Russen in Jauernig Charlotte Schindler Charlotte Schindler, Lehrerin, wurde in Gleiwitz am 21. September 1896 als Tochter eines Gymnasialprofessors geboren. Sie wuchs in Frankenstein in Schlesien auf. Im Zweiten Weltkriege wurde sie in den Kreis Kattowitz abgeordnet, um hier der Schuljugend die deutsche Sprache beizubringen, nach fünf Monaten aber nach Schlaney (Schnellau) in die Westecke der Grafschaft Glatz wegen politischer Unzuverlässigkeit versetzt. Nach einem Jahr kam sie nach Jauernig, einem 23 Kilometer westlich von Glatz und südwestlich von Reinerz gelegenen, 165 Einwohner zählenden Bergdorfe hinter Lewin (Hummelstadt), zu dessen Pfarrei es zählte; der dortige Lehrer war zum Kriegsdienst einberufen worden. Nach der Vertreibung wirkte sie als Lehrerin in Hammer über Siegsdorf in Oberbayern, wo sie heute hochbetagt lebt. Quelle: Alfred Goebel, Material über Lewin, Bd. IV, Seite 00228.jpg Digitalisiert und mit Microsoft-Word 2010 © neu gesetzt. Verwendete Schriftart Palationo Linotype. Rainer Welzel, Stockach, 2012. 2 Charlotte Schindler Die Schilderung der Besatzungszeit ist deswegen bedeutsam und wertvoll, weil Charlotte Schindler den Ablauf der Ereignisse in dem Bergdörfchen Jauernig und später in Reinerz und Kudowa bis ins einzelne genau festhält. Zur Erläuterung sei noch hinzugefügt, daß ihre Schwester von ihrem Breslauer Stammkrankenhaus »Allerheiligen« - wie es der Zufall manchmal im Leben so will - beauftragt worden war, das Reinerzer Krankenhaus zu leiten. Die beiden sehen sich öfters. Der Bericht Charlotte Schindlers wird hier zum ersten Male aus dem Manuskript mitgeteilt: »Am 8. Mai 1945 kehrte ich von einem Spaziergang gegen 18 Uhr in das Schulhaus zurück. Ich war noch nicht drin, da kam die Lehrersfrau heraus und sagte mir voll Schrecken, daß ein Russe dagewesen sei. Er sprach nicht, bewegte seine Hände immerfort hin und her, ziemlich tief am Boden. Sie konnte sich das nicht erklären, war aber in großer Angst. Ich dachte mir nichts, ging hinauf in mein Zimmer, aß mein Abendbrot, las noch etwas, kramte in meinen Sachen und ging um 23 Uhr zu Bett. Nicht lange hatte ich geschlafen, da haute es an meine Tür, die Lehrersfrau stand davor und rief flehend: >Fräulein Schindler, stehen Sie auf, die Russen schlagen an die Haustür, ich muß öffnen!< Ich sprang aus dem Bett und wollte mich ankleiden, fand aber kein Streichholz in der Aufregung. Ich warf mir einen Mantel um, zog Holzpantoffeln an - es gab damals keine anderen - und lief die dunkle Treppe hinunter. Inzwischen hatt die Lehrersfrau bereits die Haustür geöffnet, und die Russen strömten in das dunkle Haus. Ich wollte in die Küche laufen, aber die Russen drängten herein. Sie trugen Taschenlampen. Mächtige Gestalten! Als mir einer gar mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchtete, drückte ich die Türklinke auf, die zu den Kellern führte, und lief die Kellertreppe hinunter. Ich dachte: Nur fort! Ich schloß alle Türen auf, wälzte den Baumstamm weg und rannte hinaus ins Freie, über den Weg den Berg hinauf. Dort sprudelte ein Bächlein; ich setzte mich daneben. Von weit her knallten Gewehr- und Pistolenschüsse. Später erfuhr ich, es waren Nazis, die kleine Posten hatten, und sich erschossen. Ein Bekannter, ein sehr guter Mensch, lief an das Grab seiner Mutter und erschoß sich dort. Ich verbrachte die Nacht an dem Brünnlein. Manchmal fielen mir die Kreuzottern ein, die es in den Wäldern reichlich gab, ich fürchtete sie aber nicht. Als der Morgen graute, erhob ich mich und stieg den Berg weiter hinauf. Da sah ich nahe dem Gipfel zwei mir bekannte