Zwischen Klammern gesetzt

Ostschweizer Kultur 23
Dienstag, 10. November 2015
Tausend haben
die Jazzwoche
besucht
ST. GALLEN. «Was für eine Woche»,
sagt Andreas B. Müller, Präsident
von Gambrinus Jazz plus. Sechs
höchst unterschiedliche Abende,
und sie gehen weiter. TonhalleParterre voll, «Kaffeehaus» voll:
«Wir waren überdurchschnittlich gut bis sehr gut besucht»,
sagt Müller. Im Oktober hat «Saiten» postuliert: «Jazz ist.» Müller
ergänzt: «…und ist lebendig in
der Ostschweiz. Wir bekamen
viel gute Resonanz.»
Ist auch neues, anderes Publikum aufgetaucht? Das lasse sich
nicht messen, sagt Müller, aber
bei Mike Stern etwa seien Zuhörer von weither angereist. 200
Mitglieder hat der Verein, über
2000 erhalten den Newsletter, da
hatten auch Lokalmatadoren wie
das Trio Rosset Meyer Geiger im
«Kaffeehaus» Chancen, beachtet
zu werden.
Carte blanche mit Auflagen
Die Carte blanche für die drei
St. Galler geht weiter: vier Konzerte, jedes muss anders sein.
Zum zweiten am 17. Januar laden Rosset Meyer Geiger Saxophonistin Co Streiff ein. Auch an
andere Formate oder Reihen
denkt der Vorstand und wildert
weiter in andern Musiksparten –
die Reihe «Live im 1733» ist in
der dritten Saison. Lässt sich so
auch Jazz-Neulingen mehr Mut
machen? «Wir wollen nicht erzieherisch sein, aber in die Breite
gehen», sagt Müller. Intensivieren will der Vorstand die Zusammenarbeit mit dem Ostschweizer Jazzkollektiv, das neben den
Jam Sessions in St. Gallen und im
Appenzellerland bald auch im
Thurgau aktiv wird. Und da ist
noch ein Projekt: ein gedrucktes
Gesamtprogramm für die gesamte Ostschweizer Jazzszene.
Was folgt 2016, nach dem
Jubiläum. «Wenn der Zusatzaufwand sich im erwarteten Rahmen bewegt und wir auch künftig auf ähnliche Unterstützung
zählen können, könnten wir uns
vorstellen, damit den Grundstein für ein jährliches einwöchiges Gambrinus-Jazz-Fest St. Gallen gelegt zu haben.» (dl)
Zwischen Klammern gesetzt
Sie stellt eine SIM-Karte in eine Vitrine und malt Kreise an den Boden und die Decke des Kunstmuseums St. Gallen.
Dabei geht es Annaı̈k Lou Pitteloud darum, unsere Wahrnehmung zu schärfen und Leerstellen sichtbar zu machen.
CHRISTINA GENOVA
ST. GALLEN. In dieser Ausstellung
erfährt der Besucher schon eingangs, was ihm blüht. Annaı̈k
Lou Pitteloud hat dort anstelle
des
Ausstellungstitels
zwei
Klammern gesetzt – dazwischen:
nichts. Es ist ein Vorgeschmack
auf die Leerstellen, die sich in
dieser spröden, stillen Ausstellung auftun.
Die 1980 in Lausanne geborene und heute in Antwerpen
lebende Künstlerin zeigt in
St. Gallen ihre erste Einzelausstellung in der Deutschschweiz.
2016 wird ihr der Manor-Kunstpreis Lausanne verliehen.
Ein bisschen Koketterie
Zwischen den Klammern ist
Platz für so vieles: Fürs Einschliessen, Ausschliessen, Verklammern. Doch zuallererst füllt
sich die Leerstelle mit Überforderung. Die Künstlerin nimmt
einen kaum bei der Hand, sie
fordert das Denken ein. Doch
wer sich anstrengt, wird belohnt
und entdeckt immer mehr Bezüge zwischen den einzelnen
Arbeiten.
