Wohin führt der Weg? - Internationale Erich-Fromm

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Wohin führt der Weg?
Erich Fromm
(1922d)
„Wohin führt der Weg?“, in: Neue Jüdische Presse. Frankfurter Israelitisches Familienblatt,
Nr. 31 (20. 10. 1922), pp. 1-2.
Copyright © 1922 by Erich Fromm; Copyright © 2011 by The Literary Estate of Erich
Fromm, c/o Dr. Rainer Funk, Ursrainer Ring 24, D-72076 Tuebingen / Germany. – Fax:
+49-(0)7071-600049; E-Mail: fromm-estate[at-symbol]fromm-online.com.
Als man einmal einem Russen die Unbildung seiner Landsleute vorwarf und ihm vorhielt, wie groß der Prozentsatz an Analphabeten unter seinen Volksgenossen sei, antwortete er: „Nun gut, dann sind sie auch davor verschont, die Lügen Eurer Zeitungen
zu lesen und ihrem Gift zu erliegen. Ganz ähnlich wie die Stimmung dieses Russen hat
sich – seit dem Kriege in immer steigendem Maße – die Meinung vieler der Besten Europas über den Wert der Presse herausgebildet. Man sah, wie die Mehrzahl der Zeitungen bei der europäischen Katastrophe völlig versagten, wie sie zwar scheinbar die
Führer ihrer Leser sind – indem sie ihnen Anaschauungen und Ideologien liefern, die
der Einzelne zu fabrizieren meistens unfähig ist – in Wirklichkeit aber die Geführten
sind, indem sie nur solche Anschauungen ihren Lesern vorsetzen, die deren gegebener innerer – durch wirtschaftliche, gesellschaftliche und andere Gründe bedingter –
Einstellung entsprechen, das heißt das schreiben, was der Leser hören will. Diese
Doppelrolle als Führer und Geführte der Masse ließ die Presse bei vielen als ihr Verführer erscheinen.
Wenn wir heute – unter neuer Leitung – vor unsere Leser treten, sind wir ihnen
und uns Rechenschaft darüber schuldig, was unsere Meinung von den Aufgaben der
Presse und besonders einer jüdischen Zeitung im gegenwärtigen Augenblick ist. Diese
Aufgaben sind offenbar am stärksten bestimmt – oder müssen es sein – von der gegenwärtigen Situation des jüdischen Volkes. Einfache Wahrheiten, wenn sie oft wiederholt werden, erscheinen dem Einsichtslosen leicht als Phrasen. Nun, wir haben keine Angst davor, sagen es an dieser Stelle und werden es noch oft wiederholen: Das
Judentum befindet sich in einer noch nie stärker gewesenen Krisis. Denn um was handelt es sich?
Seit einigen Generationen ist das Judentum in die europäisch-amerikanische Welt
in allen – wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, geistigen – Beziehungen aufs engste verflochten und scheint mit ihr auf Tod und Leben verknüpft. Das, was die großen Führer
des Chassidismus, der letzten urjüdischen Entfaltung unseres Volkes auf europäischem Boden, mit all ihrer Kraft zu verhindern suchten, ist eingetreten: Der einzelne
Jude stand Europa gegenüber, und die Macht der Gesellschaft überwand das Individuum und verstümmelte das in jedem Juden vorhandene Erbteil seiner Gemeinschaft,
das bis dahin die Gemeinschaft durch ihr Leben selbst garantiert hatte, oft bis zur Unkenntlichkeit.
Was ist das Wesen der jüdischen Gemeinschaft und was unterscheidet sie so
prinzipiell von europäischen Gemeinschaften, von Religionen und Nationen? Die jüdi-
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sche Gemeinschaft wurde durch den religiösen Inhalt nicht erst geschaffen, sondern
bestand schon vorher und lebte eigengesetzlich als bluts-, schicksals-, sprach- und
landesmäßig geeintes Volk. Die religiöse Idee gab vielmehr dem Volk Sinn und Aufgabe und ließ es der Gefahr der Konzentration seiner Kräfte allein im Kampf um Macht
und Besitz entgehen. Das in der Thora begründete und von den zu seiner authentischen Interpretation legitimierten Rabbinen weiter entwickelt Gesetz dient der Verknüpfung und dauernden Stärkung der Korrelation zwischen dem „Körper“ des Volkes und
der ihm aufgegebenen religiösen Idee. Es verpflichtet alle Glieder des Volkes in gleicher Weise und will dem ganzen Volke einen Weg (Halacha von haloch = gehen) zur
religiösen Erkenntnis bahnen.
