Bitte warten - Gewerbliche Schule Backnang

Süddeutsche Zeitung
DIE SEITE DREI
Dienstag, 10. November 2015
Reportage
Bayern, Deutschland, München Seite 3
Bitte warten
Wenn mehr als 100 Männer in einer Turnhalle untergebracht sind, gibt es immer auch Stress.
So wie vor Kurzem in der Flüchtlingsunterkunft in Backnang. Ein Besuch auf engem Raum
nutzt werden. Das erklärt die vielen hellen
Bretter auf der dunklen Vertäfelung. Der
Hausmeister hat sie angeschraubt, um die
Stromquellen zu versiegeln. Zugänglich
sind nur die in den engen Küchencontainern, draußen, neben der Sprunggrube,
oder oben, im ersten Stock, in den Umkleidekabinen. Aus Angst, dass ihr Gerät gestohlen werden könnte, stehen oder sitzen
die Männer stundenlang daneben – und
warten. Manche nehmen ihre Deutschhefte mit, denn hier gibt es auch nachts,
wenn sie nicht schlafen können, Licht. Und
vor allem ist es ruhig.
Diese WG ist eine riesige Wartegemeinschaft von gut 100 Menschen, die unterschiedliche Sprachen sprechen und keine
Privatsphäre haben, die in Gedanken bei ihren Familien sind, nachts schlecht schlafen und tagsüber darauf hoffen, dass ihre
Zukunft beginnt. Muss man sich da wirklich wundern, wenn aus einem Streit ein
Fight wird?
von bernd kastner
D
er März ist der schwierigste
Monat. „Määärz.“ Das ä macht
Probleme, so wie das ü im
Frühling. „Früüühling.“ Immer wieder sprechen die zwölf
Männer das Wort nach, „Früüühling“. An
der Wand hängen Plakate der Schulklasse,
der das Zimmer hier eigentlich gehört, „Binomische Formeln“ steht da, aber Mathe
interessiert gerade niemanden. Die Männer sind erst im Sommer in Deutschland
angekommen, für ein paar Stunden pro
Woche sind sie zu Gast in dem Klassenzimmer und hören auf das, was ihre beiden jungen Lehrerinnen vorsagen. Die sind erst 16,
gehen selbst noch zur Schule und unterrichten ehrenamtlich Deutsch. Heute sind
die Wochentage dran, dann die Monate
und Jahreszeiten: „Jetzt gerade ist Herbst.“
Der ist noch viel schwieriger als der Frühling, und daran ist kein Umlaut schuld. Die
Schüler leben nebenan, in der Dreifachturnhalle des Berufsschulzentrums in Backnang, hinter der neulich die Rettungshubschrauber gelandet sind. Anfang September hatte das Landratsamt des Rems-MurrKreises dort Flüchtlinge einquartiert, 108
Männer aus Syrien, Afghanistan, dem Irak,
Nigeria, Pakistan, der Türkei, Albanien, aufgeteilt auf 16 – ja, was eigentlich? Zimmer?
Gewiss, es gibt Wände, aber die bestehen
aus Bauzäunen, die mit durchsichtigen
Plastikplanen verkleidet sind. Um den empfindlichen Hallenboden zu schonen, sind
Holzplatten ausgelegt, und auf die ist neulich das Blut getropft.
Nach der Flucht bräuchten viele
einen Ort, um Ruhe zu finden. Die
Notunterkunft ist das Gegenteil
Blaulichter, Sirenen, Helikopter.
Was in der Halle passiert war,
nennen die Bewohner „The Fight“
Diese Notunterkunft funktioniert wie
eine riesige WG auf 1260 Quadratmetern.
Wie lange sie bestehen bleibt, weiß keiner,
vielleicht bis Weihnachten, vielleicht viel
länger. Die ersten Wochen war alles gut
gegangen, bis zu jenem Freitag, es war der
9. Oktober. Am Nachmittag gab die Polizei
eine Pressemeldung heraus: „Backnang:
Zwei lebensgefährlich Verletzte bei Auseinandersetzung zwischen Syrern und Afghanen.“ Und das war bloß die Überschrift.
Wer in der Nähe der Turnhalle wohnt,
hörte zwei Helikopter einschweben und abheben. Blinkende Blaulichter und Sirenen,
überall. Seither steht Backnang auf der langen Liste jener Orte, in deren Asylheimen
die Gewalt explodiert ist. Kassel, Braunschweig, Hamburg, Sinsheim und und
und. „The Fight“, sagen die Bewohner der
Halle heute dazu, der Kampf.
