Berlin, den 30. November 2015 Joachim Gerd Ulrich Bundesinstitut für Berufsbildung, Bonn 5. Jahrestagung des Berufsorientierungsprogramms “Praxis erfahren!” Bildungsorientierungen und -entscheidungen von Jugendlichen im Kontext konkurrierender Bildungsangebote … … am Beispiel zweier verwandter und dennoch unterschiedlich nachgefragter Berufe |1 Passungsprobleme auf dem Ausbildungsmarkt 41.000 37.100 33.300 33.700 2012 2013 29.700 2011 2014 2015 541.600 83.600 539.200 81.200 542.600* 80.800 76.000 641.700 Berufsbildungsbericht 2013, S. 24. … die „Diskrepanzen haben sich gegenüber dem Vorjahr sogar noch verstärkt …“ BA-Pressemitteilung vom 29.10.2015 zur Ausbildungsmarktentwicklung im Jahr 2015, 72.300 2011 • Auf der einen Seite haben Betriebe zunehmend Schwierigkeiten, ihre angebotenen Ausbildungsstellen zu besetzen. • Auf der anderen Seite gibt es immer noch zu viele junge Menschen, denen der Einstieg in die Ausbildung nicht unmittelbar gelingt. Passungsprobleme am Ausbildungsstellenmarkt stellen somit eine der zentralen Herausforderungen der nächsten Jahre dar.“ 568.600 558.600 „Die aktuelle Ausbildungsmarktsituation ist durch zwei scheinbar widersprüchliche Entwicklungen gekennzeichnet. 2012 627.200 2013 2014 2015 613.100 „ … die Passungsprobleme zwischen Bewerberinnen und Bewerbern und Unternehmen regional und berufsspezifisch verringern ...“ Allianz für Aus- und Weiterbildung, 2014, Kernpunkte 603.400 * Schätzungen. Quelle: Matthes/Ulrich (2014); Bundesagentur für Arbeit (2015) 603.000* |2 Passungsprobleme Warum nicht „Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk“ anstelle von „Kaufmann/frau im Einzelhandel? Zwei Ausbildungsberufe mit ähnlichen Tätigkeitsprofilen… Kaufmann/-frau im Einzelhandel Nachfrage: 33.100 Jugendliche, 28.600 Lehrstellenangebote 0,3 offene Stellen je erfolglosem Bewerber Quelle: www.berufenet.arbeitsagentur.de; Bundesagentur für Arbeit (2014) Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk Nachfrage: 8.300 Jugendliche, Nachfrage: 8.343 Jugendliche 11.200 Lehrstellenangebote 7,2 offene Stellen je erfolglosem Bewerber |3 Warum nicht „Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk“ anstelle von „Kaufmann/frau im Einzelhandel? Theoretische Annahmen, die vielleicht weiterhelfen Wert – Erwartungs – Theorie: Wir bevorzugen jene Handlungsziele, denen wir einen Wert beimessen und von denen wir zugleich erwarten, dass wir sie erreichen können. Dies bedeutet z.B. bezogen auf die Berufswahl: W (SK-BK, IDENTITÄT) Deckt sich mein Bild vom Beruf mit meinem eigenen Selbstkonzept? (= wie und unter welchen Umständen ich arbeiten möchte) x Stärkt der Beruf meine eigene soziale Identität? E (KENNTNIS, BEFÄHIGUNG, BEWERBUNG) Bin ich mir sicher, den Beruf richtig einzuschätzen? Traue ich mir zu, den Ausbildungsanforderungen gerecht zu werden? Sind meine Bewerbungschancen gut? |4 Warum nicht „Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk“ anstelle von „Kaufmann/frau im Einzelhandel? Was die Wert-Erwartungs-Theorie uns lehrt …. …. als die Taube auf dem Dach Kosten (der Zielereichungsversuche) Lieber den Spatz in der Hand …. … doch ein Spatz sollte es schon sein, damit der Aufwand sich lohnt …. Wert der Zielerreichung W (SK-BK, IDENTITÄT) x E (KENNTNIS, BEFÄHIGUNG, BEWERBUNG) K/p = Investitionsrisiko Mediengestalterin Digital und Print Kauffrau im Einzelhandel K Fachverkäuferin im Lebensmittelhandel Spatz: „Passer montanus -Japan -front-8“ von Jacob Ehnmark - originally posted to Flickr as Posing. Lizenziert unter CC BY 2.0 über Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Passer_montanus_-Japan_-front8.jpg#/media/File:Passer_montanus_-Japan_-front-8.jpg „Stadttaube-FelixAbraham“ von Felix Abraham - Eigenes Werk. Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons - https://commons.wikimedia.org/wiki/File:StadttaubeFelixAbraham.jpg#/media/File:Stadttaube-FelixAbraham.jpg pp+ Erwartung, das Ziel zu erreichen 100% In Anlehnung an: Esser, Hartmut (1999): Soziologie. Spezielle Grundlagen: Situationslogik und Handeln. Frankfurt/M.: Campus, S. 269ff. |5 Warum nicht „Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk“ anstelle von „Kaufmann/frau im Einzelhandel? Welcher Beruf könnte an welcher Stelle von Vorteil sein? W (SK-BK, IDENTITÄT) Deckt sich mein Bild vom Beruf mit meinem Selbstkonzept? Kaufmann/-frau im Einzelhandel x E (KENNTNIS, BEFÄHIGUNG, BEWERBUNG) Sind meine Bewerbungschancen gut? Stärkt der Beruf meine eigene soziale Identität? Bin ich mir sicher, den Beruf richtig einzuschätzen? Traue ich mir zu, den Anforderungen gerecht zu werden? Kaufmann/-frau im Einzelhandel Fachverkäufer/-in Fachverkäufer/-in Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk im Lebensmittelhandwerk im Lebensmittelhandwerk ... denn dieser Beruf ... ... denn dieser Beruf ... ... denn dieser Beruf ... ... denn dieser Beruf ... ... denn dieser Beruf ... entspricht eher meinen Interessen/Zielen (z.B. wegen der Vergütung?) macht auch auf andere einen guten Eindruck (z.B. wegen der höheren Bildung?) hat ein klareres, eindeutigeres Einsatzgebiet (?) ist selbst für Hauptschüler sehr offen (?) bietet viel mehr offene Ausbildungsstellen (?) |6 Warum nicht „Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk“ anstelle von „Kaufmann/frau im Einzelhandel? W (SK-BK, IDENTITÄT) x E (KENNTNIS, BEFÄHIGUNG, BEWERBUNG) Entsprechung zwischen Selbst- und Berufskonzept bei der Arbeit etwas herstellen oder gestalten 90 85 mit Menschen zusammenkommen und -arbeiten eigene Ideen und Vorschläge einbringen ein hohes Einkommen haben beruflich aufsteigen können genug Zeit für die Familie und eigene Interessen haben Vorstellung vom Beruf „Kaufmann/-frau im Einzelhandel“ 80 75 Wünsche der Jugendlichen 70 65 60 55 50 45 40 Vorstellung vom Beruf „Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk“ 35 30 häufig mit moderner Technik arbeiten Quelle: BA/BIBB-Bewerberbefragung 2014 anderen Menschen helfen ohne größere körperliche Anstrengung arbeiten gute Arbeitsmarktchancen haben eine Arbeit in der Heimatregion finden |7 Warum nicht „Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk“ anstelle von „Kaufmann/frau im Einzelhandel? W (SK-BK, IDENTITÄT) x E (KENNTNIS, BEFÄHIGUNG, BEWERBUNG) Auswirkung auf die eigene soziale Identität Ausmaß positiver Reaktion in der eigenen Familie, würde der Beruf gewählt 60,0 Wahl eines Berufs, der bei den eigenen Freunden gut ankommt 60,0 55,0 Kaufmann/-frau im Einzelhandel 55,0 50,0 50,0 45,0 45,0 40,0 40,0 35,0 Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk 30,0 max. Hauptschulabschluss mittlerer Abschluss Quelle: BA/BIBB-Bewerberbefragung 2014 Studienberechtigung 35,0 30,0 Kaufmann/-frau im Einzelhandel Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk max. Hauptschulabschluss mittlerer Abschluss Studienberechtigung |8 Warum nicht „Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk“ anstelle von „Kaufmann/frau im Einzelhandel? W (SK-BK, IDENTITÄT) x E (KENNTNIS, BEFÄHIGUNG, BEWERBUNG) Subjektive Erwartungen/Sicherheiten Zutrauen von den eigenen Fähigkeiten her, den Beruf zu erlernen Subjektive Kenntnis vom Beruf Vermutete eigene Bewerbungschancen in diesem Beruf 70,0 85,0 75,0 65,0 80,0 70,0 Kaufmann/-frau im Einzelhandel 60,0 Kaufmann/-frau im Einzelhandel 55,0 50,0 75,0 65,0 70,0 60,0 Kaufmann/-frau im Einzelhandel 55,0 65,0 Fachverkäufer/-in LM-HW 45,0 Fachverkäufer/-in LM-HW 50,0 60,0 Fachverkäufer/-in LM-HW 40,0 45,0 55,0 max. Hauptschulabschluss mittlerer StudienAbschluss berechtigung Quelle: BA/BIBB-Bewerberbefragung 2014 max. Hauptschulabschluss mittlerer StudienAbschluss berechtigung max. Hauptschulabschluss mittlerer StudienAbschluss berechtigung |9 Warum nicht „Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk“ anstelle von „Kaufmann/frau im Einzelhandel? Welcher Beruf ist aus Sicht der Jugendlichen wo von Vorteil? W (SK-BK, IDENTITÄT) Deckt sich mein Bild vom Beruf mit meinem Selbstkonzept? Kaufmann/-frau im Einzelhandel ... denn dieser Beruf ... entspricht eher meinen Interessen und Zielen x E (KENNTNIS, BEFÄHIGUNG, BEWERBUNG) Bin ich mir sicher, den Beruf richtig einzuschätzen? Kaufmann/-frau im Einzelhandel