Wochenendhäuser. Ich klopfte an eines, erzählte, daß die Russen daseien, und bat um eine Skihose; denn außer dem Nachthemd und dem Mantel hatte ich ja nichts an. Ich bekam eine, und dann lief ich auf der Paßstraße nach Reinerz zu. Da sah ich: Die von mir aus bis dorthin etwa drei Kilometer lange Straße wimmelte von Russen. Sie zogen mit schönen schwarzen Rossen hinauf und hielten knallrote wehende Fahnen in den Händen. Manche spielten auf einer Ziehharmonika. Ein imposanter Anblick! Ihnen entgegen, also 3 in in Richtung Reinerz, zuckelte ein kleiner Bauerntreck, der wohl erfahren hatte, daß der Krieg zu Ende sei, und zu seinem Dorf zurückkehren wollte. Ich schloß mich ihm an. Nur einmal wurden wir von den Russen belästigt, indem sie uns anhielten und allen die Uhren wegnahmen, mir nicht, denn ich hatt keine. Als ich zu meiner Schwester nach Reinerz kam, saß diese mit dem gesamten Krankenhauspersonal ratlos im Frühstückszimmer; denn auch ganz Reinerz war in der Nacht von den Russen heimgesucht worden. Ich blieb bei meiner Schwester drei Wochen; denn ich glaubte, die Russen seien noch in Jauernig. In Reinerz waren sie noch lange, in Jauernig dagegen bald wieder abgezogen; das wußte ich jedoch nicht. Ich half meiner Schwester ein bißchen in der Küche. Eines Tages ging ich aus dem Haus. Da kam mir meine Schwester mit der Frau ihres Chefs entgegen, die Arme voll Weinflaschen. Sie zeigten mir ein Haus in der Nähe und sagten, dort sei ein ganzer Keller voll mit Wein eingelagert, und er werde gerade geplündert. Ich lief hin. Im Keller watete man im Wein und in Weinflaschen, natürlich zerbrochenen. Es wimmelte von Russen und Deutschen. Ich gelangte zu einem Regal, nahm an Flaschen, was ich fassen konnte. Auf einmal ging das Licht aus, und einer schrie: »Frauen raus!< War ich froh, als ich draußen war! Da hielt mir ein Russe eine Flasche hin; ich wunderte mich zwar, nahm sie aber. Im Haus angekommen, merkte ich, daß es nur Fruchtsaft war. Also darum! Einmal begegnete ich im Haus der Heimleiterin. Sie hatte rote, verschwollene Augen und sah mich mitleidheischend an. Ich erkundigte mit bei Gästen, was los sei, und erhielt folgende Antwort: Zwei Russen kamen ins Haus. Die Leiterin komplimentierte sie ins Empfangszimmer und setzte ihnen Schnaps oder Likör vor, jedenfalls etwas Alkoholisches. Zum Dank wurde sie vergewaltigt. Nach drei Wochen ging jemand nach Jauernig die Paßstraße hinauf. Ich schloß mich an. Rechts und links flackerten Lagerfeuer der Russen. In meinem Zimmer angekommen, wäre ich beinahe umgfalten. Mußten die Russen hier gehaust haben! Der Tisch war voll leerer Wein- und Schnapsflaschen, wahrscheinlich aus Glatz mitgebracht. Meine eingeweckten Heidel-und Preiselbeeren waren zwar alle noch in den Gläsern, der Saft aber ausgetrunken. Die Steppdecke und ein Kopfkissen, auch ein Frottierhandtuch, mein Schmuck natürlich, Sonnenbrille, Füllhalter waren verschwunden, Zuk-ker und Mehl verschüttet. Auf dem Fensterbrett lagen meine Mappe mit meinen Personalpapieren und deutsches und tschechisches Papiergeld. Meine schöne kleine Ziehharmonika war auch nicht mehr da. Die Lehrersfrau sagte mir, das ganze Dorf sei dagewesen und habe sich mein Zimmer angesehen. Ich schäme mich noch heute, daß ich die Frau damals allein gelassen hatte, ich hatte ja aber keine Zeit, in Ruhe zu entscheiden. Sie erzählte mir noch, im Schulzimmer hätten die Russen ein Schwein geschlachtet und im Wohnzimmer des Lehrers einige überraschend gut Klavier gespielt. Während sie in meinem Zimmer hausten und auch nach 4 mir fragten, kam noch ein Russe ins Haus, der wahrscheinlich ein Vorgesetzter von ihnen war, vielleicht ein Unteroffizier. Er wollte schlafen, und die Lehrersfrau mußte ihm ihr Schlafzimmer öffnen, worauf er sich sofort in das Bett ihres Mannes legte und ihr bedeutete, auch so zu tun. Sie tat es auch, legte aber zwischen den Russen und sich ihre sechsjährige Tochter. Und als dieser sich der Frau nähern wollte, wurde die Kleine energisch, machte eine Faust und sagte zu ihm: >Das ist meine Mama, der darfst du nichts tun.