Die Spurensuche führt zu Susanne
Heider, einer zierlichen Frau, die so fröhlich wie nachdenklich ist und immer wieder in ihrer Erinnerung kramt. „Irgendwann lag was in der Luft.“ Auch sie unterrichtet Flüchtlinge in Deutsch, als hauptamtliche Lehrerin für eine der Übergangsklassen. Es war gegen Mittag, sie stand vorne an der Tafel, als sie ein komisches Gefühl beschlich. Ein paar der Jungs hatten
sich was zugeworfen, nur Worte, aber solche, die Frau Heider nicht verstand. Das ist
normal, zwischendurch müssen sie sich in
ihrer Landessprache etwas erklären, dann
aber springt plötzlich einer auf, ein junger
Syrer, er will auf einen Afghanen losgehen.
Seine Nachbarn halten ihn zurück.
Susanne Heider ist überrascht, diesen
Schüler, ja, die ganze Klasse hat sie als sehr
anständig kennengelernt. Für fünf Minuten schickt sie den Syrer vor die Tür, er soll
sich beruhigen, zwei Mitschüler begleiten
ihn. Nach der sechsten Stunde spricht die
Lehrerin den aufgebrachten Jungen an,
ein anderer übersetzt, Englisch-Arabisch,
Arabisch-Englisch. Warum bloß ist die
Stimmung gekippt? „Ich habe keine aufschlussreiche Antwort bekommen“, erinnert sich Frau Heider. „No violence at
school!“, hat sie dem Jungen eingeschärft.
Keine Gewalt in der Schule. „Er hat es mir
in die Hand versprochen.“
Dann fährt die Lehrerin ins Wochenende, sie misst dem Vorfall keine besondere
Bedeutung zu. In jeder Klasse kracht es
mal. Am nächsten Morgen aber liest sie in
der Lokalzeitung, dass Flüchtlinge mit
Besenstil und Pfannen aufeinander eingeschlagen, mit Tellern und Tassen geworfen hätten. Tatort Turnhalle. „Das werden
doch nicht meine sein?“
In der Woche darauf fehlen einige Schüler: Vier Syrer sitzen in Untersuchungshaft, ein Afghane liegt noch im Krankenhaus, und die anderen Afghanen sind weg,
verlegt in eine andere Unterkunft. Sicher
ist sicher. Polizei und Staatsanwaltschaft
veröffentlichen eine weitere Erklärung:
Ursache der Eskalation sei eine „Nichtigkeit“ gewesen, in der Schule habe wohl ein
18-jähriger Afghane einen 16-jährigen
Syrer gehänselt. Die Polizei rückte mit elf
Autos an, auch Hundeführer waren da, Kripo sowieso, drei Rettungswagen und zwei
Notärzte.
Politiker reagieren auf solche Vorfälle
gern mit Null-Toleranz-Reden: Die sollen
sich gefälligst benehmen! Sind Gäste hier!
Nachbarn ängstigen sich, und mit jedem
neuen Bericht über Gewalt frisst sich die
Furcht vor den Fremden weiter ins Land
hinein. „Wir müssen uns einschließen,
Die Notunterkunft ist die Dreifachturnhalle des Berufsschulzentrums in Backnang.
Sie funktioniert wie eine riesige WG, in der mehr als 100 Männer auf 1260 Quadratmeter einquartiert sind.
Sie alle wissen nicht, wie lange sie dort bleiben müssen und können nur warten. „Das ist Stress“,
sagt ein Sozialarbeiter. Annett Calnaido (Bild Mitte) arbeitet für eine Sicherheitsfirma. Sie sei wie eine Mutter,
sagen Flüchtlinge über sie, weil sie vor allem eines ausstrahle: Ruhe. FOTOS: ALESSANDRA SCHELLNEGGER
damit die leben können“, hat eine Nachbarin gesagt, als sie wütend neben den
Polizeiautos stand. Die Schulleiterin Isolde
Fleuchaus hat es gehört. Sie kennt die
Sorgen der Nachbarn, seit sie zu Jahresbeginn die ersten Flüchtlinge für ein paar Wochen in der Halle einquartiert hatte. „Was,
wenn die unsere Kinder vergewaltigen?“
Immer wieder diese Fragen von Eltern,
und immer wieder hält die Schulchefin dagegen. Aber das Rattern der Rotoren ist
jetzt so laut, die Aufregung so groß, dass
manche Eltern ihren Kindern verbieten,
weiter die Flüchtlingsmänner ehrenamtlich zu unterrichten.
