zum Genuss Eures
ersehnten Glückes verhelfen muss – so er flehe ich von Gott, dass er Euch
Eure große Sünde dabei verzeihen möge und ebenso meinen Feinden,
12
Weder Schnee noch Regen noch die Plattheit von Norfolk …
deren Handlangern, und dass er über Euer eines Fürsten unwürdiges und
grausames Verfahren mit mir nicht strenge Rechenschaft von Euch fordere vor seinem allgemeinen Richterstuhl, wo Ihr wie ich in Kürze erscheinen müsst und vor dessen Gericht, wie ich nicht bezweifle (gleich
was die Welt von mir denken mag), meine Unschuld allgemein bekannt
und hinreichend bewiesen werden wird (…) Habe ich je Gefallen in
Euren Augen gefunden, hat der Name Anne Boleyn Euren Ohren je
angenehm geklungen, so lasst mich dies Erbetene erhalten, und dann will
ich aufhören, Euer Gnaden weiter zu bedrängen, unter aufrichtigen Gebeten an die Dreifaltigkeit, Euer Gnaden in ihren Schutz zu nehmen und
Euch in all Eurem Handeln zu leiten. Aus meinem trübseligen Gefängnis
im Tower, heute am 6. Mai,
Eure ergebenste und stets getreue Frau
Anne Boleyn
Nun ist das wahrscheinlich kein echter Brief. Oder vielmehr war
es zwar ein echter Brief, der sich angeblich unter den Papieren von
Thomas Cromwell nach dessen Tod fand und anschließend häufig
abgeschrieben wurde, aber es war kein Brief, den Anne Boleyn im
Tower geschrieben hat. Zu viele Unstimmigkeiten – etwa dass sie
ihren Namen „Bullen“ schrieb (was sie seit vielen Jahren nicht
mehr getan hatte) oder sich selbst einen „niedrigen Stand“ zuerkennt – deuten in den Augen der Historiker darauf hin, dass er
nicht authentisch ist. Der Grund für die Fälschung kann religiös,
politisch motiviert oder auch nur Unruhestiftung sein.
Daran, dass Heinrich VIII. sich vor Betrügern und Spionen
fürchtete, ist nicht zu zweifeln, und sein Versuch, sie im Griff zu
halten (die vereinten Anstrengungen dazu würden wir heute als
Geheimdienstarbeit bezeichnen), führte zur Bildung der ersten
königlichen Post, um für die sichere Beförderung der Korrespondenz des Hofes zu sorgen.
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Ein Brief ist ein Gefühl
fast wie Unsterblichkeit
Nehmen wir an, wir schreiben das Jahr 1794 und Sie sind ein
Landarbeiter in New Hampshire namens Abner Sanger. Was würden Sie von anderen Leuten über das Leben jenseits des Wurzelgemüses hören? Anfang Juni erfahren Sie von einem, der es gut
mit Ihnen meint, dass in einem Bostoner Postamt ein Brief Ihres
Bruders auf Sie wartet. Der Brief kommt aus dem Norden von
Vermont und enthält vielleicht wichtige Nachrichten, denn
warum sonst würde jemand 1794 einen Brief schreiben? Also bitten Sie einen ortsansässigen Ladenbesitzer, ihn mitzunehmen,
wenn er das nächste Mal Vorräte in der Stadt einkaufen fährt.
Noch ehe das geschieht, entdeckt die Cousine Ihrer Frau den
Brief im Postamt und denkt sich, sie täte Ihnen einen Gefallen,
wenn sie ihn einsammelt und in größere Nähe zu Ihnen bringt;
jetzt liegt er in Keene, einer Kleinstadt, die rund 15 km entfernt
ist. Nach ein paar weiteren Tagen Landarbeit gehen Sie nach
Keene, um ihn abzuholen, aber obwohl Sie sich in allen Läden
und Saloons des Ortes erkundigen, ist der Brief nirgends zu finden. Und zehn Tage später, an die zwei Monate nach Absenden
des Briefes, trifft Ihr eigener Sohn den Bruder des Ladenbesitzers,
14
Ein Brief ist ein Gefühl fast wie Unsterblichkeit
dem Sie die Briefabholung ursprünglich anvertraut hatten, und er
bringt ihn nun mit zurück, so dass Sie das Schreiben lesen oder
sich vorlesen lassen können.
Die Geschichte endet weder traurig noch fröhlich, denn wir
wissen nicht, was in dem Brief stand. Aber aus der Postperspektive
waren die Nachrichten so gut wie eben möglich: Der Brief kam
durch und vielleicht galten zwei Monate als ein gar nicht so
schlechtes Ergebnis. Seine Reise verrät uns jedoch noch einiges
andere, nicht zuletzt, dass die Vereinigten Staaten für postalische
Abenteuer genau dieser Art noch nicht startbereit waren. Niemand
trug die Post aus, es sei denn, Sie organisierten einen Suchtrupp.
Und es war unwahrscheinlich, dass jemand, der nicht mit dringenden Tagesgeschäften zu tun hatte, überhaupt Post erwartete. Hauptsächlich waren Briefe für wichtige Stadtmenschen gedacht, die die
Zustellung untereinander regelten; alle anderen bestellten weiter
ihren Acker.
