Die Hölle im Herzen

Die Hölle
im Herzen
von
Timo Januschewski
Die Hölle im Herzen
Die Hölle im Herzen
von
Timo Januschewski
Impressum
© 2016 Timo Januschewski
2.Auflage, 2016
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin,
www.epubli.de
ISBN 978-3-7375-3083-5
Printed in Germany
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Kapitel 1 – Der Anfang vom Ende
Scheiß Leben! Ich öffnete meine Augen und innerhalb von ein paar Millisekunden kam das bekannte
und auch drückende Gefühl in meiner Brust, das
langsam abermals den ganzen Körper einnahm, wieder zum Vorschein. Die Leere hatte mich vollkommen erobert. Dieser Samstag vor dem Beginn meiner
befreienden Taten, fühlte sich an wie jeder andere
Tag der Woche. Der einzige Unterschied war, dass
anstatt meines schrillen Wecktons auf dem Handy,
mich die Blase in meinem Körper, also letztendlich
mein Gehirn, weckte. Die Jalousie verdunkelte den
Raum, doch trotzdem kamen Lichtfetzen in das
Zimmer, die das erneute Einschlafen zusätzlich verhinderten. Ich wollte trotzdem nicht aufstehen und
drehte mich auf den Bauch, um das Gefühl der vollen Blase und des nervenden Lichts etwas erträglicher zu machen. Ich wollte weder wach sein noch
wollte ich schlafen.
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Durch meinen Kopf rauschten Millionen Bildfragmente wie Züge an mir vorbei. Donnernd, laut,
mächtig. Jedes Fragment riss ein Teil mehr von dem
Zustand, in dem ich mich noch zuvor befand, ab. Es
schlich die beschissene Realität wieder in meinen
Kopf. Bildfragment für Bildfragment. Ich bemerkte
jedoch, dass dies kein gewöhnlicher morgendlicher
Neustart meines Gehirns war. Es war intensiver und
bedrückender als sonst. Dies lag wohl nicht zuletzt
an dem Termin bei einem Psychologen, welchen ich
am Vortag genießen durfte. Alle Wunden in mir
schienen wieder geöffnet zu sein, denn jede auch
noch so gut verheilte alte Narbe wurde wieder zu
einer blutenden Verletzung.
Es war ein recht explizites Erstgespräch, in dem ich
natürlich nicht jede kranke Fantasie in meinem Kopf
darlegte, weil ich wusste, dass dies dann mein sofortiges Ende wäre. Trotzdem hab ich dort irgendwie
mehr gelassen als ein paar Worte. Ich habe den Termin nur wahrgenommen, weil ich ein Versprechen
einlösen wollte. Das Versprechen, das ich meiner
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Ex-Freundin machte. Sie bot mir neutralen Kontakt
an. Im Austausch dafür sollte ich aber keine beinahe
stündlichen SMS mehr schicken und ferner einen
Psychologen aufsuchen. Natürlich hatte ich das akzeptiert, wie ich wohl jede Forderung von ihr akzeptiert hätte. Seit dem großen Bruch zwischen uns, bei
dem ich gar nicht mehr weiß, wieso dies so gekommen war, hatte sie sich nicht mehr auf meine Emails,
SMSen oder Anrufe gemeldet. Aber nüchtern betrachtet, hatte sie zwei Monaten nach unserer Trennung auch keinen Grund mehr mir zu schreiben
oder überhaupt in irgendeiner Weise Kontakt mit
mir zu haben. Ihr neuer Freund konnte mit seinen
Händen nun durch ihre brünetten Haare fahren; ihr
strahlendes Lächeln sehen und sich dabei in ihre
grünen, leicht katzenförmigen, Augen verlieren; ihren Kopf auf seiner Brust fühlen, während man
durchs TV-Progamm des Alltags zappt; ihre vollen
Lippen küssen oder nach harten kräftigen Stößen,
ohne Kondom, in ihr abspritzen. Wie sehr ich all
dies mit Denise wieder hätte teilen wollen? Nicht in
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Worte zu fassen. Was solche Gedanken in mir ausrichteten? Nicht ansatzweise in Worte zu fassen. Ich
war trotz allem voller Freude und bereit, meine endlosen, liebestrunkenen und stalker-ähnlichen Nachrichten gegen ein bisschen Smalltalk einzutauschen.
Bietet man einem hungernden Menschen ein paar
Krümel, würde er diese wie ein Festmahl verschlingen. Daher verschlang ich auch Ihre WhatsAppNachricht. Allein schon, da sie mich entsperrte, um
mir zu schreiben. Ich schöpfte Hoffnung, denn vielleicht war doch noch ein Funken Liebe für mich in
ihrem Herzen. Meine Gedanken überschlugen sich
und daher brauchte ich ein paar Sekunden, um mich
auf ihre Nachricht zu konzentrieren.
DENISE: „Brian! Wie dumm bist du eigentlich?
Weißt du wie krank sowas ist? Du schreibst alle paar
Minuten wie so ein verdammter Stalker! Das ist
schon richtig krank! Mein Freund hat ein paar deiner
Nachrichten gelesen. Ich bin auf 180! Bitte versprich
mir, dass du es sein lässt und zu einem Psychologen
gehst! Versprichst du mir das? Allein schon wegen all
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dem Mist, der in deinem Leben passiert ist. Wenn du
zu einem Psychologen gehst, kannst du mir gern
normal schreiben. Nur keine ständigen Liebeserklärungen mehr, denn ich kann und will das einfach
nicht mehr hören. Einfach ganz normal schreiben,
Brian!“
ICH: „Hey, Denise. Ja, du hast irgendwie recht, habe
selbst schon nachgedacht, wie das wohl rüberkommt, aber ich denke halt ununterbrochen an dich.
Ich habe nur dich im Kopf. Wenn ich aufwache, bist
du der erste Gedanke, der mir in den Sinn kommt
und wenn ich schlafen gehe, bist du der letzte Gedanke. Ich liebe liebe liebe liebe liebe liebe liebe dich!