Stofftücher dienen als Türen.
Man hört jedes Wort, jeden Schritt,
jedes Schnarchen, jedes Lachen
Was ist los in diesen Lagern? Warum
schlagen die sich ausgerechnet dort, wo sie
Zuflucht vor Gewalt suchen?
Es ist bald Mittagszeit, halb zwölf, noch
ist es ruhig in der Halle. Aber was heißt
schon ruhig an diesem Ort, auf dem immer
ein Klangteppich liegt. Nur wer innehält,
vermag die Geräusche zu sortieren. Irgendjemand redet mit irgendjemandem. Einer
schnarcht. Einer geht, der Boden knirscht
unter seinen Schritten. Leute lachen. Geschirr klappert. Flipflops schlürfen. Dominiert aber wird die Farbe des Teppichs von
der Musik, die aus einem Abteil dröhnt, sie
klingt wie ein Rap. Ein ganz normaler Tag
in einem ganz normalen deutschen Notlager.
Die Hallenwände sind holzvertäfelt,
und man fragt sich, warum an einigen Stellen helle Bretter aufgeschraubt sind. Ist
irgendwas kaputt?
Raafat Arab, 44, IT-Techniker aus Syrien, lädt in sein „Zimmer“ ein, die Nummer
4. Schon von draußen, vom Gang, erkennt
man die Möblierung: Stockbetten, Metallspinde, Tisch, vier Stühle und irgendwelche Utensilien auf dem Boden. Arab öffnet
die Tür, die ein Tuch ist, gespannt in einer
Lücke im Bauzaun. Manche Nachbarn verwenden eine Bettdecke oder einen Überzug, es sind die Farbtupfer in einem langen
Flur zwischen Plastikplanen. Drinnen werden aus den Utensilien Teller, Tassen,
Töpfe, Schüsseln, alles gespült. Geschirrschränke gibt es nicht, also steht alles auf
dem Fußboden. Die Nummer 4 ist ein sehr
ordentliches Zimmer.
Auf dem Tisch liegt das Handy von
Arabs Neffen. Er berührt es, auf dass es
Deutsch spreche: „Gut. Danke. Wie geht es
Ihnen?“ Sprachschule im Smartphone.
Abteil 4 war bis zu jenem Freitag das der
Afghanen. Inzwischen ist Arab mit seinen
beiden Söhnen, 16 und 18, und seinem Neffen hier eingezogen. Den „Fight“ kennen
sie nur aus Erzählungen, und die gehen so:
Nach Ende des Deutschunterrichts sind
die beiden Jugendlichen in ihre Abteile
zurück, getrennt nur durch den Gang.
Dann soll einer zum anderen rüber sein,
ein Wort habe das andere ergeben, angeblich soll einer die Mutter und die Schwester
des anderen beleidigt haben. „Bad Names.“
Kurz darauf sei es losgegangen, immer
mehr Menschen kamen zusammen. Wer
zugeschlagen, wer nur gebrüllt hat, wer
schlichten wollte, keine Ahnung, es war
Tumult.
Jetzt treten nach und nach immer mehr
Bewohner durch die Textiltür. „Wir sind
nicht hergekommen, um Probleme zu machen“, sagt einer, der sich schämt für den
Fight. Alaa Alhamwi, 28, ebenfalls aus Syrien, hat sogar einen Brief vorbereitet, in fast
perfektem Deutsch, ein Bekannter hat
übersetzt: „Hallo Ich bin ein junger Mann
aus der Unterkunft, in der dieser Vorfall
am Freitag stattfand. Ich bin sehr traurig
und betroffen darüber. Ich lebe mit diesen
Männern zusammen in der Turnhalle. Die-
se Behausung ist wie sie sicherlich verstehen, nicht optimal und es kommt unwillkürlich zu Reibereien.“
Raafat Arab sagt, dass er ein schlechtes
Gewissen kriege, wenn er in die Augen seiner Söhne schaue. „Warum hast du mich
hierher gebracht?“, fragen diese Augen.