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J
J
Was die Leistungen der Post betrifft, hatte die Alte Welt eindeutig
die Nase vorn. Um 1900 hatte die Zustellung hier andere Standards inklusive Sonderlocken erreicht, wie eine Geschichte aus
dem London der Jahrhundertwende illustriert.
1898 bekam Reginald Bray, ein fahrradverrückter Neunzehnjähriger, der im Süden Londons lebte, ein Exemplar des Post Office
Guide in die Hand, ein wuchtiges Handbuch, das vierteljährlich
vom britischen Postministerium herausgebracht wurde, um seine
Kunden über seine zahlreichen Dienstleistungen auf dem Laufenden zu halten. Für sechs Pence nach alter Währung erfuhr man die
richtige Art, einen Brief zu adressieren, und dass man der Post alle
möglichen Dinge anvertrauen konnte, sofern sie denn ordentlich
verpackt und gestempelt seien. So konnten Sie zum Beispiel Lebewesen per Post schicken, darunter eine einzelne lebende Biene,
„falls in einem passenden Behältnis befindlich“, und „besondere
Vorkehrungen können im Bedarfsfall für Hunde getroffen werden“. Flüssigkeiten dürfen versandt werden, „vorausgesetzt, die
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Briefe!
Flaschen sind ordnungsgemäß verschlossen“. Das Verlockendste aber war folgende
Zeile, die bewies, wie weit man seit der
schwarzen Penny-Marke von 1840 fortgeschritten war: „Die Postmeister können die
Beförderung einer Person zu einer Adresse
per Eilboten sicherstellen.“
Reginald Bray beschloss, diese Möglichkeiten bis zum Äußersten auszureizen. Er
fing bescheiden an, mit dem Versand eines
Kaninchenschädels und einer Rübe, und als
sie sicher bei ihm zuhause ankamen (den
Kaninchenschädel adressierte er entlang des
Nasenbeins und klebte die Marken auf die
Schädeldecke), versandte er ohne Verpackung eine Melone (den Hut), eine Bratpfanne, eine Fahrradpumpe, Hundekekse,
Zwiebeln und eine Handtasche (in der die
Marken waren).
Reginald Bray (mit FahrAus der Rückschau erklärte er einige
rad) wird nach Hause zugestellt.
Jahre später im Royal Magazine, dass „ich
diesen Weg nicht ohne viel Überlegen und
Zögern einschlug, denn es wäre überaus unfair, um kein stärkeres
Wort zu wählen, eine Menge unnötigen Ärger zu verursachen, nur
um einen hirnlosen Streich zu spielen. Mein Ziel war von Anfang
an, den Einfallsreichtum der Postbehörde zu testen und sie, wenn
möglich, von den ‚Vorwürfen der Fahrlässigkeit und Unachtsamkeit‘ freizusprechen.“
Aber natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis er ehrgeizig
wurde. An 10. Februar 1900 versandte er seinen irischen Terrier
Bob; praktisch bedeutete das, dass er das Postministerium bezahlte,
damit ein Postbote Bob für drei Pence pro Meile an der Leine
nach Hause führte, doch das, so Bray, könne ganz nützlich sein,
wenn man den Hund zu einem Freund oder zum Tierarzt schaffen müsse. Gegenstände und Haustiere waren allerdings vor allem
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Ein Brief ist ein Gefühl fast wie Unsterblichkeit
des Spektakels wegen dabei – der Löwenanteil seiner Aufgaben
bestand in Briefen und Postkarten. Auch in diesem Fall behauptete Bray, das solle das Postministerium und vor allem die Briefvermittlungsstelle auf Zack halten: Sendungen trugen die Adresse
„An die Postämter rund um die Welt“ oder „an jeden Einwohner
von London“. 1902 verschickte er eine Postkarte mit einer Abbildung des Old Man of Hoy, der berühmten Felsnadel auf den Orkneys, und adressierte sie an „den diesen Felsen am nächsten
Wohnenden“. Eine andere ging an „den Besitzer des bemerkenswertesten Hotels der Welt auf der Straße zwischen Santa Cruz
und San José, Kalifornien“.
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Briefe!
Es war nur ein Katzensprung von Santa Cruz zu „Santa Claus,
Esq.“, dem Bestimmungsort einer Bray-Postkarte vom Dezember
1899. Eindeutig die Urheberrechte darf Bray für einen anderen
Trick beanspruchen: 1900 gelang es ihm, sich selbst zu verschicken,
und er bezahlte das Postministerium, ihn zu Fuß nach Hause zu
begleiten. Diese Übung wiederholte er 1903 und verschaffte sich
einen Vordruck, der in der Zeile, die für das Wort „Brief“ oder
„Paket“ vorgesehen war, die Beschreibung „Person, Radfahrer“
enthielt. Das tat er nochmals 1932, aber da war es schon ein alter
Hut und das Postministerium wurde langsam ärgerlich. Bienen zu
verschicken ist immer noch zulässig, doch die Option, einen Hund
oder einen Menschen zu versenden, ist seitdem den Weg allen
Fleisches gegangen. Und das ist eine Schande, denn sie war nützlich, so erklärte Bray. „Einmal konnte ich an einem sehr nebligen
Abend das Haus eines Freundes nicht finden, und statt stundenlang
umherzuirren, gab ich mich per Post auf und wurde in wenigen
Minuten zugestellt.“
Wenn man das Postministerium schon für persönliche Gags
nutzte, warum nicht auch für politische Gags? Ende Februar 1909
wurden zwei Frauenrechtlerinnen, Daisy Solomon und Elspeth
McClellan, als menschliche Post im
Postamt West Strand vorstellig und
verlangten die Zustellung nach Nr.
