Ein abschließender Bericht über meine Zeit im Polamidon-Programm Gewidmet *** und ***, die mir unbeschreiblich geholfen haben und meinen Eltern, die mich ertragen haben. Als mein Mann und ich im Sommer 1992 alles daran setzten, in das P.-Programm zu kommen, war unsere eigentliche Intention, nicht etwa clean zu werden, sondern es ging uns in erster Linie darum, nicht mehr ständig dem Stress des Dealens ausgesetzt zu sein. Als wir in das Programm aufgenommen wurden, ging es uns darum, auf gar keinen Fall irgendwelche Schmerzen haben zu müssen, und wir konsumierten fleißig weiter unser Gift, um während der Phase der Einstellung nicht leiden zu müssen - aber wir beteuerten uns gegenseitig, dass wir, wären wir erst richtig dosiert, keinen Beikonsum mehr haben würden. Dann gab es mal wieder eine kleine Razzia bei uns, mein Mann kam sofort in U-Haft, und ich hatte keinen Boden mehr unter den Füßen - ich war sowohl materiell als auch emotional von meinem Mann völlig abhängig und nun mit einem Schlag völlig hilflos. Da ich allein als Dealer nicht tauglich bin, versetzte ich nach und nach alles, was wir besaßen, und als ich damit fertig war, stand ich mal wieder vor der Entscheidung: Strich oder Entgiftung? - und bat meinen Arzt, mich noch einmal in *** einzuweisen. Er weigerte sich und riet mir, "einfach nur" mit meinem Beikonsum aufzuhören, - und als ich Weihnachten zu meiner Familie fuhr, tat ich das dann auch - und es funktionierte, ich hatte keinen Entzug. Mir ging es in jener Zeit darum, soviel Pola wie irgend möglich zu bekommen, - nicht nur, damit es mir gut ginge, sondern, weil ich nicht wollte, dass jemand anders mehr bekäme als ich; anhand meiner Dosis sollten alle anderen erkennen, quasi offiziell bestätigt bekommen, wie extrem ich drauf (gewesen) war. Und das erreichte ich auch; ich war hoffnungslos überdosiert (denke ich heute), aber das war wohl gut und richtig so, weit es mich erst mal zufrieden stellte. Im Januar und Februar '93 lebte ich also ohne Beikonsum, löste mich langsam von der Szene, suchte den Verein "Pola-Life" auf und wollte zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren nicht ständig sterben; ich wachte ein ganz klein wenig auf. Dann wurde Ende Februar am zweiten Prozesstag mein Mann vorläufig entlassen. Meine Freude war groß, ich glaubte, wir könnten nun tatsächlich ein gemeinsames Leben ohne Droge aufbauen, und da ich davon ausging, er sei mit dem Leben mit Pola genauso zufrieden wie ich, war es ein ziemlicher Schock für mich, als er nach zwei Tagen drauf war wie in unseren heftigsten Zeiten, Gift und Pillen ohne Ende, völlig ins Koma versunken. Als nach einer Woche wieder die Kunden vor der Tür standen, nachdem ich sie alle schon so schön losgeworden war, telefonierte ich mit meiner Schwester, und von ihr kam der Befehl, mich sofort zu verpissen, - ein, zwei Tage später hätte ich diese Spannung nicht mehr ausgehalten und mich dann auch wieder dicht ziehen müssen. Ich düste zu meinen Eltern nach ***. Ich hatte nicht vor, dort zu bleiben, wollte nur aus der aktuellen Gefahrenzone raus und glaubte, mein Mann würde sofort kommen und mich holen, doch dem war nicht so, - er fühlte sich verraten, war mehr als wütend und tobte breit vor sich hin. Meine Eltern hatten große Angst vor all dem Schrecklichen, was da mit mir in ihr Haus geflattert kam, aber sie zögerten trotzdem nicht, mich bei sich aufzunehmen Respekt! (Damals hielt ich das für selbstverständlich, heute sehe ich das anders).Mein größtes Glück in *** aber war, dass ich Frau *** als meine Ärztin bekam - diese Frau war und ist eine Offenbarung für mich - sie ist Ärztin, Therapeutin, Mutter und Freundin in einer Person und strahlt eine solche zufriedene Heiterkeit aus, dass sie einfach abfärben muss. Da hatte ich plötzlich ein Vorbild. Mir wurde eindrucksvoll vorgelebt, dass man auch als außergewöhnlicher und un-NORM-aler Mensch toll leben kann. Und da ich sie jeden Morgen in der Praxis sah, konnte jedes noch so kleine auftauchende Problem sofort besprochen werden. Durch diese Frau bekam ich den Mut und den Willen, es doch noch mal mit "leben" zu versuchen. Die