Ich kann dich auch einfach nicht ersetzen. Du bist
unentbehrlich für mich, egal, wie kitschig es klingt,
aber so sind meine Gefühle. Ich brauche dich mehr
als mich selbst. Ich werde das echt machen. Sehr
gern sogar!“
Obwohl ich dann weitere Nachrichten schickte, kam
von ihr nichts mehr. Wahrscheinlich verbrachte sie
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den Abend wieder bei ihm oder war generell einfach
nur angepisst von mir. Trotzdem wollte ich diese
kleine Chance nutzen. Wer hungert schon gerne
weiter, wenn zumindest Krümel gereicht werden?
Als ich bei Google nach Psychologen in meiner Umgebung als ersten „Dr. Schwedka“ sah, vereinbarte
ich sofort einen Termin. Ich wollte das Ganze
schnellstmöglich hinter mich bringen, um bei Denise
in irgendeiner Art und Weise voranzukommen. Wohin das Ganze mit ihr hinführen sollte war mir eigentlich gar nicht richtig klar. Schließlich hatte sie
einen Freund, aber ich wollte sie einfach wiederhaben. „Vielleicht würde sie in ein paar Wochen doch
erkennen, was sie an mir hat“, dachte ich. Zwei Jahre
Beziehung wischt man doch nicht einfach so weg?
Am Tag des Termins waren es draußen mindestens
-10 Grad. Zum Glück aber ohne Schnee. Ich war
nicht nur genervt vom Eiskratzen am Auto, sondern
auch von meinen Fragen im Kopf, die dort aufleuchteten wie Werbeschilder in Las Vegas. Warum mache
ich das? Was erwartet mich da? Werde ich da heulen?
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Wie wird Denise reagieren, wenn sie sieht, dass ich
es echt getan habe? Doch ich konnte einfach keine
befriedigenden Antworten finden und war quasi im
Blindflug, dank meiner Gedanken, zum Termin gelangt. Vorbei durch die halbe Stadt, vorbei an der
netten älteren Dame an der Anmeldung, vorbei am
Psychologen und nur noch in Richtung des mir von
ihm gezeigten Platzes. Es war dort wirklich so wie
man sich eine Psychologenpraxis vorstellt. In seinem
Praxiszimmer war es ekelhaft auf Gemütlichkeit
bedacht eingerichtet, aber doch so nichtssagend
steril. Alles hell und freundlich gehalten. Weiße
Schränke - natürlich voller Bücher, weißer Schreibtisch - natürlich total aufgeräumt, weißes Sofa - natürlich für die Patienten. Alles vereint auf EchtholzParkett und durch grüne Gardinen, grüne Kissen auf
dem weißen Sofa sowie einen grünen Designerdrehstuhl vor dem Sofa, für den feinen Herrn Doktor,
abgerundet. Als ich auf dem Sofa, zwischen den
kiwi-grünen Kissen, platznahm, wachte ich allmählich aus meiner Blindflugphase auf.
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DOC: „Was führt Sie zu mir?“, eröffnete er das Gespräch mit einem Hauch Routine in der Stimme.
ICH: „Puh! Ja, eigentlich schwer zu sagen. Hab´s
meiner Ex versprochen.“
DOC: „Versprochen hierher zu kommen!? Aus welchem Grund?“
ICH: „Sie sagte, wenn ich zu einem Psychologen
gehen würde, würde sie wieder mit mir reden. Normal jedenfalls. Ich schreibe sie ständig an, weil mich
das alles sehr mitnimmt. Liebeskummer halt.“
DOC: „Wie lange sind Sie denn getrennt?“
ICH: „Seit vier Monaten. Aber das allein ist nicht der
einzige Grund, wieso ich herkommen soll.“
Nun hatte ich wohl irgendwie sein Interesse geweckt.
Sein Blick fixierte mich. Liebeskummer allein bringt
einem Psychologen womöglich schon gut Geld ein,
aber wenn dort noch mehr in einem Patienten ist,
bedeutet das mehr Sitzungen und dies bedeutet wie8
derum mehr Geld für den Seelenheiler. Man kann es
denen ja auch nicht verübeln. Wer hört sich schon
freiwillig die Sorgen anderer an und studiert dafür
noch?
DOC: „Okay. Ich würde dieses Erstgespräch gern
dafür nutzen mehr über Sie zu erfahren, damit ich
mir ein explizites Bild von Ihnen machen kann.“
ICH: „Ja, okay – von mir aus.“
DOC: „Gut, dann erzählen Sie doch mal von sich.
Wer Sie sind, was Sie machen, was Ihnen im Leben
so alles widerfahren ist und so weiter. Jedes Detail ist
wichtig. Seien Sie einfach ehrlich, desto besser kann
ich Ihnen letztendlich helfen“, sprach er mich auffordernd an und nahm dabei einen Block sowie einen Kugelschreiber zur Hand.
Ich stockte kurz. „Ich sollte mich also einfach entblößen? Einfach vor jemand völlig Fremden meine
Hose runterlassen? Das widersprach eigentlich völlig
meiner Art, doch mit dem Übertreten der Tür9
schwelle der Praxis hatte ich meine Art schon über
den Haufen geworfen. Niemals wollte ich fremde
Hilfe annehmen, doch nun saß ich dort und hatte
ohnehin nichts zu verlieren. Er machte jeden Tag
doch nichts anderes als sich Sorgen anderer Wesen
anzuhören, diese zu katalogisieren, ein Fazit zu ziehen und dann entsprechende Methoden anwenden,
um diese Sorgen letztendlich zu reduzieren bzw.
diese gar aufzulösen. Was gab es also schon zu verlieren? Er hört es sich an und geht dann nachher
nach Hause zu seinen Kindern und seiner Frau, welche er als Bild auf seinem perfekt arrangierten
Schreibtisch hat“, dachte ich.
Meine Gedanken waren nun bereit aus meinem
Mund zu strömen. Ich fing zunächst an die Basics
auszuplaudern, die man jedem noch so unvertrauten
Menschen anvertrauen konnte.
