„Heimatführung eines Schusterjungen durch das historische Montabaur“ Teilnehmende: Deutschleistungskurs 1 der MSS11 des Mons-Tabor-Gymnasiums in Montabaur Betreuender Lehrer: Martin Ehmer Einführung Wir möchten Ihnen in unserem Projekt „Heimatführung eines Schusterjungen durch das historische Montabaur“ die literarische Bedeutung der Stadt Montabaur für unsere Region, den Westerwald näherbringen. Hierbei gehen wir auch auf den einzigartigen Dialekt unserer Region ein, das Westerwälder Platt. Eine selbstverfasste Rahmenhandlung um die Montabaurer Sage des Schusterjungen leitet, in einer Art literarischer Stadtführung, die durch verschiedene Einschübe bereichert wird, durch Montabaur. An den verschiedenen Stationen der Geschichte werden dem Leser diese literarischen Höhepunkte Montabaurs in unterschiedlicher Art und Weise gezeigt. Wir erarbeiteten das Projekt in kleinen Gruppen, welche sich auf je ein spezielles Themengebiet unseres Projektes konzentrierten. Hierbei nutzten wir auch lokale Quellen wie die Stadtbücherei Montabaur und das Stadtarchiv. Die einzelnen Gruppen erarbeiteten das individuell gestaltete Material zu den jeweiligen Stationen des Rundgangs durch das alte Humbach. Nach Beendigung der Recherchearbeit und der Gestaltung der Stationen stellten die Expertengruppen ihre Ergebnisse abschließend im Plenum vor, wo sie formal angeglichen und diskutiert wurden. Auch fertigten wir Fotografien der handelnden Personen wie dem Schusterjungen an, welche unsere schriftlich ausgearbeitete literarische Stadtführung visuell unterstützen und ein lebendiges Bild der Stationen unseres Stadtrundgangs durch Montabaur vermitteln sollen. Letztendlich wurden alle Ergebnisse des Projektes zusammengefasst und in der von uns gewählten Ringbuchform fertig gestellt. Unser Ziel ist es, die literarischen Besonderheiten des Westerwaldes und seiner Kreisstadt Montabaur anschaulich darzustellen und die "Westerwälder Sprache" auch über die Region bekannt zu machen. (Moritz Wagner) Heimatführung Lautes Rattern, vibrierende Gleise, als ein mit Laptoptasche und Koffer bepackter Geschäftsmann den Zug aus Zürich am ICE-Bahnhof Montabaur verließ. Eine Nacht musste er im verlassenen Montabaur verbringen, um am nächsten Tag den Anschlusszug nach Fulda zu erreichen. Nachdem er mit der Rolltreppe den Innenraum des Bahnhofs erreichte, sich im Kiosk einen Kaffee kaufte und die Vitrinen des gegenüberliegenden Ausstellungs- raums begutachtete, nahm er den Aufzug, um den Bahnhof zu verlassen und sich auf den Weg ins Schloss, sein Domizil für die Nacht, zu machen. Gedanken eines Reisenden Mal wieder steh’ ich an den Gleisen Mantel über Schulter, Koffer in der Hand Mein Kopf fixiert auf’s Reisen „Arbeit!“, schreit mein Verstand. Neue Menschen, neue Geschichten, Neue Stadt, neue Welt. Vieles zu berichten, Der Zug verlässt mein Sichtfeld. Job vor Freizeit, Arbeit vor Vergnügen, Eigentlich bin ich ‘s leid, Doch die Neugier muss sich noch begnügen. (Michelle Gilles, Anna Lena Born) Arbeit – Präsentation – Arbeitskollegen – Erfolg. Dies waren die einzigen Gedanken, die er sich in diesem Moment machte. Morgen war der große Tag, endlich sollte sein jahrelanges Schuften mit Erfolg belohnt werden, wenn alles gut laufen würde. Die Präsentation vor dem Geschäftsführer würde seinen weiteren Lebensweg bestimmen. Erst jetzt fielen ihm die vielen Leute um ihn herum auf, die in einer ihm völlig unbekannten Sprache, einem seltsam klingenden Dialekt, miteinander ausgelassen plauderten. Der Gedanke „Hier verstehe ich nur Bahnhof“ zauberte ihm ein kleines Lächeln ins