Schweiz am Sonntag, Nr. 284, 18. Oktober 2015 SONNTAGSREPORTAGE 45 | So hoch war die Eisdecke hier oben mal: Gletscher-Vermesser Hanspeter Klauser bezeichnet den Rückgang der Gletscher als alarmierend. Glärnisch verliert zwei Fussballfelder Eis Ein Tag mit den Gletschermessern am Glärnisch zeigt ein bitteres Abbild der Klimaerwärmung Der Hitzesommer hat den Gletscher zwei Fussballfelder Eis gekostet. Drei bis vier warme Sommer dürften laut Experten genügen, um eine zehnmal so grosse Eisfläche zum Verschwinden zu bringen. VON BRIGITTE TIEFENAUER (TEXT UND BILDER) E in dünnes Piepen piekst sich in die Stille der Bergwelt. «Gut», sagt Hanspeter Klauser per Funk. Der Punkt ist registriert. «Verstanden», antwortet Hansruedi Hösli. Fährt den Reflektorstab ein. Geht weiter durch den harstigen Schnee, der unter seinen Bergschuhen knirscht. Klauser ist der Vermessungszeichner, der Gletschermesser. Für die Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) misst er seit über 30Jahren jeweils im Herbst den Glärnisch- und den Bifertengletscher. Sein Arbeitsgerät: der Theodolit, ein Winkel- und Distanzmessgerät. SICHTIGES WETTER UND EINEN GEHILFEN brauche er für die Mission, erklärt Klauser beim Marsch via Glärnischhütte Richtung Gletscher. Im Gepäck das Vermessungsgerät, im Schlepptau alt Metzgermeister Hansruedi Hösli, den Gesellen. «Zum Glück habe ich mich ein Leben lang fit gehalten», meint dieser. 70Lebensjahre hat er auf dem Buckel. Und einen weit über zehn Kilogramm schweren Rucksack, auf den ihm der Meister zusätzlich ein währschaftes Stativ gebunden hat. Holz, kein Leichtgewicht, dafür könne man es im Notfall zum Anfeuern brauchen, spasst Klauser. Der Weg ist steil. Raureif liegt auf den letzten Alpenblumen am Weg. Die Vegetation verabschiedet sich mit diesem typischen Verwesungsgeruch. Die sterbende Natur in der prächtigen Bergwelt ist wie eine Vorahnung auf ernüchternde Erkenntnisse an einem an sich herrlichen Arbeitstag. Nein, gewachsen sei der Gletscher seit über 30 Jahren nicht mehr, sagt Klauser. Dieses Jahr war besonders schlimm. Bereits Anfang Juli war die Schneedecke weg, der Gletscher blank und das Eis der Hitze schutzlos ausgesetzt. Nach dem Rückzug von durchschnittlich 7 bis 8Metern in den letzten Jahren ahnt Klauser nach dem Hitzesommer mit Nullgradgrenzen über 4000 Metern Böses. NACH DEM ZWEISTÜNDIGEN ANSTIEG gibt es Kaffee zur Stärkung. Hier, am Punkt 14, einer Markierung auf dem geschliffenen Felsen knapp 2400Meter über Meer, richtet der Vermesser seinen Arbeitsplatz ein: Stativ, Theodolit, warme Jacke, gutes Auge. Von hier aus hat er den Gletscher im Blick – und damit den Gehilfen, der sich aufmacht, um den Gletscherrand abzuschreiten. Sein Werkzeug, ein auf über zwei Meter ausziehbarer Stab mit dem Reflektor, der seine jeweiligen Standortdaten zum Vermessungsgerät des Meisters sendet. «Pass auf», warnt Klauser, als Hösli eine tiefe Gletscherspalte passiert. Die Arbeit ist nicht ungefährlich. Unter dem knappen Neuschnee verbergen sich aalglatte Felsplatten. Ein Fehltritt könnte verheerende Folgen haben. «Gib mir den Punkt», bittet Klauser jeweils. Dann hält Hösli an, richtet den Reflektorstab. Der Theodolit nimmt den Punkt auf, misst die Distanz per Laser und registriert sie zusammen mit dem Horizontal- und dem Vertikalwinkel. Rund 50-mal wiederholt sich das Prozedere. Sobald der Geselle auf dem Gletschergrenzweg die Richtung ändert, wird der Punkt registriert. «So erfassen wir Gestalt und Verlauf der Zunge sehr genau», erklärt der Vermesser. «Gut», sagt Klauser jeweils und meint eigentlich alles andere: Traurig, erbärmlich, was vom mächtigen Eis noch übrig ist. «Bis zu 20Meter trennen die Messpunkte von den letztjährigen», schätzt er. Der Gletscher hat überdurchschnittlich gelitten. Was Klauser jetzt noch nicht weiss: Es sind happige 34Meter, wie die spätere Auswertung der Daten zeigt. Bei einer Gletscherbreite von knapp 430Metern entspricht das der Fläche von zwei Fussballfeldern. Der tiefste Gletscherpunkt liegt aktuell auf 2347,2Metern. Das ist 2Meter höher als im Vorjahr, damals nach einem Rückzug um 0,4Meter. 