ICH: „Ja also, ich bin Brian Herkstein. Ich bin 28
Jahre alt, hier in Cuxhaven geboren und aufgewachsen und machte 2006 mein Abitur. Anschließend
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musste ich dann zum Bund und habe danach meine
Ausbildung als Bestattungsfachkraft begonnen. Ja,
und in dem Beruf arbeite ich heute noch.“
Sein Blick änderte sich leicht. Zumindest kam es mir
so vor. Es war dieser Blick, den jeder in meinem
Beruf zu sehen bekommt, wenn man verrät, womit
man sein Geld verdient. Dieser Blick voller Neugier,
Abscheu und Ekel. Ich hatte mich schnell daran
gewöhnt und es machte mir auch nie groß etwas aus.
Ganz im Gegenteil, ich genoss schon immer gern die
Aufmerksamkeit der anderen.
DOC: „Wie kamen Sie dazu?“
ICH: „Ich weiß nicht, ob es am frühen Kontakt mit
dem Tod lag, aber es reizte mich halt immer schon
die Vergänglichkeit. Als kleines Kind nahm mich
mein Opa immer mit auf den Friedhof zu Omas
Grab. Ich realisierte da, dass von Friedhöfen eine
unglaublich tiefe Ruhe ausgeht. Ein Ort, an dem
man bedacht denkt, bedacht redet und besonnen
handelt. Ich mag solche Orte. Auf Opas Bauernhof,
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auf dem ich unzählige Ferientage verbrachte, war es
auch normal, dass dort Tiere geboren wurden oder
halt auch starben. Ich bin mit dem Tod groß geworden. Er war immer irgendwie präsent. Und was auch
gut ist, ist die Abwechslung und Vielseitigkeit. Man
macht Verwaltungsarbeit im Büro, organisiert, plant,
berät Kunden und man hat aber gleichzeitig handwerkliche Tätigkeiten zu erledigen. Tja, und es wird
nie langweilig, weil man nie weiß, was auf einen am
nächsten Tag zukommt. Ruft da die Kripo wegen
eines Mordfalls an oder muss man noch die ein oder
andere neue Beerdigung planen? Das hat mich so
gereizt in diesen Beruf zu gehen.“
DOC: „Oh, okay. Für mich persönlich wäre das
nichts. Ich bevorzuge dann doch die Lebenden. Was
sagen Ihre Eltern zur Ausübung dieses Berufes?“,
fragte er seriös lächelnd und nicht ahnend, dass er
meinen wunden Punkt schon nach nicht mal fünf
Minuten getroffen hatte.
ICH: „Meine Mutter kam damit klar.“
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DOC: „Kam? Jetzt etwa nicht mehr?“
ICH: „Sie starb letztes Jahr.“
DOC: „Oh! Mein Beileid dann nochmal an dieser
Stelle. Möchten Sie vielleicht darüber reden?“
ICH: „Ganz so viel gibt es da eigentlich nicht zu
erzählen“, spielte ich es lapidar runter.
DOC: „Erzählen Sie ruhig so viel Sie mögen, wir
haben genug Zeit.“
ICH: „Sie starb letztes Jahr im Januar, weil irgendein
scheiß Penner einen Ziegelstein von einer Brücke auf
die Autobahn warf, als sie auf dem Weg zu einer
Freundin war. Das Ding krachte durchs Fenster und
hat ihren Schädel regelrecht zertrümmert. Wie kann
man sowas tun? Das kam alles so krass. Einfach so.
Zwei Tage vorher war ich noch mit ihr beim Griechen zum Essen und dann erfährst du, dass deine
Mutter tot ist. Was für ein sinnloser Tod. Kotzt mich
so an, dass die scheiß Bullen nicht mal einen Verdächtigen vorweisen konnten. Lieber kontrollieren
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sie einen, wenn man kein Licht am Fahrrad an hat.
Haben ja nichts Besseres zu tun. Scheiß Bullen!“
DOC: „Sie hatten also engen Kontakt zu Ihrer Mutter?“
ICH: „Ja, das war absolut so. Sie war immer für mich
da und stand auch immer 100 Prozent hinter mir.
Hatte ich Geldnöte – sie war da. Hatte ich Tränen
im Gesicht – sie war da. Hatte ich mal nichts zu
Essen im Kühlschrank – sie war da. Sie hat sich immer rührend um mich gekümmert. Meine Mutter
war eine pragmatische Frau voller Herz. Jedes
Gramm ihres Herzens war voller Leidenschaft für
mich. Das werde ich ihr nie vergessen. Ihr Verlust ist
mit keinem Gold der Welt aufzuwiegen. Würde ich
diesen Hurensohn, der meiner Mutter das antat…“
Ich schwieg kurz und ging in mich, um nicht zu
krass in meiner Äußerung zu werden. Ich ordnete
kurz meine Gedanken und beruhigte mich.
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ICH: „Na, Sie wissen schon. Oft hat man ohnehin
schon einen anderen Blick auf die Welt und würde
sie am liebsten in Flammen sehen, aber diese eine
spezielle Person, die würde ich so gerne… – na, Sie
wissen schon, aber ich denke das ist normal.“
Er nickte kurz.
DOC: „Und Ihr Vater? Was ist mit dem?“
ICH: „Er ist auch tot. Habe ihn aber nie richtig kennenlernen können, weil ich fünf war, als er starb. Er
war damals als Pilot bei der Bundeswehr und starb
noch während seiner Ausbildung in Arizona. Was
meine Mutter so sehr liebte, starb in dem Land, in
dem sie geboren wurde. Komische Ironie des
Schicksals. Na ja, und woran ich mich halt erinnern
kann, ist, dass meine Mutter mir damals sagte, dass
wir alle sterben müssen. Ich habe als kleiner Junge
den ganzen Tag unter dem Stubentisch verbracht
und geheult. Sie konnte wohl selbst nicht richtig mit
der Situation umgehen, da kamen solche Sprüche
nun mal manchmal von ihr. Kann man ihr aber nicht
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verübeln. Wer kommt mit sowas schon einfach so
klar? Aber an ihn selbst erinnere ich mich leider
nicht. Nicht ein Stück. Das war halt nur der Moment, an dem ich merkte, dass bei uns irgendwas
anders ist. Der erste Moment, in dem mir wohl indirekt klar wurde, dass ich keinen Vater hatte.“
DOC: „Wie steht es um den Rest Ihrer Familie. Irgendwelche Geschwister vielleicht?“
ICH: „Ne, ich bin ein Einzelkind. Wirklich Kontakt
habe ich zu keinem, außer zu Tante Erna, weil sie
auf mich aufpassen musste, während meine Mama
damals arbeiten war. Haben jetzt immer mal gelegentlich Kontakt. Aber sonst sind alle Großeltern
mittlerweile tot. Zu meinen Cousinen habe ich gar
keinen Kontakt und auch zu meinem Onkel nicht.