Gesicht und er machte sich auf den Weg in Richtung Schloss. Als er, tief versunken in seinen Gedanken, fast von einem Auto angefahren wurde und er seinen Kaffee fallen ließ, schaute er sich erschrocken um. Foarwe un Sprich Et gebt vill ahle Sprich un Lieder Vom weiße Schnie un weiße Flieder. Die Sonn schein hell un de Himmel ess bloh, un bloh ess en Zoustand un Wasser es klur. Bloh wie de Himmel, vergähs mich net! Gähl leit de Mond im Wolkebett. Gähl stiehn vom reife Korn die Goarwe. Die Rehebooche hot siwwe Foarwe. Rosa ess ohmens de letzte Schei, rosa de naue Doah in der Fräih. Dei´m Schätzje sei Aache sei kornbloumenbloh, un noachts sei alle Katze groh. Schworz sei die Wolke im Sommergewärrer, gräi ess de Klee un die Hoaselnussblährer. Rut blähin in der Hecke die welle Ruse, und lila stiehn in der Herbstzeit lose die Bloume in de Wiese drän, ja, lila ess mure, lila modern. Huch hänke den Fuchs die sauer Trauwe, Schworzweiss sein die Atzele un die Tauwe. Weiß esse e oaberschriewe Babajier, weiß wie e Leirich un fresche Ahjer. Rut ess die Läib un die Hoffnung ess gräi, un die Hoffnung lehst ämmer e Finksche noch säih. (Gretel Köhler) Als der Geschäftsmann mit seinem hinter sich her ratterndem Koffer eine kleine Brücke kurz hinter dem Bahnhof überquerte, hielt auf einmal ein kleiner Junge, auf einem Hocker sitzend und in Lumpen gekleidet sein Bein fest und begann die Schuhe des Mannes zu putzen. Dreckiges Putzzeug lag überall. Alle vorbeilaufenden Menschen, die der Junge mit seiner Mütze grüßte, während er die Schuhe des Mannes putzte, ignorierten ihn und nahmen ihn nicht einmal wahr. Als der kleine Junge fertig war und auch den Mann mit seiner Mütze zum Abschied grüßen wollte, nahm der Mann sein restliches Kleingeld und warf es dem Jungen in die Mütze. Er hörte es auf dem Boden aufprallen, drehte sich jedoch nicht mehr um. “Ich dachte, ich könnte besser zielen“, dachte der Mann noch im Weitergehen. „Was ein Elend, ein kleiner Junge der sich sein Geld verdienen muss, dass es so etwas heute noch gibt …“ Der Mann war müde, erschöpft, von der langen Reise gestresst und wollte nun ohne Unterbrechungen seinen Weg zu seiner Unterkunft, dem Schlosshotel, fortsetzen. Als er um die Ecke bog, erblickte er den selben Jungen, welcher ihm zuvor auf der Brücke schon die Schuhe geputzt hatte. Verblüfft ging er schnell an ihm vorbei. Hinter sich vernahm er die schnellen Schritte des Jungen. Er versuchte das laute Rufen des Jungen zu ignorieren. „Nicht noch eine unnötige Diskussion, eine Unterhaltung, dafür habe ich jetzt keinen Nerv“, dachte er bei sich. „Hallo, haaallloooo, hey Mann, wo wollen sie denn hin?“ Der Reisende versuchte den Jungen ein weiteres Mal zu ignorieren, doch das war nun nicht länger möglich. „Was willst du denn jetzt schon wieder, ich bin gestresst!“ Dies interessierte den Jungen jedoch nicht und er bohrte weiter nach: „Woher kommst du?“ „Hast du nicht gehört? In Ruhe lassen sollst du mich!“ Der Junge fragte weiter: „Also, woher kommst du denn?“ Der Mann merkte, dass es keinen Sinn machte, den Jungen weiter zu ignorieren und so antwortete er: „Zürich.“ „Und wie heißt du? Was machst du hier? Und wo willst du denn hin?“ Der Mann antwortete: „ Marvin Etmer. Ich bin auf Geschäftsreise. Ich bin auf dem Weg nach Fulda. Sind damit all deine Fragen endlich beantwortet?“ „Und wohin willst du jetzt?“, fragte der Junge verwirrt. „Ins Schloss, dort übernachte ich.“ Entsetzt blieb der Junge abrupt stehen. „NEIN! Geh nicht dorthin, die Räuber belagern das Schloss, sie werden dich umbringen!