10, Downing Street, um für das
Frauenwahlrecht zu werben. Sie
wurden von einem Telegrafenjungen und einer beträchtlichen
Menge aus Unterstützern und Journalisten zu Fuß dorthin begleitet,
doch da ihnen Premierminister Asquith den Zutritt verwehrte, erklärte man sie offiziell für „unzuDie Auslieferung der Suffragetten stellbar“ und sie kehrten in ihr
in die Downing Street.
Hauptquartier zurück.
18
12
Noch mehr Briefe zu
verkaufen
Sogar Virginia Woolf fuhr manchmal an den Strand. Wie das typische Strandmädchen kommt sie einem nicht gerade vor, nicht in
ihren Schriften und nicht in dem Bild, das wir von ihr haben. Da
erscheint sie uns vielmehr eher wie ein Schreibtisch- und Löschblattmensch, ein blasses Stück Inventar für den Großen Lesesaal im
British Museum, eine, die im Regen quer über den Russell Square
in Bloomsbury läuft. Leidenschaftlich besessen von ihrer Arbeit
und ihren Geliebten, das ja, aber wenn sie schon an die Küste reiste,
dann blickte sie aus trüb verhangenen Fenstern hinüber zum
Leuchtturm. Können Sie sich Virginia etwa in einem gestreiften
Badeanzug und mit Stirnband am Strand vorstellen?
Das brauchen Sie auch nicht – wir haben nämlich ein Foto.
Aufgenommen ist es auf dem Sandstrand von Studland in Dorset,
wahrscheinlich 1908, als Woolf 26 war und noch den Familiennamen Stephen trug. Das Bild zeigt sie fröhlich lächelnd zusammen
mit Clive Bell, der ein Jahr zuvor ihre Schwester Vanessa geheiratet
hatte (wer es aufgenommen hat, ist unbekannt, aber es kann gut
Vanessa selbst gewesen sein). Der Badeanzug war nur gemietet und
in ihren Notizbüchern beschrieb Virginia ihn als „unisex“. Sie er19
Briefe!
innerte sich daran, weit aufs Meer hinausgeschwommen zu sein,
„eine treibende Seeanemone“.
In einem Begleitbrief zu dem Foto, den sie am 19. Februar 1909
an Clive Bell schrieb, schilderte sie ihren Besuch einer Dinnerparty, die der Zeitungsherausgeber Bruce Richmond veranstaltet
hatte; „ich fühlte mich wie eine Kannibalin, weil das Essen so gut
war, und dabei wusste ich, woraus es gekocht war – aus dem Blut
achtbarer junger Männer und Frauen wie ich“.
Ich fürchte, heutzutage kann man an die Geschichte vom hungernden
Genie, das in einer Dachkammer erfriert, nicht mehr glauben.Wir waren
ein fürchterlicher Haufen Harpyien; mäßig renommierte Schriftsteller
mittleren Alters sind für meinen Geschmack etwas einmalig Unangenehmes. Sie erinnern mich an diese Geier mit ihren kahlen Hälsen im Zoo,
mit ihren zufallenden, blutunterlaufenen Augen, die ständig nach einem
Klumpen rohen Fleisches Ausschau halten. Du hättest das Geschwätz und
Gezänk hören sollen, das unter ihnen herrschte, und das sanfte, selbstgefällige Gurren derjenigen, die gefüttert waren. Diese große Gans Lady
G[regory?] war im Kreischen die Lauteste; der Rest von uns saß rundherum und zwitscherte, halb neidisch und halb spöttisch.*
Im mittleren Alter war Woolf noch nicht, und bei ihrem Anspruch,
auch nur mäßiges Renommee zu genießen, kann es sich um
Wunschdenken gehandelt haben. Bis zum Erscheinen ihres ersten
Romans The Voyage Out sollten noch sechs Jahre vergehen, und
ihre bis dahin besten Schriften bestanden in Briefen und Beiträgen
zu Literaturzeitschriften. Aber ihre Anwesenheit im BloomsburyKreis hatte ihr aus nichtliterarischen Gründen viele Bewunderer
eingetragen, darunter Anträge von Sydney Waterlow, der Diplomat
im Außenministerium und ein Jugendfreund von Clive Bell war.
1911 bat Waterlow Woolf, ihn zu heiraten, eine Aussicht, die sie
verwarf. Er aber bemühte sich weiterhin und ihr Widerstand
*
Virginia adressierte den Brief an „James“ und unterzeichnete mit „Eleanor Hadyng“, ein
Spiel, das die Mitglieder ihres Kreises spielten.
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Noch mehr Briefe zu verkaufen
To the Letter
Nicht ertrinkend, sondern lachend: Virginia Woolf und Clive Bell in Dorset
21
Briefe!
wuchs, teils – so mag man sich denken – weil er schon verheiratet
war, und teils, weil er ihr gleichgültig war.