Es ist eine Ausstellung, in der
alles bedeutsam ist, angefangen
beim Titel, der schlicht Arbeitstitel lautet, «Working Title». Darin klingt etwas Provisorisches an,
aber auch ein bisschen Koketterie. Denn diese Ausstellung ist
äusserst durchdacht, jedes Werk
wurde präzise gesetzt. Auch die
Werkliste ist kein simples Verzeichnis, sondern eine Edition
mit einer Auflage von 500 Stück,
einzeln signiert und Bestandteil
der Ausstellung.
Riesige Miniaturmöbel
Draussen, «OUT», ist die
Nachricht, die SMS, die Annaı̈k
Lou Pitteloud 2012 hinaus in den
virtuellen Raum gesendet hat.
Überprüfen können wir es nicht,
die gesendete Nachricht ist unsichtbar, die SIM-Karte nur ein
Platzhalter. «Out» im übertragenen Sinn ist auch, wer eine sol-
Bild: Michel Canonica
Annaı̈k Lou Pitteloud sucht nach Leerstellen in unserer Wahrnehmung. Hier im Bild ihre neueste Installation «The Hole».
che SIM-Karte heute noch benutzt, denn sie gehört nicht zu
einem Smartphone, sondern zu
einem gewöhnlichen Mobiltelefon. Auch SMS werden heute
immer seltener verschickt.
Die Art des Ausstellens auf
einem Sockel unter einer Plexiglashaube unterstreicht einerseits den musealen Charakter
des Objekts, und suggeriert anderseits, dass damit ein Gegenstand von grossem Wert geschützt wird. Doch wertvoll in
welcher Hinsicht? Eine Frage, die
sich nicht beantworten lässt,
eine Leerstelle, die bleibt.
Wie verändert sich die Wahrnehmung eines Objektes, wenn
es statt winzig klein plötzlich riesig gross ist? Eine Frage, die An-
naı̈k Lou Pitteloud umtreibt. In
der Ausstellung präsentiert sie
einen Stuhl und ein Telefon, die
50fach verkleinert von Architekten zur Möblierung ihrer Modelle verwendet werden. Durch die
Vergrösserung werden durch die
Herstellung bedingte kleine
Fehlstellen deutlich sichtbar.
Was im kleinen Format nicht
weiter von Belang ist, wirkt im
grossen Format irritierend und
grotesk. Die Künstlerin nennt die
Installation «Call-Artist» und bezieht es auf die Situation der
Kunstschaffenden, die auf einen
erlösenden Anruf warten – des
Galeristen, der Kuratorin, des
Sammlers. Man könnte sie auch
umkehrt als Aufruf dazu lesen,
aktiv zu werden und das Schick-
Da stehen alle Schubladen offen
Zum 20-Jahr-Jubiläum macht das Artemis-Trio sich und seinen Anhängern ein Geschenk:
Mit dem Saxophonisten Daniel Schnyder gehen sie auf Tournée. Am Sonntag waren sie in Weinfelden.
ROLF APP
WEINFELDEN. Die ganze Veran-
staltung hat etwas sehr Familiäres. Zum einen, weil die drei
Damen vom Artemis-Trio in
Weinfelden bestens bekannt und
beliebt sind: Die Geigerin Katja
Hess ist Vizepräsidentin der veranstaltenden Theater- und Konzertgesellschaft Mittelthurgau.
Zum andern, weil sie nicht nur
hervorragend das Klavier (Myriam Ruesch), die Violine und
das Cello (Bettina Macher) spielen. Sondern auch weil sie mit
ihren Kommentaren zu den Stücken jenem Konzert einen ganz
eigenen Charakter verleihen, mit
dem sie zum 20-Jahr-Jubiläum
auf Tournée gehen.