“, rief er laut und aufgebracht. Verärgert antwortete der Mann: „Das kann dir ja egal sein, du sollst ja nicht mitkommen!“ Er drehte sich um und ließ den zitternden Jungen am Straßenrand zurück. Als er am Fuße des Schlossberges ankam, wurde es bereits langsam warm, es versprach ein sonniger und angenehmer Tag zu werden. Der Geschäftsmann ließ sich Zeit und zog mit seinem Koffer gemütlich durch die noch leeren Straßen der Altstadt. Obwohl das Schloss leicht zu erkennen war, dauerte es eine ganze Weile, einschließlich diverser Sackgassen, bis er schließlich am Schlossgelände ankam. Vor dem Tor hing ein großes Schild mit der Überschrift „Geschichte des Humbacher Schlosses“. Neugierig trat er näher und las: Geschichte Schloss Montabaur Im 8. Jahrhundert wurde mit dem Bau der Anlage auf dem Schlossberg in Montabaur angefangen. Der Name „Muntabur“ (Mons Tabor) wurde erstmals 1227 verwendet. Im Dreißigjährigen Krieg wurde das Schloss von unterschiedlichen Kriegsparteien besetzt und geplündert. Mit den immer leistungsstärkeren Geschützen verloren die befestigten Burgen nach und nach ihre Bedeutung und wurden immer stärker zu repräsentativen Wohnsitzen umgebaut. Zwischen 1687 und 1709 erhielt das Schloss seinen heitigen Grundriss und bis zum Jahr 1802 war Montabaur Residenz der Erzbischöfe und Kurfürsten zu Trier. Das Schloss wurde 1969 zu einem AkademieZentrum umgebaut und 2001 mit vier Sternen ausgezeichnet. 2011 wurde auf dem Gelände das neue Veranstaltungszentrum eröffnet. Zufrieden schaute er hinab auf Montabaur und atmete die frische Luft ein. Kurz blitzte vor seinem Auge das Bild einer älteren Stadt vor ihm auf, er sah den Rauch aus den vielen Schornsteinen der Fachwerkhäuser aufsteigen, roch den Geruch vom frisch gebackenen Brot und hörte Kirchenglocken läuten. Verwirrt schüttelte er den Kopf und das Bild verschwand, das Tönen der Glocken jedoch blieb. Verwirrt blickte er auf seine Uhr und stellte fest, dass er ganze zehn Minuten an seinem Aussichtsposten verharrt hatte. Seufzend wandte er sich ab und betrat die Rezeption des Schlosshotels. „Guten Morgen, ich bin auf einer Geschäftsreise und benötige kurzfristig bis morgen früh ein Zimmer“. Die Rezeptionistin begrüßte ihn freundlich: „Eigentlich haben wir kein freies Zimmer mehr zur Verfügung, aber sie haben Glück, einer unserer Gäste hat zufällig erst gestern Abend storniert, wir hätten also ein Zimmer frei. Das Frühstück wird von 8 bis 10 Uhr im Speisesaal gleich gegenüber serviert.“ Zufrieden bezahlte der Geschäftsmann und mit den Worten „Viel Spaß in unserem authentischen Schlosshotel“ erhielt er von der Frau seinen Schlüssel und verließ die Rezeption. Sein Zimmer befand sich im Hauptgebäude des Schlosses, nahe dem Rittersaal, und als er sein Zimmer nach einem kurzen Rundgang gefunden hatte, ließ er sich erschöpft auf sein weiches Himmelbett fallen, um sich etwas auszuruhen. Da bemerkte er einen zusammengefalteten, gelblichen Brief auf seinem Kopfkissen. Verwundert schlug er ihn auf und begann zu lesen. (Edita Islami, Kira Metternich) Verwirrt von der seltsamen Sprache des Briefes griff er nach seinem Smartphone und googelte „Montabaur Dialekt“. Mit Hilfe eines nützlichen Übersetzerprogrammes, welches die für ihn zum Teil kryptisch wirkenden Wörter und Ausdrücke des Briefes entschlüsselte, gelang es ihm schließlich den Brief ins Hochdeutsche zu übersetzen. Verwundert und auch leicht belustigt legte er den Brief beiseite. „Das Haus hält was es verspricht“, dachte er und lachte in sich hinein. Da tauchte vor seinem inneren Auge der seltsame kleine Junge am Bahnhof wieder auf. Leicht verunsichert und