„Ich glaube nicht, dass ich je für Sie empfinden werde, was ich
für den Mann empfinden muss, den ich heirate“, schrieb sie im
Dezember 1911. „Ich habe den Eindruck, dass es in Ihrer Macht
steht, nicht weiter an mich als an die Person zu denken, die Sie
heiraten wollen. Es wäre unverzeihlich, wenn ich nicht alles täte,
um Sie vor etwas zu retten, das – soweit ich sagen kann – eine
ungeheure Verschwendung wäre.“ Und dann der letzte furchtbare
Sargnagel: „Ich hoffe, wir werden auch so weiterhin gute Freunde
bleiben.“
Diese Briefe stehen am einen Ende einer Karriere, und am
anderen steht eine bemerkenswerte Folge von acht Briefen, die
zwischen dem 28. März und dem 6. April 1941 von Leonard Woolf
– dem Mann, den Virginia sich dann tatsächlich zu heiraten entschloss – und ihrer Schwester Vanessa Bell geschrieben wurden.
Gerichtet waren sie an Vita Sackville-West, Virginias glühende
Freundin und wohl auch Geliebte, und sie behandelten die Zeit
unmittelbar nach Virginias Suizid.* Woolf hatte zwei Abschiedsbriefe an Leonard und einen an Vanessa geschrieben, die heute
berühmt sind.** Was aber dann passierte, ist nicht so bekannt. Der
Wissensstand vom Mai 2013 ist, dass sich folgender Brief, von
ihrem Mann in grüner Tinte am Tag ihres Todes – dem 28. März
– verfasst, in Privatbesitz befindet.
*
**
22
Woolfs Roman Orlando beschrieb Sackville-Wests Sohn Nigel Nicolson, der Woolfs Briefe
herausgab, als „den längsten und bezaubernden Liebesbrief der ganzen Literatur“.
Einer der beiden Briefe, die Virginia für Leonard hinterließ und vielleicht zehn Tage vor
ihrem Tod verfasste, lautet in gekürzter Form: „Liebster, ich bin mir sicher, dass ich wieder
wahnsinnig werde: ich habe das Gefühl, daß wir nicht noch eine dieser schrecklichen Zeiten
durchmachen können. Und dieses Mal werde ich nicht wieder gesund werden. Ich fange an,
Stimmen zu hören, und kann mich nicht konzentrieren. Also tue ich, was das Beste zu sein
scheint. Du hast mir das größtmögliche Glück geschenkt. Du warst in jeder Hinsicht alles,
was jemand mir sein konnte. Ich glaube nicht, dass zwei Menschen glücklicher hätten sein
können, bis diese schreckliche Krankheit kam. (...) Wenn überhaupt jemand mich hätte retten
können, wärst Du es gewesen (...)“ [Bd. 2 S. 475f. übs. Walitzek]
Noch mehr Briefe zu verkaufen
Ich will nicht, dass Du erst in der Zeitung liest oder vielleicht im Rundfunk hörst, was Virginia Schreckliches zugestoßen ist. Sie ist wirklich sehr
krank gewesen in den letzten Wochen & lebte in panischer Angst, sie
könnte wieder wahnsinnig werden. Es war, vermute ich, der Druck des
Krieges & ihr Buch abzuschließen* & sie konnte wieder schlafen noch
essen. Heute ging sie spazieren und hinterließ einen Brief, in dem stand,
dass sie Selbstmord beging. Ich glaube, sie hat sich ertränkt, denn ich fand
ihren Stock im Fluss treiben, aber wir haben die Leiche nicht gefunden. Ich
weiß, wie Dir zumute sein wird & Du für sie empfunden hast. Sie hatte
Dich sehr gern. Sie ist in diesen letzten Tagen durch die Hölle gegangen.
Am nächsten Tag schreibt Vanessa an Vita.
Leonard sagt, er schriebe an Dich, also kommt das hier nur, weil ich spüre,
dass ich irgendwie mit Dir in Kontakt sein will – als der Person, die Virginia, glaube ich, außerhalb der eigenen Familie am meisten liebte. Zufällig war ich gestern da & traf ihn. Er hatte sich natürlich sagenhaft im
Griff & war ruhig & bestand darauf, allein gelassen zu werden. Es gibt im
Augenblick nichts, was ich tun kann. Vielleicht können Du & ich uns
irgendwann treffen? Das ist schwierig, ich weiß. Aber wir werden es bald
schaffen. Jetzt können wir nur abwarten, bis das erste Entsetzen vorbei ist,
das es irgendwie fast unmöglich macht, viel zu empfinden. Entschuldige
das Gekrakel.
Über eine Woche später war Virginias Leiche immer noch nicht
gefunden worden. Am 6. April schrieb Leonard Woolf erneut an
Vita: „Sie haben letzte Woche den Fluss abgesucht, geben aber,
glaube ich, die Suche jetzt langsam auf.“ Und dann schreibt ihr am
selben Tag auch noch Vanessa: „Es gibt natürlich nichts Neues. Es
ist wohl wahrscheinlich, dass wir nie etwas hören, was vielleicht das
Beste ist.“
Wir wissen, was geschah, und während wir lesen, wissen wir
mehr als die Beteiligten; dass dies bei Briefen so oft der Fall ist –
dass die Fehlerhaftigkeit sie begleitet – erhöht noch ihren Wert.