Die Sphäre der religiösen Erkenntnis selbst, des sogenannten „Glaubens“, ist der
Gestaltung des Einzelnen überlassen. Das Judentum konnte in dieser Freiheit von
Dogmatik, Sakrament und Priestertum solange bestehen, als der Körper des Volkes
selbst ungefährdet blieb. Diese Gefahr wurde etwa von der Mitte des 18. Jahrhunderts
an akut. Das Gesetz und die bisher als individuelle Beziehung zum Absoluten bestehende Religiosität erhielten die Aufgabe zugewiesen, auch den quasi physischen Bestand des Volkes, das heißt die Tatsache des Judentums als einheitliche Gruppe von
Menschen, zu garantieren und wurde so zur „Religion“ verzerrt und verbogen. Die
Schicksalsfrage für das Judentum ist die: Wird es gelingen, die Bedingungen wieder zu
schaffen, die dem Körper des Volkes das Leben garantieren und so die Religion zu befreien von einer ihrem Wesen widersprechenden Aufgabe: der Erhaltung, und nicht der
Erfüllung des Volkes zu dienen?
Das Judentum ist krank an allen Gliedern. Es gibt keine Gruppe, die mit Recht von
sich behaupten dürfte: Wir sind die Gesunden, die „Rechtgläubigen“. Vielleicht ist es
wahr, dass nur „Schear jaschuw“, ein Rest zurückkehren wird, aber nicht an uns ist es,
Vorsehung zu spielen und zu sagen, wie groß dieser Rest sein wird und wer er sein
wird. – Nein, „chotonu“, wir alle sind abgeirrt, sind fremde Wege gegangen, wir alle
müssen heimkehren, und es gibt nur eine Voraussetzung: die Liebe zum jüdischen
Volk, und ein Ziel: die schöpferische Erneuerung der jüdischen Gemeinschaft, wie sie
seit dem Sinai durch die Geschichte schreitet.
Die Aufgabe der älteren Generation ist es, die Unzulänglichkeit des bisherigen
Weges zu sehen, auf manche bisher teure Meinung zu verzichten, um der Jugend den
Weg zu öffnen. Es ist etwas Großes um die Kunst des Verzichts und einsichtsvoller
selbstloser Hilfe! Die Aufgabe der Jugend ist es, das zu tun, was ihr zukommt: Verantwortung für das Schicksal des Judentums zu fühlen und zu ihm heimzukehren. Denn
was den Alten oft versagt, ist der Jungend gegeben: die Möglichkeit innerer Erneuerung, Rückkehr zur Heimat in geistigem und geografischem Sinne, als Voraussetzung
aber die Einheit der jüdischen Gemeinschaft – das wird oberstes Leitziel dieser Zeitung
sein. Deshalb werden wir alles unterstützen, was der Schaffung eines jüdischen Kraftzentrums in Erez Israel, dem wirtschaftlichen und geistigen Aufbau Palästinas dient;
deshalb werden wir mitarbeiten an den Aufgaben der Erziehung unserer Jugend, auf
der die Verantwortung für den Aufbau ruht; deshalb werden wir eintreten für die Einheit
unserer Gemeinden, die die Voraussetzung für alle jüdische Galuth-Arbeit ist, und deshalb werden wir kämpfen gegen alle Tendenzen und Strömungen, die mit satter,
selbstgerechter Überheblichkeit die Einheit des Volkes zerstören wollen. Denn wir wissen: Der Aufbau des Judentums, wie jeder Aufbau, geschieht nur durch Liebe, nie
durch Hass.
So verderblich wie separatistischer Hass im eigenen Volk, ist er es auch im Verpage 2 of 3
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hältnis unseres Volkes zu den Völkern der Welt. Wir wissen um die mannigfachen Verknüpfungen unseres Volkes mit ihnen, sowohl unseres Zentrums in Palästina, als auch
unserer Diaspora in den verschiedenen Ländern und Staaten. Wir Juden haben immer
in großer Liebe zur Menschheit unser Volk geliebt, an seine nationale Aufgabe und
Sendung geglaubt. Wir werden unsere Aufmerksamkeit deshalb auf alle Fragen der
Weltpolitik lenken, besonders soweit sie für Palästina wichtig sind, und unsere Leser
durch Nachrichten und Aufsätze darüber informieren. Wir werden aber auch nicht Abstinenz üben gegenüber den Fragen des deutschen Volkes und Staates, mit dem uns
verbunden fühlen, und werden besonders den Kampf gegen den Antisemitismus aufnehmen, den wir noch mehr als eine Schmach für das deutsche Volk, denn als eine
Beleidigung für uns empfinden. Wir werden uns im Speziellen auch den Interessen der
jüdischen Gemeinde unserer Stadt widmen, nicht nur den geistigen, sondern auch den
wirtschaftlichern Interessen des jüdischen Mittelstandes und der jüdischen Lehrer und
Beamten dienen. –
Das jüdische Volk ist in Sünden verstrickt, die nur die Teschuwah, die Rückkehr
der Gemeinschaft, sühnt. „Und wann immer die Gemeinde zurückkehren will, kann sie
es tun.“ Die Lage unseres Volkes ist verzweifelt ernst. Wir zehren an einem Kapital,
das bald aufgezehrt sein wird. Die Aufgabe einer jüdischen Zeitung ist in erster Linie
eine erzieherische. Wir wollen keine Zeitung sein, auf deren Lektüre hin es sich gut
schläft, wir wollen Sie beunruhigen und mahnen.
Wissen Sie, von wem das Schicksal des Judentums abhängt? Von Ihnen, der Sie
dies eben lesen!
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