verwirrt legte er sich kurz Schlafen. Als er wieder aufwachte, war es bereits Nachmittag und in seinem Zimmer wurde es langsam stickig und heiß. Durstig stand er auf und entschloss sich in die Stadt hinabzugehen, um auf dem großen Platz, den er kurz während seines Aufstieges erblickt hatte, etwas zu Trinken. Dort wird es ja wohl ein Café geben, dachte er entschlossen. Der Geschäftsmann verließ das Schloss und stieg die gewundenen Gassen herab in die Altstadt, immer in Richtung der großen Kirche, welche bereits von weitem den Stadtkern markierte. Nach wenigen Minuten gelangte er auf den zentralen Platz inmitten der Altstadt. Die eine Seite des Platzes war gesäumt von Eisdielen, Cafés und Pizzerien, vor denen sich viele Menschen an kleinen Tischen bei einem kalten Getränk oder einem Eis sonnten. Auf der anderen Seite erhob sich das gewaltige Rathaus der Stadt, mit seinen alten Türmen und Bögen. Direkt vor ihm jedoch stand ein wunderschön gearbeiteter Brunnen, der seinen Blick fesselte. Mit Metall waren bedeutende Szenen aus der Geschichte Montabaurs in den Brunnen eingelassen und auf seinem Grund glitzerten Münzen. Der Geschäftsmann ließ sich auf dem Brunnenrand nieder und fuhr mit einer Hand nachdenklich durch das kalte Wasser. “Sie müssen eine Münze in den Brunnen werfen junger Mann “, sagte eine ältere Dame hinter ihm, „ das bringt Glück und Segen für ihre Familie.“ Er warf eine Münze in den Brunnen, setze sich in ein Eiscafé und bestellte sich einen großen Erdbeerbecher. Seine Gedanken wanderten zu seiner Familie zurück, zu seiner Frau und seinen Kindern, die er seit Tagen nicht mehr gesehen hatte. Kopfschüttelnd schlug er die „Westerwälder Zeitung“ auf, welche er im Hotel erstanden hatte und begann zu lesen. (Dominik Laux, Vivien Lehnhäuser, Elias Müller) „Dieser Zwischenstopp in Montabaur ist doch interessanter als ich dachte“, sagte er sich kopfschüttelnd. Nach ein paar Minuten empfand er das unangenehme Gefühl beobachtet zu werden. Er senkte die Zeitung und blickte in das Gesicht des Jungen vom Bahnhof, der ihn anlachte. „Da bist du ja wieder“, sagte er erschrocken. “Ich habe dir doch gesagt, dass wir uns wiedersehen. Hast du mir etwa nicht geglaubt?“ antwortete der Junge vergnügt. “Was willst du von mir, macht es dir Spaß arme Touristen zu verfolgen?“, fragte ihn der Mann verschmitzt. „Alles in Ordnung?“, fragte ihn die Bedienung, welche sich besorgt neben ihn gestellt hatte. Der Geschäftsmann drehte sich um und erst jetzt merkte er, dass alle anderen Besucher des Cafés ihn verwundert anstarrten. „Ja, alles in Ordnung, was soll denn mit mir sein?“, fragte er verwirrt. Die Bedienung blickte ihm noch einen Moment ins Gesicht und ging dann kopfschüttelnd zum nächsten Tisch. Der Junge lachte. „Wo sind eigentlich deine Eltern?“, fragte ihn der Mann leicht verärgert. Ein Schatten zog über das Gesicht des Jungen und er blickte zu Boden. “Sie sind tot, schon seit langer Zeit“, antwortete er traurig. „Das tut mir leid“, erwiderte der Geschäftsmann zerknirscht und etwas verwirrt. Vor langer Zeit, dachte er sich, wie alt ist er Junge wohl, er sieht nicht älter aus als zehn. „Wie alt bist du eigentlich?“, fragte er ihn schließlich. Der Junge lachte kurz auf und erwiderte: „Älter als du denkst.