*
Ihr letzter Roman Zwischen den Akten.
23
Briefe!
Aus der Rückschau geschriebene Briefe wären etwas Schreckliches. Denn hier sehen wir Woolf nur drei Jahre früher, unauslöschlich entzückt von ihrem Lebenslos, in einem Brief an ihre Schwester, der sie die heiteren Tage mit Leonard im Haus der beiden im
Dörfchen Rudnell in Sussex schildert, nach einem Besuch dessen,
was sie das „Getümmel“ des „unerträglichen“ London nannte:
„Hier erleben wir Bruchstücke himmlischer Einsamkeit, einen
oder zwei Tage“, schrieb sie mit 56 im Oktober 1938,
und zuversichtlich wie ich bin, sagte ich zu L., als wir durch die Pilzwiesen schlenderten, dem Himmel sei Dank, wir werden allein sein; wir
werden Bowls spielen; dann werde ich Sévigné lesen; dann werden wir
gegrillten Schinken und Pilze zum Abendessen haben, dann Mozart –
und warum nicht für immer und ewig hierbleiben, diesen unsterblichen
Rhythmus genießen, in dem Auge und Seele Ruhe finden? (…) Wir
waren so vernünftig; so glücklich (…)*
Ihr Glück wird verdorben durch Besuch, der einfach nicht wieder
gehen will („ein Intervall schieren Entsetzens; ungemilderter Verzweiflung“), aber am Ende war es die Vernunft, die sie im Stich
ließ. Zwei Wochen, nachdem Vanessa an Vita geschrieben hatte, die
Leiche ihrer Schwester sei nicht aufgetaucht, schrieb sie erneut;
inzwischen waren Kinder an einem weiter entfernten Ufer auf den
Körper gestoßen.
Es war natürlich ein weiterer Schock & man hatte so gehofft, es käme
nicht dazu. Aber ich glaube, es war Leonard ernst, als er sagte, wer das zu
mir getan hat, dass es auch nicht schrecklicher sei als das ganze übrige
(…) Er hat dafür gesorgt, dass gestern in Brighton die Einäscherung
stattfand, & wollte nicht, dass ich hinging, also ließ ich es. Es gab keine
Feier. Nichts. Die arme alte Ethel,** die mir geschrieben hatte und an-
*
**
8. Oktober 1938, S. 419 übs. Walitzek (A. d. Ü.)
In späteren Jahren hatte Woolf oft an Ethel Smyth geschrieben, eine Komponistin und Vorkämpferin der Wahlrechtsbewegung für Frauen, die sich in sie verliebt hatte; allerdings steht fest,
dass Woolf sie teilweise unausstehlich fand, und in einem Brief nennt sie sie „eine Katastrophe“.
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Noch mehr Briefe zu verkaufen
scheinend einen Dorfkirchhof wollte, wird enttäuscht sein, aber schließlich wäre alles andere auch zu untypisch gewesen.
Das Bild, wie Virginia Woolf ans Ufer der nahen Ouse geht und
sich die Taschen mit Steinen füllt, ist ebenfalls unauslöschlich, vielleicht noch mehr, weil wir das Kontrastbild besitzen, wie sie als
Zwanzigjährige auf diesem Foto lächelnd am Strand steht. Doch
damit endet die Geschichte in Briefen nicht. Woolf definierte das
Briefeschreiben einmal als „die humane Kunst, die ihren Ursprung
der Freundesliebe verdankt“.* Also ist es angemessen, dass sich ihre
Geschichte über ihren Tod hinaus im Dialog ihrer Freunde fortsetzt; es gibt eine weitere Serie von fünf Briefen zwischen Leonard
Woolf und Vita Sackville-West, zu der es zwischen Mai und Juni
1941 kam, damit Virginias Testament vollstreckt wurde.
Die Blätter sind mit der Maschine geschrieben (im Gegensatz zu
den handschriftlichen Todesnachrichten) und entfalten eine Meinungsverschiedenheit unter Freunden. „Virginia hat Dir eins ihrer
Manuskripte hinterlassen und mich angewiesen, es auszusuchen“,
schrieb Woolf am 24. Mai, „und jetzt bitten mich die Nachlassleute,
ihnen mitzuteilen, welches das sein soll.“ Woolf schlägt vor, Vita
The Years oder Flush zu schenken, die überaus erfolgreiche Biographie des Cockerspaniels von Elizabeth Barrett Browning (angeregt
durch Virginia Woolfs Lektüre des Briefwechsels zwischen den
Brownings), aber offensichtlich wollte Vita etwas anderes, vielleicht
The Waves oder To the Lighthouse. Fünf Tage später schreibt Woolf:
„Ich bin froh, dass Du wie immer kein Blatt vor den Mund nimmst,
und das werde ich auch nicht.“ Die Manuskripte wurden zum
Gegenstand heftigen Feilschens: The Waves möchte er behalten, bietet ihr aber Mrs Dalloway an. Außerdem bittet er darum, dass ihm
Vita die ungedruckten Seiten aus Orlando zuschickt, die sich in
ihren Besitz befinden, und in einem späteren Brief sendet er sie in
*
Zitiert nach der Einleitung zu Nigel Nicholson (Hg.), Leave the Letters Till We’re Dead: The
Letters of Virginia Woolf,Vol.VI. Nicholson, der Sohn von Harold Nicholson und Vita SackvilleWest, sagte über Woolf: „Ein Brief war ein Weinglas, das ihre Wonnen fasste, oder auch ein
Sumpf für ihre Verzweiflung.“
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Briefe!
