Einfach genial Auf den Spuren besonderer Menschen Das Genie ist ein Blitz, dessen Donner Jahrhunderte währt. Knut Hamsun T E X T: H A N N E S W E I N E LT philoSPIRIT O rdnung braucht nur der Dumme, ein Genie beherrscht das Chaos. Mit diesem Zitat liefert Albert Einstein nicht nur eine geniale verbale Verteidigung von Zimmer- und Schreibtisch-Unordnungen, sondern führt uns humorvoll und plakativ auf die Spuren der Genialität. Aber auch der Ordnungsliebende soll diesen Artikel nicht gleich schmollend zur Seite legen, tröstet uns doch Novalis, dass das Genie der natürliche Zustand jedes Menschen sei. schen“ sei - es gelte nur, diesen Zustand zu bewahren beziehungsweise wieder zurückzugewinnen. Schuss Verrücktheit gibt, wodurch dem Normalen das Genie immer als von der Norm ver-rückt erscheint. Sokrates und sein Genius Genies sind capricciosi Der wohl berühmteste Philosoph der Geschichte, Sokrates, berief sich immer auf seinen Genius, wenn er wieder einmal eine scheinbar vollkommen irrationale Entscheidung gefällt hatte. So beschloss er eines Tages auf dem Heimweg mit seinen Schülern, einen Umweg einzuschla- Bei Karl Julius Weber lesen wir: „Genies gehen ihren eigenen Gang wie Ziegen. Daher nennt sie der Italiener capricciosi (Sonderlinge, eigentlich Sprüngemacher, von capra = Ziege). Sie klettern über Höhen und Abgründe leicht hinweg, während Schafe ruhig dem Leithammel folgen.“ Das Genie entzieht sich allen Konventionen. Nicht aus Prinzip, sondern weil es sich selbst aktiv um die Wahrheitsfindung kümmert. „Das Erste und das Letzte, das vom Genie gefordert wird, ist Wahrheitsliebe“, sagt Goethe, der selbst als Genie gilt. So erlangen oder besitzen alle Genies ihre eigene Schau der Dinge, und da diese ein inneres Wissen und damit eine innere Überzeugung darstellt, ist sie unumstößlich. Weder gesellschaftliche Verachtung noch sonstige persönliche Nachteile, meist nicht einmal die Folter bringen das Genie von seinen Überzeugungen ab. So sind tatsächlich eine Reihe von Genies, wie Sokrates und Giordano Bruno, für ihre Überzeugungen in den Tod gegangen, um später von der Nachwelt rehabilitiert zu werden - Sokrates schon wenige Tage nach seinem Tod, Giordano Genie von „genius“ Genie leitet sich aus dem lateinischen genius ab. Genius ist der Schutzgeist oder auch Zeugungsgott (lat. gignere = zeugen). In diesem Sinne wurden in der Renaissance unter Genie die künstlerische Schaffenskraft sowie die Quelle der Inspiration verstanden. Gottfried Wilhelm Leibnitz bekräftigt dies in seiner Lehre von den „möglichen Welten“: Das Genie schafft mögliche Welten, es wird zum Schöpfer und damit quasi zum Gott. Auch Friedrich Wilhelm Schelling betrachtet das Genie als ein Stück von der Absolutheit Gottes. In allen Traditionen und Religionen wird vom Göttlichen oder Gott im Menschen gesprochen, die Genesis erwähnt den Menschen als Gottes Ebenbild. So kommt der geniale Novalis zum Schluss, dass das Genie „der natürliche Zustand des Men- A b e n t e u e r P h i l o s o p h i e 3 / 2 0 0 6 31 Socrates empfängt den Schierlingsbecher gen. Seine Schüler blieben auf dem direkten Weg durch eine enge Gasse, wo sie von einer Gänseherde aufgehalten und beschmutzt wurden. So kam Sokrates tatsächlich früher nach Hause und erklärte seinen Schülern, dass ihn sein Genius vor jedem Unglück bewahren würde. Hier begegnet