Volker Ladenthin Bonn Über „Zwei bei Kallwass“ Die meisten Menschen interessieren sich am meisten für – Menschen: Aus dieser zeitlosen Befindlichkeit ziehen billige Talk-Shows und Schlüssellochjournalismus ihren reichen Gewinn; aus dieser Befindlichkeit sind allerdings auch Autobiographie, Roman und Schauspiel entstanden. Die Frage ist also nicht ob, sondern wie man die menschliche Neugier am Menschen auffängt. Angelika Kallwass, Diplom-Psychologin und Diplom-Volkswirtin, versucht mit ihrem PsychoDrama „Zwei bei Kallwass“, die richtige Mischung zwischen Anspruch und Adressat zu finden. Sie hat den Anspruch, wissenschaftlichen Standards nicht zu widersprechen – und die Inhalte doch so zu präsentieren, dass sie auch dem zugänglich sind, der über kein Fachstudium verfügt. Aufklärung nannte man so etwas früher. Im 18. Jahrhundert fand sie in sogenannten „Moralischen Wochenschriften“ statt. Das waren Zeitungen, in denen sensationelle Beispiele moralisch besprochen und Ratschläge ausgesprochen wurden. Keine Wissenschaft, sicherlich, aber anregend auch für Wissenschaftler. Die Blätter legten ihr Programm schon im Namen offen: „Der Biedermann“, „Der Vernünfftler“, „Der Menschenfreund“, „Der Freydenker“, „Der Mann ohne Vorurtheil“ oder „Die vernünftigen Tadlerinnen“: Letztere richteten sich besonders an Frauen. Kein geringerer als der Philosoph Immanuel Kant hat den Reiz derartiger Offenlegung vom Innersten in seiner Bedeutung erkannt: "Diejenigen, welchen sonst alles Subtile und Grüblerische in theoretischen Fragen trocken und verdrießlich ist, treten bald bei, wenn es darauf ankommt, den moralischen Gehalt einer erzählten guten oder bösen Handlung auszumachen, und sind so genau, so grüblerisch, so subtil, alles, was die Reinigkeit der Absicht, und mithin den Grad der Tugend in derselben vermindern, oder auch nur verdächtig machen könnte, auszusinnen, als man bei keinem Objekte der Spekulation sonst von ihnen erwartet."1 Im elektronischen Zeitalter sind die moralischen Wochenschriften ins Fernsehen abgewandert. Zu Angelika Kallwass und ihrer Show etwa. Ihr Konzept sichert dabei, dass sie den aufklärerischen Anspruch bewahrt – dabei aber die Nähe zum Publikum nicht verliert. Sie lädt zum Beispiel dieses Publikum zu sich ins Studio ein, in die Sendung. Und nun sitzen jene, deren Lebensumstände wie mit einer Lupe vergrößert werden, unter jenen, die auf diese Vergrößerung schauen. Tua re agitur – deine Sache wird hier verhandelt, sagten die Lateiner. Und das ist bis heute die Idee des Theaters. Die Darsteller der Sendung wissen sich - wenn nicht kontrolliert – so doch beobachtet. Sie bekommen die Reaktionen mit. Es entsteht, wie fein auch immer, ein soziales Geflecht zwischen Darsteller und 1 Kant: Kritik der praktischen Vernunft Bd. VI. S.289f (=A 274) Zuschauer im Studio. Manchmal hört man das Schweigen der Zuschauer schreien – wenn wieder einmal etwas Fürchterliches gesagt wurde. Man muss sich das mal live anschauen. Die Darsteller sehen die skeptischen Gesichter der Zuschauer – sie werden deren Blick im Nacken spüren: Es sind selten Profi-Schauspieler, aber eben auch keine medienunerfahrenen Alltagsmenschen, die von versierten Moderatoren „vorgeführt“ werden. Die sich selbst entblößen und zu Äußerungen verleiten lassen, die sie dann noch monatelang bereuen. Die Sendung von Frau Kallwass baut da eine Sicherung ein; sie versteckt die realen Personen hinter konstruierte Rollen – und kann damit zugleich die Personen exemplarisch erscheinen lassen. Sie kann fokussieren, was im Leben auseinandergerissen ist, sie kann auf den Punkt bringen, was im Leben zerfließt. Aus dem Fall wird ein Beispiel – ein altes pädagogisches Verfahren „Exemplarizität“ genannt. Sicherlich werden nicht alle Zuschauer verstehen, dass hier der dargestellte Alltag nicht alltäglich ist; aber die gleichen würden dann auch Tatortkommissare im Notfall anrufen. Das ist eben so. In der Moral geht es aber nicht um Biographie, sondern um das Allgemeine. Erst wenn das Einzelne zu etwas Besonderem wird, kann man darüber allgemein sprechen, kann es auf sich beziehen. Das Prinzip Laiendarsteller schützt also die Betroffenen vor Angriffen, vor sich selbst. Ihr Fall wird dargestellt – von der Person entfremdet. Das Leben wird zum Fall verfremdet. Andererseits wird aus der Darstellung kein Spektakel, bei dem die Schauspielkunst im Vordergrund steht. Es entsteht eine Art Rollenspiel, das öffentlich stattfindet: Menschen erproben sich in ihnen fremden Rollen. Die Rolle schützt sie, zugleich erfahren sie sich selbst von sich selbst entfernt in einer Rolle, die ihnen das Schicksal nicht auf den Leib geschneidert hat: Man müsste einmal untersuchen, wie sich das Leben der Laiendarsteller durch die Darstellung verändert. Was sie lernen. Was sie nachher anders als vorher machen. Sicherlich wird sich mancher über die feuchten Themen wundern oder empören, über die grellen Beispiele, die harten Charaktere, vielleicht auch über die Lust am Absonderlichen, Sensationellen – vielleicht sogar Ekeligen. Aber warum interessiert es uns Menschen. Weil der Mensch nicht nur edel, hilfreich und gut ist. Und weil man vielleicht an den Anderen etwas über sich erfährt, was man lieber verdrängen möchte. Friedrich Schiller, Krimiautor und Verfasser der „Räuber“, einem Theaterstück, das bei der realistischen Darstellung von Schrecklichem nicht sehr zimperlich war, hat einmal nach dem „Vergnügen an tragischen Gegenständen“ gefragt. Seine Antwort gilt bis heute. „Die höchste Konsequenz eines Bösewichts in Anordnung seiner Maschinen ergötzt uns offenbar, obgleich Anstalten und Zweck unserem moralischen Gefühl widerstreiten. Ein solcher Mensch ist fähig, unsere lebhafteste Teilnahme zu erwecken, und wir zittern vor dem Fehlschlag derselben Pläne, deren Vereitelung wir (wenn wir moralisch urteilten), aufs feurigste wünschen sollten.“2 2 Schiller, Friedrich von: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. (1792). In: Schillers sämtliche Werke in zwölf Bänden. Mit einem Bildnis, einer Biographie und Charakteristik Schillers von Gustav Karpeles. Bd. XI. Leipzig: Max Hesses Verlag o. J. S.153.
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