Unterbringung bei meinen Eltern ermöglichte mir ein recht "unbeeinflusstes" Dasein: Mit ihnen musste ich mich zwar ständig auseinandersetzen, aber dabei halfen mir Frau *** und anschließend auch ***. Ansonsten gab es keine Anforderungen an mich, jedenfalls keinerlei vorgegebene Struktur. Wenn ich etwas wollte, musste ich mich selber soweit bringen, dass ich es erreichte. Das ging los mit aufstehen, waschen, Zähne putzen, anziehen, frühstücken, - all das fiel mir schwer, und dann kamen allmählich schwerere Sachen dran, wie Post öffnen und lesen statt ignorieren, mich um meinen Hamburger Nachlass kümmern, Therapeuten suchen, eine Gruppe suchen, eine Beschäftigung für die Leere der Tage zu finden. Ich lernte nähen und versuchte, mich selbst zu disziplinieren (in den Dingen, die für mich Wert hatten). Das war das Äußerliche. Die eigentliche Arbeit aber musste ich in meinem Inneren leisten. Als ich ankam, war ich ein verkrampftes Häufchen Elend, das abwechselnd in Tränen oder in Wut ausbrach oder der Lethargie verfiel. Ich sah mich als armes Opfer meiner bösen EItern und der bösen Welt, alle waren sie schuld an meinem Elend, nur ich selber hatte mit mir nichts zu tun und von mir selber hatte ich zwei Bilder: Wenn es mir schlecht ging, war ich ein hässliches Stück Scheiße, und wenn es mir gut ging, hatte ich einen Heiligenschein. Jedenfalls hatte ich keine Ahnung, mit wem ich es bei mir zu tun hatte. Zuerst hatte ich in *** eine Therapeutin, die ich schon von früher kannte, die aber, wie ich meine, zu vorsichtig, zu unklar/undeutlich mit mir umging. Als ich im Herbst 19'93 durch die Vermittlung von Frau *** bei *** in *** landete, ging die Arbeit richtig los. Ich weiß immer noch nicht, wie *** es geschafft hat, mich zu "knacken", aber sie hat damit wirklich Großartiges geleistet. Ich glaube, wir haben Stück für Stück, jedes Stück Angst, Schmerz, Verzweiflung, Verletztheit, Wut, Trauer, Verlassenheit usw., das ich seit meiner Kindheit unbearbeitet in meine Seele gestopft hatte, herausgeholt, angeguckt, befragt, verarbeitet und damit aufgelöst - jedenfalls weiß ich heute nicht, wo all der entsetzliche Müll geblieben ist, den ich über fast 2/3 meines Lebens mit mir rumschleppte und unter dem ich so grausamst gelitten habe. Gemeinsam haben wir ein völlig neues Selbstbild von mir herausgearbeitet - es ist nicht gerade göttlich, aber ich bin doch sehr zufrieden mit dem, was ich fand. Und sie hat mir ein für alle Mal klar gemacht, dass ich, so wie ich bin, gut, richtig und in Ordnung bin. Und witzigerweise entstand gleichzeitig mit dem neuen Bild, welches ich von mir gewann, auch ein neues Bild von der Welt - es wurde wieder bunt um mich herum. Und ich lernte, alles neu anzugucken und all die vielen Verschiedenheiten zu sehen, nicht die Massen, sondern die Einzelheiten. Und ich lernte, dass alles vor allem auf meine Sichtweise ankommt. Wenn ich partout alles schwarz sehen will, dann wird auch alles schwarz sein und vice versa. Und wenn ich die Augen zumache, ist die Welt verschwunden. Und schließlich kapierte ich auch, dass es zu 99,9% allein auf mich selber ankommt, wie mein Leben aussieht, dass es allein meine Entscheidung ist, was ich daraus mache und dass auch nur ich alleine die diesbezüglichen Entscheidungen treffen kann. Niemand kann mir mein Leben abnehmen, niemand meinen Körper oder meinen Geist übernehmen, niemand kann meine Gefühle an meiner statt ertragen - und so kann nur ich allein entscheiden, was für mich gut und richtig ist. Und niemand kann für mich sorgen, wenn ich selber es nicht tue. Und wenn ich selber nicht dafür sorge, dass es mir gut geht, wird mir nichts und niemand helfen. Und nur dann, wenn es mir selber gut geht, kann ich auch anderen Menschen gut tun, für sie da sein. *** brachte mich auch soweit, dass ich endlich meine Eltern loslassen konnte, sie sind nicht mehr meine Götter und Dämonen, sie hängen nicht mehr als ständiges Damoklesschwert über mir ***. Obwohl sie vielleicht "einfach nur ihre Arbeit getan hat", liebe ich sie für das, was sie an mir vollbracht hat und ich bin froh, dass es eine Nachsorge gibt, denn das Werk ist noch