uns der Genius als innere Stimme, als eine „allwissende“ Instanz im Menschen, die alogisch und irrational ist und dementsprechend alogisch und irrational handelt. Daher meint Aristoteles, dass es kein großes Genie ohne einen Eine „Unkultur der Zwerge“ versucht alles Geniale ins Banale zu ziehen. philoSPIRIT Bruno erst durch die wissenschaftlichen Ergebnisse des 20. Jahrhunderts. Ein Blitz, dessen Donner Jahrhunderte währt Wo ein Genie auftaucht, verbrüdern sich die Dummköpfe „Das Genie ist ein Blitz, dessen Donner Jahrhunderte währt“, charakterisiert Knut Hamsun die historische Bedeutung der Genies. Unsere gesamte Geschichte wird von diesen menschlichen Ausnahmeerscheinungen bestimmt. Ob in der Politik Alexander der Große, Caesar, Napoleon, Mahatma Gandhi -, in der Religion Buddha, Konfuzius, Jesus, Mohammed -, in der Wissenschaft - Leonardo da Vinci, Thomas Alva Edison, Albert Einstein oder in der Kunst - Michelangelo, Mozart, Picasso -, sie alle haben Epochen bestimmt und/oder sogar eingeleitet. „Das Zeitalter ist ein Produkt des Genies“, bringt es Egon Friedell in seiner Geschichte der Neuzeit auf den Punkt. Und die Zeitalter überdauern dank ihrer genialen Werke. Genies schaffen etwas in ihrer Zeit, aber für die Ewigkeit. Sie hinterlassen die Welt immer ein Stück reicher, als sie sie vorgefunden haben. Leonard Bernstein sagt beispielsweise über Mozart: „Nicht nur ein Name, sondern ein himmlisches Genie, das auf die Erde kam, dreißig und einige Jahre blieb, und als es die Welt verließ, war sie neu, bereichert und durch seinen Besuch gesegnet.“ Die Geschichte bestätigt dieses Zitat von Jonathan Swift. Aufgrund der beschriebenen Unkonventionalität und unbestechlichen Überzeugung rufen Genies alle reaktionären Kräfte auf den Plan. „Jeder Mensch von Genie hat seine Verleumder“, schreibt Edgar Allan Poe. Sokrates wurde der Missachtung der herrschenden Religion und Verführung der Jugend bezichtigt, Giordano Bruno diversester Häresien, geniale Künstler wurden als abartig gebrandmarkt, große Wissenschaftler landeten am Scheiterhaufen, sei dieser aus Holz aufgeschichtet oder aus Verleumdungen und medialen Kampagnen. Interessanterweise gibt sich unsere heutige, scheinbar so fortschrittliche Zeit geradezu phobisch bezüglich des Genialen. Eine „Unkultur der Zwerge“ versucht alles Geniale ins Banale zu ziehen: Sokrates war ein Spinner, wenn er überhaupt geschichtliche Realität ist, Alexander der Große war homosexuell, Napoleon hatte eine Funktionsstörung seines Gehirns. Das Überdurchschnittliche darf nur im Sport und in der Kunst zum Vorschein kommen. Und hier werden auf fast künstliche Weise Idole geschaffen, mit denen sich die Massen identifizieren sollen. Doch wehe, eines dieser Idole lehnt sich in jenen Bereichen etwas zu weit hinaus, wo alles messerscharf glatt rasiert wird. Mahatma Gandhi wurde von einem Fanatiker erschossen, der geniale UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld starb bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz, Martin Luther King wurde mehrmals inhaftiert, schließlich ermordet,… A b e n t e u e r P h i l o s o p h i e 3 / 2 0 0 6 Das Talent arbeitet, das Genie schafft Mit diesem Zitat trifft Robert Schumann eine wesentliche Unterscheidung: Jeder hat irgendein Talent. Wenn man es fördert und daran arbeitet, können hervorragende Resultate