475Meter ist der Gletscher heute kürzer als bei seiner ersten Messung anno 1923. WAS DIE TECHNIK DES VERMESSERS um die Mittagszeit erbarmungslos festhält, hat Klauser bereits beim Aufstieg in grössere Relationen gesetzt. Beim Zwischenhalt bei der Glärnischhütte zum Beispiel: «Hier präsentierte sich dem Bergsteiger vor 70Jahren der Gletscher.» Heute liegt zwischen SAC-Hütte und Gletscher eine Stunde Wanderzeit. «Der Weg zur Arbeit wird immer länger», bilanziert der Geselle. Auf halbem Weg zwischen Hütte und heutigem Gletscherende liegt der Fixpunkt2. Von hier aus assistierte Klauser 1977 als Lehrling erstmals bei Messungen. Statt über Eis und Schnee zieht sich der Weg heute nochmals über Hunderte Meter blanken Fels und Geröll. Eine ganze Reihe weiterer Fixpunkte hat der schrumpfende Gletscher in den letzten Jahrzehnten als nutzlose Farbkreise zurückgelassen. Für Klauser sind sie Zeugen einer schmerzlichen Entwicklung. Seine Worte werden allmählich weniger, aber pointierter: «Bitter» oder «alarmierend, das Ausmass», murmelt er etwa. Und zuweilen geht er einfach schweigsam voraus. Der Ausblick vom Fixpunkt 14 ist genial. Eindrückliche Eislöcher und spektakuläre Toteisbrocken zeugen vom einstigen Ausmass des Gletschers. Über die bittere Realität vermögen sie nicht hinwegzutrösten. Schmaler sei die Gletscherzunge geworden, bilanziert Klauser, und markant dünner. Eine 200 Meter lange und 50 Meter breite Felsrippe hat sich von unten her in die Zunge gefressen. Der zusätzliche Fels wärmt sich tagsüber auf und verstärkt mit der Abstrahlung noch die Schmelze. Dabei sei die Hitzeabstrahlung im Kessel zwischen Feuerberg und Bächistock so schon gross genug, so Klauser. «Drei bis vier warme Sommer dürften genügen – dann sind weitere 300 bis 500 Meter Gletscher weg», schätzt er. Die zehnfache Fläche des diesjährigen Verlustes. DIE FOLGEN DER GLETSCHERSCHMELZE sind gravierender als der blosse Verlust einer Naturschönheit für Touristen. Gletscher sind als riesige Wasserspeicher wichtige Bausteine des Wasserhaushalts, lehren die Glaziologen. Ohne sie fehlt uns das Wasser im Sommer, wenn wir es dringend benötigen: zur Versorgung der Wasserkraftwerke und damit für 50Prozent der Energie unseres Landes. Für die Landwirtschaft, aber auch als Trinkwasser. Wenn wir Experten ernst nehmen, die einen Gletscherschwund von 90 Prozent bis zum Ende dieses Jahrhunderts vorhersagen, kann uns das nicht egal sein. Wo die Flüsse und Seen als kühlende Komponente ausbleiben, führt das zu einer weiteren Erderwärmung – ein Teufelskreis. Dass der Gletscherbach am Fuss der Zunge bereits schweigt, könnte die Folge der herbstlichen Temperaturen sein. Eher sei das Phänomen damit zu erklären, dass zurzeit schlicht kein Wasser zum Fliessen vorhanden sei, sinniert Klauser. Die Mittagszeit ist längst vorbei. Geselle Hösli ist von blossem Auge nur noch als kleiner Punkt in der Ferne auszumachen. Durch das Okular des Vermessungsgerätes lassen sich aber selbst seine Gesichtszüge erkennen. Ebenso seine Fussspuren, die bereits weite Strecken des Gletschers säumen. Fast 300 Meter Distanz und 32 Meter Höhenunterschied zeigt das Messgerät, als Klauser dem Gehilfen den finalen Wink gibt. Nur noch die Fixpunkte 12 und 13 müsse er ausmachen auf der gegenüberliegenden Gletschertalseite. Sie dienen als Referenzpunkte für die Auswertung der Daten. Hösli wird fündig. «Du strahlst wie ein Maikäfer», sagt der Chef. «Lass dich jetzt nieder und ruh dich aus, wir machen uns auf den Weg zu dir.» Das lässt sich Hösli nicht zweimal sagen – allerdings sieht er sich eher als Oktoberkäfer in der Jahreszeit. Oktober tönt auch für den Gletscher gut. Der Herbstbeginn und damit das Ende der Schmelzzeit verspricht ihm eine Verschnaufpause. Wertvoll wäre laut Klauser viel Dezemberschnee. Dieser hält länger als derjenige vom Januar und schützt das Eis. Früh genug würde der Gletscher im nächsten Sommer erneut leiden, ist Klauser überzeugt. Es sei denn, die ganze Welt würde mithelfen, der Klimaerwärmung Einhalt zu gebieten: Bad und Dusche, Licht und Haushaltgeräte, die Autofahrt zur Arbeit, der Flug in die Ferien – «zusammen hätten wir ein riesiges Potenzial», so Klauser. «Wunschdenken», schiebt er nach. «Die Gletscher werden erst wieder wachsen, wenn es irgendwann einen Riesenknall gibt und die Natur wieder anders tickt. Der Mensch wird nicht der Gewinner sein.» Einst und heute: Der Glärnischgletscher vor rund 100 Jahren (oben links) und wie wenig davon Gehilfe Hansruedi Hösli (rechts) heute noch abmessen kann.
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