« Darauf lächelte er, legte das Händchen zurück und schlief ein. Ich mochte in meinem Zimmer nicht mehr schlafen, wenigstens nicht gleich. Weiter oben hatten Bekannte von mir ein Wochenendhaus. Die Frau, die mit ihrer 16jährigen Tochter dort wohnte, bot mir an, bei ihr zu übernachten; das tat ich denn auch. Ich nahm mir - warum, weiß ich nicht - meinen besten Mantel und mein bestes Kleid mit. Eines späten Abends - wie üblich bei Petroleumlicht - haute jemand an die Haustür. Als wir öffneten, standen zwei Russen mit Gewehren vor der Tür. Der eine schob sich herein, der andere setzte sich mit dem Gewehr in der Hand vor die Haustür, damit wir nicht herauskonnten. Der erste durchsuchte das ganze Haus. Aus jedem Schrank nahm er Kleider und Mäntel mit, auch meine Sachen. Dann ergriff er eine Liegesofadecke, hüllte alles hinein und verließ das Haus. Auf Rädern fuhren beide Russen davon. Meine Bekannte sagte: »Laufen wir nach! Vielleicht haben sie etwas von unseren Sachen verloren. Kaum waren wir ein paar Schriite gelaufen, da krachte es im Gebüsch. Wir hatten vergessen, daß wir nach 9 Uhr nicht mehr das Haus verlassen durften. Nach einigen Tagen ging ich wieder in mein Zimmer im Schulhaus zurück, machte dort Ordnung - das war eine Arbeit! - und besuchte meine Schwester in Reinerz. Schulunterricht durfte vom 9. Mai an nicht mehr gegeben werden. Eines Tages, im Juni 1945, schaute ich aus dem Fenster und sah etwas Merkwürdiges kommen: kleine elende Wägelchen, gezogen von abgemagerten Pferdchen, auf ihnen Elendsgestalten, bleiche dünne Frauen und ebensolche Kinder, ihnen zur Seite gingen Männer. Wie sahen die aber aus! Ihre armseligen Hosen hatten keinen Saum, sondern lange Fäden hingen herunter. Sie besetzten sofort alle Bauernhöfe. Die deutschen Bauern mußten aus ihren Küchen heraus und wurden in Kammern einquartiert. Das Vieh wurde von den Polen beschlagnahmt. Lebensmittelkarten für Deutsche gab es nicht mehr. Ich litt keine Not, konnte bei meinem Bauern wie vor der Besatzungszeit weiter essen. Außerdem steckten mir viele Bauern etwas zu, Brot, Butter u. a. Ihnen selbst brach fast das Herz. Rundfunkgeräte und Schreibmaschinen mußten abgegeben werden. Das kleine Jauernig bekam zwei polnische Bürgermeister. Ich lief schnell nach Hummelstadt und holte meine Ersparnisse bei der Bank ab. Am nächsten Tag waren alle Banken gesperrt. Waffen , mußten natürlich abgegeben werden. Doch der 18jährige Sohn meines Bauern versteckte ein Gewehr. Leider wurde es den Polen verraten und er abgeführt, wohin, weiß ich bis heute 5 nicht. Als die Familie nach dem Westen ausgesiedelt war, wußte sie selbst noch immer nicht, wo der Sohn ist. Seine Schwester schrieb mir: „Das bringt den Vater ins Grab“. So verging der Sommer in Angst und Sorgen. Der Chef meiner Schwester war in den Westen abgereist. Zwei in Jauemig evakuierte Ärztinnen gingen in den Westen, wollten mich mit ihrem Auto mitnehmen. Meine Schwester war dagegen: >Wir haben ja noch den Sommer vor uns und können dann immer noch weg.