Die leben ihr Leben, ich lebe meins.“
DOC: „Fühlen Sie sich oft einsam?“
ICH: „Irgendwie ja, irgendwie nein. In meinem Kopf
ist oft Achterbahn. Manchmal könnte ich vor Ein16
samkeit heulen, wie in dieser Phase meines Lebens,
manchmal bin ich aber auch froh, wenn ich niemanden um mich herum habe. Ich denke jedoch, dass
die Traurigkeit in mir überwiegt - verstehen Sie, was
ich meine?“
DOC: „Ja sicher, ich verstehe Ihren Gemütszustand.“
Ich bemerkte, wie er immer mehr Notizen auf seinem Block notierte. Lief seine Analyse womöglich
schon auf Hochtouren?
DOC: „Ich würde gern auf Ihre Ex-Freundin zurückkommen. Wie war das Verhältnis zu ihr?“
ICH: „Das war eigentlich gut. Sehr sogar. Klar, es
gab Höhen und Tiefen, doch die Höhen haben alles
andere übertroffen – jedenfalls für mich. Aber
manchmal kommen Frauen an einen Punkt, das ist
jedenfalls meine Erfahrung, da wollen Sie einfach
einen anderen Kerl. So wie sie ihre Haare oder ihren
Klamottenstil ändern, müssen sie auch ihre Kerle
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wechseln. Frauen können sich halt alles aussuchen.
Die werden pausenlos angeschrieben oder angesprochen. Kommt zur passenden Zeit ein anderer Kerl
an, dann sind die weg. Wir leben in einer Gesellschaft, in der man wegwirft statt zu reparieren. Das
ist in Sachen Liebe doch nichts anderes.“
DOC: „Was war denn der Grund für die Beendigung
der Beziehung?“
ICH: „Kann ich gar nicht genau sagen. Sie würde
jedenfalls sagen, wir hätten uns auseinandergelebt.
Ich sehe das aber anders. Sie hat einen anderen kennengelernt und wollte sich einfach mal verändern.
Liebe bedeutet doch nichts. Was bedeutet schon eine
Beziehung? Es ist ein loses Versprechen, dass man
mit keinem anderen schläft oder sonst rummacht.
Manche tauschen Ihre Partner wochenweise aus. Als
Mann ist man leicht austauschbar, das kotzt mich
extrem an. Ich kann sie nicht einfach so leicht ersetzen - sie mich jedoch schon. Nach all der Zeit kann
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sie einfach so einen neuen Kerl nehmen und mich
ersetzen. Das ist mega verletzend für mich.“
DOC: „Liebe ist individuell. Sie ist vergänglich, wie
alles im Leben. So war es schon immer und die Zeit
heilte bisher jedes Herz – oder etwa nicht?“
ICH: „Nein! Die Liebe hat sich im Laufe der Zeit
verändert. Ich glaube, dass sich durch social media
alles verändert hat. Jeder ist ständig verfügbar und
kann klar gemacht werden. Früher musste man noch
mühsam eine Telefonnummer erfragen und musste
zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Jetzt geht
man einfach online und schreibt alles an, was irgendwie halbwegs zu vögeln ist. Die Welt dreht sich
schneller, die Liebe dreht sich mit ihr. Frauen ändern
sich, wie ich schon sagte. Aber gut, das mag meine
Perspektive sein.“
DOC: „Liebe scheint für Sie eine besonders wichtige
Facette des Lebens zu sein?!“
ICH: „Klar. Und vor allem, wenn sie fehlt.“
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DOC: „Gut, okay. Mit dem Themenfeld sollten wir
uns in einer weiteren Sitzung explizit nochmal auseinandersetzen. Was ich gerne noch wissen würde:
Gab es irgendwelche anderen Auffälligkeiten während Ihrer Kindheit bzw. Jugend? Nahmen Sie Drogen oder waren in irgendeiner Weise verhaltensauffällig?“
ICH: „Drogen waren nie mein Ding. Ich habe zwei
Mal im Leben gekifft, hat mir aber nicht so zugesagt.
Tja, Alkohol war oft im Spiel, aber nicht mehr als bei
anderen Jugendlichen. Am Wochenende mit seinen
Freunden losgehen und sich dann mal einen genehmigen – war früher aber auch mal mehr.“
DOC: „Andere Auffälligkeiten gab es nicht?“
ICH: „Nein. Mir ist jedenfalls nichts bekannt.“
DOC: „Sie haben auch keine Aufmerksamkeitsdefizite oder Depressionen bzw. Niedergeschlagenheit
verspürt?“
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ICH: „Niedergeschlagen vom Liebeskummer ist ja
jeder mal, aber ne, sonst eher nicht.“
DOC: „Wie steht es um Ihren Freundeskreis? Wie ist
dieser bei Ihnen strukturiert?“
ICH: „Ja, man kennt schon recht viele Leute, aber
echt gute Freunde, die mit einem durch Himmel und
Hölle gehen? Davon habe ich sicherlich nur zwei
oder drei. Viele in meinem Alter haben mittlerweile
schon eine Ehe am Start, Kinder, ein Haus und dazu
einen Familienwagen vor der Tür. Echt viele Freunde von damals leben nun ein anderes Leben, aber ein
paar sind ja übriggeblieben.“
DOC: „Hätten Sie gern so ein Leben? Kinder, Haus
und all das?“
ICH: „Eigentlich nicht.“
Er schrieb noch seinen Satz auf seinem Block zu
Ende und legte ihn, samt Kugelschreiber, zurück auf
den Tisch.