«Bekannt für Seitensprünge»
Und schliesslich, weil der in
New York beheimatete Daniel
Schnyder mit seinem Saxophon
so über alle Massen gut zu ihrem
Programm passt. Einem Programm, in dem alle Stilschubladen offen stehen, sich Klassik
und Moderne zwanglos und
hoch inspiriert die Hand geben.
«Wir sind ja bekannt für unsere
musikalischen Seitensprünge»,
sagt Katja Hess denn auch, nach-
dem die vier schwungvoll und
mit deutlichen Anleihen beim
Jazz Bizets Carmen-Suite haben
erklingen lassen. Claude Debussys «Trio en Sol» setzt einen ruhigen Kontrapunkt, bevor mit Manuel de Fallas Danza Ritual del
Fuego aus «El Amor Brujo» wieder südliche Hitze und mitreissender Rhythmus den schönen
Rathaussaal erfüllen.
Von Bach zu Piazzolla
Schon geht es wieder weit zurück in der Zeit, zu Johann
Sebastian Bach, den die Cellistin
Bettina Macher sich selber zum
Geschenk gemacht hat. Sie hat
nämlich zwei Sätze des Konzerts
für zwei Violinen und Orchester
d-Moll BWV 1043 für Violine,
Cello und Klavier umgeschrieben – und Daniel Schnyder zeigt
mit seinen Einwürfen, wie gut
der tänzerische Bach und der
moderne Jazz doch zusammenpassen.
Der Argentinier Astor Piazzolla habe Bach geliebt, schlägt Bettina Macher eine weitere Brücke.
Piazzollas «Tango Nuevos» seien
schwer zu tanzen, aber wundervolle Musik. «Und wenn es kratzt
und pfeift, dann muss es so
sein.» In der Tat: Es kratzt und
pfeift, es singt und tanzt, und mit
sichtlicher Freude legt sich das
Trio ins Zeug.
«Händel war nie in Harlem»
Zwei dieser Tangos rahmen
den amerikanisch aufgefrischten
Marsch und die Gavotte aus der
Sonate D-Dur von Georg Friedrich Händel ein. «Händel war nie
in Harlem», sagt Daniel Schnyder, «musikalisch aber passt er
wunderbar dorthin – hören Sie
selbst.» Vorausgeschickt hat er
ein leise schwebendes Stück, für
Bild: Chris Mansfield
Das Artemis-Trio: Myriam
Ruesch, Katja Hess, Bettina
Macher.
das er die Flöte zur Hand nimmt.
Ein Zwischenspiel aus der Oper,
die Daniel Schnyder über das
Leben des Komponisten und Saxophonisten Charlie Parker geschrieben hat.
«Und jetzt haben wir Durst»
Bevor mit dem für Trio und
Saxophon arrangierten Libertango noch einmal Astor Piazzolla
erklingt, erfüllt das Artemis-Trio
mit der manchmal sehnsüchtiginnigen, manchmal auch ziemlich rockigen «Bohemian Rhapsody» von Freddy Mercury einen
vom Publikum immer wieder geäusserten Wunsch. Das Konzert
klingt mit einer enorm stimmungsvollen Zugabe aus, einer
Händel-Aria. «Und jetzt haben
wir Durst», sagt Katja Hess, «wir
möchten mit Ihnen anstossen.»
Da ist es wieder, das Familiäre.
Konzerte in der Ostschweiz:
Ï Fr, 13.11., 20 Uhr: Winterthur,
Zwinglikirche
Ï Sa, 14.11., 20 Uhr: Wil, Aula Kantonsschule
Ï Fr, 20.11., 20 Uhr: Frauenfeld,
Kirche Kurzdorf
Ï S0, 22.11., 17 Uhr: Kreuzlingen,
Aula PMS
www.trioartemis.ch
sal selbst in die Hand zu nehmen. Das altmodische Telefon
mit Wählscheibe schafft ausserdem einen Bezug zur Arbeit
«OUT»
im vorhergehenden
Raum. Denn «out» ist auch der
Künstler, nach dessen Kunst keine Nachfrage besteht.