< Ich blieb. Es wurde September. Meine Schwester kam wieder einmal zu mir herauf. Auf dem Heimwege begleitete ich sie. Wir hatten uns soviel zu erzählen, daß ich bis nach Reinerz mitging. Als wir das Krankenhaus sahen, bemerkten wir, daß auf dem Balkon Schwestern standen und uns heftig zuwinkten. Meine Schwester sagte: >Da muß etwas passiert sein, ich muß schnell hin.< Ich lief mit. An ihrem Zimmer angekommen, sahen wir zwei Polen mit geschultertem Gewehr stehen, dazwischen eine Polin. Meine Schwester mußte aufschließen, und die Polin raubte ihren ganzen Kleiderschrank aus. Neben ihm lag mein großer Rucksack mit meinen besten Sachen. Wir wollten nämlich in Kürze nach Innsbruck fahren. Die Fahrkarten hatte ich bereits, auch für meine Angehörigen in Frankenstein. Wir hofften nämlich, daß unser Zug dort hielt und meine Mutter und meine Schwestern dann einsteigen könnten. Alle Fahrkarten gab es übrigens umsonst. Die Polin hatte sich als Professorin ausgegeben, und als sie nun auch meine Kleider zusammenramschte, sagte meine Schwester leise zu mir: >Das will eine Professorin sein.« Sicher hörte sie es. Nun hatte sie mein schönstes Kleid in der Hand. Ich sagte bedauernd: >Ach, mein schönstes Kleid!< Meine Schwester fuhr fort: >Gib es ihr, du bekommst eins von mir!< Jetzt wurde die Polin wütend. Wir mußten aus dem Zimmer heraus, und sie schloß es von außen ab. Ich erklärte den zwei Polen: >Wir haben die Absicht, nach Innsbruck zu fahren, und brauchen die Sachen.« Die Polin erwiderte: >Diese Fahrkarten sind verfallen, holen Sie sich morgen früh neue.« Für den nächstens Tag wurden wir auf die polnische Kommandantur beordert. Ahnungslos gingen wir hin, meine Schwester im weißen Ärztemantel. Ich mußte mich an einen Tisch vor dem Verhandlungszimmer setzen, sie wurde in dieses geführt. Ich wartete. Plötzlich stand ein Arzt im weißen Mantel vor mir. Ich schaute auf: Das war ja meine Schwester! Ohne Haare, die mit einer Maschine abgeschoren waren! Sie sagt: >Komm' schnell fort!« Ich erwiderte: >Wir suchen uns einen Friseur.« Richtig, wir fanden einen, der herrliche Perücken hatte. Wir suchten eine für meine Schwester passende heraus. Darauf gingen wir zur Hauptkommandantur; der Kommandant war als sehr menschlich bekannt. Meine Schwester erzählte den Vorfall und betonte, sie möchte ihre Sachen wiederhaben. Er erwiderte: >Sie werden eingesperrt!« und übergab einem Wachmann einen Bund Schlüssel. Ich sagte zu meiner Schwester: >Raus!< und draußen waren wir und versteckten uns hinter einem dicken Baum. Der Wachmann fuhr auf seinem Rade an uns vorbei, sah uns aber nicht. Ich nahm meine Schwester hinauf zu 6 mir nach Jauernig. Sie hatte ihre Handtasche mit ihrem Geld und ihre Papiere bei sich. Man mußte damals alles Wertvolle mit sich tragen. Wir waren vogelfrei. In meinem Zimmer hing meiner Schwester warmer Mantel, den sie bei einem Besuch im Winter bei mir gelassen hatte. Wir verlebten einige ruhige Tage oben in Jauernig, bis eines Tages eine bekannte Dame zu uns kam und erzählte, daß meine Schwester steckbrieflich von den Polen verfolgt würde. Unser einziger Gedanke war: Fort! - Aber wohin? Zu Onkel und Tante in Kudowa! Das taten wir auch sofort! Es war inzwischen stockfinster geworden, und es regnete in Strömen. Meine Schwester zog sich ihren warmen Mantel an, ich meinen, lief aber zurück. Mein Wintermantel war mir für dieses Wetter doch zu schade, und ich zog einen dünnen an. Regenschirme nahmen wir nicht mit, um nicht aufzufallen. Da wir bis 9 Uhr im Hause sein mußten, liefen wir, so schnell wir konnten, nach Kudowa. Onkels Familie nahm uns sehr gut auf, stellte uns ein Zimmer mit zwei Betten bereit und schob einen Schrank vor die Tür, falls die Polen wegen des gleichen