Kaufmann/-frau im Einzelhandel Kaufmann/-frau im Einzelhandel Kaufmann/-frau im Einzelhandel ... denn dieser Beruf ... ... denn dieser Beruf ... ... denn dieser Beruf ... erscheint mir viel vertrauter ... denn dieser Beruf ... erweckt bei mir größeres Zutrauen, ihn erlernen zu können bietet mir bessere Bewerbungschancen (!?) kommt bei meiner Familie und Freunden besser an Traue ich mir zu, den Anforderungen gerecht zu werden? Sind meine Bewerbungschancen gut? Stärkt der Beruf meine eigene soziale Identität? | 10 Warum nicht „Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk“ anstelle von „Kaufmann/frau im Einzelhandel? Von wegen bessere Bewerbungschancen … Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze je 100 Ausbildungsplatznachfrager im Jahr 2014 Granato, Mona; Matthes, Stephanie; Schnitzler, Annalisa; Ulrich, Joachim Gerd; Weiß, Ursula (2016): Warum nicht „Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk“ anstelle von „Kaufmann/-frau im Einzelhandel“? BIBB REPORT, 2016 (im Druck) | 11 Von wegen bessere Bewerbungschancen … Wie lassen sich die Fehleinschätzungen der Jugendlichen begreifen? Was schätzen Sie? Auf wie viele Ausbildungsberufe bewerben sich Schulabgänger mit Hauptschulabschluss im Durchschnitt? Vgl. Tversky, Amos; Kahneman, Daniel (1974): Judgement under uncertainty? Heuristics and biases. Science, 185. S. 1224-1131. Vgl. auch Tversky, Amos; Kahneman, Daniel (1981): The framing decisions and the psychology of choice. Science, 211. S. 453-458. Bildquelle Anker: By Davfroy (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AAncre_FOB.jpg. | 12 Passungsprobleme Warum nicht „Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk“ anstelle von „Kaufmann/frau im Einzelhandel? Ankerheuristiken Welche Folgen haben Meldungen, der Ausbildungsmarkt sei inzwischen gekippt und nun suchten die Betriebe händerringend nach Lehrlingen, für die subjektiven Erfolgserwartungen von Ausbildungsstellenbewerbern? Verankern sie an diesen Meldungen ihre Chancenabschätzung für ihre Wunschberufe und gelangen sie so zu falschen, da viel zu optimistischen Urteilen? Wird damit der bloße Wunsch zum Vater des Gedankens? Bildquelle Anker: By Davfroy (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AAncre_FOB.jpg. | 13 Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit Für Rückfragen Dr. Joachim Gerd Ulrich Tel.: 0228/107-1122 Fax: 0228/107-2955 [email protected] Bundesinstitut für Berufsbildung Robert-Schuman-Platz 3 53175 Bonn www.bibb.de Literaturhinweise Eberhard, Verena; Scholz, Selina; Ulrich, Joachim Gerd (2009): Image als Berufswahlkriterium. Bedeutung für Berufe mit Nachwuchsmangel. Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis, 38 (3). S. 9-13. Eberhard, Verena; Matthes, Stephanie; Ulrich, Joachim Gerd (2015): The need for social approval and gender-typed vocational choices. In: Hegna, Kristinn; Imdorf, Christian; Reisel, Liza (Hrsg.): Comparative studies of gender segregation in vocational education and training - Institutional and individual perspectives. Special Issue COSR-Series. Granato, Mona; Matthes, Stephanie; Schnitzler, Annalisa; Ulrich, Joachim Gerd; Weiß, Ursula (2016): Warum nicht „Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk“ anstelle von „Kaufmann/-frau im Einzelhandel“? Berufsorientierung von Jugendlichen am Beispiel zweier verwandter und dennoch unterschiedlich nachgefragter Berufe. BIBB REPORT 1/2016 (im Druck) Matthes, Stephanie; Ulrich, Joachim Gerd; Flemming, Simone; Granath, Ralf-Olaf (2015): Die Entwicklung des Ausbildungsmarktes im Jahr 2014. Duales System vor großen Herausforderungen. Bonn: BIBB. Matthes, Stephanie; Ulrich, Joachim Gerd (2015): Warum gibt es wieder mehr erfolglose Ausbildungsplatznachfrager? WSI-Mitteilungen, 68 (2). S. 108-115. Schier, Friedel; Ulrich, Joachim Gerd (2014): Übergänge wohin? Auswirkungen sinkender Schulabgängerzahlen auf die Berufswahl und Akzeptanz von Ausbildungsangeboten. Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 110 (3). S. 358-373. | 14
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