“ Der Mann stellte den Rest des Eises beiseite, er war bereits mehr als nur satt. „Ich mache einen Verdauungsspaziergang und da du sowieso nicht von meiner Seite weichen wirst, kannst du genauso mitkommen und mir einen guten Platz zeigen, wo ich mich etwas ausruhen kann und mir unterwegs etwas mehr von Montabaur zeigen“. Der schmutzig gekleidete Junge zog ihn lachend an der Hand in eine enge Seitengasse direkt neben der Eisdiele. „Dann komm, wir gehen zur Stadtmauer“. Der kleine Junge hüpfte lachend und singend vor ihm auf der Gasse entlang. Plötzlich öffnete sich die Gasse und den Mann blendete die helle Mittagsonne. Vor ihm lag die Brüstung der hohen Stadtmauer des alten Humbachs, rechts von ihm ragte die ehemalige Stadtmauer steil in den Himmel. Die beiden gingen zur Mauer und schauten hinunter auf das außerhalb der Stadtmauer liegende Montabaur. Der Junge wurde immer übermütiger und hüpfte schließlich mit einem lauten Ausruf auf die Mauer. Bevor der erschrockene Geschäftsmann Anstalten machen konnte ihn herunter zu zerren, trug der Junge ein altes Gedicht vor: Altstadt Auf der Wasserscheid zwischen Sieg und Lahn Auf einer Kuppe obenan, liegt Altstadt in dem schönsten Grün als Dörfchen malerisch darin. Die Handelsstraß nahm hier Verlauf, der Rothenbach fließet hier auch. Und vor weit mehr als hundert Jahr Ein Rastplatz hier für Fuhrleut war. Von Köln nach Leipzig wurd maschiert, mit Pferd und Wagen transportiert. In dem rauhen Westerwald Machte jeder Fuhrmann halt. Altstadt´s Mühle mahlte fein, viele Jahre lief der Stein. Manch Aufenthalt am Wasserlauf Brachte Dorfgeschichten auf. Blaue Kittel aus Leinen weit War des Landmann´s Arbeitskleid. „Harte Köpfe“ wie Basalt, bezwangen Jahr für Jahr den Wald. Neu und in Altstadt´s weiter Flur Sah man Kühe weiden nur, mit dem Hirten weiterziehen, zu der klaren Quelle hin. Steh ich heut an Batholomä, die alte Linde vor mir seh‘, bete ich still, Gott erhalt, was nun achthundert Jahre alt. (Ursula I. Schrader) “Komm sofort herunter!“, rief der Mann, als der Junge sich immer noch das Gedicht aufsagend seinem Zugriff entzog. Als das Gedicht zu Ende war, verbeugte sich der Junge tief und sprang wieder von der Mauer herunter. Der Geschäftsmann konnte nicht anders, erst versuchte er sein Lachen zu verstecken, aber es gelang ihm nicht. Der kleine Junge auf der Mauer und dazu noch das Gedicht war zu viel für ihn. So gut habe ich mich schon lange nicht mehr amüsiert, dachte er schmunzelnd, und immer noch lachend applaudierte er laut. Es wurde bereits dunkel, als sie an der Schule ankamen. Der Mann spürte, wie es langsam kühler wurde und ein lauer Wind aufkam. Er sah auf den Jungen herunter, der, trotz seiner spärlichen Kleidung, keine Kälte zu verspüren schien. Die Schule schien wirklich nichts Besonderes zu sein und doch fühlte der Geschäftsmann einen Hauch von Stolz bei dem Gedanken, dass dieses Gebäude nach seinem Vorfahren benannt war. „Joseph Kehrein war dein Vorfahr‘? Das ist ja vorzüglich, auch ich hab Verwandtschaft in den Kehrein’schen Kreisen!“, hörte der überraschte Mann den Jungen fröhlich erzählen. Ihm war nicht klar, dass er laut gesprochen hatte „Tatsächlich?“, fragte er ihn und sah sein enthusiastisches Nicken. Dem Mann schlich ein Lächeln auf das Gesicht. Er hätte niemals gedacht, dass es so einfach sein kann, einen Menschen glücklich zu machen und doch bemerkte er am heutigen Tag immer wieder aufs Neue, dass besonders kleine Dinge diesem Jungen wichtig zu sein schienen und das konnte er ihm zumindest für einen Abend bieten. Die Schule war geschlossen, das sah man bereits von Weitem und doch überredete der Junge ihn dazu, noch näher heranzutreten und zu gucken, ob die Tür offen ist. „Wer weiß, vielleicht hat jemand vergessen, zuzuschließen?!“, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln. Auf der letzten Treppenstufe drehte sich der Geschäftsmann nochmal um, um sich die Umgebung anzusehen und als er sich wieder zurückdrehte, stand der Junge im Türrahmen und hielt die Tür mit einem breiten Grinsen für ihn auf. Er konnte nichts anderes machen als den Kopf amüsiert schütteln und sich zu fragen, ob es nicht Einbruch sei, eine geschlossene Schule zu betreten. Bevor er es sich jedoch anders überlegen und umdrehen konnte, waren sie schon an der Bibliothek angelangt und der Junge rief ihn von seinem Platz zwischen den Regalen zu sich. Als er zu ihm trat, sah er sich das Buch an, auf welches der Junge so angeregt zeigte. „Kurze Geschichte der Stadt und Burg Montabaur“ stand darauf. „Liest du mir ein Kapitel daraus vor? Joseph es hat geschrieben “, sagte der Junge und der Mann nickte. Sie setzten sich in eine Leseecke, die mit bunten Sitzkissen und Bilderbüchern übersät war. Nur wenige Sekunden später ertönte die Tiefe Stimme des Geschäftsmannes und die ganze Bibliothek wurde gefüllt mit den Worten Joseph Kehreins. "Vor dem ersten unglücklichen Brand (1491) war die Stadt Montabaur 1800 Bürger stark. [...] Durch solchen ersten Brand wurden in drei Stunden Zeit alle Häuser nebst der Kirch und sogar die Thürme der StadtMauern eingeeschert [...]“ „Seitdem schwindet der Name Humbach; zum letzten Male finde ich ihn erwähnt in einer Urkunde aus den Jahren 1319-1323: Himbach, quae nunc Munthabur appellatur (Humbach, das nun Montabaur genannt wird)“ „Plagen dich drückende Sorgen, so darfst du nicht immer dich grämen, lache zuweilen, es fliehn viele der Wolken hinweg.“ „Wahrlich, es schläft sich so gut, wenn der hochgelehrte Professor breit sich brüstend doziert, was er oft selbst nicht versteht.“ Trachte nach dem, was wahr und sich ziemt, und du lebest beglücket, hält für töricht dich auch mancher erbärmliche Wicht. Auf dem Rückweg zum Schloss schlugen die beiden einen anderen Weg ein als zuvor. Sie gingen an einem kleinen, parkähnlichen Gelände vorbei, welches fast nostalgisch wirkte. Dahinter war ein schmaler Weg, der kleine, heruntergekommene Häuser beherbergte, welche mit Graffiti verunstaltet waren. „Sieh mal, hier in der Biergasse wohne ich!“ riss der Junge den Mann aus seinen Gedanken. Wie der Mann erfuhr lebte der Junge dort mit seiner Familie, bevor er diese verlor. „Du lebst alleine? Das ist doch nicht erlaubt …!“, meinte der Mann. Doch der Junge winkte nur ab und sie gingen weiter. Der Verlust der Eltern des Jungen gab dem Geschäftsmann zu denken. Das Verhältnis zu seiner Frau und seinen Kindern war schon seit Monaten getrübt, seit Wochen hatten sie kein Wort mehr miteinander gewechselt. Als er sich auf den Weg machen wollte, um endlich zum Schloss zu gelangen, bemerkte er das Zögern des Jungen. „Was ist denn los?“, fragte der Mann. „Was los ist, fragst du mich? Wie kannst du so etwas fragen, wenn doch Räuber das Schloss ausrauben und Humbach belagert wird? Und du erwartest, dass ich da einfach mitkomme?“ „Schon wieder diese Geschichten“, dachte sich der Mann, schlug sich seine Sorgen schnell aus dem Kopf und ging weiter, den kleinen Jungen mit ängstlichem Gesichtsausdruck im Schlepptau. Als die hölzernen Tore in Sicht kamen und sie das Schloss endlich erreichten, drehte sich der Geschäftsmann zu seinem treuen Begleiter um, um sich zu verabschieden. „Danke für alles, Kleiner. Du warst mir eine riesige Hilfe und ich hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß“, sagte der Geschäftsmann. Der Junge lächelte nur und sagte, er würde ihn morgen am Bahnhof wiedersehen. Auf dem Weg zu seinem Zimmer beschlich ihn das Gefühl, als würde ihn jemand beobachten, doch jedes Mal, wenn er sich umdrehte, war keine