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DOC: „Ja, gut. Das ist doch schon mal ein guter
Anfang. Vielen Dank für das offene Gespräch und
lassen Sie sich bitte vorne von Frau Ronn einen neuen Termin geben.“
Wir standen auf, schüttelten uns noch die Hände
und verabschiedeten uns mit Floskeln wie „Schönes
Wochenende“ oder auch „Schönen Tag noch“. Ich
holte mir einen neuen Termin und ging raus. Ich
bemerkte erst kurz vor dem Wagen, dass meine ganze Umgebung voller Schnee war. „Ich hasse
Schnee“, kam es mir leise über die Lippen. „Wenn
ich schon daran denke, dass Denise es sich nun mit
ihrem Spasti kuschelig, gemütlich macht oder sie
draußen einen bescheuerten Schneemann oder einen
verhurten Schneeengel machen und sie dann glücklich im Schnee rumtollen, könnte ich echt kotzen.
Grinsen sich ständig an und knutschen sich. Fickt
mich das ab, Mann. Allerdings wäre es auch beschissen, wenn jetzt Sommer wäre. Dann würden sie sich
am Strand zusammen sonnen oder händchenhaltend
durch die Stadt ziehen und einkaufen oder was weiß
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ich nicht alles machen“, argumentierte ich flüsternd
vor mich hin. Scheiß Wetter. Mir war es eigentlich
schon immer egal, welches Wetter draußen war. Ich
weiß nicht, warum Leute sagen, dass sie sich auf
Sonne freuen oder keine Regentage möchten. Es ist
doch nur beschissenes Wetter. Allein schon über das
Wetter zu reden ist doch bescheuert. Eine trivialere
Form der Unterhaltung kann ich mir kaum vorstellen.
Während ich nach Hause fuhr, musste ich an meine
Lügen bezüglich des Gesprächs denken. Na ja, nicht
alles zu erzählen?! Ist das überhaupt eine Lüge? Natürlich hatte ich Aufmerksamkeiten, wie er es nannte,
an mir festgestellt. Aber ich sage dem Arsch doch
nicht, dass ich im Alter von neun Jahren einmal Katzenbabys gegen eine Mauer geschleudert habe und es
äußerst amüsant fand, wie es sich angefühlt hat, über
Leben und Tod zu entscheiden. Auch würde ich dem
Penner doch nicht sagen, dass ich in der Schule gern
den einen oder anderen zusammengeschlagen habe
oder ich mit 15 eine Oma in den Graben geworfen
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habe, als sie mich blöd angemacht hat. „Pass auf, wie
du fährst!“, schrie sie mich an, während ich sie mit
meinem Fahrrad leicht an ihrem Mantel streifte. Das
war zu viel. Ich stieg ab, gab ihr eine Backpfeife und
habe sie die kleine Böschung runtergeschubst. Ich
machte mich dann aus dem Staub, weil ich einfach
meine Ruhe haben wollte. Ihr Gejammer, als sie da
unten lag, machte mich sogar noch aggressiver.
Ich war noch nicht mal richtig in der Wohnung, da
hatte ich Denise gleich die Nachricht geschickt, dass
ich es getan habe:
„Hey, Denise. Ich hab mein Versprechen eingelöst.
War bei einem Psychologen. War auch keine große
Sache! Melde dich mal, wenn du gerade Zeit hast.
Vermiss dich!“
Natürlich schaute ich den ganzen verfluchten Tag,
trotz des eingeschalteten Tons, auf mein Handy. Alle
paar Minuten immer ein erneuter Blick, ob sie geschrieben hat. Ich musste mich echt zusammenreißen ihr nicht noch weitere Nachrichten zu schicken.
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Welch ein beschissenes Gefühl sich im Laufe des
Tages in mir breit machte. Nun hatte ich getan, was
sie wollte und nichts kam zurück. In meinem Kopf
malte ich mir wieder die beschissensten Gedanken
aus, dass sie gerade mit ihm im Bett lag oder die
beiden gerade zusammen Essen machten. Die Gedanken schnürten mir fest die Kehle zu. Die komplette Sehnsucht hatte mich wieder. Es kamen mir so
viele Erinnerungen mit ihr hoch. Der erste Kuss in
der Disco, der erste Sex auf meinem Sofa – all solche
Dinge waren dauerpräsent in meinem Kopf. Immer
wieder kam ein anderes Detail, vor meinem geistigen
Auge, zum Vorschein. Jedes einzelne war schöner
und gleichzeitig schmerzhafter als das andere zuvor.
Ich wollte doch einfach nur bei ihr sein und hätte
alles getan, was in meiner Macht stand, damit sie
glücklich bei mir hätte werden können. Es zerfetzt
einem so sehr das Herz, dass jemand anderes nun
das hat, wonach man sich so sehr sehnt. Man selbst
fühlt sich dann hässlich und minderwertig. Wie oft
hatte ich in dieser Zeit an Selbstmord gedacht? Wie
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gern hätte ich mir eine Knarre besorgt, um mich vor
ihren Augen zu erschießen? So unglaublich gerne. Sie
hätte dann endlich gewusst, dass ich nur sie liebte
und niemals wieder jemand anderen lieben würde.
Doch ich vegetierte einfach nur vor mich hin und
verlebte den Rest des Tages damit, mich allein zu
betrinken und schnulzige Musik zu hören. Ich heulte
und heulte einfach nur. Je höher der Alkoholgehalt
in meinem Blut wurde, desto höher wurde auch die
Sehnsucht nach ihr. Irgendwann musste ich nachts,
mit Tränen auf den Wangen, eingeschlafen sein. Dies
geschah zu dieser Zeit extrem oft.
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Kapitel 2 – Die Druckventile
Ich musste wieder pissen. Diesmal so sehr, dass ich
aufwachte und nicht mehr liegen bleiben konnte.