„Ist das das Paradies, von dem du erzählt
hast?“ Die Familie ist getrennt. Die Mutter
ist mit den drei kleinen Kindern noch in
Syrien, das jüngste Kind ist gerade ein Jahr
alt. Der Vater wollte ihnen die „Journey of
Death“ nicht zumuten. „Reise des Todes“
nennen sie die Route über die Ägäis und
den Balkan. Jeden Tag telefonieren sie miteinander, machen sich gegenseitig Mut.
„Wir beten ständig“, erzählt der 16-Jährige.
„Bitte hilf uns!“ Er ist der Jüngste in der
Halle, er musste wie sein Bruder fürchten,
zur Armee gerufen zu werden.
So geht die Geschichte der Familie Arab,
und so gehen viele Geschichten der Menschen, die sich wie Schemen hinter den
Plastikplanen bewegen. Wer diesen Geschichten zuhört, bekommt auf die Frage
nach dem Gewaltexzess zwar keine Antwort. Aber er beginnt etwas zu ahnen.
Wann ist mein Termin zur Asylanhörung?
Oben läuft die Security entlang
und blickt nach unten. Sie fühlten
sich wie im Zoo, sagen Flüchtlinge
Wann kommt der Bescheid vom Amt?
Wann darf ich Frau und Kinder nachholen?
„Warten, warten, warten. Das ist Stress“,
erklärt Bastian Gasch, der Sozialarbeiter
des Landratsamtes, der im Putzraum der
Turnhalle sein provisorisches Büro bezogen hat und nebenher noch eine andere Unterkunft betreut. „Alle vergleichen sich mit
anderen“, jeder frage den Nachbarn, wie
lange bei ihm dieser Stempel oder jener
Aufkleber im Ausweis gebraucht hat. Viele,
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sagt Gasch, fühlten sich wie in einem leeren Raum. Man möchte lachen darüber im
vollgestellten Putzraum einer vollen Turnhalle, aber natürlich, genau diese innere
Leere ist so schwer zu ertragen.
Im Landratsamt Rems-Murr wissen sie,
dass eine Sporthalle so ziemlich die
schlechteste Lösung ist. Zumal es nicht
mal einen Aufenthaltscontainer gibt, denn
Container sind ausverkauft. Und doch sind
sie froh, dass sie noch keine Familie hier
einquartieren müssen, bisher.
Schaut man von den Abteilen schräg
nach oben, fällt der Blick auf einen Basketballkorb, dahinter ist ein langes, grünes
Netz über die ganze Länge der Halle gespannt. Es soll verhindern, dass Bälle auf
die Galerie im ersten Stock fallen. Hin und
wieder läuft dort oben die Security lang
und blickt nach unten. Wie im Zoo fühlten
sie sich, sagt einer. Gut 100 Menschen leben hier, so viele, wie in einem normalen
deutschen Mietshaus. Nur dass hier alle
auf einer Ebene leben, in einem Raum, 28
mal 45 Meter.
Wer ein paar Tage in dieser Halle verbringt, lernt die unterschiedlichsten Menschen in den unterschiedlichsten Stimmungen kennen. „Es ist schlimm“, sagt
einer, und ein anderer: „Ich fühle mich
nicht wie ein Mensch hier“, um wenige Minuten später „ein big Dankeschön“ an Germany zu senden. Man trifft einen niedergeschlagenen Albaner, der in ein paar Tagen zurück in die Heimat muss. Und man
hört Pakistanern zu, die für sich bleiben
wollen. Bloß Abstand halten von den
Syrern, man mag sich nicht.
Es gibt Bedürfnisse im Leben eines
Flüchtlings, die so simpel sind und doch so
schwer zu erfüllen an diesem Ort. Das Bedürfnis nach Strom zum Beispiel. Ohne
Strom funktioniert kein Handy, ohne Handy kein Kontakt zu den Liebsten daheim,
im Krieg. Aus Gründen des Brandschutzes
dürfen die Steckdosen in der Halle nicht ge-
„Mich wundert eher, dass es nicht viel
öfter passiert.“ Jürgen Soyer sagt das, der
Chef von Refugio, dem renommierten Behandlungszentrum für Flüchtlinge in München. Etwa jeder dritte erwachsene Flüchtling komme traumatisiert in Deutschland
an, unter Jugendlichen sei der Anteil noch
höher. Diese Menschen, das weiß Soyer
aus vielen Therapiegesprächen, haben
Schreckliches erlebt, werden von Albträumen gequält, stehen ständig unter Spannung und rechnen unbewusst damit, dass
jeden Moment wieder was passiert. Da
reiche ein falsches Wort, ein schiefer Blick,
für Außenstehende völlig unerheblich, um
eine emotionale Explosion auszulösen.