Verblüffende Leerstelle
Um Wahrnehmung geht es
auch in «The Hole», der neuesten
Arbeit von Annaı̈k Lou Pitteloud,
die speziell für St. Gallen entstanden ist und an Werke von
Markus Raetz erinnert. Sie besteht aus siebzehn Buchstaben,
die im Siebdruckverfahren auf
Plexiglas gedruckt und hintereinander in einem Chromstahlrahmen befestigt sind. Die Buch-
staben setzen sich zum Textfragment «A hole in the picture» zusammen. Doch wer sich nicht in
Bewegung setzt, wird den Text
nicht lesen können. Die Leerstelle im Bild, den blinden Fleck
in unserer Wahrnehmung, können wir nur ausschalten, wenn
wir unseren gewohnten Standort
verlassen.
Zum Abschluss verblüfft Annaı̈k Lou Pitteloud mit einer
Leerstelle, die sie zwischen den
Boden und die Decke des letzten
Raumes setzt. Kaum zu glauben,
dass sie es geschafft hat, dort mit
einem riesigen Zeichnungsgerät
einen roten und einen blauen
Kreidekreis zu hinterlassen.
Bis 20.3.16
Westwärts: Ein musikalischer
Streifzug durch Amerika
BETTINA KUGLER
ST. GALLEN. Dolby Surround, das
gehört in modernen Kinosälen
längst zum guten Ton. Im klassischen Konzertsaal dagegen passiert es selten, dass sich die
Musiker von ihren angestammten Plätzen auf dem Podium entfernen, dass sie ihr Publikum von
allen Seiten mit Klang umhüllen.
Anders das Kammerorchester
St. Gallen am Samstagabend im
Palace – das schliesslich mal ein
Kino war und nun zu seinem ersten «klassischen» Konzert kam.
Wobei die Schubladen an diesem
Abend keine allzu grosse Rolle
spielten; «es gibt nicht E oder U,
es gibt nur schlechte oder gute
Musik», soll Leonard Bernstein
einmal gesagt haben; so sehen es
auch Dirigent Mathias Kleiböhmer und das Orchester. Warum
nicht Duke Ellingtons «C-JamBlues» mit Streichern, Saxophon
und Schlagzeug, warum nicht
Wiegenlieder von Gershwin und
Peter Lenzin, die ruhig und froh,
aber keineswegs müde machen?
Klangmuster von allen Seiten
Da sassen die rund zwanzig
Musiker dann auch wieder brav
vorne auf der Bühne; allenfalls
die bunten Scheinwerfer auf Geigen, Bratschen und Celli verlock-
ten im Saal dazu, etwas tiefer im
gepolsterten Sitz zu versinken,
als man es wohl bei Beethoven
in der Tonhalle für angebracht
hielte. Ungewöhnliche Spielorte,
kein klassisches Programm, als
Gast der famose Saxophonist Peter Lenzin: soviel Entdeckungslust wirkte ansteckend, vom ersten Stück an, Terry Riley Minimal-Music-Manifest «In C». Eine
Herausforderung für ein semiprofessionelles Ensemble, weniger im technischen Anspruch
denn im raumgreifenden Zusammenspiel von allen Seiten –
Dolby surround eben, ein Angriff
auf die Linearität der Musik.
Streicher plus Saxophon
Pünktlich zum 201. Geburtstag von Adolphe Sax stand sein
vielseitiges Instrument im Mittelpunkt. Peter Lenzin spielte die
weite Ausdruckspalette schon in
den drei Sätzen des Saxophonkonzerts von Sir Malcolm Arnold
genüsslich aus: sangliche Linien,
rhythmischen Drive, launische
Wechsel, freches Marschieren an
den Grenzsteinen der Tonalität.
Packend dann Piazzollas Tango,
Lenzins grooviges «New Max»,
das zwei Zugaben nötig machte.
Wir hätten auch die Maximalversion von Rileys Klangbaukasten
akzeptiert. Gerne mit Saxophon!