Musste mich mit aller Macht aus dem Bett quälen,
weil alles andere in mir schlafen wollte – nur meine
Blase nicht. Als ich zum Klo ging kamen wieder
diese Gedanken in mein Kopf, die mir so viel Freude
bereiteten. „Wie sie wohl gerade müde in seinem
Bett liegt? Eng an ihn gekuschelt und voller Spermarückstände in ihrer Fotze oder wie sie verliebt und
fröhlich nun gerade am Frühstückstisch sitzen?“,
spukte es mir durch den Kopf. Ich wollte die Gedanken einfach ausschalten. Aber wie? Weitertrinken? Irgendeine andere ficken? Beides war nicht
möglich. Auf Alkohol hatte ich keinen Bock und
eine andere nehmen? Nein, dafür war ich nicht bereit. Wenn jemand es in mein Herz schaffte, konnte
ich noch nie jemanden einfach so ersetzen und was
Neues zulassen. Ich versuchte nach dem Pissen einfach wieder einzuschlafen. Einfach liegen, einfach
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schlafen, einfach weg sein. Ich griff aus Gewohnheit
vor reiner Informationsgeilheit nach dem Handy,
welches neben meinem Nachttisch lag. Ich sah, dass
ihr Bild in meiner Chatübersicht bei WhatsApp weg
war, wie es generell ist, wenn man dort gesperrt wird.
Ich hatte eine neue Nachricht von ihr, die sie geschickt hatte, bevor sie mich wieder sperrte. Mein
Herz begann zu pochen. Diese innere Unruhe, dieses
Zittern meines Körpers, dieser Druck in meinem
Herzen – alle Alarmsignale in mir gingen auf Anschlag. Ich wusste, dass dies kein gutes Zeichen war.
Ich drückte einfach auf den Chat mit ihr. Was ich
dann sah, war ein Bild von ihr mit ihrem Typen darauf. Beide engumschlungen und lächelnd wie das
glücklichste Paar auf dieser gottverdammten Welt.
Unter dem Bild stand: „Lass mich in Ruhe! Ich bin
glücklich! Glücklicher als ich es mit dir jemals war!“
Zum ersten Mal realisierte ich, dass es wirklich echt
war, was passierte. Sie hatte einen neuen Freund und
war glücklich. Nun wusste ich auch noch, wie der
Typ aussah. Ein großer, blonder, blauäugiger, durch28
trainierter Typ. Die Tränen schossen mir explosivartig aus den Augen. Dieser Schmerz ließ alles in mir
gefrieren und brachte eine Tränenlawine ins Rollen.
Ich konnte vor Tränen nichts mehr erkennen. Wollte
einfach nur lauthals schreien. Ich war aus dem Bett
raus und hatte gegen meine Tür getreten, gegen meinen Schrank geschlagen und einen verfickten Teller
gegen die Wand geworfen. Diesen Schmerz in meinem Herzen würde niemand wieder heilen können,
dies war mir schon in den vorherigen Wochen klar
geworden. In diesen ersten Sekunden, nachdem ich
das Bild gesehen hatte, war es für mich jedoch noch
klarer. Liebe schmeckte in diesem Moment, als würde man Scheiße, Pisse und Kotze zu einem Frühstück servieren. So fühlte sich dieser Moment an,
den ich runterschlucken und letztendlich auch verdauen sollte. Ich war ohnmächtig und hilflos. Ich
stand heulend in Boxershorts in der Mitte meines
kalten Schlafzimmers und bewegte mich langsam
schleifend zum Flur. Es war dort gerade einmal so
hell, dass ich mich einigermaßen im Spiegel sehen
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konnte. Ich hasste den, den ich dort sah. Ich hasste
mich in diesem Moment noch mehr als ich es sonst
schon tat. Ich sah meine Haare und begann mir zu
wünschen lieber blond zu sein. Ich sah meine grünen
Augen und wünschte mir einfach blaue Augen zu
haben. Ich sah mein Gesicht. Es war einfach nur
hässlich. Mein Körper war nicht ansatzweise so trainiert wie seiner, obwohl ich vor einigen Wochen mit
Kraftsport begonnen hatte. Wieso sollte sie mich
auch wollen? Ich weiß noch heute, welche Gedanken
mir durch den Schädel gingen: „Küsst er besser? Ist
er besser im Bett? Mag sie ihn mehr als mich? Sagt
sie ihm die gleichen schönen Dinge wie mir? Berührt
sie ihn, wie sie es bei mir immer tat?“
Es brach die Hölle in mir los. Die Hölle im Herzen.
Ich wollte diesen Scheißkerl tot sehen, denn er sollte
ihr niemals mehr bedeuten dürfen. Ich wollte nicht
einfach der Mann in ihrem Leben sein, ich wollte der
König in ihrem Herzen sein. Außerdem fühlte ich
mich seit unendlich langer Zeit abgrundtief beschissen. „Am besten töte ich beide, damit die sich in der
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Hölle weiterficken können, aber ich will niemals
mehr daran denken müssen, dass beide vor meinen
Augen glücklich sein können. Wo wohnt dieser Spasti? Ich kenne ja nicht mal seinen verdammten Namen“, redete ich zu mir selbst. Um mir meine Fragen zu beantworten, konnte nur einer helfen. Daher
schickte ich das Bild meinem besten Kumpel Samuel. Er war immer schon gut vernetzt und hatte
den Draht zu den richtigen Leuten.
ICH: „Hey! Hier das Bild von dem neuen Macker
von Denise! Kennst du ihn? Wenn du weißt, wer es
ist, gib mir mal Infos über den Affen! BITTE!“,
schrieb ich ihn flehend an.
Sam war auch immer jemand, auf den man sich absolut verlassen konnte. Loyal, gewitzt und bärenstark. Ich kannte ihn schon seit der Schulzeit. Wir
gingen zusammen in die 11. Klasse auf dem Gymnasium. Da er diese aber nicht schaffte, begann er eine
Ausbildung zum Bürokaufmann. Er wurde aus dem
Laden allerdings noch während der Probezeit raus31
geschmissen, weil er den Chef zusammengeschlagen
hatte. Man stelle sich vor, dass der neue Azubi den
Chef zusammenmeißelt, weil dieser ständig nörgelte.