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„Sie haben den Fluss abgesucht …“ Briefe an Vita Sackville-West von 1941.
der Meinung zurück, sie seien „unzusammenhängend“. Nun
schlägt Sackville-West anscheinend vor, sie solle das Manuskript
von To the Lighthouse erben, was Woolf ablehnt. Sein letzter, bislang
unveröffentlichter Brief in dieser Sache lautet:
Liebe Vita,
hier ist das Buch. Außerdem schicke ich das MS von Mrs Dalloway. Ich
nehme an, dass ich das von Rechts wegen tun darf, ehe das Testament
vollstreckt ist. Der erste Bd. heißt The Hours, was nach V.s Wunsch ursprünglich der Titel sein sollte.
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Noch mehr Briefe zu verkaufen
Der Garten hier ist vom Wetter ziemlich durchgeschüttelt worden. Ich
glaube, wir haben weniger Obst als in all den Jahren, seit wir hergekommen sind.
Dein
Leonard Woolf
L
L
L
Die Briefe, die sich bis auf einen alle auf ein einzelnes Blatt beschränken, sind auf blassblaues oder beiges Papier geschrieben und
mit eiliger, aber gut lesbarer Hand in grüner oder schwarzer Tinte
verfasst. Sie in Händen zu halten, macht einem Herzklopfen. Ich
tat das an einem unwahrscheinlichen Ort: in einem Büroraum im
sechsten Stock an der West 18th Street mitten in Manhattan, in der
New Yorker Niederlassung von Glenn Horowitz Bookseller Inc.
Ich zog die Woolf-Briefe aus Plastikhüllen und steckte sie wieder
zurück, während ich an einem großen Tisch mitten in einem Unternehmen saß, das ich – wie die Briefe – für eine verstaubte Angelegenheit hielt: ein Spezialantiquariat, in dem man signierte
Erstausgaben kaufen und in obskuren oder verlockenden Sachen
stöbern kann, die man online nie entdeckt hätte.
Aber das Büro von GHB wirkt weder verstaubt noch ist es das,
denn es ist zugleich noch etwas anderes: ein Handel mit literarischen Seelen. Horowitz, Ende 50, gelockte graue Haare, hat ein
wenig etwas von einer stahlharten Version der Marx Brothers und
führt einen literarischen Maklerbetrieb, der mit den Archiven
(hauptsächlich Manuskripte, Notizbücher und Briefe) großer und
berühmter Autoren handelt. Horowitz hat (unter anderem) die
Nachlassverkäufe von Vladimir Nabokov, Norman Mailer, Bernard
Malamud, Joseph Heller, Kurt Vonnegut, Nadine Gordimer, J. M.
Coetzee und David Foster Wallace abgewickelt. Er hat außerdem
Briefe amerikanischer Präsidenten gekauft und für angeblich neun
Millionen Dollar die Notizbücher der Watergate-Journalisten
Woodward und Bernstein. Die kleineren Nachlässe gehen mitunter auch an Privatkunden, die meisten großen jedoch enden bei
Körperschaften: vielleicht in der Emory University in Atlanta oder
27
Briefe!
auch in Harvard, bei der Berg Collection an der Stadtbibliothek
New York oder in der British Library – oder in der spektakulärsten
und anscheinend unersättlichsten überhaupt, im Harry Ransom
Center an der University of Texas in Austin.
Es liegt Horowitz nicht, nur dazusitzen und abzuwarten, dass
etwas in den freien Handel kommt; er sucht aktiv nach den Autoren, die seiner Ansicht nach etwas Wertvolles zu verkaufen haben.
So hat er beispielsweise mit Tom Wolfe Gespräche geführt; er versucht ihn noch zu überzeugen, dass der Ankauf seines Nachlasses
(zu Lebzeiten) kein Anzeichen dafür ist, dass Wolfe in künstlerischer Hinsicht ein toter Mann sei oder auch nur den Status eines
‚Master of the Universe‘ eingebüßt habe – sondern dass sein Manuskript von The Kandy-Kolored Tangerine-Flake Streamline Baby
oder von Jahrmarkt der Eitelkeiten, inklusive Korrekturen der Lektoren und zugehöriger Briefe leicht irrer Fans, möglicherweise
mehr wert ist, solange er noch lebt, an den Feiern zum Geschäftsabschluss teilnehmen und von der nicht unbedeutenden Menge an
Kohle profitieren kann.
Glenn Horowitz hat, wie man es erhoffen durfte, etwas von
einem Showman. Er spricht die Sprache eines Showmans, eine eigenartige Mischung aus Übertreibung und Bejahen durch doppelte
Verneinung, und sein Vokabular spürt das Dramatische im Alltag auf.