erzielt werden, im Beruf, im Sport, in der Kunst usw. Wenn man es jedoch verkümmern lässt, bleibt es entweder ganz unentdeckt oder führt zu passablen, aber keineswegs außergewöhnlichen Leistungen, die man 33 ohne großen Aufwand und damit auch ohne große Befriedigung erreicht. Das Genie jedoch bricht selbst in den widrigsten Umständen hervor. Es ist eine unaufhaltsame Macht, die sich durch nichts bändigen lässt und die zu einer unermüdlichen, ekstatischen Arbeit treibt. Aber es ist die Arbeit in einer Art göttlichem Wahnsinn, eine regelrechte Besessenheit, als ob die Person von einer himmlischen Macht nur benützt würde. Arbeiten ist menschlich, schaffen ist göttlich. Wenn man das Gesamtwerk von Mozart von einem Kopisten abschreiben ließe, würde dieser bei einer täglichen Arbeitsleistung von acht Stunden, sieben Tage die Woche, 99 Jahre brauchen. Mozart starb mit 35 und verbrachte täglich mehrere Stunden beim Spiel und anderen gesellschaftlichen Zusammenkünften. Ein Genie beherrscht das Chaos Nach Heinrich Heine liegen „die Handlungen eines Furchtsamen, wie die eines Genies, außerhalb aller Berechnungen“. Sowohl der Furchtsame als auch das Genie befinden sich jenseits eines gewöhnlichen Zustands und einer normalen Ordnung. Der Furchtsame taucht in das Chaos der Instinkte und Emotionen. Sein Überlebensinstinkt übernimmt das Kommando, das Denken setzt aus, die Handlungen werden unberechenbar. Das Genie taucht in das Chaos einer überrationalen Welt. Es ist die Welt einer höheren Ordnung, einer Mehrdimensionalität, wo unser irdisches Raum-Zeitgefüge überwunden ist. Unserem Standpunkt der Ordnung erscheint dies chaotisch, doch das Genie beherrscht dieses Chaos. Das griechische Menschenbild teilt den Menschen in die drei Bereiche Körper 34 philoSPIRIT (soma), Seele (psyche) und Geist (nous). Während das Bewusstsein des Furchtsamen von den Instinkten des Körpers und der Psyche verschlungen wird, schöpft das geniale Bewusstsein aus dem Geistigen. Das Genie ist dort zu Hause. Manchmal ist es in der Lage, willentlich in diese Dimension vorzustoßen, in anderen Fällen passiert es in außergewöhnlichen Momenten der Inspiration. Alle Menschen besitzen Geist, doch die wenigsten können ihr Bewusstsein dorthin erheben. Zu sehr ist unser Bewusstsein in unseren körperlichen und psychischen Bedürfnissen gefangen. Wenn nicht Arbeits- dann zumindest Freizeitstress, die Wünsche sind unerschöpflich, und sie erschöpfen unsere Kapazität, uns mit unserem eigentlichen Sein und unserer geistigen Dimension auseinander zu setzen. Als Erstes muss sich der Mensch für etwas über seine persönlichen Bedürfnisse Hinausgehendes interessieren und sein geistiges Bedürfnis erkennen. So wird er zu seinen Talenten und Qualitäten finden. Und diese Talente müssen bearbeitet werden. „Das Talent ist unsere Sache, das Genie schenkt Gott“, sagt Gustave Flaubert. Aus meiner Sicht jedoch ist selbst das Genie kein Geschenk Gottes, denn Gott ist weder Weihnachtsmann noch Scharfrichter. Das Genie ist einfach das Finale Gran- de einer langen Kette eines bearbeiteten Talents. So verstehe ich das Genie wie Novalis, dass das Geistige, das Genie „der natürliche Zustand des Menschen“ sei, den er sich jedoch aktiv wieder erobern muss. Q A b e n t e u e r P h i l o s o p h i e 3 / 2 0 0 6
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