Nachdem er danach einige Monate arbeitslos war,
fing er eine Lehre zum Berufskraftfahrer an. Endlich
ein Arbeitsplatz, an dem der Chef zumindest nicht
physisch die ganze Zeit über seine Schulter guckte.
Er brauchte halt seine Freiheiten, daher war die
Wahl dieses Berufes für Arbeitgeber und Arbeitnehmer von Vorteil.
Ein Rebell mit dem Talent sich auf jedem Parkett
des Lebens bewegen zu können, dies hätte locker auf
seiner Visitenkarte stehen können. Nur leider hatte
er schon immer einen Hang zur Brutalität. Schlägereien waren für ihn keine Wochenenderlebnisse,
sondern richtige Rituale. Wie oft er mir immer von
Schlägereien erzählte? Manchmal eins gegen eins,
manchmal kämpfte er, wie ein wildes Tier, auch gegen mehrere gleichzeitig. Meistens ohne Grund und
gegen Leute, die ihn einfach unterschätzten. Er war
um die 1,90m groß, hatte schwarz zurückgegelte
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Haare, ein markantes Grübchen im Gesicht, samt
der ein oder anderen kleinen Narbe, war mittelschlank und hatte vom Schlagen schon dicke, abgehärtete Hände sowie diesen aggressiven Blick in
seinen braunen Augen. Er hatte sich einen gewissen
Ruf erschlagen und verkehrte daher manchmal auch
in etwas unseriöseren Kreisen. Er war mir gegenüber
immer perfekt eingestellt, außer der Tatsache, dass er
immer Ewigkeiten brauchte, um mir zu antworten.
Trotzdem hatten wir richtig oft Spaß, manchmal
gingen wir auch zusammen auf „Spaßtour“. So nannten wir es, wenn wir uns sinnlos betranken, Scheiße
laberten und uns welche suchten, um uns mit denen
zu schlagen. Er meinte einmal zu mir, was er an
Muskelkraft habe, hätte ich im Herzen, weil ich einfach krank sei und mit allem zuschlage, was ich zu
dem Zeitpunkt nur so in die Finger kriege. Ganz zu
schweigen davon, dass ich nicht aufhören konnte,
wenn ich einmal in einen Blutrausch geriet. So kam
es, dass wir in einer kleinen Bar in unserer Stadt
einmal einen Wichser fast totgeschlagen hätten, weil
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er einfach nicht aufhörte uns beide voll zu texten mit
irgendeinem rechten Müll. Wir haben es ihm im
Guten versucht zu erklären, dass er uns damit in
Ruhe lassen solle. Doch er wollte einfach nicht aufhören. Also hatten wir ihn nach draußen gelockt und
in eine kleine Seitenstraße geschubst, um ihn dort
minutenlang
gemeinsam
zusammenzuschlagen.
Selbst als er regungslos da lag, konnte ich nicht aufhören, mit dem mitgenommen Aschenbecher, in
seine scheiß Fresse zu schlagen. Sammy musste mich
dann irgendwann wegziehen. Ich liebte schon immer
Blut, vor allem von Leuten, die es einfach verdienten. Wir erfuhren später, dass der Hurensohn einige
Tage im Krankenhaus verbrachte, was mich irgendwie sauer machte, da ich hoffte es seien mindestens
mehrere Wochen. Zum Glück konnte oder wollte er
sich an nichts mehr erinnern. Ich träumte insgeheim
er würde sterben, doch das hätte mächtig Ärger mit
den Bullen gegeben.
Ich hatte in meinem Leben so viele Tote gesehen.
Manchmal war es traurig, wenn etwa Kinder einge34
sargt werden mussten, doch alle anderen ließen mich
kalt. An schlechten Tagen war ich sogar neidisch auf
Selbstmörder, die sich irgendwo auf einem Dachboden erhängt hatten oder sich von einem Zug zerfetzen ließen. Ich wollte dem Tod schon immer mal
anders in die hässliche Fratze gucken. Immer sah ich
Tote, wenn der Tod schon im Haus war. Ich wollte
den Tod aber sehen, wenn er durch die Tür ging,
weil man ihn selbst eingeladen hatte.
Es gab keinen besseren Zeitpunkt meinen herzhaften Traum vom Morden in die herzlose Realität umzusetzen. Ich hatte doch nichts mehr zu verlieren.
Mein Vater, den ich nie richtig kennenlernen durfte,
war tot. Meine Mutter, die einfach alles für mich war,
war tot. Meine Denise, die ich so abgöttisch liebte,
war es in meinem Herzen nun auch. Mein Leben
hatte nicht nur an Farbe verloren, es hatte an kompletter Sehstärke verloren. Ich wurde zu oft verletzt,
zu oft verarscht, zu oft im Stich gelassen. Ich wollte
diesen Schmerz niemals wieder fühlen müssen. Niemals wieder sollten andere glücklich sein können,
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während ich mich nachts in den verdammten Schlaf
heulen musste. Bei meiner anderen Ex, mit dem
verhurten Namen Charleen, war es am Ende recht
ähnlich. Ich hatte sie bei Weitem nicht so gern gehabt wie Denise, aber trotzdem tat es einige Wochen
verdammt weh. Zu wissen, dass sie mit einem aus
einer Disco einfach mit nach Hause gegangen war,
war Natrium-Pentobarbital für mein Herz. Wochenlang.
Ich musste meiner Wut also endlich ein Ventil geben. Es hatte sich über die gesamte Zeit zu viel aufgestaut. Mein inneres Manometer war im roten Bereich. Die Öffnung aller Druckventile die logische
Konsequenz einer langen Odyssee. Mich selbst im
Wald an einem Baum aufzuhängen wäre eine gute
Sache gewesen, doch nicht bevor ich dafür gesorgt
hätte, dass die Menschen, wegen denen ich so sehr
hatte leiden müssen, meine ganze ungefilterte Wut
abbekämen.