„Das haben diese Menschen nicht im
Griff.“
Neben einer Therapie helfen oft schon
ganz einfache Verbesserungen in ihrem
Alltag: Freizeitmöglichkeiten, Sport zum
Beispiel, um die Langeweile zu durchbrechen. Und vor allem eine gute Unterkunft,
eine mit geschützten Räumen, wo sich die
Menschen zurückziehen können.
Die Sporthalle in Backnang ist das genaue Gegenteil. Und es wäre ein noch viel
traurigerer Ort, wäre da nicht diese Frau
mit den langen blonden Haaren und der
schwarzen Uniform. „Security“ steht auf
der Jacke von Annett Calnaido, 51, die hier
tagsüber von sechs bis sechs ihre Runden
dreht, ehe ein Kollege sie für die Nacht ablöst. Eine einzige Frau muss mehr als 100
Männer im Zaum halten? Sind die im Landratsamt von allen guten Geistern verlassen? Doch wer diese Frau sieht und hört,
ahnt, dass sie mehr Ruhe und damit Sicherheit zu produzieren versteht als noch so
viele bullige Wachmänner. „She’s like a
mother“, sagt ein Flüchtling, und diese Mama liebt ihre Jungs: „Sie sind so was von
höflich und freundlich. Sie respektieren,
was man sagt.“ Mama ist Schwäbin und
spricht Schwäbisch, aber sie verstehen
sich, weil sie sich eher als Sozialarbeiterin
gibt. Manchmal flickt sie einem ihrer
Jungs ein Loch in den Klamotten, manchmal trinken sie Kaffee miteinander oder
lächeln sich im Vorbeigehen an. „Unsere
sind doch auch nicht anders“, sagt sie. Die
eigenen, die schwäbischen Jungs. Sie hat
selbst drei Söhne groß gezogen.
Wäre sie an jenem Freitag nicht gerade
draußen auf ihrem Rundgang gewesen, als
es losging, Annett Calnaido ist sich sicher,
dass nichts passiert wäre, und ist froh,
dass alles glimpflich ausging. Die vermeintlich lebensgefährlich Verletzten hatten tatsächlich nur leichte Blessuren davon getragen. Und von den 15 bis 20 Männern, die
der Polizeibericht als Beteiligte nennt, hätten bestimmt nicht alle zugeschlagen. Viele seien einfach nur rumgestanden.
„Ich hoffe, dass die Bewohner von Backnang uns nicht alle gleich beurteilen“,
schreibt Alaa Alhamwi in seinem Brief an
Deutschland. „Wir sind rechtschaffende,
nette Menschen und sind dankbar, dass
uns Deutschland aufnahm und wir in Backnang in Frieden verbleiben können. (. . .)
Und ich hoffe, dass sich so etwas nicht wiederholt.“
Eine Garantie aber gibt es nicht, in keiner Massenunterkunft. Aber alle, die Security-Frau, der Sozialarbeiter, die lehrenden Schüler, die Schulleiterin, alle arbeiten
daran, dass nichts mehr passiert. Sie arbeiten im eigenen Land als Botschafter
Deutschlands, und die Schutzsuchenden
wissen das zu schätzen: „Sie zaubern uns
ein Lächeln ins Gesicht“, sagt Raafat Arab,
der Vater aus Syrien. „Ich hoffe, dass die
Deutschen etwas geduldig sind mit uns.“
„Ich bin wirklich stolz auf sie“, sagt Annett Calnaido. Als für den Albaner die Zeit
in der Halle, ja, in Deutschland abgelaufen
war, hatte sie Tränen in den Augen. Und
schon heute ist ihr bange vor dem Tag, an
dem alle die Halle verlassen. „Sie werden
mir fehlen.“ Bis dahin aber kommt nachmittags, nach der Schule, regelmäßig ihre
zehnjährige Tochter zur Mama in die Halle, und dann lassen die Jungs sie beim Fußball mitspielen. „Ich würde meine Tochter
doch keinen gewalttätigen Personen aussetzen.“
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