So etwa sein Bericht, wie er mit Mitte 20 sein Antiquariat um den
Verkauf von Nachlässen erweiterte. „Da konnte ich Scheiße nicht
von Schuhcreme unterscheiden“, erzählte er mir. „Aber Instinkt
hatte ich offensichtlich. Ich stamme von jüdischen Hausierern ab,
Leuten, die als Einwanderer hier rübergekommen waren und ihre
Handkarren buchstäblich durch die Straßen schoben und zerrten.“
Sein erstes Nachlassgeschäft fand 1981 zwischen dem Dichter und
Pulitzer-Preisträger W. S. Merwin und der Universität von Illinois
statt. „Ich brachte einen Deal zustande, der damit anfing, dass die
Universität mir $ 25.000 für seine Papiere bot, und damit endete,
dass wir uns auf $ 185.000 einigten. Ich hatte Anspruch auf 15 % des
Abschlusses, und als der Scheck über $ 28.000 auf meinem Schreibtisch landete, war das nicht nur der größte Scheck, den ich je mit
28
Noch mehr Briefe zu verkaufen
meinem Namen drauf gesehen hatte, sondern ich brauchte auch
nicht sehr lange, um zu kapieren, dass ich für einen Profit in dieser
Größenordnung mit dem Verkauf von Büchern richtig lange arbeiten müsste. Also sah ich mir die Sache an und stellte fest, dass das
grundsätzlich eine hochinteressante neue Richtung weg von der
traditionellen Käufer-Händler-Dynamik in der Buchwelt war.“
Im nächsten Jahrzehnt betreute er noch mehrere andere Sammlungen, aber nichts Spektakuläres. Dann aber wurde er 1991 in die
Schweiz „einbestellt“, um Vera und Dmitri Nabokov „zu helfen,
das scheinbar unlösbare Problem abzuwickeln, was mit Vladimirs
Archiv passieren sollte. Ich flog immer hin und her zwischen Montreux und New York, und nach 6–9 Monaten intensiver Verhandlungen brachte ich die New York Public Library dazu, diese Papiere für anderthalb Millionen Dollar zu kaufen.“ Das, bemerkt er,
war „das Geschäft, das den Wandel brachte, das nicht nur mir, sondern auch denen, die mich beobachteten, sagte, dass ich nicht nur
das Talent eines Unterhändlers hatte, verschiedene Seiten mit unterschiedlichen Interessen zusammenzubringen, sondern dass ich
außerdem einen damals noch nie dagewesenen Dollarbetrag auftreiben und an ein Archiv anhängen konnte.“
Und von da an war es anscheinend unvermeidlich, dass er auch
die Watergate-Papiere von Woodward und Bernstein abwickeln
würde, John Updike, Mailer („für den brauchten wir einen kleinen
Lkw-Anhänger“), Cormac McCarthy, die Fotografien von Elliott
Erwitt, das Magnum-Fotoarchiv, „weiter und weiter und weiter“.
Horowitz schätzt, dass rund 85 % seines Marktes aus gemeinnützigen Forschungseinrichtungen bestehen, „die die Markenreichweite ihrer Forschung erweitern wollen“.
Aber schließlich hatten diese Einrichtungen viele wichtige
Sammlungen erworben, ehe Horowitz und seinesgleichen die
Bühne betraten, und das auf weit billigere Weise – durch Schenkung. Die Schriftsteller betrachteten es als Ehre, wenn Harvard ihr
Leben auf Papier hortete, und man stritt sich sogar darum, ob ihre
Erben finanzielle Beiträge zur Erhaltung dieser Dokumente leisten
mussten. Nach dem Krieg änderten sich die Dinge allmählich. Bi29
Briefe!
bliotheken und Universitäten genossen einen Zustrom an Kapital
und Gönnern; Orte wie die Universität von Texas sahen die Ansammlung einmaliger Literaturtexte als Möglichkeit, sich einen
Namen als Forschungsinstitution von Weltrang zu machen. Horowitz schuf dann für solche Papiere, was er als „eine Wettbewerbsumgebung“ bezeichnet, weist aber darauf hin, dass er seine Kommission nur dann gezahlt bekommt, wenn er die Interessen von Käufer und Verkäufer gleichermaßen wahrt. Auf die Stimmung
geschlagen ist ihm diese Mission nie. Die Aufregung, sagt er, „besteht darin, Werke zu identifizieren, von denen die Leute bisher
nicht gedacht hatten, dass sie signifikanten Forschungswert besitzen, und anschließend ein Institut dazu zu bringen, diese Vision zu
teilen.“ Es handelt sich um eine Vision, die, bevor er ins Spiel kam,
„nur Schatten und Nebel war“.
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Durch die Woolf-Briefe führt mich Sarah Funke Butler, die leitende Literaturarchivarin in der Firma. Sie ist Ende 30 und gehört
seit 15 Jahren zum Unternehmen, zu dem sie kurz nach Abschluss
ihrer Dissertation über Nabokov in Harvard stieß. Funke Butler
nennt sich „eine bekennende Brieffetischistin“, eine Leidenschaft,
die damit begann, als ihr in der sechsten Klasse ein Brieffreund an
einer französischen Schule zugewiesen wurde. „Die Handschrift
war bei ihnen allen einheitlich, leserlich, voller Schnörkel, und sie
alle schrieben auf kariertem Papier“, erinnert sie sich. „Ich fand das
weder besser noch schlechter als unser amerikanisches Gekritzel
auf allen möglichen Arten von unlinierten Blättern, nur anders,
aber bezeichnend anders. Nur dachte ich mit zehn noch nicht in
Begriffen wie ‚kulturelle Kohärenz‘ – hauptsächlich war es mir
bloß peinlich, dass mein neuer Freund Joel am Ende ‚Hab Dich
lieb‘ geschrieben hatte.“
In den letzten paar Jahren hat sie die Archive von Don DeLillo,
Tim O’Brien und Cormac McCarthy betreut, von Erica Jong (inklusive bewundernder Fanpost von Sean Connery und anderen
für Angst vorm Fliegen), John Updike (inklusive Dutzender Stan30
Noch mehr Briefe zu verkaufen
dardabsagen von Verlegern), Norman Mailer (der über Jahrzehnte
Durchschläge seiner eigenen Briefe verwahrt hat), Hunter S.