Namens Verdacht schöpfen sollten. Am nächsten Morgen brachte uns unser Onkel auf einem schmalen Weg zwischen zwei Gärten in die Tschechei zu einem bekannten Gastwirt. Hier war bereits ein Flüchtling aus Kudowa, ein bekannter Arzt. Eine Woche blieben wir dort, bis der Gastwirt uns sehr verlegen sagte, er könne uns nicht länger behalten. Der Arzt ging zurück nach Kudowa und soll bald nachher von den Polen verhört worden sein. Uns schickte der Gastwirt zu einer deutschfreundlichen Familie, diese uns nach einem Tag zu einer anderen. Als wir einmal spazierengingen, kam die tschechische Polizei und befahl uns, nach Schlesien zurückzugehen. Um 12 Uhr wollte sie an der Grenze anläuten, ob wir sie passiert hätten. Unsere Tante kam uns besuchen. Dabei erzählte sie dies: Sie war vor einigen Tagen nach Jauernig gegangen. Sie wollte aus meinem Zimmer einige Wäsche und Kleidung für uns holen. Es war aber leer. Die Lehrersfrau berichtete ihr: Unter dem Vorwand, meine Schwester zu suchen, kamen die Polen mit Lastwagen und plünderten das ganze Dorf. Ob jemand verraten hat, daß meine Schwester hier oben bei mir war - ich weiß es nicht. Mit der Tante sprachen wir von unserem Plan, durch die Tschechei über die Grenze nach Sachsen zu fahren. Sie sagte: „Ich fahre bis zur Grenze mit euch mit.“ Sie ging selbst an den Schalter und verlangte in tschechischer Sprache drei Fahrkarten nach einem Grenzort, den ich vergessen habe. Der Schalterbeamte wurde mißtrauisch und gab ihr keine Fahrkarten. Nun, nach der Ausweisung durch die tschechische Polizei waren wir wieder auf schlesischem Boden. Ich brachte meine Schwester zu Onkel und Tante und lief zum Bahnhof. Ich wollte mich erkundigen, ob ein Zug nach dem Westen führe. 7 Am Bahnhof von Kudowa angekommen, erfuhr ich, daß ein russischer Kohlenzug bereitstehe, um nach dem Westen zu fahren; ihm seien zwei leere Viehwagen für Flüchtlinge angehängt. Ich ging auf den Bahnsteig - wirklich, da stand der Zug. Ich schaute in die zwei Viehwagen und sah in ihnen einige Strohbündel liegen. Mein Entschluß stand fest, mit meiner Schwester mitzufahren. Da wir wahrscheinlich in dem Wagen einige Nächte verbringen würden, brauchten wir etwas zum Liegen. Woher aber Stroh nehmen? Denn sicher hatten sich einige Flüchtlinge das Stroh vorsorglich dort hingelegt. Da fiel mir meine Matratze aus meiner Zeit in Schlaney (Schnellau) ein. Ich lief schnell nach dem nahen Ort, erzählte meinen ehemaligen Wirtsleuten, daß wir schnell weg müßten und wollte die Matratze aus meinem Zimmer holen. Sie sagen aber: „Die hat ja der Pole, der in Ihrem Zimmer schläft.“ Nach langem Bitten gab er mir die Matratze heraus. Ich eilte mit ihr zum Bahnhof, legte sie in einen der Wagen und holte meine Schwester. Als die Tante meinen dünnen Mantel sah, brachte sie mir einen dicken mit den Worten: >Es geht ja auf den Winter zu.< Es war inzwischen Mitte Oktober geworden. Mit den gleichen Worten gab sie uns zwei warme Decken mit. Das war meine letzte Begegnung mit Onkel und Tante. Als wir den Zug besteigen wollten, stand an der Sperre ein Pole und untersuchte das Gepäck der Abfahrenden. Und nahm sich, was er Lust hatte. Ich sagte zu meiner Schwester: >Wenn der uns unser Geld wegnimmt!« Wir gingen in den leeren Wartesaal, und ich steckte ihr unsere Geldscheine unter die Perücke. Man konnte nichts erkennen. An der Sperre angekommen, durchsuchte der Pole natürlich unsere Habe; denn von Gepäck konnte keine Rede sein. Als er mein halbes Pfund Butter sah, rief er wörtlich aus: »Was, deutsche Butter?« Ich sagte ihm: >Wir müssen doch unterwegs was essen.