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„Heute ist der Tag, an dem ich töte!“, sagte ich halb
nackt zur mir selbst, als ich in den Spiegel starrte. Ich
schwor mir, dass ich dem ganzen Mist ein Ende
bereiten würde. In meinen Gedanken spielte ich alles
durch. Ich überlegte einfach zu Denise zu fahren
und ihr ein Messer in den Hals zu rammen. Doch
würde sie die Tür öffnen? Eher unwahrscheinlich.
Dann überlegte ich auch einfach irgendwo hinzufahren, wo mich keiner kennt und einfach mal zu töten,
um etwas Druck abzulassen. Letzteres schien mir zu
diesem Zeitpunkt einfach genau das Richtige zu sein.
Ich zog mich also an und ging in die Stube. Dort
hatte ich unter dem Sofa eine kleine Schachtel versteckt, in der ich alles Mögliche aufbewahrte. Aus
dieser roten Box nahm ich mir, statt wie sonst Kondome oder Passbilder, mein Springmesser und schliff
es in der Küche nochmal richtig schön nach. Und
das mit Mamas geschenktem Messerschleifer vom
vorletzten Weihnachtsfest. Als ich beim Schleifen
auf die Uhr sah, war es mittlerweile 16:10 Uhr. Meine Gedanken hatten mich so sehr eingenommen,
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dass die Zeit im Flug verging. Draußen wurde es
noch dunkler, als es den ganzen Tag schon gewesen
war. Ich wusste, dass der nächste Zug um zwanzig
vor fünf Richtung Bremerhaven fuhr. Mit dem Auto
wollte ich nicht hin. Ich wollte so wenig Spuren wie
möglich hinterlassen, daher wollte ich anonym mit
dem Zug in die nächstbeste Stadt reisen. In Cuxhaven einen Menschen umzubringen, wäre da nicht das
Richtige gewesen. Da wäre mir womöglich einer
entgegengekommen, den man kannte und dann gäbe
es unter Umständen direkt eine Verbindung zu diesem Mord. Dieses Risiko war mir ein Testmord nicht
wert. Cuxhaven ist einfach zu klein, jeder kennt jeden, wenn auch nur vom Sehen. Daher musste ich in
die nächstgrößere Stadt, wo mich keiner kannte.
Bei dem nächsten Blick auf die Uhr wurde ich hektisch, weil es schon halb fünf war und der beschissene Zug in gut zehn Minuten abfahren sollte. Ich
vertrödelte zu viel Zeit mit Zähneputzen und Haare
machen, dass es mich schon ärgerte, mich für einen
Mord so aufhübschen zu müssen. Samt Messer,
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dicker Jacke und Mordlust schloss ich daraufhin
zügig meine Wohnungstür ab und eilte durch den
Hausflur. Als ich vor der Haustür stand, kam mir die
glorreiche Idee, noch kurz in den Keller zu gehen,
um mir einen der zahllosen Malerschutzanzüge mitzunehmen, die ich bei der Renovierung von Tante
Ernas Haus benötigt hatte. Ich dachte mir, womöglich könnte ich so ein Ding vielleicht gebrauchen,
damit ich erstens weniger Spuren am Tatort hinterließ und zweitens dann nicht voller Blut durch die
Stadt latschen musste. Da ich nun alles dabei hatte,
was ich für einen schnellen Mord gebrauchen konnte, hetzte ich zum Bahnhof, löste mir brav ein Ticket
nach Bremen und setzte mich auf einen freien Platz.
Als ich nun so da saß, merkte ich, dass ich etwas
aufgeregt war. Es war wohl eher Vorfreude, weil ich
mich beim Lächeln erwischte und mir schon überlegte, wo ich das Messer am besten reinrammen würde.
Hals? Brust? Gesicht? Alles war möglich. Aus meiner
Tagtraumphase weckte mich dann Sammy mit seiner
SMS.
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SAM: „Moin. Was geht denn bei dir? Das ist ja heftig. Wieso schickt sie dir den Scheiß? Habe mich
umgehört. Der Typ heißt Marc, arbeitet als selbstständiger
Dachdecker
und
wohnt
in
der
Büttenwalderstraße 146. Mehr konnte ich erst mal
nicht rausbekommen. Melde dich, wenn du was
brauchst!“
ICH: „Danke! Ja, ist echt so. Ist mega die Schlampe!
Ich muss jetzt unbedingt deine Hilfe beanspruchen.
Ich bräuchte eine Waffe, um dem Kerl etwas Angst
einzujagen! Kannst du da was klar machen? Ach ja,
und sollte jemand nach mir fragen, egal was, sage
denen einfach nichts. Das wäre nice!“
SAM: „Alles klar, Digga. Kriegen wir hin. Ich melde
mich, sobald ich mehr weiß.“
ICH: „Danke.“
SAM: „Gerne doch.“
Der Zug machte in Bremerhaven-Lehe Halt. Eine
Station vor dem eigentlichen Hauptbahnhof. Wieder
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kam mir eine glorreiche Idee in den Kopf. Diesmal
war es die Idee den nahegelegenen Park zu nutzen,
in dem ich mich grob auskannte. Er lag nah am
Bahnhof, zu dem ich schnell flüchten konnte und
nicht erst durch die halbe Weltgeschichte dackeln
musste. Darüber hinaus konnte man im Park immer
ein passendes Opfer finden und weniger zu verachten war die Tatsache, dass man sich dort recht gut
verstecken konnte. Beim nächsten Halt musste ich
dann also raus. Meine Endstation: Hauptbahnhof
Bremerhaven.
Vom Hauptbahnhof stiefelte ich also voller Vorfreude zum Bürgerpark. Dort angekommen, kamen mir
schon zwei Jogger entgegen, was ich als ein gutes
Zeichen deutete. Sonntag ist generell ein Tag, an
dem nicht so viel los ist, wie etwa unter der Woche,
aber der ein oder andere geht an diesem Tag doch
immer mal gern spazieren oder ein paar Runden
joggen.
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Ende der Leseprobe von:
Die Hölle im Herzen
Timo Januschewski
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