Thompson (der ihr das Schießen beigebracht hat), James Salter,
David Mamet, Alice Walker, Timothy Leary „und so vielen anderen“. In dieser Zeit hat sie zwangsläufig viele eigene Dokumente
mit Briefbezug hervorgebracht, unter denen das eindrucksvollste
ein zahlreiche Seiten langes Fax des verblüfften Dmitri Nabokov
ist, der sich über den Gebrauch bestimmter Ausdrücke in einem
Buch beklagt, das Funke Butler gerade über seinen Vater zusammenstellte. Er schrieb, seit seinem dortigen Aufenthalt hätten sich
„die Standards für das Englischstudium in Harvard eindeutig verändert“.
Ehe ich die Woolf-Briefe in Augenschein nehme, gibt mir die
Archivarin den verschwenderisch ausgestatteten Woolf-Katalog. Er
enthält nicht allein die oben angeführte Korrespondenz, sondern
auch viele andere Dokumente und Raritäten rund um Privatleben
und Werk der Schriftstellerin. Es gibt Korrekturfahnen und signierte Erstausgaben aller großen fiktionalen und nicht fiktionale
Schriften. Dann gibt es da die Fotoseite aus ihrem Reisepass von
1923, ausgestellt auf A. V. Woolf (ihr selten gebrauchter Vorname
31
Briefe!
Adeline).Weitere großartige Briefe gibt es, darunter einer von Virginia an Vanessa, geschrieben am Abend vor der Hochzeit ihrer
Schwester, unterzeichnet mit den Tiernamen Billy, Bartholomew,
Mungo und Wombat, in dem sie Clive Bell als „sauber, fröhlich
und klug, einen kostspieligen Esser und Fossilien zugetan“ beschreibt.* Und dann ist da noch ein weiterer Brief von Leonard
Woolf an Vita Sackville-West, entstanden ca. 1927, mit Anweisungen für die Pflege seiner Frau. „Ich vertraue Dir für die Nacht ein
wertvolles Tier aus meiner Menagerie an. Es ist nicht so ganz richtig im Oberstübchen. Es sollte gut gefüttert & pünktlich um elf ins
Bett gesteckt werden. Es wäre s. nett von Dir, wenn Du Dich
darum kümmerst & nichts darauf achtest, was es selbst vielleicht
dazu sagen möchte.“
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Die Woolf-Stücke stehen nur en bloc zum Verkauf. Glenn Horowitz Bookseller fordert 4,5 Millionen Dollar für die Sammlung,
obwohl mich Funke Butler wissen lässt, das seien „weiche“ 4,5
Millionen, vielleicht weil das Konvolut seit über einem Jahr zum
Verkauf steht und noch keinen Käufer hat.
Was hätte Virginia Woolf über den Preis gedacht? Vielleicht
hätte sie sich in einer post-poststrukturalistischen Welt mit der Idee
angefreundet. Auf jeden Fall war sie von der Aussicht eines literarischen Nachlebens im New Yorker Büro eines Händlers nicht
entzückt, als sie starb. Ihre allerletzten Worte, die sie auf den Rand
der zweiten Abschiedsnachricht für ihren Mann schrieb, lauten –
und ein Fragezeichen kommt darin nicht vor: „Würdest Du bitte
all meine Papiere vernichten.“**
*
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6. Februar 1907, Bd. 1, S. 82 übs. Walitzek (A. d. Ü.)
Bd. 2, S. 478 übs. Walitzek (A. d. Ü.).
simon GarField
Die Geschichte
einer
aussterbenden
Kunst
Simon Garfield nimmt uns mit
auf eine wunderbare Reise durch die Welt der Briefe:
von den alten Römern im entlegenen Vindolanda bis zur
Email und der Frage, ob sie unser Leben besser oder
schlechter macht.
Er erzählt, wie sich schon Petrarca über den miserablen
Zustelldienst beklagte, warum Jane Austens Briefe
stinklangweilig sind und was es damit auf sich hat, dass
Charlie Brown nie eine Valentinskarte bekommt.
Simon Garfield
Briefe!
Ein Buch über die Liebe in Worten,
wundersame Postwege und den Mann,
der sich selbst verschickte
Aus dem Englischen von Jörg Fündling
520 Seiten mit 100 s/w-Abb., geb. mit Schutzumschlag
€ 29,95
ISBN 978-3-8062-3175-5
Erscheint September 2015
Briefe!
Ein Buch über
die Liebe in Worten,
wundersame Postwege
und den Mann, der sich
selbst verschickte