nicht abgeschlossen, und ich will ihre Hilfe nicht missen. Ich bin von einem Wrack zu einem zufriedenen und leidlich ausgeglichenen Menschen geworden, und langsam werde ich wohl auch "erwachsen". Auch äußerlich passierte noch einiges mit mir. Ich machte außer zwei Schreibmaschinenkursen noch so viele Tanzkurse (bis ich den Goldkurs abgeschlossen hatte), auch als "Gast-Dame", dass ich meine Angst im Umgang mit anderen Menschen langsam verlor; ich fand andere Frauen mit meiner ursprünglichen Sucht in einer Gruppe für Essgestörte; ich fand meine Ersatzfamilie aus meiner Vor-Junkie-Zeit wieder und wurde dort wieder aufgenommen und erfuhr so sehr viel Zuneigung, Anteilnahme und Bestätigung; ich bekam meinen Führerschein zurück und konnte bei dieser Gelegenheit Herrn *** vom Gesundheitsamt davon überzeugen, dass das Pola-Programm nicht nur eine einfache Suchtverlagerung, sondern eine echte Chance ist für viele, die es anders vielleicht nie schaffen würden; ich ließ mich freiwillig unterdosieren und war dann Mitte März clean; ich fing Anfang April einen Job an und arbeite seitdem regelmäßig fünf Tage die Woche; ich entschied mich schließlich, Sozialarbeiterin zu werden, bewarb mich an der *** und wurde zum Winter-Semester zugelassen; eine Wohnung in *** ist mir so gut wie sicher, und ich bereite mich auf meinen Auszug vor. Nun muss ich aber noch einmal beschreiben, was das P.Programm mir bedeutet und ermöglicht hat. Auf jeden Fall hat es mir zuerst einmal den Weg aus Kriminalität und Szene freigemacht; und als ich auf diesen Weg einbog, eröffnete es mir einen weiten Raum: Ich konnte ohne die große materielle Bedrängnis, die mich vorher umgab, und ohne die rigide Struktur und Bevormundung einer stationären Therapie meinen eigenen Weg aus der Sucht suchen. Ich hatte kein Zeitlimit, ich hatte keine Schmerzen, keinen Entzug, kein Verlangen. Durch das Pola waren meine Gefühle immer noch in einem Maße betäubt, dass sie mich nicht ständig irritieren oder überwältigen konnten, so dass mein Kopf frei war für die Arbeit die ich in/an mir leisten musste. Wäre dem nicht so gewesen, hätte ich das Pola nicht gehabt, dann hätten mich meine Gefühle völlig zerrissen, ich wäre gefallen, hätte mich nicht nichts und niemand hätte mich davon abhalten können, mich wieder ins Koma zu stürzen in die schützende Dunkelheit des absoluten Nicht-Fühlens. Mit dem Pola war ich einigermaßen geschützt, es gab mir ein wenig von der Ruhe, die ich in mir selbst nicht hatte. Erst als ich das Pola absetzte, merkte ich, wie viel und wie sehr es wirklich betäubt. Über Nacht waren plötzlich 1000 Gefühle wieder da, die ich schon ganz vergessen hatte, außerdem hatte meine Sexualität über Jahre brach gelegen - hätte ich die während meiner Therapie "auf dem Hals gehabt", hätte ich mich auf letztere kaum ausreichend konzentrieren können. Nachdem ich das Pola abgesetzt habe, bin ich von einem riesigen Lebenshunger ergriffen, ich muss alles mögliche nachholen und ausprobieren, habe ich zuerst den theoretischen Teil erarbeitet, so teste ich jetzt das Erlernte in der Praxis aus *** und das ist nicht nur unheimlich spannend, es macht auch unglaublich viel Spaß! Es ist mir manchmal immer noch unbegreiflich - aber: ich lebe gerne! Fazit: per aspera ad astra (Durch das Dunkel zu den Sternen) PS: Ich muss noch hinzufügen, dass es ein großes Glück für mich war, wieder bei meinen Eltern unterkriechen zu können. Ich hatte so keinerlei Kontakte zur Szene mehr, keine anderen Süchtigen konnten mich runterziehen (wie es auch in der Stationären immer wieder ist), ich war aufgefangen, sie waren meine Blitzableiter, und ich konnte endlich die nötigen ständigen hautnahen Auseinandersetzungen mit ihnen führen, die für mich notwendig waren, um mich von ihnen loszulösen. Ich habe unter ihnen gelitten und sie haben unter mir gelitten. Jetzt können wir endlich zusammen leben, Ohne uns ständig gegenseitig weh zu tun. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich ihnen ehrlich für etwas dankbar. aus dem Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatt 5/95
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