« Da ließ er mir die Butter. Dann nahm er meiner Schwester alle vier Dosen Ölsardinen. Wieder sagte ich: »Wir brauchen sie doch, wir wissen nicht, wie lange wir unterwegs sein werden.« Da gab er meiner Schwester drei Dosen zurück. Sie hatte sie im Krankenhaus erhalten, als beim Russen- oder Poleneinfall die dortigen Vorräte verteilt worden waren. Gegen mein großes Brot hatte der Pole nichts einzuwenden gehabt. Im Viehwagen setzten wir uns auf die Matratze. Der Zug sollte um 15 Uhr abfahren, er stand aber noch am nächsten Tag um 12 Uhr da. Um diese Zeit sahen wir eine unserer Basen aus Kudowa sich unserem Zug nähern. Sie trug einen großen Topf mit Essen. Den gab sie uns mit den Worten: »Die Mama schickt euch das Essen.« Wahrscheinlich hatte die Tante erfahren, daß der Zug noch nicht abgefahren war. Um 15 Uhr endlich war es so weit. Männer, Frauen und Kinder waren in unserem Wagen eingetroffen. Wenn der Zug einmal hielt, verriegelten die Männer die Türen, und die Mütter hielten den Kindern den Mund zu. Vermutlich sollten die Polen nicht aufmerksam werden. Am Tage stand der Zug, in der Nacht fuhr er. 8 Beinahe wäre etwas schief gelaufen. Unser Brot ging zu Ende.und wir öffneten eine der Dosen meiner Schwester. Ach, haben die Leute geguckt, und die Ölsardinen haben mir gar nicht geschmeckt. Als der Zug wieder einmal stand, sah ich entfernt einige Häuser stehen. Ich sagte zu meiner Schwester: »Dort sind ein paar Häuser, gehen wir doch hin und holen uns was zu essen.« Sie wollte aber nicht. Da erbot sich eine Frau mitzugehen. In den Häusern waren natürlich Polen. Ich bat sie, uns etwas zu essen zu geben. Da zeigte einer ganz mürrisch auf einen Haufen Schweinekartofeln. Wir nahmen uns einige, daß wir die aber kochen mußten und wo, daran dachten wir nicht. Wieder kaum im Waggon, wirklich aber kaum, pfiff der Zug und fuhr los. Wenn wir eine Sekunde später gekommen wären! Was hätte meine Schwester gemacht und was ich? Da er so pünktlich abfuhr, nehme ich an, daß uns der Zugführer gesehen hatte, wie wir wegliefen, und auf uns wartete. Nach fünf Tagen hielt der Zug in der Frühe; er hatte sein Ziel erreicht. Wir waren in Cottbus. Wir mußten aussteigen und ließen die Matratze leider zurück. Wir wußten zuerst nicht, wo wir hintreten mußten. Mittags gingen wir in ein Krankenhaus. Hier bekamen wir eine Kürbissuppe. Abends gingen wir wieder hin, zeigten unsere Papiere und konnten dort übernachten. Nächsten Morgen fuhren wir weiter, westwärts. Wieder Mittagessen, Abendbrot, Übernachten in einem Krankenhaus. Einmal wurden wir besonders hilfsbereit aufgenommen. Die Schwestern schenkten jedem von uns zwei Hemden und sechs Paar Schlüpfer. Waren wir froh! Die Hemden schienen aus Wehrmachtbeständen zu sein, wenigstens der Stoff; er war dick und grau. Wir kamen nach Friedland. Dort stand ein Zug mit einem großen Plakat: „Für Schlesier!“ Vor solch grausigem Hintergrund, wie ihn der Dokumentarbericht einer Nichtgrafschafterin zeichnet, wird umso mehr verständlich, wie glücklich alle, die der Hölle der Besatzungszeit entrannen, waren und für immer sein mußten und wie dankbar, daß sie wenn auch unter größten Entbehrungen - ein neues Leben sich wieder aufbauen konnten. Wie vielen war es nicht beschieden und vergönnt! Vergessen wir jenes Geschehen nie! Für kommende Zeiten und Geschlechter sind diese Berichte verpflichtende Mahnmale, für die Geschichtsforschung dringend nötige und unersetzliche Grundlagen. Dr. Karl Schindler Entnommen aus: Grafschafter Häämtebärnla 1984, "Sie gedachten der Grafschaft Glatz", Seite 42 ff. 9
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