Menschenseele auf dem Flur zu entdecken. Er dachte sich, es sei nur Einbildung gewesen, da er einen langen Tag hinter sich hatte und in den letzten Wochen nur sehr wenig Schlaf bekommen hatte. Endlich in seinem Bett angekommen, schlief er schnell ein und wurde erst durch das Klingeln seines Weckers wieder wach. Als er jedoch auf die Zeiger sah, wurde ihm klar, dass er verschlafen hatte und sein Zug in nur wenigen Minuten den Bahnhof verlassen würde. Schnell zog er sich um und rief ein Taxi, um die kurze Strecke zum Bahnhof schnellstmöglich zu überbrücken. Er kam auf die Minute genau am Bahnhof an und konnte noch vor dem Schließen der Türen in den ICE steigen. Nachdem er seinen Platz gefunden hatte, schaute er aus dem Fenster und sah den Jungen traurig winken. Er winkte zurück, doch die Blicke des Jungen lockerten nicht auf. Der Zug setzte sich in Bewegung und der Mann drehte sich für einen kurzen Moment in Fahrtrichtung um, um den Zugbegleitern seine Fahrkarte zu zeigen. Als er sich wieder zu dem Jungen drehte, sah er nur noch einen schimmernden Umriss an der Stelle, an der der Junge eben noch gestanden hatte. Er rieb sich die Augen, doch der Junge war weg und nun war auch der Schimmer verschwunden. Nach kurzer Zeit entschied er sich dazu, weiter an seiner Präsentation zu arbeiten. Während er sich angestrengt mit seiner Arbeit beschäftigte, öffnete sich wie aus dem Nichts der Internet Browser, der über das Jubiläum des Todes eines Schusterjungen berichtete. Mit dabei war ein Foto, ein Foto des Jungen, der ihn den ganzen letzten Tag über begleitet hatte. Er las sich den Artikel genau durch und sah sich das Foto näher an. Der Junge sah auch bei näherer Betrachtung genauso aus, wie sein gestriger Begleiter und der Mann fiel verblüfft in seinen Sitz zurück. Er fand einfach keine Erklärung für die Geschichte. Überfordert fuhr er mit einer Hand über das Gesicht und musste feststellen, dass die Seite wieder verschwunden war. Da hörte er plötzlich nicht nur die lauten Geräusche des Zuges, sondern auch ein leises Flüstern. Er hörte angestrengt auf die Worte, welche ihm eine Gänsehaut verpassten und gleichzeitig auch ein Lächeln auf sein Gesicht zauberten. Ein letztes Mal hörte er die Stimme des Jungen, die vor sich hin zu singen schien: Denk daran, Denk daran Der Schusterjunge war arm dran Doch nun kennt er `nen großen Mann Den er nicht vergessen kann Der Geisterjunge mag dich sehr Komm doch bitte wieder her! (Luisa Meurer, Jenni Ilcenko, Moritz Wagner) Quellenverzeichnis Texte und Gedichte -Ursula I. Schrader: „Stadtmauer“: Altstadt, Wäller Heimat (2003), Seite 144 -Gretel Köhler: Foarwe un sprich, Wäller Heimat (2009), Seite 61 -Joseph Kehrein: Kreisblatt für den Unter-Westerwald-Kreis, Nr.26 (29.03.1876) und Nr.27 (01.04.1876), Beilage, Lokales -Biographie von seinem Sohn Dr. Valentin Kehrein -Geschichte Schloss Montabaur -Homepage des Schlosshotels: http://www.hotelschlossmontabaur.de/adg_schloss_montabaur/de/%C3%9C ber%20uns/Geschichte/ (29.4.2015) - Joseph Kehrein: Geschichte der Stadt und Burg Montabaur, aus: „Joseph Kehrein- vom Bauerbub zum Professor“, Wäller Heimat 1991, Seite 89 Bilder / Layout / Druck -Birka Kallenbach MTG Deutsch- LK 1, 2015 Elisa Becher Vivien Lehnhäuser Anna Lena Born Kira Metternich Martin Ehmer Luisa Meurer Malte Fichtner Elias Müller Michelle Gilles Konstantin Neyer Marvin Höber Luisa Normann Jennifer Ilcenko Ajshe Ramaj Edita Islami Alina Schöpfe Birka Kallenbach Moritz Wagner Anika Knopp Philipp Weissenbach Dominik Laux Fatih Yilmaz
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